Читать книгу Mami Bestseller Staffel 3 – Familienroman - Jutta von Kampen - Страница 6

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Die Silhouette der mittelalterlichen Stadt Rothenburg ob der Tauber tauchte auf. In dem vollbesetzten Bus ertönte ein vielstimmiges »Ah!« und »Oh!« aus Kinderkehlen. Das Kinderheim »Alpenblick« befand sich auf einem Jahresausflug.

Munter und aufgeregt schnatterten die Kinder durcheinander. Nur ganz hinten saß ein kleines Mädchen, das sich an der allgemeinen Aufregung nicht beteiligte.

Blaß und zart, zu klein für ihr Alter, ewig verträumt und deshalb von den anderen Kindern immer unterdrückt und nie für voll genommen, fristete Veronika ein kümmerliches Dasein am Rande der fröhlichen Gesellschaft.

Die Vergißmeinnichtaugen sahen sehnsuchtsvoll in die Ferne. Mit einer verlorenen Geste strich Veronika die krausen, immer ungekämmt wirkenden Zottelhaare aus dem Gesicht.

»Wir steigen gleich aus!« ertönte die Stimme der Kindergärtnerin. »He, Veronika, wach auf!«

Das kleine Mädchen zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Es reckte den Hals.

»Wir steigen aus, habe ich gesagt! Hast du das gehört?«

Das Kind nickte verstört, und die Kindergärtnerin seufzte vernehmlich. Bei diesem Kind wußte man nie, ob es begriffen hatte. Deshalb wandte sie sich an zwei größere Mädchen: »Rosi und Petra, ich lege euch noch einmal ans Herz: Paßt mir bloß auf das Schäfchen auf!«

»Ja, Tante Anni!« ertönte es wie aus einem Mund.

Der Bus hielt und das Aussteigen begann. Die großen Mädchen versetzten der kleinen Veronika ein paar Püffe.

»Los, mach schon!«

»Wegen dir alten Trödelliese sind wir immer die letzten!«

Veronika war diese Behandlung gewöhnt. Sie verhielt sich wie ein Esel, der durch Schläge angetrieben wird: Sie beeilte sich erst recht nicht.

Endlich standen alle auf dem Marktplatz. Die berühmte Uhr begann gerade zwölf zu schlagen. Zwei Fenster öffneten sich. Der Feldherr Tilly erschien an dem einen und der Bürgermeister Nusch am anderen. Der Bürgermeister hob einen gewaltigen Humpen an den Mund und leerte ihn in einem Zug. Durch diese beachtliche Trinkleistung hatte er die Stadt vor der Plünderung bewahrt. Jeden Tag um diese Stunde erinnerte die Rathausuhr an das historische Ereignis.

Die Kinder jauchzten, lachten und klatschten begeistert Beifall. Nur Veronika stand mitten in der Menge und sah nur die Röcke der Großen. Niemand dachte daran, sie hochzuheben oder nach vorn zu lassen.

Der Zug der Kinder setzte sich wieder in Bewegung. Die beiden großen Mädchen, Rosi und Petra, nahmen die Kleine in ihre Mitte. Immer wieder versuchte Veronika, einen Blick in die herrlichen bunten Schaufensterauslagen zu werfen. Sie mußte dazu natürlich einen halben Schritt zurückbleiben und erntete jedesmal einen Knuff.

Die Gruppe erreichte die alte Stadtmauer. Eine enge Treppe mußte erstiegen werden, und die strenge Ordnung löste sich zwangsläufig auf. Mit Hurra und Gepolter rannten die Kinder den hölzernen Wehrgang entlang.

Die beiden Mädchen, die auf Veronika achten sollten, vergaßen die lästige Pflicht.

Durch die schmalen Schießscharten in der Mauer konnte man weit über das Tal sehen. Auf der anderen Seite blickte man auf die leuchtendroten verwinkelten Dächer, auf kleine Höfe und Gärten, in denen Gartenzwerge, Förster und Rehe ein gipsernes Dasein fristeten.

Die Kinder waren hinreichend beschäftigt, dies alles zu bewundern. Und als Veronika Rosi am Kleid zupfte, reagierte das größere Mädchen reichlich unwirsch. »Was willst du denn schon wieder?«

Veronika trat von einem Bein auf das andere. »Ich muß mal!«

»Hier geht das nicht!«

Unbekümmert lief Rosi weiter, und Veronika geriet in größte Nöte. Ratlos sah sie sich um. Was tun?

Sie erreichten einen Turm, durch den der Wehrgang führte. Veronika sah sich um. Die anderen waren voraus…

Die Angelegenheit war schnell erledigt. Aber nicht schnell genug. Denn die anderen Kinder waren nicht mehr zu sehen.

An der nächsten Treppe stieg sie von der Stadtmauer. Sie lief über das Kopfsteinpflaster. Die Mittagssonne brannte heiß. Plötzlich entdeckte Veronika einen sprudelnden Brunnen. Das kristallklare Wasser lief durch ein Rohr in einen Holztrog. Bei diesem Anblick verspürte das kleine Mädchen Durst. Es stellte sich auf die Zehenspitzen und erreichte den Strahl mit dem Mund. Es schmeckte herrlich!

Dann steckte Veronika ihre Hände in den Trog und spielte mit den Strohhalmen, die auf der Wasseroberfläche schwammen, Schiffchen. Wenn sie nicht gestört wurde, hielt sie es bei einem Spiel lange aus.

Endlich hatte sie es doch satt. Sie schlenderte weiter. Aus einem Laden roch es herrlich nach frischem Brot. Veronika spürte ihren leeren Magen. Ihre hellblauen Augen verdunkelten sich.

Wenn man sie nicht fand – ob sie dann verhungern mußte?

Kurz entschlossen betrat Veronika das Geschäft, in dem viele Leute waren. Veronika bemerkte, daß sie alle möglichen Dinge in den Korb packten, ohne zu bezahlen. Doch die meisten Sachen interessierten das kleine Mädchen nicht. Nur vor dem Korb mit knusprigen Brötchen blieb sie stehen. In Gedanken biß sie in eins der goldgelben Brötchen; ihr lief das Wasser im Munde zusammen.

»Na, Kleine, du hast wohl großen Hunger?« fragte plötzlich eine Verkäuferin.

Veronika zuckte zusammen – wie immer, wenn sie aus ihren Träumen gerissen wurde. Dann nickte sie heftig.

»Wo ist denn deine Mutter?« wollte die freundliche Verkäuferin wissen.

Veronika machte ein völlig ratloses Gesicht. Was sollte sie darauf antworten? Sie kannte nur Tanten.

»Sie ist wohl schon ’rausgegangen«, meinte die Verkäuferin. »Dann aber schnell hinterher!«

»Darf ich…?« fragte Veronika und erschrak über ihren eigenen Mut.

»Na, wenn der Hunger so groß ist, daß du sogar trockene Brötchen magst! Greif nur zu!«

Veronika wußte nicht, wie ihr geschah. Sie griff nach einem Brötchen und biß gierig hinein. Herrlich! Kein Kuchen hatte jemals so gut geschmeckt.

»Nun lauf aber!« Die Verkäuferin schob das kleine Mädchen aus der Tür.

Veronika fühlte sich nun, da der ärgste Hunger gestillt war, bedeutend wohler. Sie bummelte von Geschäft zu Geschäft. Wundervolle Sachen gab es da! Veronika war in einem Zauberreich. Und niemand störte sie. Niemand wollte etwas von ihr.

Doch plötzlich bemerkte sie, daß es kühler wurde. Der Hunger meldete sich wieder. Hatte sie denn im Bus keiner vermißt? Eigentlich war sie froh darüber. Aber bald kam die Nacht. Wo sollte sie schlafen? Sie merkte, daß sie sehr müde war.

Am Ende der Straße entdeckte sie ein Tor. Durch so ein Tor war der Bus vorhin auch gefahren. Ob der Bus dort unten wartete?

Veronika begann zu laufen. Immer schneller gerieten ihre Füßchen in Trab. Als sie das große Tor hinter sich gelassen hatte, stand sie auf einer Landstraße. Sie stürmte weiter. Von einem Bus war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht an der nächsten Biegung? Veronika lief über eine große Brücke. Nichts!

Ein Hund kam bellend auf sie zu. Veronika erschrak ein bißchen. Doch als sie ihn ansprach, wedelte er mit dem Schwanz.

»Tu mir nichts! Ich mag dich leiden, du bist ein hübscher Hund!«

Der Wolfsspitz beschnupperte das Kind, und als es ihm das Fell kraulte, war die Freundschaft geschlossen.

»Hast du nicht einen großen Bus gesehen?« fragte Veronika.

Der Spitz sah sie verständnislos an.

»Wo soll ich bloß hin heute abend?« Veronikas Augen wurden dunkel. Krampfhaft verschluckte sie die aufsteigenden Tränen.

Der Spitz lief ein Stück voraus die Straße entlang. Veronika ging mechanisch hinterher. Der Hund wollte spielen, aber das kleine Mädchen war schon viel zu müde.

Plötzlich sah es vor sich ein seltsames Haus. Es war hoch und schmal mit spitzem Dach, beinah wie ein Turm.

»Ist das aber ulkig!« staunte Veronika. Durch eine Pforte in der Mauer betrat sie den Garten. Unter einem Dach aus Weinlaub entdeckte sie einen Tisch aus Stein und davor eine Bank.

Veronika setzte sich erschöpft auf die Bank und ließ das Köpfchen auf den Tisch sinken. Müde blinzelte sie in das grüne Dämmerlicht. Es war hier so herrlich still und warm. Die steinerne Tischplatte strahlte die Sonnenwärme des Tages wieder.

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war Veronika im Garten des Toppler-Schlößchens eingeschlafen.

*

In Würzburg hatten die Kinder ein Museum besichtigt. Dies war die letzte Station ihres Ausflugs. Alle waren schon ein bißchen müde und fingen an, herumzualbern.

An der Tür des Busses stand die Kindergärtnerin und zählte ihre Schäfchen. Nachdem alle eingestiegen waren, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß eins fehlte.

Sie hoffte, daß sie sich nur verzählt hatte, ging durch den Mittelgang und wiederholte die Prozedur mit ausgestrecktem Zeigefinger. Doch es blieb dabei: Einer ihrer Schützlinge fehlte.

»Wer ist es denn, der sich wieder einmal verbummelt hat?« fragte sie streng und blickte in die Runde. Und als niemand antwortete, forderte sie die Kinder energisch auf: »Schaut euch eure Sitznachbarn an! Nun, wer fehlt?«

»Veronika«, kam endlich eine leise Stimme.

»Veronika, natürlich! Unser Traumsuschen!« Die Kindergärtnerin wandte sich mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln an den Busfahrer, stieg wieder aus und eilte ins Museum zurück. Sie fragte die Aufsichtsbeamten nach dem kleinen blonden Mädchen, erhielt aber nur Kopfschütteln als Antwort.

Die junge Frau eilte wieder zum Bus und fragte heftig: »Rosi, Petra, warum habt ihr auf Veronika nicht aufgepaßt?«

»Aber wir haben doch…«

Die beiden Mädchen sahen sich schuldbewußt an. Beide dachten in diesem Moment das gleiche: Wir werden bestraft, wenn es herauskommt, daß wir die Kleine schon lange aus den Augen verloren haben!

Sie antworteten fast wie aus einem Mund: »In Rothenburg war Veronika aber noch da!«

»Und unterwegs?« forschte die Kindergärtnerin. Ihr Gesicht rötete sich vor Ärger. »Unterwegs haben wir doch auch noch einmal gehalten.«

»Da war Veronika auch noch da!« behaupteten die Mädchen.

Niemand widersprach. Veronika verhielt sich immer so still und unauffällig, daß man ihre Anwesenheit völlig vergessen konnte. Niemand wußte genau, ob er das kleine Mädchen noch gesehen hatte oder nicht.

»Dann kann sie ja nur hier verlorengegangen sein, während wir das Museum besichtigt haben! Einen Moment, bitte, noch!« Die Kindergärtnerin warf dem Chauffeur einen raschen Blick zu und verließ den Bus erneut.

Nachdem noch einmal alle Räume und Gänge des Museums durchsucht worden waren, rief die inzwischen schon völlig verzweifelte Kindergärtnerin die Polizei zu Hilfe. Sie sagte den Beamten gegenüber aus, daß Veronika nur hier in Würzburg verschwunden sein könnte.

So geschah es, daß niemand auf die Idee kam, das verlorene Schäfchen in Rothenburg zu suchen.

*

Professor Buss, ein weißhaariger Gelehrter, betrat tief in Gedanken versunken die Gaststube des »Oberen Felsenkellers«.

»Grüß Gott, Herr Professor!« begrüßte ihn die Wirtin.

Der Gelehrte schreckte aus seinen Gedanken. »Ah ja, guten Abend, Frau Eckstein.« Sie lächelten sich beide an. »Bitte, das Übliche.«

»Den Schlummertrunk, schon recht!« Die Wirtin beeilte sich, aus dem Felsenkeller den genau temperierten Frankenwein zu holen, den ihr Gast fast jeden Abend nach seinem ausgedehnten Spaziergang bei ihr trank.

Die Wirtin verließ den Raum, ohne daß es dem Gelehrten auffiel. Der Wolfsspitz nutzte die Gelegenheit und huschte auf leisen Pfoten hinein. Er stieß seine Nase gegen das Bein des alten Herrn, der daraufhin mechanisch das dichte graue Fell des Hundes streichelte. »Na, Teddy, du alter Stromer!« Der Hund streckte sich zu Füßen des Mannes aus. Nur das langsame Tick-Tack der Uhr und Teddys zufriedenes Schnaufen unterbrachen die Stille.

Genießerisch schlürfte der Alte den edlen Tropfen, der seine Gedanken zum Höhenflug trieb.

Schließlich erhob er sich und meinte: »Gehen wir, Teddy.«

Dem grauen Spitz war es zur Gewohnheit geworden, seinen Freund jeden Abend bis zum Toppler-Schlößchen zu begleiten.

Der Professor hatte das ehemalige Sommerschlößchen für einige Monate gemietet. Er fühlte sich in der altertümlichen, etwas versponnenen Atmosphäre sehr wohl, obwohl das Haus nichts von den Errungenschaften der modernen Technik enthielt. Es gab weder fließendes Wasser noch elektrisches Licht. Nicht einmal einen Herd gab es, sondern nur einen offenen Kamin mit stählernem Dreifuß.

In dieser Umgebung gelang dem Gelehrten am ehesten die geistige Versenkung in die Geheimnisse der Natur.

Teddy stürmte durch die Gartenpforte und stutzte. Er stemmte die Vorderpfoten gegen den Steintisch.

Ohne den Hund zu beachten, ging der Professor gedankenversunken zur Haustür des Schlößchens. Teddy aber lief ihm nach und stieß ihn mit der Nase an. Dann machte er kehrt und blieb erwartungsvoll stehen. Als der alte Mann noch immer nicht begriff, gab der Spitz Laut.

Jetzt endlich entdeckte der Gelehrte das schlafende Kind.

»Das ist ja wie im Märchen vom Goldtöchterchen!« murmelte er verblüfft, griff sich in den dünnen weißen Bart. Er hatte keine Ahnung vom Umgang mit Kindern. Sein eigener Sohn war längst erwachsen, und früher hatte er mit dem kleinen Jungen nicht viel anzufangen gewußt. Ihm fiel ein, daß die Mutter das Kind sicher vermissen würde.

Vorsichtig rüttelte er an der Schulter des schlafenden Mädchens.

Veronika grunzte nur unwillig.

Der Professor rüttelte stärker. »He, du!«

Das Kind schlug für ein paar Sekunden die Augen auf und ein schlaftrunkenes Lächeln huschte über das Gesichtchen.

»Opa!« sagte es, kuschelte ihren Kopf auf dem Arm zurecht und setzte seinen Schlaf fort.

»Opa hat sie gesagt! Teddy, hast du das gehört? Opa! Da kann ich doch nicht so roh sein und sie wachrütteln!« Wieder kämmte der alte Gelehrte mit den Fingern ratlos seinen Bart. »Weißt du, Teddy, ich trage sie erst einmal einfach ins Haus. Später werden wir dann zu Frau Eckstein gehen und uns erkundigen, wem das kleine Mädchen gehört. Die Mutter kann es dann bei uns abholen.«

Teddy kniff das rechte Auge zu.

»Offenbar bist du auch meiner Meinung. Also dann!« Der Alte stöhnte ein bißchen, als er das schlafende Kind auf die Arme nahm und ins Toppler-Schlößchen trug.

Leise ächzend stieg er mit seiner leichten Last die enge steile Treppe hinauf. Behutsam ließ er das kleine Mädchen auf den alten Diwan sinken und deckte es sorgfältig mit einer Wolldecke zu.

