Читать книгу Kunst- und Kreativitätstherapie Band 2 - Jutta Michaud - Страница 4

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Sehnsucht


Guten Abend meine Schöne,

wie war Dein Tag?

Ausnahmsweise scheint heute auch in Berlin die Sonne. Zu gerne säße ich jetzt mit Dir in der Kulturbrauerei bei Brezeln und Bier! Stattdessen habe ich mir mein Notebook auf den Balkon geholt und stelle mir vor, wie Du am Strand entlang läufst, den Tag ohne mich Revue passieren lässt, während der Sand zwischen Deinen Zehen reibt und sanfte Wellen Deinen zierlichen Spann streicheln. Das würde ich jetzt gerne tun. Denkst Du wenigstens ein bisschen an mich? Es fällt mir noch immer schwer zu akzeptieren, dass Du gerade lieber diesen Job auf La Gomera machst, als mit mir zusammen in Berlin Pläne für die Zukunft zu schmieden. Keine Angst, ich halte mich an unsere Abmachung: Kein weiteres Wort dazu. Versuchen wir lieber einen Austausch über unsere Projekte, das hilft uns beruflich und lässt uns die Zeit der Trennung besser ertragen. Vielleicht können wir auf diesem Wege ein Zukunftsszenario entwickeln – ja, ja, ich bin schon still!

Aber über meinen ersten Ausbildungstag zum Kunsttherapeuten darf ich Dir zum Glück berichten. Ich fange mal mit den Teilnehmern an, auf die war ich besonders gespannt, als ich das wunderschöne Backsteingebäude heute betrat. Hell und freundlich ist es, und die bunt aufgereihten Farbtiegel im Regal machen schon beim Anschauen gute Laune. Die Kurszusammensetzung ist sehr speziell: Außer mir gibt es nur noch einen Mann in diesem Kurs, dazu den Dozenten, einen gewissen Henrik. Wir sind eine altersgemischte Truppe, Sarah, unser Kursküken, könnte mit ihren 24 Lenzen meine Tochter sein. Kurt, der andere Mann, erinnert mich fatal an meinen Vater. Er ist eigentlich längst Rentner, 62, aber sehr aufgeschlossen und hat anscheinend sein ganzes Leben lang mit Menschen gearbeitet. Was genau er früher gemacht hat, habe ich noch nicht so richtig verstanden. Ich habe den Eindruck, der Mann ist noch für Überraschungen gut. Ich finde ihn spannend.

Neben Sarah, die nach dem Abi als Au Pair unterwegs war und ein soziales Praktikum in Bolivien hinter sich hat, gibt es noch Gudrun, Kunstlehrerin im Vorruhestand (Ende 50), Astrid, ein ehemalige Sozialtherapeutin mit diversen Zusatzausbildungen (40+), Gerit und Marie (beide Anfang 30), Kolleginnen und Ergotherapeutinnen in einer Tagesstätte für behinderte Kinder. Paulette, eine ehemalige Ballerina mit Knieproblemen und französischen Wurzeln, Camilla, die früher ihr Geld am Schalter der Berliner Bank verdiente, dann aber in Richtung Heilpraktikerin umgeschwenkt ist und eine kleine Praxis betreibt. Mit Altersangaben haben sich beide zurückgehalten, Camilla ist eindeutig ein älteres Semester, Paulette Ende dreißig. Camilla hat Glück, ihr Mann ist Allgemeinmediziner, daher macht es ihr nichts, dass ihre Praxis für ein paar Tage geschlossen bleibt. Finanzielle Not umtreibt sie sicher nicht, so wie sie aussieht. Ich vermute, in der Ausbildung lebt sie den verlorenen Traum vom Kunststudium aus. Dann gibt es noch Sabrina, eine Autorin, die Kreatives Schreiben unterrichtet, sie ist 53. In der Vorstellungsrunde wurde ich doch tatsächlich gefragt, warum ich die Ausbildung zum Kunst- und nicht zum Sporttherapeuten mache!? Von angehenden Kunsttherapeuten hatte ich mehr Offenheit erwartet. Keine Vorstellung davon, dass ich als Sport- und Fitnesstrainer prädestiniert bin, auch die Psyche fit zu machen! Ich habe ihnen erklärt, dass ich an die Verbindung von Sport und Kreativität glaube, sicher bin, dass Sport gerade innerlich „verspannte“ Menschen für kreative Prozesse öffnen kann. Obwohl ich ihnen von meinen ganz persönlichen Erfahrungen dazu berichtet habe, bin ich nicht sicher, ob sie mein Body & Soul-Konzept verstanden haben. Scheinbar wird in Zukunft noch viel Aufklärungsarbeit auf mich zukommen. Damit habe ich nicht gerechnet. Zumindest sollten sie begriffen haben, wie viel psychologische Begleitung ein Personal Trainer per se schon betreibt! Meine reizende Ballerina nickte wissend, ich glaube, die hat einen Draht zu diesen Dingen. Klar, tanzen ist ja auch ganz nah an den Prozessen, die wir mit Malen und Schreiben begleiten wollen.