Lächelnd blickte er in das gelöste Gesichtchen. Wirr hingen die krausen blonden Locken in die Stirn und ringelten sich über die Wangen.

»Goldtöchterchen!« murmelte der Gelehrte – dann waren die Gedanken schon wieder bei seinen speziellen Problemen, die ihn Tag und Nacht beschäftigten.

Er stieg noch eine Treppe höher und ließ sich an dem über und über mit Folianten und Zetteln übersäten Tisch nieder.

Mechanisch entzündete er eine Kerze. Im Schein des flackernden Lichtes nahmen aufgespießte Insekten und Falter, die in flachen Holzkästen aufbewahrt wurden, gespenstisches Leben an. Gepreßte Blüten und Blätter auf weißen Bögen zeugten von der Sammelleidenschaft des Gelehrten.

Als er endlich zu Bett ging, weil die Kerze heruntergebrannt war, hatte er die kleine Schläferin, die eine Etage tiefer dem neuen Tag entgegenschlummerte, völlig vergessen.

*

Die Sonne stand schon hoch, als Veronika erwachte. Sie rieb sich schlaftrunken die Augen. Als sie die fremde Umgebung wahrnahm, setzte sie sich mit einem Ruck auf. Ihr war ein bißchen unheimlich zumute.

Rasch schlug sie die Decke zurück und rutschte auf den Fußboden. Zögernd ging sie zur Tür. Sie hatte ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube, Hunger! Darüber vergaß sie ihre Scheu.

Veronika erinnerte sich, daß sie in einem Garten eingeschlafen war. Das Zimmer, in dem sie jetzt stand, sah merkwürdig aus, beinahe wie in einem Puppenhaus.

Das kleine Mädchen ging schüchtern zur Tür und rief mit dünner Stimme: »Hallo!«

Sie überlegte, ob sie höher oder tiefer steigen sollte. Da erschien am oberen Treppenabsatz ein Kopf mit weißem Haar und Bart. Ein Gesicht, wie Veronika es ähnlich in ihrem Märchenbilderbuch gesehen hatte! Und plötzlich erinnerte sie sich dunkel an gestern abend.

»Opa!« sagte sie, und ein fragender Ton schwang in dem Wort mit.

»Dich hatte ich ja völlig vergessen, Goldtöchterchen!« Im Gesicht des alten Herrn stand wieder Ratlosigkeit.

Veronika erlöste ihn, denn sie sagte: »Ich habe solchen Hunger!«

»Hunger hast du? Das hätte ich mir denken können! Komm rasch zu mir!«

Veronika beeilte sich, die Treppe hinaufzuklettern. Sie mußte ordentlich die Beinchen recken.

Als sie das Zimmer betrat, standen bereits ein Becher Milch und ein Teller mit dicken Weißbrotschnitten auf der Tischkante. Der übrige Tisch blieb mit Büchern und Papieren beladen. Veronika folgte der auffordernden Handbewegung und machte sich über das Frühstück her.

»Schmeckt’s?« fragte der alte Gelehrte zwischendurch.

»Hm!« machte Veronika mit vollen Backen. Nachdem sie den Teller leergegessen hatte, rutschte sie vom Stuhl und sah sich unschlüssig um.

»Bist du satt, kleines Mädchen?«

Veronika nickte.

»Na, dann lauf mal schnell zu deiner Mutter. Die wird schön schimpfen, vermute ich. Sicher hat sie große Angst um dich ausgestanden.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Jetzt erst kam ihm zu Bewußtsein, was er da angerichtet hatte. Die Mutter mußte ja annehmen, das Kind sei buchstäblich vom Erdboden verschluckt worden!

Veronika ging schweigend zur Tür.

»Darf ich wiederkommen, Opa?« fragte sie schüchtern.

Ein Lächeln huschte über das durchgeistigte Gesicht des Gelehrten. »Aber natürlich, Goldtöchterchen! Wenn du Lust hast, darfst du mich zu jeder Zeit besuchen kommen!«

Da war dem Kind schon leichter ums Herz. Aber wohin jetzt?

Sie verließ das kleine Haus und blinzelte in die Sonne. Im Moment wußte sie nichts Rechtes mit der sonst so ersehnten Freiheit anzufangen. Aber sie fühlte sich ausgeschlafen und satt – also sehr wohl. Sie trippelte durch den romantischen kleinen Garten und trat auf die Straße. Ob sie wieder in die Stadt gehen sollte? Dort gab es viel zu sehen. Aber dort suchte man sie vielleicht schon – nein, sie hatte vorläufig noch keine Sehnsucht nach dem Kinderheim. Sie hatte überhaupt keine Sehnsucht nach dem Kinderheim. Sie hatte überhaupt keine Sehnsucht danach, wieder von den anderen geknufft zu werden!

In diesem Moment kam Teddy die Straße entlanggefegt. Freudig begrüßte er das kleine Mädchen wie eine alte Bekannte. Das war willkommene Ablenkung und der richtige Spielgefährte!

Der Spitz suchte ein Stöckchen und brachte es ihr. Veronika begriff sofort. Sie warf es, so weit sie nur konnte. Teddy stürmte begeistert davon und war im Nu wieder bei ihr. Sie liefen auf eine an der Straße liegende Wiese und fingen an, sich um das Stöckchen zu raufen. Übermütig kugelten sie durch das hohe Gras.

So kamen sie an den Fluß. Er war flach und rauschte über die Steine. Veronika warf den Stock ins Wasser. Lustig tanzte er davon.

Teddy kannte keine Hemmungen, er sprang hinterher. Als er mit dem Stock im Maul zurückkehrte, schüttelte er sich heftig, und ein Sprühregen funkelnder Tropfen ergoß sich über das kleine Mädchen. Es lachte hell auf – und hielt sich die Hand vor den Mund, als wäre es über seine eigene Fröhlichkeit erschrocken.

»Nun bin ich sowieso schon naß, nun gehe ich ins Wasser! wandte es sich an den Spielgefährten, zog Schuhe und Söckchen aus und setzte den Fuß auf einen großen Stein.

Zu spät bemerkte Veronika, daß der Stein glitschig war. »Huh!« Und schon lag sie im flachen Wasser.

Verdutzt rappelte sie sich hoch. Was jetzt? Verlegen drückte sie das Wasser aus dem Röckchen. Dann fiel ihr ein, daß niemand in der Nähe war, der schimpfen konnte, und sie fand ihre sorglose Unbekümmertheit wieder.

»Die Sonne wird es trocknen!« tröstete sie sich. Sie nahm Strümpfe und Schuhe in die Hand und watete die Tauber aufwärts.

Das glitzernde Wasser, die warme Sonne, der lustige Spielgefährte – Veronika fand das Leben schön wie nie zuvor!

Plötzlich ertönte ein scharfer Pfiff. Teddy spitzte die Ohren und setzte sich in Bewegung.

»Ooooch!« machte das Kind bedauernd. »Geh doch nicht fort!« Teddy blieb einen Moment stehen, blickte zurück und wies mit der Schnauze nach vorn.

Komm doch mit, hieß das – und Veronika verstand sofort.

Zögernd folgte sie dem grauen Hund.

Am Rand der Straße stand die Wirtin des »Oberen Felsenkellers«.

»Na, du Stromer!« wandte sie sich leicht tadelnd an den Spitz. Dann entdeckte sie das Kind. Die hellen Vergißmeinnichtaugen sahen sie hilflos und ein wenig ängstlich an.

»Na, wem gehörst du denn?«

Das war eine Frage, mit der Veronika überhaupt nichts anzufangen wußte. Denn sie gehörte in der Tat niemandem.

»Wo wohnst du denn oder wohin willst du?« bohrte die Wirtin.

»Da – in dem Haus mit dem spitzen Dach«, sagte Veronika mit leiser unsicherer Stimme. Und sie fügte hinzu: »Wo der Opa wohnt.«

Die Wirtin überlegte einen Augenblick. »Ach, der alte Herr Professor ist ein Opa? Du liebe Güte! Ist deine Mutti denn auch hier?«

Veronika schüttelte heftig den Kopf.

»Das wundert mich aber sehr. Der Herr Professor vergißt sich selbst und die Welt. Heute hat er schon wieder einmal das Mittagessen vergessen. Dabei habe ich ihm extra gesagt, daß es Klöße gibt. Aber er hat immer andere Dinge im Kopf. – Hast du denn schon etwas zu Mittag gehabt?«

»Nein – nur heute morgen«, antwortete Veronika und spürte plötzlich ihren leeren Magen wieder.

»Das hab’ ich mir beinahe gedacht. Na, dann komm mal mit. Wie heißt du eigentlich?«

»Ika!« Veronika nannte ihren abgekürzten Namen, den sie sich selbst gegeben hatte, als sie noch nicht richtig sprechen konnte.

»Ika«, wiederholte die Wirtin. »Das ist aber ein seltsamer Name. Den hat dir sicher dein Opa ausgesucht!«

Veronika schwieg. Sie hatte gelernt, daß es immer besser war, nicht zu viel zu sagen. Sie betrachtete das freundliche Gesicht der Frau eingehend und fand es sehr vertrauenerweckend.

Hand in Hand stapften sie den Abhang hinauf, und Veronika bekam in der dunkelgetäfelten Gaststube ein köstliches Mittagessen serviert: Klöße mit Sauerkraut und Schweinebraten. Sie aß mit Genuß und Hingebung.

»Na also!« sagte die Wirtin befriedigt. »Ein alter Mensch wie dein Opa kann auf eine Mahlzeit verzichten. Aber aus dir soll ja erst noch ein Mensch werden. Bis jetzt bist du ja nur ein Würstchen. Wenn dein Opa das Essen wieder einmal vergißt, dann komm zu mir! – So, und nun geh wieder spielen.«

Sie schob das Kind aus der Tür und bemerkte dabei seine noch immer feuchte Rückseite. »Ach du liebe Güte, bist du in die Tauber gefallen?«

»Ein bißchen bloß. Ist schon bald wieder trocken!« versicherte Veronika hastig.

»Na, nun aber marsch zum Opa und ein neues Kleid anziehen! Schmutzig und verknautscht ist es ja auch!«

Veronika beeilte sich, aus dem Haus zu kommen. Draußen entdeckte sie eine junge Frau im Liegestuhl. Langsam schlenderte Veronika höher. Die junge Frau lag mit geschlossenen Augen. Ihre langen braunen Haare waren ausgebreitet wie ein Fächer. Das schmale Gesicht schimmerte rosig. Lange dunkle Wimpern warfen richtige Schatten.

Veronika fand, daß die Frau wie ein Engel aussah.

Die Hände des Engels lagen im Schoß und hielten einen Brief.

Sie ist beim Lesen eingeschlafen, dachte Veronika. Manchmal ist Lesen langweilig…

Doch plötzlich sah sie, daß unter den langen Wimpern eine Träne hervorquoll!

Die Träne rollte über die zarte Wange und hinterließ eine nasse Spur. Und dann folgte eine zweite Träne und noch viele mehr!

Veronika stand völlig erschüttert da. Ihr mitleidiges Herz floß über. Spontan umarmte sie die Weinende und flüsterte:

»Weine doch nicht! Sonst werde ich auch ganz traurig! Du bist so schön. Bist du ein Engel?«

Die junge Frau fuhr in die Höhe. Sie schob das Kind auf Armeslänge von sich und fragte verwirrt: »Wo kommst du denn plötzlich her?«

Hastig suchte sie nach einem Taschentuch. Dabei ließ sie den Brief verschwinden.

»Bist du jetzt böse auf mich?« fragte Veronika und machte erschrockene Augen.

»Nein, nein, natürlich nicht. Sage mir, wie du heißt.«

»Ika!«

»Und wo wohnst du?«

»Ich bin bei Opa im Schloß!«

»Im Schloß? – Ach, du meinst sicher das Toppler-Schlößchen! Der Herr Professor ist dein Opa?«

Veronika nickte eifrig.

»Warum bist du so traurig?« wollte sie wissen. »Hat dir einer was Böses geschrieben?«

»Du bist der Wahrheit sehr nahe. Aber das verstehst du nicht, mein Kind. – Geh jetzt spielen.«

»Wirst du auch nicht mehr weinen?«

»Nein, bestimmt nicht!« Die junge Frau legte sich wieder zurück und schloß die Augen.

Sie sieht sehr schön aus, aber sehr, sehr traurig. Ob Engel immer traurig sind? grübelte Veronika. Sie hockte sich still zu Füßen der jungen Frau ins Gras, stützte ihr Kinn in die kleine Hand und sann.

Von der Mittagssonne wurde Veronika ein bißchen schläfrig. Es war schön, hier zu sitzen und die wunderhübsche Frau anzusehen. – Wer ihr wohl etwas Böses geschrieben hatte? Veronika konnte es sich überhaupt nicht denken!

Über ihr in der Kastanie zwitscherte ein Vogel. Veronika schloß die Augen und lauschte. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, daß der Engel im Liegestuhl sich aufgerichtet hatte. »Du bist ja noch immer hier, Ika?«

»Ich dachte, vielleicht magst du nicht gern allein sein.«

»Und du hast die ganze Zeit hier still gesessen?«

Veronika nickte.

Urte Söhrens war gerührt. Dieses Kind mit den Vergißmeinnichtaugen machte einen seltsam verlorenen Eindruck. Auch sie, Urte, fühlte sich verloren. Vielleicht fühlten sie sich deshalb zueinander hingezogen.

»Ist deine Mutti auch hier?« fragte sie das Kind.

Heftiges Kopfschütteln. Die ungekämmten Locken tanzten um das kleine runde Gesicht. »Ich hab’ gar keine Mutti! Nur einen Opa.«

»Ach du liebe Güte!« Unwillkürlich beugte Urte sich nach vorn und strich zärtlich über das blonde Köpfchen und über die Wange. »Wollen wir in die Stadt gehen und ein Eis essen?«

Veronikas Augen leuchteten auf. »Hast du denn so viel Geld?«

»Ich denke, für uns beide wird es reichen!« Urte erhob sich und holte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche. Mit raschen geschickten Griffen richtete sie ihr langes seidiges Haar.

»Dein Haar ist auch ordentlich verzottelt, Ika. Komm mal näher.«

Veronika fürchtete sich stets vor dem Kämmen. Es ziepte immer fürchterlich. Erstaunlicherweise merkte sie unter der leichten Hand der Frau kaum etwas und wurde noch gelobt, weil sie so schön still hielt. Daß sie gelobt wurde – das war etwas ganz Neues für das kleine Mädchen.

In der Haustür erschien die Wirtin.

»Ich nehme die Kleine mit in die Stadt, falls ihr Opa fragen sollte«, erklärte Urte. »Bitte, richten Sie es dem Herrn Professor aus, Frau Eckstein.«

»Ist recht, Fräulein Söhrens. Der Herr Professor hat bestimmt nichts dagegen. Ich verstehe gar nicht, daß die Mutter das Kind allein bei dem alten Herrn läßt.«

»Ika hat mir erzählt, daß sie nur den Opa hat, keine Mutti. – Aber einen Vater hast du doch auch?« wandte sich Urte vorsichtig an das Kind.

Veronika schüttelte heftig den Kopf.

Die Wirtin schlug die Hände zusammen. »Dann sollst du wohl für immer bei deinem Opa bleiben? Na, was das wohl wird! So ein Kind muß doch zu seinem Recht kommen! Der Herr Professor vergißt das Essen und das Trinken. Seine Gedanken schweben ja immer im siebenten Himmel. Und jetzt das Kind!«

»Wir gehen erst einmal Eis essen!« sagte Urte rasch.

An der Hand der jungen Frau fand Veronika die Straßen der alten Stadt noch viel schöner und aufregender. Sie hatte plötzlich das Gefühl, beschützt zu sein. Es gab einen Menschen, der für sie da war. Auch das war etwas ganz Neues und Außerordentliches für das kleine Mädchen. Selbst eine nette Tante mußte sie im Heim mit so vielen anderen teilen! Hier war nun jemand, der Zeit hatte und noch viel netter und hübscher war als die Tanten. Veronika war sehr stolz darauf, an der Hand der jungen Frau gehen zu dürfen. »Tante…«

»Ach, sag doch einfach Urte zu mir, Ika.«

»Urte… Urte, darf ich dich jeden Tag besuchen kommen?«

»Aber natürlich! Ich würde mich freuen. Bei deinem Opa im Schlöß­chen langweilst du dich doch sicher.«

»Ja. Ich spiel’ immer mit dem

Teddy. Aber bei dir bin ich noch lieber.«

»So ein nettes Kompliment habe ich ja lange nicht mehr bekommen!«

Urtes Augen verdunkelten sich. Sie dachte an die Zeit des Schmerzes und der Einsamkeit, die ihr endlos vorkam. Waren wirklich erst ein paar Wochen vergangen, seit sie den niederschmetternden Brief von Dirk bekommen hatte?

Sie hatte an die große, die einmalige Liebe geglaubt.

Für den geliebten Mann aber war es anscheinend nur ein unbedeutender Flirt gewesen. Ein banaler Brief war der Schlußpunkt. Es ist besser, wenn wir uns trennen – so hatte er geschrieben. Keine großen Erklärungen…«

Heiß stieg die Scham in Urte hoch – wie immer, wenn sie daran dachte, wie rückhaltlos sie ihn geliebt hatte. Sie neigte ein wenig zur Melancholie, und es war gerade die leichte Art, die unbekümmerte Fröhlichkeit, die sie an Dirk so fasziniert hatte. Aber diese leichte Art war es auch, die aus dem Abschiedsbrief sprach!

Urte fühlte sich tief verwundet, und sie hatte sich aus dem Norden in den Süden geflüchtet, um genügend Raum zwischen sich und den Mann zu legen.

Sie fürchtete sich vor einer zufälligen Begegnung. Sie fürchtete sich vor dem unbekümmerten Lächeln des Mannes. Im Geist hörte sie ihn sagen: Urte, du mußt dir abgewöhnen, aus allem ein Drama zu machen!

Ein Drama… Für sie war es eine Katastrophe gewesen. Noch immer schlug sie sich mit dem bitteren Schmerz herum und verkroch sich hier in der Stille wie ein waidwundes Wild.

Impulsiv drückte Urte die kleine Hand des Kindes. Die Gegenwart des Mädchens würde ihr guttun. Ihr blieb nicht mehr so viel Zeit zu grübeln.

Jetzt erst kam es Urte zum Bewußtsein, daß sie vor einem Schaufenster standen. Mit verlangenden Augen starrte Ika durch die Scheibe.

»Was gefällt dir denn so besonders?« erkundigte sich Urte.

»Der Teddybär!« kam es atemlos und wie aus der Pistole geschossen.

»Hast du denn keinen?«

Heftiges Kopfschütteln. »Ich habe überhaupt kein Spielzeug.«

»Das ist aber seltsam. Ach, du meinst sicher, du hast hier bei deinem Opa keine Spielsachen.«

Veronika dachte an den abgeschabten Teddybär im Kinderheim und schwieg.

Wenig später hielt Ika den Teddy im Arm und konnte gar nicht begreifen, daß er ihr gehören sollte. »Mir ganz allein?« fragte sie ungläubig.

»Ich bin doch wohl schon zu alt, um noch damit zu spielen?« lachte Urte. »Meinst du nicht auch?« Sie fuhr dem Kind zärtlich über das Haar.

Veronika nickte und preßte das Plüschtier krampfhaft an sich, als fürchte sie, es könnte ihr doch wieder entrissen werden.

*

Am Abend dieses ereignisreichen Tages bummelte Veronika wieder zum Toppler-Schlößchen. Sie war zutiefst erschrocken, als sie die Haustür verschlossen fand.

Die Sonne verschwand bereits hinter den Hügeln.

»Der Opa kommt sicher bald!« tröstete Veronika sich und den Teddybären, den sie im Arm hielt.

Es dauerte nicht lange und der alte Gelehrte tauchte an der Wegbiegung auf. »Da bist du ja wieder!« begrüßte er das kleine Mädchen erfreut.

Veronika hielt ihm strahlend ihren Teddy entgegen.

»Ist der neu?« wollte der alte Herr wissen.

Veronika nickte.

»Der ist aber wirklich sehr schön. Hast du extra auf mich gewartet, um ihn mir zu zeigen?«

»Ich… ich möchte so gern wieder bei dir schlafen!« stotterte Veronika.

»Ist deine Mutter denn damit einverstanden?« wollte der weltfremde Gelehrte wissen, und Veronikas eifriges Nicken genügte ihm.

Als das kleine Mädchen noch hinzufügte: »Es gefällt mir so gut bei dir, ich möchte immer bei dir schlafen!« schwanden seine letzten Bedenken wie Schnee in der Märzsonne.

Ein glückliches Lächeln glitt über sein Gesicht. »Wenn das so ist, Goldtöchterchen, dann komm nur.«

Sie stiegen die enge steile Treppe hinauf. Veronika fühlte sich unendlich erleichtert. Sie liebte den alten Mann schon deshalb, weil er keine unbequemen Fragen stellte.

»Dann wollen wir dir aber heute ein richtiges Bett bauen«, murmelte er in seinen weißen Bart. »Irgendwo muß doch noch Bettwäsche sein.« Er zog die Schublade einer kleinen Kommode auf. »Nein, hier nicht. Aber vielleicht hier.« Er öffnete einen altmodischen Schrank. »Ah ja, hier haben wir es.«

Mit unbeholfenen Bewegungen fing er an, ein Laken auf dem Diwan auszubreiten. Veronika half ihm nach besten Kräften.

»Sag mal, hat dir deine Mami kein Nachthemd mitgegeben?« fiel es dem zerstreuten Gelehrten plötzlich ein.

»Brauch’ ich nicht. Es ist ja so warm. Ich kann ja mein Unterhemdchen anbehalten.«

Als Veronika wenig später auf dem Diwan stand, schlang sie unversehens die Ärmchen um den Hals des alten Mannes und gab ihm einen Kuß auf die bärtige Wange.

»Nanu!« sagte der alte Gelehrte verdutzt.

Veronika ließ sich fallen und kuschelte sich wohlig in die Kissen. Sorgfältig breitete der alte Herr die Decke über das Kind. Es dauerte nicht lange, und Veronika war – ihren Teddybären im Arm – sanft entschlummert.

Eigentlich hatte der Professor noch einen Abendschoppen im »Oberen Felsenkeller« trinken wollen. Aber nun beschloß er, sich den gewohnten Schoppen in seinem Arbeitszimmer selbst zu servieren. Es könnte ja sein, daß das Kind erwachte und sich ängstigte!

Nachdenklich blickte er auf das schlafende Mädchen hinunter, und eine sonderbare Zärtlichkeit stieg in ihm auf.

Er schüttelte den Kopf über sich selbst und erklomm die Stiege, die ins Studierzimmer führte.

Weit öffnete er das kleine Fenster, und die milde Abendluft strömte herein. Das Rauschen der Tauber und ein Froschkonzert erfüllten das stille Tal.

Bedächtig entkorkte der alte Mann die verstaubte Flasche. Langsam ließ er das hellgelbe Naß ins Glas fließen. Seine Augen schlossen sich, als er den Pokal an die Lippen führte. Herb und erdig war der Wein dieser Landschaft.

Der Gelehrte stützte den Kopf in die Hand und dachte darüber nach, daß vieles auf dieser Erde seine volle Schönheit erst kurz vor dem Absterben offenbart. Diese Überlegung beschäftigte ihn seit Tagen und nahm ihn mehr und mehr gefangen.

*

Als Veronika am nächsten Vormittag im »Oberen Felsenkeller« erschien, begrüßte sie die Wirtin mißbilligend: »Du hast ja immer noch das zerknautschte Kleid an. Sieht der Opa das denn gar nicht? Schmutzig ist es inzwischen!«

Veronika sah bedrückt an sich herunter und strich mit den Händen verlegen über das Röckchen.

»Du kannst sicher nichts dafür«, meinte die Wirtin. »Hellblau schmutzt auch sehr, und ein Kind kann sich ja nicht dauernd vorsehen.«

In Veronikas Augen stand Dankbarkeit. Diesen Ton war sie nicht gewohnt.

»Ich bin gerade bei der Wäsche«, erklärte die Wirtin. »Am besten, ich wasche dein Kleid gleich mit. In der Sonne trocknet es nachher im Nu.« Sie streifte dem Kind das Kleid ab und bemerkte, daß es um die Unterwäsche nicht viel besser bestellt war. Ja, ja, der Herr Professor!

Sekunden später stand Veronika splitternackt da. »Und jetzt?« fragte sie ratlos.

Die Wirtin wußte Rat. Sie holte zwei Frotteetücher, steckte sie an den Schultern und an der Taille mit Sicherheitsnadeln zusammen und meinte befriedigt: »So, jetzt hast du ein ganz modernes Frotteekleid!«

Veronika war begeistert.

»Danke, danke, du bist prima!« Strahlend rannte sie mit dem Wolfspitz um die Hausecke – und stieß mit Urte Söhrens zusammen.

»Hoppla! Nanu, du bist ja seltsam gekleidet!«

»Ja, Tante Eckstein wäscht all mein Zeug!«

»Hast du denn nur das eine Kleid, das hellblaue?«

Die Wirtin erschien und enthob Veronika einer Antwort. »So ein zerstreuter Professor sieht gar nicht, wenn die Kleider mal gewechselt werden müssen! Ein versponnener alter Mann und ein kleines Kind, das geht halt nicht gut.«

»Hast du denn genügend Kleider mitbekommen, Ika?« forschte Urte.

Veronika starrte zu Boden und schüttelte den Kopf.

»Dein Handtuchkleid sieht ja sehr schick aus, aber in die Stadt kann ich dich so nicht mitnehmen. – Sei nicht traurig, ich bringe dir auch was Schönes mit!« fügte Urte hinzu, als sie sah, wie sich das Gesicht des kleinen Mädchens verschattete.

Veronika konnte es kaum erwarten. Immer wieder rannte sie mit Teddy um die Wette bis zur Brücke. Endlich sah sie das weiße Kleid und das blonde Haar durch die Bäume schimmern. Nun gab es kein Halten mehr. Der Spitz glaubte, daß Veronika das Rennen extra für ihn veranstaltete; er stürmte davon, daß der Sand nur so stob.

Veronika erreichte Urte völlig atemlos, wurde aufgefangen und durch die Luft gewirbelt. Sie jauchzte hell auf. Als sie wieder auf der Erde stand, schielte sie nach dem Paket, das Urte in der Hand trug.

»Ja, es ist für dich, Ika!«

Hastig streifte das Kind die Papierhülle ab. Ein »Oh!« entfloh seinen Lippen. Ungläubig starrte es auf den Inhalt. Es war ein Dirndlkleidchen, schwarzgrundig mit roten Röschen.

»Darf ich es behalten – für immer?«

Urte wunderte sich über die merkwürdige Frage. Dann ging ihr ein Licht auf. »Ach, du hast sicher noch kleinere Geschwister, an die du deine Kleider weitergeben mußt?«

Veronika umging die Antwort, indem sie Urte stürmisch umarmte. »Darf ich es gleich anziehen?«

»Gleich hier auf der Straße? Aber warum nicht, da können wir gleich sehen, ob es paßt.«

Die Sicherheitsnadeln waren schnell gelöst und das Dirndl übergestreift.

»Na also, es paßt ja!« meinte Urte befriedigt.

Veronika drehte sich vor ihr wie ein Mannequin. Sie hatte einen angeborenen Charme, der sich erst jetzt frei zu entfalten begann.

»Ganz süß siehst du aus!« stellte Urte fest, und eine große Zärtlichkeit erfüllte sie.

Sie hob das Kind zu sich empor und drückte es spontan an sich. Doch Veronika zappelte sich ungeduldig wieder frei. »Ich muß Tante Eckstein zeigen, was du mir mitgebracht hast!«

Die Wirtin stand in der Küche vor den dampfenden Töpfen und stemmte vor Überraschung die Hände in die Hüften. »Na also, warum nicht gleich so! Du warst also beim Opa?«

»Nein, das hat Urte mir mitgebracht!«

»Soviel möchte ich auch mal geschenkt bekommen! Jeden Tag etwas Neues.«

Veronika strahlte, und Urte, die hinter dem Kind auftauchte, sagte lächelnd: »Nur arme Waisenkinder bekommen so viele Geschenke.«

Veronika entschwand. So glücklich wie in diesen Tagen war sie in ihrem ganzen Leben nicht gewesen.

Mit wachsender Furcht dachte sie an das Kinderheim. Sie war fest entschlossen, keinem Menschen zu verraten, wo sie hergekommen war.

*

Ein attraktives Paar schlenderte über den Rothenburger Marktplatz.

Der junge Mann war groß und schlank. Lose und wellig zog sich sein schwarzbraunes Haar bis tief in den Nacken. In seinen Augen schwelte ein feuriger Glanz.

Das Mädchen neben ihm war nur wenig kleiner als er. Auf überlangen Beinen bewegte sie sich mit unnachahmlicher Eleganz über das Kopfsteinpflaster. Ihr schwarzes Haar war im Nacken zu einem mächtigen Knoten verschlungen und gab die ebenmäßigen Linien ihres schlanken Halses frei. In den Ohren trug sie riesige, apart ziselierte Goldgehänge. Das Gesicht war von einer vollendeten, klassischen Schönheit.

»Eigentlich müßte ich jetzt erst einmal meinen Vater besuchen!«, meinte der junge Mann. »Er hat sich diesen Sommer im Toppler-Schlöß­chen eingemietet.«

»Ich kenne das Schlößchen«, erwiderte das Mädchen mit samtdunkler Stimme. »Es ist zwar recht romantisch, aber meinen Urlaub möchte ich dort nicht verbringen. Es hat nicht den geringsten Komfort. Das wäre doch auch nichts für dich, nicht wahr, H.G.B.?«

Hans-Günther Buss warf seiner Begleiterin einen raschen Seitenblick zu. »Vater macht dort nicht Urlaub, sondern er arbeitet. Er denkt über die Geheimnisse der Natur nach und schreibt ein Buch.«

»Wir werden ihn ein andermal besuchen!«

»Ich wollte eigentlich allein hingehen, Toska«, erwiderte Hans-Günt­her Buss. »Weißt du, Vater ist ein bißchen sonderbar. Er lernt nicht gern fremde Leute kennen.«

Toska von Tersky zog die Augen schmal. Die angeklebten überlangen Wimpern zitterten leicht.

»Ich werde für deinen Vater ja nicht immer eine Fremde bleiben«, sagte sie betont langsam.

Hans-Günther Buss blickte starr geradeaus. Die Hand des Mädchens, eine rassige Hand mit langen hellrot gelackten Nägeln, preßte sich um seinen Arm.

»Ich meine, dein Vater ist doch nicht gerade ein Einsiedler!« Der Samt in der Stimme hatte sich in Metall verwandelt.

Irgendwo schlug eine Uhr. Die Sommerhitze brütete zwischen den Häuserwänden. Die Luft flimmerte.

»Ich schlage vor«, sagte Toska von Tersky bedeutungsvoll, »wir gehen erst einmal ins Hotel und machen uns ein wenig frisch.«

Der Mann nickte zustimmend, und sie steuerten das Hotel »Eisenhut« an. An der Rezeption empfingen sie ihre Schlüssel.

Hans-Günther fühlte sich sofort wieder von der zauberhaften Atmosphäre Rothenburgs gefangengenommen. Wie in der Stadt, so glaubte er sich auch in diesem berühmten Hotel in ein anderes Zeitalter versetzt.

Die beiden Zimmer, die Toska und er bewohnten, lagen nebeneinander. Als sie sich voneinander trennten, zögerte das Mädchen sichtlich. In ihrem Blick lag eine unmißverständliche Lockung. Doch Hans-Günther tat so, als bemerkte er nichts.

»Bis später, Toska.« Dann trat er in sein Zimmer. Gedankenverloren ließ er sich in einen Barocksessel sinken. Er dachte nach. Er überlegte, warum er Toska von Tersky nicht hundertprozentig bejahen konnte. Sie entstammte einem uralten Adelsgeschlecht und war gleichzeitig eine selbstbewußte, moderne junge Frau. Sie sah phantastisch aus. Man würde ihn um dieses Mädchen beneiden.

Auf sehr dezente Art hatte ihm

Toska bisher zu verstehen gegeben, daß er ihr etwas bedeute und sie nicht nur berufliche Interessen verbanden.

Hans-Günther dachte an seinen Vater. Was der wohl dazu sagen würde, wenn er ihm eine Toska von Tersky als Schwiegertochter vorstellte? Wahrscheinlich würde der alte Herr verständnislos den Kopf schütteln. – Eine Luxuspuppe, mein Junge, aber keine Frau zum heiraten…

Obwohl sie in zwei völlig verschiedenen Welten lebten, mochte Hans-Günther Buss seinen Vater, und der hatte sich oft nach dem Urteil seines alten Herrn gerichtet – obgleich der Vater davon nichts ahnte.

Ein leises Klopfen an der Tür schreckte den Mann aus seinen Gedanken.

»Ja, bitte.«

Die Tür ging auf, und Toska trat ein, in jeder Hand ein hohes, vom Eishauch beschlagenes Whiskyglas. Eines davon reichte Toska dem Mann nun schweigend.