Egal, ich bin jedenfalls gespannt, wie diese 14 Tage verlaufen werden. Heute sind wir mit dem verheißungsvollen Konzept „Metamorphosen“ in den Tag gestartet.

Henrik teilte zuerst Ton aus und bat uns, eine Kugel zu formen. Dann sollten wir uns in einen Kreis stellen und unsere Kugeln kreisen lassen.

Mit geschlossenen Augen sollten wir erkennen, wann unsere Kugel wieder bei uns war. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber es hat geklappt! Offensichtlich hatten alle ein Gefühl für ihre Kugel entwickelt. Erstaunlich, oder? Henrik wollte uns damit verdeutlichen, wie stark wir uns unbewusst mit unserem Produkt identifizieren. Diese Erfahrung sei wichtig, meinte er, um den Werkstücken unserer Klienten mit dem nötigen Respekt zu begegnen. Das wird wohl kaum ein Problem für mich werden, denn den Respekt vor den Werkstücken anderer habe ich. Der geborene Töpfer bin ich nämlich sicherlich nicht! Das hat sich schon bei den ersten Versuchen herausgestellt. Stell Dir vor, insgesamt haben wir heute schon drei Stücke modelliert, plus jeweils ein Bild dazu gemalt. Bei all diesen Übungen geht es darum, zuerst Gefühle auszudrücken, dann eine Veränderung des Gefühls herbeizuführen – durch das eigene Tun und die Gedanken, die einem beim Tun bewegen. So wie ich das verstanden habe, ist das wohl die Grundidee der Gestalttherapie: Erlernen, eine Veränderung zu leben, sich dabei aber selbst treu bleiben. Ich muss das mal nachlesen, zum Glück gibt es ein Skript und eine umfangreiche Literaturliste.

Es hat mich sehr beruhigt, dass Henrik gleich am Anfang gesagt hatte, es ginge bei diesen Aufgaben nicht darum, perfekte Skulpturen zu gestalten. Das hätte mir Angst gemacht, unter Druck kann ich so etwas erst recht nicht. Als er erklärte, wir sollten etwas schaffen, das sich für uns angenehm anfühlt und das wir uns zuhause auf den Nachttisch stellen oder mit ins Bett nehmen würden, waren alle Bedenken weg. Manchmal sind es ganz kleine Bemerkungen, die entlasten können, faszinierend! Ich habe eine kleine Nana geformt und mich ein bisschen dafür geschämt, eine große Künstlerin wie Niki de Saint Phalle zu kopieren. Zumal mein Ergebnis alles andere als ein „Kunstwerk“ war. Ich modelliere nicht, ich knete, wenn Du weißt was ich meine.

Trotzdem fühlte sich die Figur angenehm an, ich mag ihre Rundungen. Sie ist ein wenig im Sprung und ihre Beinstellung wirkt, als wolle sie hüpfend ihre Richtung ändern – das ist ganz ungewollt geschehen. Und obwohl die Figur weiblich ist, steckt ganz viel von mir da drin: einen grundlegenden Richtungswechsel möchte auch ich vollziehen. Die Zeit ist reif dafür, und ich freue mich schon darauf, meinen Klienten auf ihrem persönlichen Weg ein weiteres Mosaikstück anbieten zu können, das ihnen bei der Selbsterkenntnis helfen wird.

Ich muss aufhören, Tom ist gerade heimgekommen und sofort in seinem Zimmer verschwunden. Wenigstens „hallo“ hätte er sagen können! Außerdem ist es schon 22.00 Uhr – er sollte eigentlich schon vor einer Stunde hier sein. Ein Fass mag ich aber heute nicht aufmachen deswegen. Erstens bin ich zu müde, zweitens habe ich nicht gekocht. Werde anbieten, eine Pizza zu bestellen und hoffen, wir können beim Essen miteinander reden.

Ist Dir Deine Tochter heute wohlgesonnen? Wenn Du magst, kannst Du mich später gerne noch anrufen – nein ich mache Dir keinen Druck! Ich will nur sagen: Dein Anruf ist willkommen. Morgen habe ich nach dem Unterricht noch ein Personal Training und anschließend einen Kurs in der „Welle“. Ob ich anschließend noch zum Schreiben komme, weiß ich nicht.

Träume süß, ich denke an Dich!

XXX Darius

Kunst- und Kreativitätstherapie Band 2

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