Hans-Günther ließ seinen Blick über die Erscheinung des Mädchens gleiten. Sie trug ein schlicht geschnittenes cremefarbenes Sommerkleid, dem ein Laie nicht ansah, daß es aus einem der teuersten Pariser Modehäuser stammte. Um ihre zerbrechlich wirkende Taille spannte sich ein zehn Zentimeter breiter Gürtel aus burgunderrotem Lack.

Hans-Günther spürte, wie ihn eine prickelnde Erregung durchströmte. Unwillkürlich spannte sich seine Hand fester um das hohe Glas.

Durch die halbzugezogenen Fenstervorhänge fiel ein Streifen gleißenden Sonnenlichts. Die Wärme des Sommers vermischte sich mit der gedämpften Atmosphäre des Zimmers. Die Luft schien plötzlich elektrisch geladen zu sein.

Toska stellte ihr Glas ab und näherte sich dem Mann mit langsamen, fast trägen Schritten. Sie legte die nackten gebräunten Arme um seinen Nacken und sah ihm tief in die Augen. Ihre schweigenden Lippen wirkten wie eine große exotische Blüte – wie die herausfordernde Blüte einer fleischfressenden Pflanze.

Hans-Günther konnte nicht widerstehen. Er küßte das Mädchen. Er spürte diesen weichen Mund, der sich von einem Augenblick zum anderen in ein glühendheißes Feuermal verwandelte. Diese Leidenschaft war es, die in dem Mann ein Warnsignal auslöste.

Er fürchtete, daß es kein Zurück mehr geben würde, wenn er sich jetzt hinreißen ließ.

Unmerklich schob er das schwarzhaarige Mädchen zurück. Doch Toska dachte nicht daran, die Lippen von seinem Mund zu lösen. Wie eine Verdurstende trank sie den Kuß.

Dann aber wich sie ruckartig zurück. In ihren verschleierten Augen stand eine mühsam unterdrückte Wut.

Obwohl Toska von Tersky sich sehr zu beherrschen versuchte, schwang in ihrer Stimme wieder der metallische Unterton, als sie sagte: »Man wundert sich, daß ein Eisberg an einem so heißen Sommertag nicht schmilzt.«

Hans-Günther Buss antwortete nicht. Er fühlte sich von den widerstreitendsten Empfindungen hin und her gerissen. Er wußte, daß er an einem Kreuzweg stand. Wie sollte er sich entscheiden? Sollte er der Stimme seines Blutes folgen? Oder der kühlen Vernunft? Ratlos musterte der Mann das hinreißende Mädchen…

*

Für Veronika verlief der neue Tag wie der erste. Am Abend fand sie sich wieder zum Schlafen im Toppler-Schlößchen ein. Professor Buss wunderte sich nicht im geringsten darüber, daß sie ein neues Kleid anhatte – glaubte er doch, daß sich Veronika tagsüber bei ihrer Mutter aufhalte.

Er brachte das Kind wieder auf den Diwan zu Bett und fragte vorsichtig: »Hast du etwas dagegen, wenn ich jetzt noch ins Gasthaus gehe und einen Schoppen trinke?«

»Nein, ich habe keine Angst, Opa. Aber was ist das – ein Schoppen?«

»Ein Schoppen, das ist für alte Herrn das, was für Babys die Milchflasche ist«, erklärte der Gelehrte lächelnd.

»Das ist aber ulkig!« Veronika lachte hell auf. Sie hatte in diesen zwei Tagen der Freiheit und unter den Strahlen der Liebe das Lachen gelernt.

Ein ganz anderer Ausdruck beherrschte das Kindergesicht. Veronika sah gelöst und zufrieden aus.

Der Professor machte sich auf den Weg. Als er die Gaststube betrat, sah er, daß die Wirtin mit einem bildhübschen blonden Mädchen zusammen am Tisch saß. Geistesabwesend ließ der Alte seine Blicke umherschweifen, doch die Augen des Mädchens hatten einen so warmen und sympathischen Ausdruck, daß seine Probleme für einen Moment in den Hintergrund traten. So müßte das Mädchen sein, daß er sich in stillen wehmütigen Stunden manchmal zur Tochter gewünscht hatte!

Er grüßte und ließ sich auf seinem Stammplatz am Fenster nieder.

Als die Wirtin das gefüllte Weinglas vor ihn auf den Tisch stellte, fragte sie: »Schläft Ihr kleiner Besuch schon?«

Professor Buss sah sie erstaunt an: »Woher wissen Sie…?«

»Na, die Kleine ist doch tagsüber immer hier! Fräulein Söhrens erfüllt Mutterpflichten und ich habe die Tantenstelle übernommen.« Die Wirtin lachte leise. »Ika wickelt uns alle ein!«

Der Professor hatte nur halb hingehört und dachte: So, das Mädchen ist also schon eine Mutter, das Kind ist also unehelich geboren… Ja, sie

ist noch eine sehr junge Mutter, sicher will sie abends manchmal ausgehen und ist froh, wenn ich das Kind versorge und wenn es bei mir schläft…

Urte wurde unter den forschenden Blicken des weißhaarigen Herrn unsicher.

»Ein reizendes Kind, nicht wahr?« sagte sie verlegen.

»Ja, das Goldtöchterchen ist sehr niedlich und mich stört es nicht. Im Gegenteil.«

»Das glaube ich,« lächelte die Wirtin. »Wenn das Kind nur zum Schlafen zu Ihnen kommt.«

Der Gelehrte machte schon wieder einen in sich gekehrten Eindruck. Das Gespräch war beendet.

So wurde auch an diesem Abend Veronikas Geheimnis noch nicht gelüftet.

Als der Gelehrte ins Toppler-Schlößchen zurückkehrte und noch einmal nach dem kleinen Mädchen sah, fand er es sehr unruhig. Die Bäckchen glühten und ein leichter Husten schüttelte das Kind.

»Na, na, du wirst doch wohl nicht krank werden?« sagte der Alte besorgt. Er legte seine breite Hand auf die brennende Stirn des Kindes. Schlagartig wurde Veronika ruhiger – als fühlte sie noch im Schlaf die sorgende Hand.

»Kinder haben mal einen Schnupfen«, tröstete sich der Professor und stieg in sein Arbeitszimmer hinauf.

Doch am nächsten Morgen erwachte er voller Unruhe. Er spürte förmlich, daß irgend etwas nicht stimmte. Hastig erhob er sich und hastete die schmale Stiege hinunter. Er trat an den Diwan und sah, daß sein Goldtöchterchen fiebrig glänzende Augen hatte. Rote Flecken glühten auf den Wangen. Der Husten war stärker geworden.

»Mein Hals tut so weh«, klagte Veronika.

»Das ist ja eine schöne Bescherung!« brummte der Gelehrte. »Ich hole dir erst einmal ein Glas Milch, und dann werden wir weitersehen.«

Er nahm sich vor, anschließend gleich ins Gasthaus zu gehen und die Mutter zu informieren. Doch als hätten seine intensiven Gedanken sie hergezogen, tauchte Urte Söhrens im Schlößchen auf.

»Ah, gut, daß Sie kommen, junge Frau!« begrüßte sie Professor Buss. »Das Goldtöchterchen ist nicht auf dem Damm. Anscheinend handelt es sich um eine heftige Erkältung.«

»Ach, das tut mir aber leid!«

»Kommen Sie doch bitte mit nach oben. Ich glaube, wir müssen das Kind ins Krankenhaus bringen.«

Der alte Mann und das blonde Mädchen betraten das Zimmer.

Veronika sah ihnen aus großen glänzenden Augen ängstlich entgegen. Sie ahnte, daß nun alles herauskommen würde. Außerdem jagte ihr das Wort Krankenhaus einen panischen Schrecken ein.

»Bitte, bitte nicht ins Krankenhaus!« flehte sie und streckte die

Ärmchen nach Urte aus.

»Nein, das wird auch nicht nötig sein«, erwiderte Urte rasch. »Mit ein paar Halswickeln und Hustentropfen kriegen wir das schon wieder in Ordnung.«

»So, meinen Sie?« fragte der Professor. »Nun, dann nehmen Sie das Kind erst einmal in Ihre Obhut, junge Frau.«

Urte wunderte sich, mit welcher Selbstverständlichkeit der alte Herr das von ihr verlangte.

»Ja«, antwortete sie zögernd. »Ich würde mich natürlich gern um das Kind kümmern, aber dann muß ich Frau Eckstein erst einmal fragen, ob sie noch ein Bett oder eine Couch in mein Zimmer stellen kann.«

»Haben Sie denn gar kein Bett für das Kind?« fragte der alte Gelehrte verblüfft.

Urte hielt diese Bemerkung für einen Scherz. Sie erwiderte lächelnd: »Bisher war das ja noch nicht nötig, bisher besuchte uns Ika nur am Tage im ›Oberen Felsenkeller‹.«

Der Professor stutzte. »Ja, aber Sie konnten doch nicht von vornherein ahnen, daß die Kleine bei mir einen Unterschlupf für die Nacht finden würde!«

Jetzt war das Erstaunen bei Urte. »Aber…, aber Sie sind doch der Großvater! Die Kleine ist doch bei Ihnen zu Besuch!«

»Bei mir zu Besuch?« wiederholte der Professor fassungslos. »Ich denke, Sie sind die Mutter? Ich bin doch nur der Nenn-Opa des Goldtöchterchens!«

Urte stieß überrascht die Luft aus.

»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!« Sie ließ sich auf den Rand des Diwans sinken.

Veronika hatte das Gespräch angstvoll verfolgt. Sie ahnte, daß nun alles ans Tageslicht kommen würde. Ihr kleines Herz klopfte vor Angst.

»Ich bin nicht die Mutter«, stellte Urte fest, »und Sie sind nicht der Großvater. Also, wem gehört das Kind?«

Veronika richtete sich auf. Sie schlang die Ärmchen um Urtes Hals und drückte sich fest an die junge Frau. »Bitte, bitte, ich möchte bei dir bleiben! Bitte, schick mich nicht fort!«

Urte konnte sich nur mit Mühe aus der Umklammerung befreien. Sie begriff, daß hier ein Kind in Not war.

»Ja, sag mal, Ika, wo kommst du denn überhaupt her? Liebe Güte, deine Mutter muß ja schreckliche Ängste ausstehen!«

»Ich habe keine Mutter!« sagte Veronika nachdrücklich.

»Das erklärt vieles«, meinte der Professor.

»Irgendwo mußt du doch gelebt haben, Ika! Wo war das?« forschte Urte.

Das kleine Mädchen kniff die Lippen zusammen.

»Weißt du es nicht, Ika?«

Veronika schüttelte den Kopf.

»Wie heißt du denn?«

»Ika.«

»Ja, das wissen wir. Aber wie heißt du weiter?«

Angstvoll starrte das Kind sie an. Veronika wußte genau, was sie erwartete: Wenn sie mehr sagte, mußte sie zurück ins Heim. Nur das nicht! Um Himmels willen, nur das nicht! Tränen schossen in die großen glänzenden Vergißmeinnichtaugen.

Urte drückte den Kopf des Kindes zärtlich an sich. »Du brauchst doch nicht zu weinen! Wir wollen doch nur herausbekommen, ob sich jemand um dich ängstigt.«

Heftig schüttelte Veronika den Kopf.

»Mich will keiner!« stieß sie unter Schluchzen hervor.

Urte wiegte sie beruhigend hin und her. »Aber das gibt es doch nicht! So ein nettes Kind! Weißt du denn wirklich nicht, wo du herkommst?«

Veronika schluchzte noch heftiger.

»Vielleicht ist sie – ausgesetzt worden!« mutmaßte der Professor. »Bist du aus Rothenburg oder nicht, Goldtöchterchen?« forschte er.

Aus dem weinenden Kind war nichts mehr herauszukriegen.

»Wie alt bis du denn?«

Keine Antwort.

»Drei Jahre? Oder vier?«

Veronika wußte genau, daß sie fünf Jahre alt war. Aber sie wußte auch aus Erfahrung, daß man mit kleineren Kindern eher Nachsicht übte. Also schwieg sie.

»Was machen wir denn nun mit dir?« Ratlos blickte Urte zwischen dem Kind und dem Gelehrten hin und her.

»Auf jeden Fall müssen wir bei der Polizei nachfragen, ob ein Kind vermißt wird«, riet der Professor.

»Das ist richtig. – Ich nehme das Kind erst einmal mit…«

»Nicht zur Polizei!« schrie Veronika und klammerte sich an Urte, als wolle man ihr ans Leben.

»Aber nein, Kleines, du bist doch noch krank und kommst mit zu mir.«

»Nachträglich kommt mir alles recht merkwürdig vor!« wunderte sich der alte Gelehrte. »Ich hätte merken müssen, daß mit dem Goldtöchterchen irgend etwas nicht stimmt. Ja, und dann habe ich natürlich geglaubt, daß Sie die Mutter sind, Fräulein…«

»Söhrens. – Ich möchte fast sagen: Leider bin ich es nicht. Denn ich habe die verlassene Kleine ins Herz geschlossen. Aber ich bin ja nicht verheiratet.«

»Nun, das dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein.« Der alte Herr musterte das bildhübsche Mädchen lächelnd. »So etwas wie Sie läuft doch nicht lange frei herum.«

Urte wurde verlegen und erwiderte schroffer als beabsichtigt: »Ich bin Männern gegenüber sehr mißtrauisch! Ich bleibe lieber allein!«

»Das Mißtrauen ist manchmal begründet. Aber daß Sie lieber allein bleiben – das glaube ich Ihnen nicht. Sicher verbirgt sich hinter Ihren Worten eine schwere Enttäuschung.«

Veronika bemerkte, daß Urte plötzlich sehr traurig aussah.

»Sei nicht traurig! Du hast ja

jetzt mich!« Das kleine Mädchen schmiegte seine heiße Wange an das Gesicht der jungen Frau. Urte streichelte das Kind. Eine heiße Welle der Zärtlichkeit schoß ihr zum Herzen. »Du kommst jetzt mit zu mir – und alles Weitere wird sich finden.«

*

Am Nachmittag, als Veronika schlief, ging Urte ins Toppler-Schlößchen, um dem alten Professor zu berichten. Urte hörte seine Stimme aus der Höhe:

»Kommen Sie herauf, schönes Kind. Ein alter Mann spart sich gern die Treppe.«

Urte eilte hinauf und blickte sich erstaunt um, als sie in die Studierstube trat. Jeder nur mögliche Platz war mit Büchern, Papieren und allerlei Forschungsmaterial belegt.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, forderte sie Professor Buss auf.

»Ja, aber wo?« Urte lachte leise.

Mit einer energischen Handbewegung wischte der alte Herr einen Papierstapel von einem Stuhl. »Bitte!«

»Hier sieht es ja aus wie auf einem Gemälde von Spitzweg«, stellte Urte sachlich fest und strich mechanisch eine goldblonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Das nehme ich als Kompliment«, lächelte der Gelehrte.

»Das soll es auch sein! Ich finde die Atmosphäre hier einfach märchenhaft!«

»Haben Sie etwas über unser Goldtöchterchen erfahren können? Wird es gesucht?«

Urte schüttelte den Kopf. »Die Polizeibeamten wußten nichts, aber sie wollen Nachforschungen anstellen. – Die Kleine tut mir so leid. Sie ist uns wirklich wie ein herrenloses Hündchen zugelaufen. Wir werden sie natürlich betreuen. Ich bleibe bestimmt noch zwei Wochen hier.«

»Nun, dann ist ja erst einmal alles in bester Ordnung«, bemerkte der Gelehrte befriedigt.

»Darf ich fragen, womit Sie sich so ausgiebig beschäftigen?« fragte Urte interessiert.

»Ich habe mir in den Kopf gesetzt zu beweisen, daß die Schöpfung auch nach dem Prinzip der Schönheit und nicht nur nach dem Prinzip der Nützlichkeit erdacht worden ist.«

»Das ist ein interessanter Gesichtspunkt!« Urte wurde ganz lebhaft.

Aber es blieb dem Gelehrten keine Zeit mehr, seine These näher zu erläutern, denn draußen hupte ein Auto wie eine Feuerwehrsirene.

Beide fuhren äußerst erschrocken herum, aber der Professor fing sich sofort. Lächelnd und kopfschüttelnd sagte er: »Der Lauser erschreckt mich jedesmal wieder. Ich sollte seine Ankunft inzwischen eigentlich gelassener zur Kenntnis nehmen.«

Sie hörten, wie unten die Eingangs­tür aufging und jemand die Treppe heraufstürmte. Vergeblich hielt Urte nach dem »Lauser« Ausschau, der nun eigentlich auftauchen mußte. Doch der Besucher, ein junger Mann, war offensichtlich allein gekommen. Er hatte blitzende Augen und entblößte ein kräftiges weißes Gebiß, als er Urte entdeckte. Überraschung spiegelte sich auf seinem interessant geschnittenen Gesicht wider.

»Oh, pardon, dann war meine Fanfare diesmal überflüssig. Auf diese Weise gelingt es mir sonst immer, meinen Vater in die Wirklichkeit zurückzurufen. Er ist gar nicht ansprechbar, wenn man still, leise und höflich ins Zimmer tritt.« Der junge Mann verneigte sich vor Urte.

»Das also ist mein Sohn Hans-Günther«, erklärte der Professor. »Respektlos, selbstsicher und ein Mensch, der ernsthafte Arbeit nicht zu würdigen weiß. – Hans-Günther, dies ist Fräulein…, äh…«

»Söhrens!« half Urte dem zerstreuten Gelehrten aus der Verlegenheit. Und hastig fügte sie hinzu: »Dann möchte ich mich gleich verabschieden.«

»Aber ich bitte Sie! Wenn mein Vater mich auch schlecht macht – hübsche junge Damen fresse ich nicht! Bitte, bleiben Sie doch, Fräulein Söhrens!«

Urte fühlte sich in der Gegenwart des jungen Mannes seltsam befangen. Er gehörte offensichtlich zu den Hoppla-jetzt-komm-ich-Typen, die die Herzen im Sturm erobern. Und sie, Urte, wollte sich auf gar keinen Fall erobern lassen – weder so noch so!

In instinktiver Abwehr spreizte sie alle Stacheln.

»Ich habe ein krankes Kind zu versorgen«, sagte sie kühl. »Auf Wiedersehen.«

Ehe die beiden Männer es recht begriffen hatten, eilte sie die steilen Treppen hinunter. Die Haustür klappte.

»Welch ein scheues Reh!« meinte Hans-Günther Buss spöttisch. »Bist du ihr väterlicher Beschützer – oder ist sie die Freude deines späten Frühlings?«

Der alte Gelehrte stützte seine Hände auf den Tisch und erwiderte nachdrücklich: »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber ich kann dir genau sagen, was sie nicht ist: ein Spielzeug für deine Freizeit!«

»Eins zu null für dich, alter Herr! Aber wie kannst du so sicher sein?«

»Versuch es nur! Eine Abfuhr würde dir, glaube ich, sehr guttun!«

»Hm!« Hans-Günther grinste. »Themawechsel. Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, heute abend mit uns zusammen zu essen und zwar im ›Eisenhut‹?«

»Wie heißt sie denn diesmal? Kenne ich sie schon?« Die Mundwinkel des Gelehrten senkten sich bei dieser Frage verächtlich.

»Nein, du kennst sie noch nicht. Aber sie ist begierig, dich kennenzulernen.«

»Um mich wie ein seltenes zoologisches Wesen zu bestaunen?« Der Professor seufzte vernehmlich. »Na schön, da wir beide so selten zusammentreffen, werde ich auch diese ›Dame‹ in Kauf nehmen. Die wievielte ist es denn in diesem Monat?«

»Ach, weißt du, Papa, ich mache mir nicht die Mühe, sie alle zu zählen! Das ist mir zu mühselig.« Hans-Günther hatte es aufgegeben, seinen Vater über sein Leben und seine Arbeit aufzuklären. Sie lebten wirklich in zwei verschiedenen Welten!

Der Professor kramte schon wieder in seinen Papieren.

»Darf ich dir ein Glas Milch anbieten?« fragte er geistesabwesend.

Der junge Mann zog eine Grimasse. »Ich werde doch nicht den kleinen Kindern die Milch wegtrinken!«

»Ich konnte bisher noch nicht feststellen, daß du wirklich erwachsen bist!« Der alte Gelehrte zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe.

Auch dieses Spiel wiederholte sich in etwas abgewandelter Form bei jedem Wiedersehen.

»Übrigens, Vater, sagtest du nicht Fräulein Söhrens?«

»Ist daran etwas Absonderliches?« fragte der Professor zerstreut und machte sich rasch ein paar Notizen.

»Ich meine nur, weil sie von ihrem Kind sprach. Aber so etwas soll ja vorkommen!«

Der Professor antwortete nicht. Er hatte gar nicht zugehört.

»Ich kann wohl wieder gehen«, lächelte Hans-Günther. »Bis heute abend, also, Papa!«

Ein zustimmendes Murmeln war die ganze Antwort. Hans-Günther wußte, daß die Gedanken seines Vaters bereits wieder zu einem Flug in ungeahnte Höhen gestartet waren.

Der junge Mann stieg die Treppe hinunter. Er dachte an das blonde Mädchen, dessen scheue Art ihn so seltsam berührt hatte. Gedankenvoll setzte er sich in seinen Sportwagen. Er ließ den Motor an und fuhr, ganz gegen seine sonstige Art, im Schritttempo. Plötzlich trat er auf die Bremse und das Auto stand.

Er hatte das blonde Mädchen entdeckt. Sie saß am Fuß einer schiefen verwitterten Steintreppe. Träumerisch hatte sie ins Leere geblickt. Jetzt sah sie ihm verstört entgegen.

»Was macht das kranke Küken?« fragte Hans-Günther ohne Umschweife.

»Sie schläft.«

»Das ist gut!« nickte Hans-Günther Buss. »Dann haben Sie ja ein bißchen Zeit für mich.« Er stieg aus.

»Nein, ich…« Urte dachte sofort wieder an Flucht.

Hans-Günther Buss durchschaute ihre Absicht. Er ergriff ihr Handgelenk.

»Bitte!« Seine Augen bettelten.

Urte sank wider ihren Willen auf die Steinstufe zurück, und der junge Mann setzte sich wie selbstverständlich neben sie.

Einige Sekunden lang herrschte Stille. Das Rauschen der Tauber war zu hören und ein Star pfiff herausfordernd.

Hans-Günther pflückte mit ein paar schnellen Griffen Vergißmeinnicht, die in greifbarer Nähe wucherten, und reichte sie Urte stumm.

Sie sah ihn erstaunt an. »Danke!«

»Ich habe Angst etwas zu sagen. Ich könnte Sie verscheuchen. Diese Blumen können es sicher zarter sagen.«

»Aber, Herr Buss…«

»Ach, du liebe Güte, ich hatte ganz vergessen, daß ich so heiße! Bitte, nennen Sie mich wie alle meine Freunde: H.G.B.«

»Das ist eine merkwürdige Anrede. Außerdem sind wir doch keine Freunde…«

»Nein?« Erstaunen lag in dem Ausruf. »Aber tun Sie es trotzdem! Ich mag meinen Namen nicht. Fehlte nur noch, daß ich mit Vornamen Omni hieße!«

»Ich verstehe nicht.«

»Na ja – Omni-Buss.«

Urte lachte auf. »Darauf soll erst einer kommen!«

»Einer? Was meinen Sie, wie viele mich in meiner Schulzeit damit gehänselt haben! Bis einer meiner Freunde auf die Idee kam, meine Anfangsbuchstaben als Anrede zu benutzen, und dabei blieb es.«

»Das ist also die Erklärung. Na schön, Herr H.G.B..«

Er rang in komischer Verzweiflung die Hände. »Das ist ja fast noch schlimmer! Bitte, lassen Sie das Herr weg! Ich nenne Sie zur Belohnung auch bei Ihrem Vornamen! Wie heißen Sie?«

»Urte. – Eingebildet sind Sie gar nicht!«

»Bestimmt nicht. Sollte ich aber diesen Eindruck erweckt haben, dann nur, weil ich durch übertriebene Forschheit meine Schüchternheit verbergen will. – Haben Sie nur den einen Vornamen?«

»Karin Urte. Aber Urte ist mein Rufname.«

»Na, da würde etwas Nettes herauskommen!« Hans-Günther grinste wie ein Faun.

»Wieso? Was meinen Sie?« fragte Urte befremdet.

»Darf ich es Ihnen vorführen?«

»Wieso vorführen?« Urte wurde immer verwirrter.

Hans-Günther beugte sich blitzschnell zu ihr und küßte sie auf den Mund.

»Das wär’s«, sagte er.

Im gleichen Augenblick klatschte Urtes Hand auf seine Wange. Das Mädchen sprang auf.

»Aber ich wollte Ihnen doch nur zeigen, Urte, was bei den Anfangsbuchstaben Ihres Namens herauskommt: Kus – Toll, wie schlagfertig Sie sind!«

»Ach, Sie… Sie sind unverschämt – und schlecht in Rechtschreibung! Kuß wird mit ß geschrieben!« Urte warf den Kopf in den Nacken und wandte sich zum Gehen.

»Ich würde so gern Nachhilfeunterricht bei Ihnen nehmen!« Hans-Günther hielt sich die Wange.

Urte warf ihm einen vernichtenden Blick über die Schulter zu und setzte ihren Weg fort.

Als sie seinen Blicken fast entschwunden war, rief Hans-Günther verzweifelt: »Halt, Urte! Sie haben etwas ganz Wichtiges vergessen!«

Urte ließ sich bluffen und blieb tatsächlich stehen.

»Sie haben vergessen mir zu sagen, wann wir uns wiedersehen!« rief der junge Mann vorwurfsvoll.

Urte schnaufte laut und verächtlich durch die Nase und verschwand hinter den Büschen, die am oberen Ende der steinernen Treppe wuchsen. In ihr war ein ziemlicher Aufruhr. Das war also wieder so ein Hallodri! Der hatte ihr gerade noch gefehlt! Vom Regen in die Traufe! Na, sie hatte es ihm ja gegeben! Sicher war sie ihn ein für allemal los!

Merkwürdigerweise empfand sie bei diesem Gedanken keine Befriedigung. Mit hastigen Schritten eilte sie in ihr Zimmer. Veronika sah ihr aus fiebrigen Augen sehnsüchtig entgegen.

»Bist du schon lange wach, Ika?« Urte erneuerte den feuchten Halswickel.

»Nein – holt mich die Polizei?«

»Aber nein, Kind! Die Polizei ist froh, daß du erst einmal ein Nest gefunden hast. Und nun mußt du wieder gesund werden.«

»Und dann?« fragte das kleine Mädchen ängstlich.

Urte strich sich ratlos über die Wangen. »Wenn du nicht einmal weißt, wo du herkommst, und dich keiner vermißt, ist die Frage schwer zu beantworten. Wir werden es uns überlegen. Jedenfalls lassen wir dich nicht im Stich. Notfalls mußt du vielleicht in ein Kinderheim.«

»Nein!«

Der Aufschrei ließ Urte zusammenzucken.

»Bitte, bitte nicht ins Heim, bitte nicht ins Heim!« schluchzte das Kind herzzerbrechend.

Entsetzt nahm Urte das kleine Mädchen in die Arme. »Aber Kind! Was stellst du dir denn unter einem Heim vor? Da bist du mit vielen Kindern zusammen und wirst es gut haben.«

Veronika schüttelte krampfhaft den Kopf. »Nein, bitte nicht ins Heim, bitte nicht ins Heim!« Ihre Worte waren wie ein leises Wimmern.

»Wenn du so große Angst vor dem Kinderheim hast, müssen wir natürlich einen anderen Ausweg finden.«

Ein Hoffnungsschimmer glomm in den Vergißmeinnichtaugen. »Darf ich bei dir bleiben?«

Urte fühlte es heiß in ihre Augen steigen. Die Kehle wurde ihr eng. Sie schluckte und drückte das Köpfchen des Kindes an sich. Sie brachte es nicht übers Herz, den Funken Hoffnung zu ersticken. Selbst wenn dieses Kind wirklich zu keinem Menschen gehörte, wie sollte sie es bewerkstelligen, es zu sich zu nehmen? Sie stand allein im Leben, und sie mußte einen Beruf ausüben… »Hab’ keine Angst, mein Kleines, ich lasse dich nicht im Stich, ganz bestimmt nicht!« Urte streichelte ununterbrochen den Rücken des Kindes. Veronika wurde allmählich ruhiger und schlief wieder ein.

Urte legte sie zurück ins Kissen und drückte ihr den Teddybären in den Arm.

Dann verließ sie das Zimmer. Unschlüssig betrat sie die Gaststube. Die Wirtin kam ihr entgegen.

»Frau Eckstein, ich habe überhaupt keinen Appetit. Ich würde lieber ein bißchen an die frische Luft. Würden Sie so nett sein und nach Ika sehen? Sie schläft ja die meiste Zeit.«

»Aber ja, gehen Sie nur, Fräulein Söhrens.«

»Vielen Dank, Frau Eckstein.« Urte streifte den leichten weißen Wollmantel über das buntgeblümte Sommerkleid und schlenderte auf die Stadt zu. Auf der großen Bogenbrücke blieb sie stehen und starrte in das schäumende Wasser, bis ihr schwindelig wurde und sie das Gefühl hatte, auf einem großen Schiff zu fahren. Sie schloß einen Moment die Augen, und zu ihrem Ärger tauchte sofort das Gesicht des jungen Mannes vor ihr auf. Ihr war, als sähe sie ihn auf einem farbigen Foto, diesen Hans-Günther Buss.

»H.G.B.«, sagte sie laut vor sich hin und sie mußte lächeln, als sie an die zusammengezogenen Buchstaben ihres eigenen Namens dachte.

Sie hätte vorhin nicht so heftig reagiert, wenn sie nicht eine Gefahr gewittert hätte. Nein, sie wollte sich keine neuen Gefühlsverwirrungen gestatten.

Mit einem energischen Ruck stieß Urte sich vom Brückengeländer ab und setzte ihren Weg fort.

Ohne die Umgebung recht wahrzunehmen – denn ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Mann zurück – stieg sie zum Kobolzeller Tor hinauf. Am Abhang blühten gelbe Heckenrosen. Eine bunte haarige Raupe versuchte eilig, über den Weg ins dichte Grün zu gelangen. Ein Rotkehlchen flatterte auf. Es waren die kleinen Wunder am Wege, die Urte sonst so gern entdeckte. Heute war sie blind dafür.

Sie wanderte über die ansteigende Straße zum Marktplatz und schlug dann die Richtung Burggarten ein. Am Hotel »Eisenhut« kam ihr plötzlich die Idee, auf der Terrasse einen kleinen Imbiß zu nehmen und dazu ein Glas Frankenwein zu trinken.

Um auf die Terrasse zu gelangen, mußte sie die Diele und das Restaurant durchqueren. Die altersdunklen geschnitzten Möbel und die kostbaren Teppiche vermittelten Urte ein Gefühl der Zeitlosigkeit. Ja, hier fühlte sie sich abgeschirmt. Hier würde sie sich ganz entspannen.

Plötzlich blieb sie stehen, als habe sie der Schlag getroffen.

Ihr Herz begann zu rasen, und ihre Knie wurden seltsam weich. Sie konnte sich einige Sekunden lang nicht rühren. Als sie den Rückzug antreten wollte, war es zu spät.

An einem Tisch vor der offenen Terrassentür saß Hans-Günther Buss, neben ihm ein mondänes Geschöpf aus einem Modemagazin und der alte Gelehrte, Hans-Günthers Vater.

Der junge Mann hatte sie entdeckt. Er erhob sich und kam ihr entgegen.

»Das Schicksal ist mein Verbündeter«, sagte er leise. »Oder sind Sie hier verabredet?« Sein Blick brachte Urte völlig aus der Fassung.

»Nein, aber ich wollte…«

Da war auch schon der Professor bei ihr.

»Sie sind die Rettung dieses Abends!« flüsterte er ihr zu. »Bitte, sagen Sie nicht nein.«

»Ja, dann…« Urte machte eine hilflose Geste und ließ sich willenlos an den Tisch führen.

Kühle eisblaue Augen musterten Urte. Zwischen kühn geschwungenen Augenbrauen stand eine kaum merkliche Unmutsfalte. Das schwarze Haar war in der Mitte gescheitelt und zu einem tiefen Nackenknoten verschlungen. Ein dunkelroter Schimmer gab diesem Haar die mondäne Note und erinnerte an den Gluthauch der Hölle. Das raffiniert einfache rote Kleid, das die aufreizende Figur umschloß, unterstrich diesen Eindruck noch.

Die Hand, die dieses Geschöpf Urte reichte, war so kühl wie der Blick.

Feuer und Eis! dachte Urte und kam sich auf einmal sehr unscheinbar und durchschnittlich vor.

Der Name, den Hans-Günther Buss ihr bei der Vorstellung nannte, war ebenso beachtenswert: »Toska von Tersky.«

Daß ihr das passieren mußte! Urte fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben wie eine graue Maus – eine graue Maus neben einem schillernden Pfau.

Hans-Günther reichte ihr die Speisekarte. »Wir haben unsere Bestellung schon aufgegeben. Wenn Sie bitte wählen wollen?«

Urte warf einen flüchtigen Blick in die Karte. Das bißchen Appetit von vorhin war ihr völlig vergangen.

»Eine französische Zwiebelsuppe, Ragout fin und einen gemischten Salat«, sagte sie ohne zu zögern.

»Toska von Tersky lachte leise. »Aber das sind ja alles Vorspeisen!«

»Ganz recht. Ich ernähre mich mit Vorlieben von Vorspeisen.«

Die Blicke der beiden Frauen waren kalte Klingen. Der Kampf war eröffnet.

Hans-Günther Buss gab die Bestellung auf, fügte aber noch hinzu: »Und als Nachspeise einen Eisbecher. – Nicht wahr, Urte?«

Sie nickte zerstreut. Es störte sie beträchtlich, daß die Mondäne mit einer vertraulichen Geste ihre Hand mit den rotlackierten Nägeln auf Hans-Günthers Arm gelegt hatte. Weiße bewegliche Schlangen mit roten Köpfen, die den Mann im Griff hatten.

»H.G.B., ich finde es in Rothenburg zauberhaft. Wir sollten öfter hierherfahren!« säuselte Toska mit dunkler Stimme.

»Seit wann gefallen dir romantische Kleinstädte? Bisher waren das in deinen Augen doch allesamt langweilige Nester!«

»Nun ja, man kann seine Meinung ändern. Oder?«

»Wenn man überhaupt eine hat – ja.«

»Du bist unverschämt!« Toskas Blick war blitzendes Eis.

»Das habe ich heute doch schon einmal gehört!« H.G.B. schoß einen Blick auf Urte ab – einen Blick, der zündete.

Dieses kleine Zwischenspiel war Toska von Tersky nicht entgangen, und sofort änderte sie ihre Taktik. In den Eisaugen loderten Flammen. »Es ist dir anscheinend nicht bekommen, daß ich deine Unverschämtheiten bisher reizend fand!«

Ihre Stimme wurde ein wenig zu scharf.

Der Professor versuchte zu vermitteln.

»Es ist mir leider nicht gelungen, meinem Sohn Manieren beizubringen! Vielleicht schaffen Sie es, gnädiges Fräulein.«

»Nachhilfeunterricht wollte ich eigentlich woanders nehmen!« erklärte Hans-Günther, und wieder lief sein Blick verschwörerisch zu Urte hinüber. Einlenkend wandte er sich dann an Toska: »Ich fürchte, du bist keine Pädagogin.«

Ein leises lockendes Lachen erklang. »Sicher nicht! Dann wäre ich Gouvernante geworden. Stelle dir vor: Stehkragen, Brille und der erhobene Zeigefinger!«

H.G.B. sah auf das großzügige Dekolleté des schwarzhaarigen Mädchens und meinte versonnen: »Lieber nicht. Ich bin ein ängstlicher Typ. Am meisten würde mich der warnende Zeigefinger stören.«

Die eisblauen Augen brannten. Eine Stichflamme schoß zu dem jungen Mann hinüber.

Vulkan unterm Eis! dachte Urte bitter. Welcher Mann kann sich retten, wenn dieser Vulkan ausbricht…

Das Essen kam und unterbrach das Geplänkel. Während der Mahlzeit unterhielten sich hauptsächlich Vater und Sohn.

H.G.B. suchte einige Male Urtes Blick, aber sie wich ihm absichtlich aus. Ein herber Trotz war in ihr aufgestiegen. Hans-Günther Buss sollte sich nicht einbilden, daß er sie in seinen Harem einreihen konnte!

Sie wurde immer einsilbiger. Nur wenn der alte Herr sie ins Gespräch zog, zeigte sie ihre gewohnte unbefangene Liebenswürdigkeit.

Bald nach dem Essen wurde Urte unruhig. Sie sah auf ihre Armbanduhr.

»Ich muß mich verabschieden!« sagte sie spontan.

»Ah, ja, Mutterpflichten rufen!« bemerkte der alte Gelehrte verständnisvoll lächelnd. »Ich komme mit Ihnen.«

»Schade!« sagte H.G.B. und sah Urte dabei an. »Ich fahre Sie selbstverständlich nach Hause.«

»Danke, ich möchte lieber zu Fuß gehen. Der Abend ist so schön und der Weg nicht weit.«

»Sie haben durchaus recht!« pflichtete Professor Buss ihr bei. »Gehen wir zu Fuß, das ist viel netter und gesünder.«

Sie verabschiedeten sich. Hans-Günther begleitete sie noch bis zur Tür des Restaurants. »Ich würde gern mitkommen, aber – leider – die beruflichen Pflichten erstrecken sich bei mir bis ins Privatleben.«

»Ich habe nicht den Eindruck, daß Sie darüber sehr unglücklich sind«, bemerkte Urte. »Viel Spaß noch für den Rest des Abends.«

»Ich kann dazu nur sagen, daß der Schein trügt«, antwortete der Mann ernst. »Gute Nacht und bis bald.«

Urte spürte, daß die Flamme der Hoffnung in ihr zu züngeln begann, aber sie verdrängte dieses Gefühl sofort.

»Verlebt Ihr Sohn seinen Urlaub hier, Herr Professor, oder ist er nur auf der Durchfahrt abgestiegen?« Diese Frage brannte Urte auf der Zunge. Endlich war sie heraus.

»Keins von beiden. Er kommt hin und wieder aus beruflichen Gründen hierher.«

»Was hat er für einen Beruf?«

»Beruf!« schnaufte der Professor, Verachtung in der Stimme. »In meinen Augen ist das kein Beruf! Er lebt davon, daß er den Leuten klarmacht, daß sie dieses oder jenes unbedingt brauchen und darum kaufen müssen. Er ist darin, glaube ich, sehr geschickt, und auf seine Art erfolgreich.«

Handelsvertreter also, dachte Urte.

»Ja, sehr erfolgreich«, fuhr der alte Gelehrte nach kurzer Pause fort. »Leider, kann ich nur sagen! Hans-Günther führt ein Leben, das ich absolut nicht billige. Er verdient eine Menge Geld ohne ernste Arbeit. Und dann diese – Damen, mit denen er dauernd Umgang hat!« Er machte eine verächtliche Handbewegung. »Das alles trägt nicht gerade zur Festigung seines Charakters bei. Die Versuchungen sind zu groß. Der Mensch ist von Natur aus bequem und leider auch oberflächlich.«

Der Professor schwieg. Sie hatten die Stadtmauer hinter sich gelassen. Ein lauer Wind streichelte die Haut. Die Grillen zirpten ihre Liebessehnsucht in die Sommernacht. Urte wurde das Herz seltsam schwer.

So war das also! Ein erfolgreicher Salonlöwe, wie man früher sagte, war dieser Hans-Günther. Eine Art Playboy…

Urte fühlte sich enttäuscht, obwohl sie sich immer wieder sagte, daß ihr dies gleichgültig sein mußte!

Plötzlich, aus tiefen Gedanken heraus, fuhr der alte Herr fort: »Dabei glaube ich ganz sicher zu wissen, daß Hans-Günther viele gute Anlagen hat. Aber ihm ist im Leben alles zu leicht gemacht worden. Überall ist ihm der Erfolg in den Schoß gefallen, schon in der Schule, bei diesem Beruf und erst recht bei den Frauen.«

Urte spürte einen nadelfeinen Stich in der Herzensgegend. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte. Aber der Professor bemerkte gar nicht, daß sie schwieg.

»Ich glaube«, meinte er schließlich, »daß nur eine Frau meinen Sohn wandeln könnte. Eine vernünftige Frau, nicht eine dieser aufgeputzten Puppen.«

Urte lachte leise, obwohl eine seltsame Wehmut sie erfüllte. »Sehr schmeichelhaft ist Ihr Urteil nicht gerade für die Dame.«

Der Gelehrte winkte ab. »Aber treffend! Leider, das ist es ja! Welch vernünftige Frau würde das Risiko eingehen, sich mit einem Mann zu befassen, der so einen Lebensstil vorführt wie mein Herr Sohn. Wenn er nicht bald zur Vernunft kommt, dann ist Hopfen und Malz verloren, fürchte ich.«

»Aber vielleicht will er sich gar nicht wandeln. Sicher fühlt er sich sehr wohl.«

»Das ist es ja. Was soll man machen? Er ist erfolgreich, er ist ein moderner Mensch. Aber ob er sich in seinem Privatleben glücklich fühlt, das wage ich zu bezweifeln. Der Mann ist erst ein Ganzes, wenn er die zu ihm passende Hälfte gefunden hat.«

Urte sah den Professor aufmerksam an. »So kann man nur aus eigener Erfahrung sprechen!«

»Stimmt genau. – Die meisten Menschen spötteln darüber und wissen gar nicht, daß sie damit ihre eigene Gefühlsarmut offenbaren. Aber leider ist es auch so, daß nur wenige Menschen dem richtigen Partner zur rechten Zeit begegnen!«

Urte seufzte tief auf. »Ja, das stimmt!«

Jetzt lächelte der Professor. Es war ein wissendes Lächeln. »Kein Grund zur Verzweiflung, mein Kind. Man muß warten können – das ist das Geheimnis.«

Diese Feststellung hatte etwas Tröstliches. Die Wehmut paarte sich mit der Hoffnung, und Urtes Herz wurde etwas leichter.

Für den Rest des Weges schwiegen beide und ließen den Abendfrieden auf sich wirken. Gegen den hellen Nachthimmel stand die mittelalterliche Silhouette wie ein Scherenschnitt. Urte spürte, wie die geheimnisvolle Aura der vergangenen Jahrhunderte sie anwehte.

*

Am nächsten Morgen schreckte Urte aus einem Alptraum auf. Sie stand am Rande eines Kraters aus Eis und plötzlich brach eine Feuersäule aus, die sie weit fortschleuderte. Sie fiel rasend schnell und dann hörte sie ein bekanntes Lachen. Sie sah die Frau mit den kupferroten Haaren und den eisblauen Augen.

»Das ist mein Revier!« rief die Mondäne. »Merk es dir!« Und dann wieder dieses Lachen.

Urte war erwacht. Das Lachen kam von Veronika. Das kleine Mädchen saß am Fußende des Bettes.

»Du bist zusammengezuckt, Urte!« Es lachte wieder.

Urte spürte noch heftiges Herzklopfen. Sie fuhr sich über die Stirn. »Ich bin im Traum gefallen.«

Veronika nickte verständnisvoll. »So was habe ich auch schon geträumt. Da kriegt man einen schönen Schreck, nicht?«

»Kind, du wirst dich wieder erkälten, komm unter die Decke!«

Wie ein Kätzchen huschte Veronika unter die angehobene Bettdecke. Sie kuschelte sich eng an Urte und seufzte zufrieden.

Urte spürte die Wärme des kleinen Körpers und alle Beschützerinstinkte wurden in ihr wach. Je länger sie sich mit dem Kind beschäftigte, um so schwerer würde es ihr fallen, sich von ihm zu trennen. Was sollte nur werden?

»Ich glaube, du hast heute kein Fieber mehr«, sagte Urte und legte die Hand auf die Stirn des Kindes.

»Nein – muß ich nun fort von hier?« In den Vergißmeinnichtaugen stand die nackte Angst, und das Gesicht des Kindes wirkte plötzlich schmal und eingefallen.

»Aber nein!« Urte drückte den kleinen Körper an sich. »Zuerst einmal mußt du dich richtig erholen. Du darfst heute auch noch nicht aufstehen, sonst bekommst du einen Rückfall.«

»Im Bett ist es aber so langweilig, wenn du nicht da bist. Bleibst du hier?«

»Natürlich, Ika. Vielleicht gehe ich einmal kurz in die Stadt und hole dir ein Spiel, irgend etwas, womit du dich beschäftigen kannst. Was möchtest du haben?«

»Einen Goldhamster!« kam es wie aus der Pistole geschossen. Veronika hielt vor Erwartung den Atem an.

»Ach du liebe Güte, ich weiß gar nicht, ob es hier so etwas gibt!«

»Ich hab’ mal welche im Schaufenster gesehen!«

»Hier in Rothenburg?«

Jetzt hob das Kind unsicher die Schultern. »Ich weiß nicht genau, ob es hier war.«

»Denk doch mal nach, wie der Ort hieß, in dem du vorher warst!« bohrte Urte.

Veronika zog sich zurück wie eine Schnecke in ihr Haus.

»Weißt du es nicht, Ika?«

Sie schüttelte den Kopf und wieder standen Tränen in ihren Augen.

»Aber du erinnerst dich doch an die Frau, die dich versorgt hat, nicht wahr? Wie hieß sie denn?«

»Tante Anni!« Veronika biß sich auf die Lippen. Sie hatte es eigentlich nicht sagen wollen. Es war ihr so herausgerutscht.

»Na also! Allmählich kommt die Erinnerung wieder! Damit können wir zwar noch nicht viel anfangen, aber sicher fällt dir noch mehr ein.«

Veronika war erleichtert. »Ich möchte so gern bei dir bleiben!«

Die Worte schnitten Urte immer mehr ins Herz, je öfter sie wiederkehrten.

»Aber sicher will dich doch diese Tante Anni auch wiederhaben!«

»Nein, sie mag mich nicht. Sie hat ja auch noch so viele andere Kinder. Sie ist auch gar nicht meine richtige Tante!« sprudelte Veronika heraus. Im Eifer, Urtes Bedenken zu zerstreuen, vergaß sie ihre Schweigsamkeit, hinter die sie sich zu ihrem Schutz geflüchtet hatte.

»Du warst wahrscheinlich in einer Pflegestelle«, kombinierte Urte nach­denklich. »Aber nicht hier, denn sonst würde die Polizei etwas davon wissen.«

»Tante Anni will mich gar nicht wiederhaben!« trumpfte Veronika noch einmal auf. »Sie mag mich nicht, und die anderen mögen mich auch nicht. Sie schubsen und puffen mich immer.«

»Armes Häschen!« Heißes Erbarmen mit dem mutterlosen Kind stieg in Urte auf.

Fast den ganzen Tag verbrachte sie am Bett des kleinen Mädchens. Sie erzählte Märchen, die alten aus dem Gedächtnis, und aus dem Stegreif erfand sie neue. Sie spielte mit Ika alle Fingerspiele, die sie noch aus ihrer eigenen Kindheit in Erinnerung hatte, kramte alte Reime hervor, die in ihrem Bewußtsein schlummerten, aber dann war sie mit ihrem Latein am Ende.

Die Sonne stand bereits tief am Horizont, als Urte sagte: »Wenn ich dir einen Goldhamster besorgen soll, wird es jetzt Zeit. Die Geschäfte machen bald zu.«

Mit einem Kuß auf Veronikas Wange verabschiedete sie sich. »Ich komme bald wieder!«

Urte suchte die Wirtin und fand sie in der Küche, die immer einen blitzsauberen Eindruck machte und auch beim tollsten Betrieb nie unordentlich wirkte.

»Sie sehen erschöpft aus, Fräulein Söhrens. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

Urte strich sich mit einer müden Geste über die Augen und lächelte dankbar. »Ich glaube, ich kann ihn brauchen. Ein Kind den ganzen Tag lang im Bett zu unterhalten, ist anstrengend. – Wenn ich darf, trinke ich den Kaffee gleich hier in der Küche.«

Aus einer großen bauchigen Kanne füllte die Wirtin die Tassen.

Der grauhaarige Wirt kam zur Tür herein und setzte sich zu ihnen. Er war ganz das Gegenteil seiner Frau, groß, hager und schweigsam, ohne unfreundlich zu sein.

»Ich glaube, Sie nehmen Ihre Pflichten als Pflegemutter zu ernst«, wandte er sich an Urte. »Schließlich sind Sie ja zur Erholung hier. Wie geht es denn der kleinen Patientin?«

»Sie war heute schon sehr munter und wollte deshalb unterhalten sein. Aber ich denke, morgen kann sie schon wieder ein wenig an die Luft, dann beschäftigt sie sich ja selbst sehr gut.«

»Sie ist ein sehr angenehmes Kind, man merkt sie kaum.« Der Wirt trank den letzten Schluck aus seiner Tasse und stand auf.

»Was wird denn werden mit dem verirrten Schäfchen?« fragte er noch im Hinausgehen.

»Ja, wenn ich das wüßte!« sagte Urte mutlos. »Mir wird ganz schwer ums Herz, wenn ich mir vorstelle, daß Ika ins Heim muß. Sie hat gezittert wie ein junger Hund, als ich von der Möglichkeit sprach.«

»Vielleicht kommt sie aus einem Kinderheim und hat es dort nicht gut gehabt!« meinte die Wirtin aufgebracht. »Man darf das Kind auf keinen Fall wieder zurückgeben!«

»Ja, aber wie denkst du dir das, Gretel? Irgend etwas muß doch geschehen!« wandte der Wirt ein.

»Dann bleibt sie eben bei uns! Man jagt ja keinen Hund vor die Tür, wenn er herrenlos ist!«

»Hm, damit allein ist es nicht getan. Aber von mir aus, tu, was du für gut hältst!«

Er verschwand nach draußen, und Urte fragte gespannt: »Sie würden das Kind unter Umständen tatsächlich behalten, Frau Eckstein?«

»Na sicher! Ika könnte ja eine jüngere Mutter gebrauchen, aber bei mir würde sie es auch nicht schlecht haben!«

»Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich erleichtert fühle. Ich könnte Ika dann so oft wie möglich besuchen. Aber was wird sein, wenn irgend jemand Anspruch auf das Kind erhebt? Vielleicht ein naher Verwandter oder ein Vormund?«

»Das wollen wir doch erst einmal abwarten! Anscheinend hat Ika es noch nie so gut gehabt wie jetzt. Ich finde, sie ist in den paar Tagen richtig aufgeblüht, trotz ihrer Erkältung.«

»Sicher, so ein Menschlein merkt gleich, wer es gut mit ihm meint. – Aber jetzt muß ich mich beeilen, sonst sind die Geschäfte geschlossen!«

Urte verließ das Gasthaus. Sie hörte das Rauschen der Tauber, das so beruhigend wirkte. Abendlicher Friede lag schon über dem Tal. Urte spürte, wie ihre innere Unrast verflog. Tief atmete sie die würzige Luft ein, die vom nahen Wald herüberwehte.

Als sie schon unterwegs war, fiel es Urte ein, daß sie vergessen hatte, sich bei der Wirtin nach einer Tierhandlung zu erkundigen. Sie hatte bisher noch kein Zoogeschäft entdeckt, und viel Zeit zum Suchen war nicht mehr. In einem Spielwarengeschäft entdeckte sie einen Goldhamster aus Stoff. Kurz entschlossen kaufte Urte ihn ein. Besser als gar keiner! dachte sie.

Als sie das Geschäft wieder verließ, stand sie einen Augenblick lang unschlüssig. Plötzlich entdeckte sie Hans-Günther Buss. Der junge Mann steuerte zielsicher auf sie zu. Siegessicher strahlte er sie an. Er begrüßte sie wie eine alte Bekannte.

»Ich freue mich, daß Rothenburg so klein ist!«

Urte hob fragend die Augenbrauen.

»Hier können Sie mir kaum entgehen! – Haben Sie etwas Bestimmtes vor, Urte?«

Urte senkte den Blick. Wie zärtlich er ihren herben Vornamen aussprach!

»Ja, ich…, eigentlich…, ich wollte…«

»Schwindeln Sie nicht! Sie sind entlarvt, bevor Sie es aussprechen!«

Urte fühlte sich durchschaut und reagierte gereizt. »In der Beziehung können Sie mir Nachhilfeunterricht geben, nicht wahr?«

»Genau!« H.G.B. lachte amüsiert. »Sehen Sie, wir finden immer mehr Punkte, in denen wir uns fabelhaft ergänzen würden! – Ich wollte gerade zum Folterkeller. Kennen Sie ihn?«

»Nein. Was wollen Sie dort denn? Anschauungsunterricht nehmen? Gerätekunde und so?«

»Und so! Wir Männer sind doch stets im Nachteil. Die Frauen haben ein angeborenes Talent zum Foltern. Sie lassen die Männer im eigenen Saft schmoren, am ausgestreckten Arm verhungern und ähnliches mehr. Irgendwie müssen wir uns doch rächen können. Vielleicht finde ich im Folterkeller ein paar brauchbare Anregungen.«

»An Phantasie fehlt es Ihnen sicher nicht, höchstens am notwendigen Werkzeug! – Ihre Schilderung der Frauen läßt übrigens tolle Rückschlüsse zu.«

»Tatsächlich? Ich habe die Erfahrung gemacht, daß alle Frauen gleich sind. Nur ihre Methoden, uns Männer zu quälen, sind verschieden. Frauen haben eben Phantasie. – Gehen wir also!«

Mit großer Selbstverständlichkeit faßte Hans-Günther Buss sie am Arm und schob sie vor sich her. »Streiten wir uns an Ort und Stelle weiter.«

»Das ist immerhin ein annehmbarer Vorschlag.«

Als sie das Folterkeller-Museum erreichten, begann gerade eine Führung. Die Menschenschlange schob sich durch einen schmalen Hof.

H.G.B. nutzte die Enge aus und legte den Arm um Urtes Schultern.

Das blonde Mädchen warf ihm einen empörten Blick zu.

»Es ist doch nur wegen der Enge!« flüsterte er dicht an ihrem Ohr und erreichte damit, daß Urte ein Schauer über den Rücken rieselte. Verwirrt machte sie sich frei.

Nun betraten sie den eigentlichen Folterkeller. Die ausgestellten Marterinstrumente wirkten schaurig. Die Stimme des Fremdenführers klang hohl durch das Gewölbe. Urte meinte die Klagelaute der Gemarterten zu hören.

H.G.B. hatte es nicht eilig, mit der Menge Schritt zu halten. Mit großer Aufmerksamkeit betrachtete er alles.

»Bleiben Sie zurück!« flüsterte er Urte zu. »Man kann die Atmosphäre viel besser genießen, wenn man nicht mit der Hammelherde läuft.«

»Ich weiß nicht, ob ›genießen‹ das richtige Wort ist!« Urte fröstelte.

Die Augen des Mannes glitzerten ironisch. »Schauen Sie, Urte, diese Drahthaube war für geschwätzige Weiber. Sie wurde über den Kopf gestülpt, und an der Zunge wurde ein Gewicht befestigt. Diese Kur ist sicher sehr wirksam gewesen.«

»Es gibt auch geschwätzige Männer!« bemerkte Urte. »Und die sind fast noch schlimmer.«

H.G.B. grinste. »Bei Männern nennt man so etwas diskutieren oder Konferenz!«

Sie schlenderten weiter. Den Anschluß an die Gruppe hatten sie bereits verloren. Sie hörten nur ein Gemurmel.

»Damit wurden die Damen an den Pranger gestellt.« H.G.B. hob ein aufklappbares Holz auf, indem es Löcher für den Hals und für die Handgelenke gab. Ehe Urte es sich versah, hatte der Mann ihr das Marterwerkzeug umgelegt und geschlossen.

»Machen Sie mich sofort los, Sie unverschämter Kerl, sonst schreie ich laut um Hilfe.«

»Tun Sie das. Ich gönne anderen Leuten auch einen Spaß.«

»Ach Sie…, ich…, ich könnte Sie…« Urte fehlten die Worte.

»Na, was?« fragte er. »Was könnten Sie?« Er grinste vergnügt. »Ich bin gemein, nicht wahr? Aber es dient alles nur meinem Selbstschutz.«

»Habe ich Sie denn angegriffen?« fauchte Urte. Ihre Augen loderten.

»Nein. Aber Sie würden es in den nächsten Sekunden tun, wenn ich

Sie hier nicht eingespannt hätte.« Hans-Günther nahm ihren Kopf in die Hände und küßte sie auf den Mund.

Vergeblich versuchte Urte, das Gesicht zur Seite zu drehen. Sie war dem Mann völlig ausgeliefert. Sie preßte die Zähne zusammen. Aber gleichzeitig spürte sie, daß ihre Wut nicht echt war.

H.G.B. gab sie einen Moment frei, und in seinem Blick war eine große Zärtlichkeit.

Urte öffnete den Mund zu einem Schrei der Empörung, aber der Mann verschloß ihn mit einem zweiten Kuß. Der Schrei erstickte und Urtes Widerstand schwand wie ein Tautropfen an der Morgensonne. Sie fühlte sich auf einmal sehr leicht, und ein tiefes Glücksgefühl durchströmte sie.

Als der Mann den Holzkragen endlich löste, war sie völlig verwirrt und durcheinander. Wie eine Verfolgte hetzte sie durch das Gewölbe, um Anschluß an die Gruppe zu finden.

Doch sie fand keine Menschenseele mehr. Sie lauschte. Alles blieb still.

Dann fand sie eine Tür und faßte nach dem Drücker. Die Tür war verschlossen.

Urte stemmte sich mit aller Kraft dagegen in der Hoffnung, die Tür klemmte nur. Nichts rührte sich.

Eingeschlossen!

Eingeschlossen im Folterkeller! Das ist ja wie im Alptraum! schoß es Urte durch den Sinn.

Sie hörte die Schritte des Mannes hinter sich. Mit den Fäusten begann sie gegen die Tür zu hämmern. Die schwere Eichentür verschluckte die schwachen Laute.

Plötzlich hielt jemand ihre Handgelenke fest. Hans-Günther Buss war hinter sie getreten. »Was machen Sie denn da, Urte?«

Eine Sekunde lang gab sie der Schwäche nach und lehnte sich an die Männerbrust. Nur eine Sekunde lang, dann riß sie sich gewaltsam los und fuhr ihn an: »Wir sind eingeschlossen, begreifen Sie das nicht? Und Sie sind schuld!«

»Großartig! Das habe ich mir schon immer gewünscht – mit der Frau meiner Träume im Folterkeller!« Er griff nach ihrer Hand.

Sein Blick war eine einzige Liebeserklärung.

Urte fühlte wieder diese seltsame Schwäche. Mit raschen Schritten ging sie an dem Mann vorbei. »Sagen Sie mir lieber, wie wir hier herauskommen. Ich habe wenig Lust, die Nacht in diesem schaurigen Gewölbe zu verbringen.«

»Ich nehme an, daß die nächste Führung gleich stattfindet.«

»Hoffentlich haben Sie recht.« Urte hockte sich auf die Türschwelle und stützte ihren Kopf auf die Hände. Angestrengt vermied sie, den Mann anzusehen.

Es kam Urte vor, als säße sie schon eine Ewigkeit hier, eingekerkert mit den Schatten der Vergangenheit. Ihr war hundeelend zumute.

Und als der Mann wieder vor ihr stand, kam sie sich völlig entblößt vor. Sie hatte ihn nicht kommen gehört und suchte zu spät nach einem Taschentuch.

H.G.B. sah ganz bestürzt aus. »Aber Urte! Was ist denn?«

Sie schwieg. Was hätte sie auch antworten sollen? Sie war sich ja selbst nicht klar darüber, warum sie weinte.

»Mein Gott, Urte, wenn ich dich so sehe! Ich komme mir wie ein Schuft vor. Dabei habe ich das wirklich nicht gewollt!«

Urte sah auf. Der Mann wirkte zerknirscht und schuldbewußt. Er war nicht mehr der Draufgänger, der Kam-sah-und-siegte-Typ.

Urte erhob sich.

»Natürlich haben Sie es nicht gewollt«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich bin eine dumme Gans.«

Ihr Taschentuch war schon völlig durchnäßt. H.G.B. zog sein Taschentuch hervor und betupfte zärtlich ihre noch feuchten Augen.

Ein kleines Lächeln huschte wie ein Sonnenstrahl über das Gesicht des Mädchens.

»War das der Regenbogen, das Zeichen der Versöhnung?« fragte Hans-Günther weich.

Urte nickte, und wieder blühte ein Lächeln auf.

Der Mann betrachtete hingerissen das gelöste Gesicht. Langsam beugte er sich nieder. Dann zögerte er. Er sah sie fragend an.

Unmerklich kam ihm der Mund des Mädchens entgegen.

Und dann lag Urte zum ersten Mal gelöst in seinen Armen. Alles war ihr mit einemmal gleichgültig. Wenn er auch ein Playboy war oder vielleicht sogar noch etwas Schlimmeres!

Die Woge des Glücks, die sein Kuß auslöste, schwemmte alle Bedenken fort. Was blieb, waren die Augen und die zärtlichen Hände des Mannes.

»Wie du dich verändert hast in diesen wenigen Minuten! Wo ist all deine Kratzbürstigkeit geblieben?« fragte Hans-Günther. Ein großes Staunen war in seiner Stimme.

»Ach, eigentlich war ich nur wütend auf mich selbst!«

»Warum?«

»Weil ich mich sofort in dich verliebt hatte.«

»Und das wolltest du nicht?«

»Nein. Eigentlich will ich es noch immer nicht. Aber das Schicksal ist anscheinend gegen mich.« Urte ließ ergeben die Arme sinken.

»Warum wehrst du dich so heftig gegen die Liebe?«

»Ist es Liebe?« Ihr Gesicht bekam plötzlich einen sehr ernsten, gespannten Ausdruck.

H.G.B. stutzte. Dann lachte er. »Natürlich ist es Liebe! Wie würdest du es sonst nennen?«

Urte zuckte die Achseln. »Es gibt viele Ersatzbezeichnungen: Flirt, Liebelei, ein kurzer Rausch.«

»Warum machst du es so kompliziert, Urte? Es ist immer das, was man im Augenblick empfindet. Nicht die Dauer, sondern die Tiefe des Gefühls ist entscheidend. Die Rückschau ist meist nicht ehrlich. Aus Enttäuschung, Wut, innerer Leere oder verletzter Eitelkeit erfindet man dann die anderen Bezeichnungen.«

»Du hast recht, H.G.B.. Bei mir ist es die Angst vor der Leere, die folgen wird.«

»Kleines Dummchen! Du willst doch nicht zu den Menschen gehören, die vor lauter kleinlichen Bedenken zu leben versäumen?«

Urte schüttelte krampfhaft den Kopf. Es klang alles sehr einleuchtend, was Hans-Günther sagte. Doch sie fühlte dunkel, daß im Unterbewußtsein Angst und Zweifel lauerten.

»Na also!« Der Mann zog mit den Fingerspitzen zärtlich die Linien ihres Gesichtes nach. »Jetzt erst bist du wirklich schön. Vorher warst du nur sehr hübsch.«

»Aber nicht so schön wie dein Vulkan unterm Eis!« Urte biß sich auf die Unterlippe. Hätte sie diese Bemerkung doch lieber unterdrückt!

»Was meinst du damit?« H.G.B. runzelte die Stirn.

»Deine schwarzrote Flamme mit den Eisaugen!«

Hans-Günther lachte unbekümmert. »Du kannst gut beobachten! Aber sei unbesorgt. Erstens ist die Schönheit unter dem Lack nur halb so blendend. Und zweitens ist es ziemlich strapaziös, dauernd auf den Vulkanausbruch gefaßt zu sein!«

»Und drittens?«

»Drittens sollten wir die kostbare Zeit nicht mit Gesprächen über andere Frauen verbringen! Denn jetzt interessierst nur du mich.«

Er küßte Urte zärtlich, aber noch unter der Wirkung des Kusses dachte sie: »Jetzt« hat er gesagt! Jetzt interessiere ich ihn – nicht für die Zukunft…

Sie nannte sich in Gedanken albern und rechnete sich vor, wie viele Minuten sie ihn kannte. Jede Minute kam ihr wie ein Jahr vor.

Als Hans-Günther sie freigab, seufzte sie auf. »Liebe im Folterkeller«, murmelte sie und dachte an die Doppeldeutigkeit der Feststellung.

Der ungewöhnliche Ort schien dem Mann erst jetzt wieder bewußt zu werden. »Ach so! Es scheint tatsächlich keine Besichtigung mehr stattzufinden. Ich würde ja sehr gern eine Nacht mit dir verbringen, aber ich könnte mir einen bequemeren Ort vorstellen.«

Urte wurde rot und ärgerte sich darüber.

»Versuchen wir doch einmal, uns bemerkbar zu machen.« Hans-Günther ging zur Tür und rüttelte an der Klinke.

»Wir können doch mal rufen. Ich habe die begründete Hoffnung, daß uns jemand hört.«

»Also los!« Sie riefen im Chor: »Haaaalloooo!« Immer und immer wieder. Nach einer Weile meinte Urte: »Jetzt gebe ich es auf. Ein Nachtlager im Folterkeller hat auch seinen Reiz.«

Noch einmal rüttelte Hans-Günther wie wild an der Tür, und als er gerade aufgeben wollte, ertönten schlurfende Schritte.

»Es kommt jemand!« sagte er hoffnungsvoll.

Sie lauschten angespannt. Ein Schlüssel knirschte im Schloß. Kreischend drehte sich die Tür in den Angeln. Im Türrahmen stand ein alter Mann in Filzpantoffeln und offenem Hemd. Ein weißer Stoppelbart sproß in seinem hageren Gesicht.

»Nanu!« In seinen Augen stand ausgesprochene Mißbilligung.

»Wir sind bei der letzten Besichtigung hier eingeschlossen worden«, erklärte H.G.B. überflüssigerweise.

»Scheint Ihnen nicht unangenehm gewesen zu sein«, brummte er. Erst dann gab er den Ausgang frei.

Als sie auf der Straße standen, atmeten beide tief auf und lachten.

»Frei!« sagte Urte.

H.G.B. faßte sie bei der Hand und zog sie mit sich fort.

»Ja, Freiheit ist ein schönes Gefühl. Ich möchte behaupten, es rangiert noch vor der Liebe.«

Das Mädchen streifte ihn mit einem schwer zu deutenden Seitenblick.

»Bist du empört, Urte? Eine Liebe, die den Partner in Ketten legt und versklavt, ist keine Liebe.«

»Jetzt deutelst du an der Liebe herum!«

H.G.B. schüttelte energisch den Kopf. »Du irrst dich. Aber ich schlage vor, wir unterhalten uns beim Abendessen weiter darüber. Ich habe Hunger und außerdem eine trockene Kehle nach der Schreierei im Keller.«

Sie standen vor dem berühmten Hotel Adam, das ganz in der Nähe des Folterkellers liegt.

Urte willigte ein, und sie betraten einen kleinen, aber sehr gemütlichen Raum. Es herrschte gedämpftes Licht und Kerzen standen auf den Tischen.

Zu vorgerückter Stunde gingen sie eng aneinandergeschmiegt durch die stillen Gassen der kleinen Stadt. Um sie war die stille weiche Nacht. Das trübe Licht der Laternen und die plätschernden Brunnen vermittelten den Eindruck einer schlafenden Stadt aus dem Mittelalter.

Einige Schritte vor dem »Oberen Felsenkeller« trennten sie sich voneinander. Noch ein langer Kuß, und Urte flüsterte: »Wenn es nur diesen Abend geben würde und nichts weiter, ich möchte ihn nicht missen.«

H.G.B. faßte unter ihr Kinn. »Du bist eine gelehrige Schülerin. Aber keine Angst, es gibt ein Morgen! Bis dahin – träume von mir.«

Urte nickte. Ihre Augen wurden feucht, und in ihnen war der Widerschein der Sterne.

*

Am nächsten Morgen erwachte Urte ziemlich früh. Sofort war die Erinnerung an den vergangenen Abend da, und ihr Gesicht verklärte sich. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sie sich wieder leicht und frei. Die Schatten der Traurigkeit hatten sich verflüchtigt.

Sie glitt leise aus dem Bett, um das Kind nicht zu wecken.

Als Urte das Zimmer betrat, blinzelte Veronika ihr erwachend entgegen. Dann setzte sich das kleine Mädchen mit einem Ruck auf und entdeckte den Goldhamster.

»Bloß aus Stoff!« sagte es mit deutlicher Enttäuschung in der Stimme.

Urte setzte sich auf den Bettrand und streichelte das wirre krause Haar. Da sie selbst glücklich war, wollte sie das Kind auch gern froh sehen. »Wenn du den kleinen Hamster nicht magst, ist er aber sehr traurig, Ika.«

Veronika sah sie aufmerksam an und schüttelte den Kopf.

»Doch, ganz bestimmt!« beharrte Urte. »Wenn Stofftiere von Kindern einfach in die Ecke geworfen werden, grämen sie sich.«

»Sie sind nicht lebendig!« Veronika blieb hartnäckig.

»Nachts um zwölf können auch Stofftiere sprechen, solange die Uhr schlägt. Dann beklagen sie sich oder freuen sich, wenn die Kinder lieb zu ihnen waren.«

Veronikas Vergißmeinnichtaugen wurden groß vor Staunen. Sie nahm den Goldhamster in die Hand und betrachtete ihn aufmerksam. »Sieht beinahe wie lebendig aus, nicht?«

»Na, siehst du. Er ist doch niedlich, nicht wahr?«

»Ich will ihn mal sprechen hören!«

»Aber mitten in der Nacht schläfst du doch immer.«

»Kannst du mich nicht mal wecken?«

»Weißt du, ich bin jetzt selbst immer sehr müde und schlafe wie ein Murmeltier.«

»Und Tiere?« wollte Veronika wissen. »Können die auch sprechen?«

»Einmal im Jahr, in der Christnacht, können auch Tiere sprechen.«

Veronikas Augen leuchteten. »Wenn ich vielleicht mal einen richtigen Goldhamster bekomme, bleibe ich am Heiligen Abend bis Mitternacht auf. Oder bis zum Morgen, wenn es sein muß. Es muß schön sein, wenn Tiere reden können. Schade, nur einmal im ganzen Jahr.«

»Sie sprechen auch sonst. Die Menschen begreifen es manchmal nur nicht.«

»Wie denn, wie sprechen sie denn?«

»Zum Beispiel mit den Augen. Wenn dich Teddy ansieht, weißt du doch oftmals genau, was er von dir will, oder?«

Veronika lachte laut auf. »Wenn ich was zu essen habe, bettelt er!«

»Und wenn du mit ihm spielen sollst, merkst du es auch.«

»Ja, genau!« Veronika nickte begeistert. »Aber ganz kleine Tiere, Käfer und solche, die versteht man nicht!«

»Heute morgen sah ich einen Käfer, der sagte zu mir: Es ist sehr mühselig, diesen steilen Berg zu erklettern. – Und eine Schnecke sagte: Ich muß durch eine große Sandwüste, hoffentlich schaffe ich das.«

»Och!« machte Veronika erstaunt und ungläubig.

»Ich habe dem Käfer den Stock aus dem Weg geräumt, den er für einen Berg hielt, und die Schnecke über den Weg getragen, sonst wäre sie sicher überfahren worden. Was meinst du, wie sich die beiden gefreut haben!«

»Die können doch nicht lachen!« erwiderte Veronika sachlich und ein bißchen verächtlich.

»Nein, aber der Käfer war ganz verdutzt und die Schnecke streckte ihre Fühler aus, nachdem ich sie ins feuchte Gras gesetzt hatte, und fühlte sich so richtig behaglich.«

»Ach so!« Veronika sann noch einen Augenblick lang nach. »Man muß sie nur beobachten, dann merkt man, was sie sagen wollen, nicht? – Ich habe Hunger!« erklärte sie dann unvermittelt.

»Das ist ein gutes Zeichen für deine Genesung. Ich weiß gar nicht, ob wir schon etwas bekommen können. Es ist noch früh am Morgen. Ich werde nachsehen.«

Veronika nickte nur, und als Urte die Tür hinter sich schloß, hörte sie noch: »Heute nacht muß du mit mir sprechen, Goldtier, sonst bin ich dir böse!«

Nach dem Frühstück unternahmen Urte und das kleine Mädchen einen langen Spaziergang. Es war ein herrlicher Sonnentag. Federwölkchen standen hoch im Blau und ein leichter Wind wehte.

Als sie sich an einem Hang ins Gras streckten, schlummerte das Kind ein. Urte aber dachte an den kommenden Tag und bekam Herzklopfen. Sie war glücklich bei dem Gedanken an Hans-Günther, und doch spürte sie eine deutliche Unsicherheit. Es war alles viel zu schnell gegangen! Urte fühlte sich überrumpelt. Dabei hatte sie immer wieder das Empfinden, als ob sie den Mann schon seit einer kleinen Ewigkeit kannte.

Nach dem Mittagsschlaf im Gasthaus schlug Veronika vor: »Komm doch mit zu Opa!«

»Meinst du nicht, daß wir ihn stören?« fragte Urte unsicher.

»Nööö, der läßt sich nicht stören. Wenn er nicht sprechen will, dann merkt er gar nicht, daß Besuch da ist.«

»Du hast ja anscheinend schon deine Erfahrungen gesammelt«, lächelte Urte. »Versuchen wir es mal.« Sie hoffte, mit dem Professor über seinen Sohn sprechen zu können. Der Tag ohne Hans-Günther kam ihr endlos vor.

Sie fanden den alten Gelehrten im romantischen Garten des Schlößchens. Völlig in sich versunken starrte er auf eine der großen gelben Blüten der Kaiserkrone. Veronika lief auf ihn zu und umschlang seine Knie.

»Opa«, sagte sie nur.

Der Professor schaute auf sie hinunter, als erwache er. »Ah, du bist es, Goldtöchterchen. Na, wieder ganz gesund?«

Veronika nickte. »Urte ist mitgekommen.«

Jetzt erst entdeckte der alte Herr das Mädchen, das sich nur zögernd näherte.

»Wir stören Sie vielleicht, Herr Professor.«

Sie reichten sich die Hände.

»Nein, nein, Sie stören nicht. Ich ging in den Garten, um ein wenig zu ruhen. Aber es gelingt mir nur selten. Auf Schritt und Tritt begegne ich ihr – der Schönheit der Natur.« Er bog die große gelbe Blüte ein wenig zur Seite. »Schauen Sie, darin wohnt ein winziger schwarzer Käfer. Für ihn gibt es sicher nur diese goldene Welt mit dem blauen, unendlich fernen Himmel.«

»Sicher fühlt er sich sehr glücklich«, meinte Urte nachdenklich. »Wie glücklich müßten erst wir Menschen sein, da uns diese Vielfalt an Farben, Formen und Düften geschenkt wurde.«

»Ja, das ist wahr. Aber oft sieht der Mensch vor lauter Kummer die Schönheit nicht mehr. Und doch ist mir die Natur immer eine große Trösterin gewesen.«

»In der Natur besinnt man sich am schnellsten wieder auf den Schöpfer«, sagte Urte, während sie neben dem alten Gelehrten zum Steintisch schlenderte.

Ein gütiges Lächeln verklärte das Gesicht des alten Mannes.

Sie setzten sich auf die Bank, die noch Sonnenwärme ausstrahlte, obwohl sie bereits im Schatten lag.

Der Himmel verdunkelte sich und ein Windstoß fuhr durch die Baumwipfel. Schon fielen dicke Tropfen klatschend auf den Steintisch.

Veronika stürmte herbei.

»Es donnert!« flüsterte sie furchtsam.

»Hast du etwa Angst?« fragte der Professor.

Veronika schwieg eine Weile. Schließlich fragte sie: »Du etwa nicht?«

»Nein!« lachte Professor Buss. »Ich habe keine Angst. Ich finde ein Gewitter wunderbar!«

Veronika starrte ihn ungläubig an.

Sie waren währenddessen ins Schlößchen gegangen, die schmale Treppe emporgestiegen und ins Studierzimmer gelangt.

Zaghaft trat Veronika ans Fenster. Als der erste Blitz aufleuchtete, zuckte sie furchtsam zusammen, und als der Donner über den Himmel polterte, verbarg sie ihr Gesicht schnell in Urtes Rockfalten.

»Ach, das bißchen Krach!« lächelte der alte Gelehrte. »Wenn du eine Tüte aufbläst und sie durch Draufschlagen zerplatzen läßt, dann freust du dich doch auch?«

Veronika schielte vorsichtig zu ihm hinüber und nickte. »Na siehst du, etwas anderes ist der Donner auch nicht. Du mußt dir vorstellen, daß der Blitz eine große aufgeblasene Tüte zerreißt.«

Veronika ging tatsächlich wieder ans Fenster.

Der Regen rauschte wie ein Sturzbach hernieder. Es war still in dem kleinen Raum. Nur der Regen prasselte gegen die Scheiben. Der Gelehrte kramte gedankenverloren in seinen Papieren. Urte spürte, daß er sie und das Kind im Augenblick vergessen hatte.

Das Trommeln des Regens wurde leiser und hörte schließlich ganz auf. So schnell wie es gekommen war, verschwand das Gewitter. Nur noch in der Ferne grollte es dumpf.

Ein Sonnenstrahl verirrte sich ins Zimmer.

»Ich glaube, wir können gehen«, sagte Urte und schob das Kind vor sich her.

Der Professor saß an seinem Arbeitstisch – in seiner Welt, in der Welt der Schönheit.

»Wiederseh’n, Opa!«

Der Blick des alten Herrn kam von weither. »Ach so, ja. Wollt ihr schon gehen? Besucht mich wieder einmal.«

»Na klar! Morgen bestimmt!« sagte Veronika.

Der Alte lächelte geistesabwesend.

*

Die Luft nach dem Gewitter war herrlich aromatisch. Alles sah aus wie frisch geputzt. Nur die Tauber war nach dem Platzregen aufgewühlt und schmutzig. Lehmbraun gurgelte das Wasser über die großen Steine.

Als Urte die Stadt erreichte, trugen sie ihre Füße wie von selbst in die Richtung des Folterkellers. Ein glückliches Lächeln stahl sich um ihre Lippen. Sie wollte noch einmal die glücklichen Stunden nachempfinden und vielleicht eine Tasse Kaffee im kleinen Hotel Adam trinken.

Sie bog in die enge Straße ein. Dem Hotel gegenüber stand eine alte verwitterte Kutsche, in der unzählige Blumen blühten. Petunien flatterten im leichten Wind wie Schmetterlinge auf und nieder.

Plötzlich stockte Urtes Fuß. War das nicht Hans-Günthers Stimme? Ihr Herz holperte. Am Eingang des Hotels stand eine Frau, haselnußbraun das Haar, sonnenbraun die Haut, von der eine tiefdekolletierte Bluse eine Menge sehen ließ. Sie stand da in gezierter Haltung, in der Hand ein Veilchensträußchen, den süß-kindlichen Schmollmund ein wenig geöffnet.

Das alles nahm Urte innerhalb einer Sekunde undeutlich wahr. Dann hörte sie wieder die bekannte Stimme: »Nein, meine Süße, das geht wirklich nicht! Ein bißchen natürlicher, bitte!«

Und dann tauchte H.G.B. auf, und Urtes Herz begann zu rasen.

Das Mädchen mit dem Schmollmund aber hob den Veilchenstrauß an die Lippen und dann dem jungen Mann entgegen. Sie himmelte H.G.B. auf eine Weise an, daß Urte übel wurde. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte wie gejagt davon.

Er ist ein Schuft! Er ist eben doch ein Schuft! Ihre Absätze hämmerten aufs Straßenpflaster.

Endlich, als sie völlig außer Atem war, verlangsamte sie den Lauf.

Mir hat er erzählt, er sei heute in München! Damit ich ihn nicht bei seinem Rendezvous störe! Urte zerbiß ihre Lippen. Der körperliche Schmerz tat ihr gut.

Ich bin eine dumme leichtgläubige Gans!

Sie warf den Kopf in den Nacken und stieß mit der Schuhspitze nach einem Stein, der im Weg lag. Er prallte an der Hauswand ab und traf ihr Schienbein.

Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Oder war es nicht nur der körperliche Schmerz? Sie fuhr sich sehr energisch über die Augen. – Ich werde wegen diesem Don Juan doch keine Tränen vergießen!

Ein Auto bremste scharf neben ihr. Erschrocken sprang sie zur Seite. Dann sah sie sein lachendes Gesicht. H.G.B. lachte wie ein Lausbub über den gelungenen Streich. Urte war so verblüfft und wütend, daß ihr nichts weiter einfiel, als den Kopf erneut in den Nacken zu werfen und weiter zu gehen.

»Hallo, Urte, was ist denn mit dir los?«

Sie drehte sich nicht um. Stur setzte sie den Weg fort. Sie wollte nicht mehr mit ihm reden! Sie fühlte sich entsetzlich erniedrigt.

Hans-Günther Buss war wieder gestartet, und das Auto rollte im Schrittempo neben ihr her. »Willst du mir nicht wenigstens sagen, was los ist?« hörte sie die drängende Stimme des Mannes.

Wut stieg in ihr hoch. »Geh zum Teufel und zu deinen Haremsdamen!« stieß sie hervor.

H.G.B. sah sie verdutzt an, dann grinste er verstehend. »Ach so, du hast mich gesehen. Eine Schwarze, eine Braune – aber nun fehlt mir dringend eine Blonde!«

Urte sah geradeaus und schwieg verbissen.

»Ich stelle mit Entzücken fest, daß du eifersüchtig bist, Mädchen! Aber nun ist es genug! Sei nicht albern. Das gehört nun mal zu meinem Beruf; ich kann es nicht vermeiden, mit diesen Damen umzugehen.«

Schweigen.

»Urte, ich habe mich etwas beeilt und bin heute schon wieder zu dir zurückgekommen!« Seine Stimme klang weich.

Urte streifte ihn mit einem Seitenblick. »Du warst in München?«

»Aber sicher! Ich habe dieses Mädchen doch erst geholt. Aber sie ist kein Flirt von mir, glaub mir doch!«

»Sie hat dich angehimmelt, daß mir übel wurde!« erwiderte Urte heftig.

H.G.B. lachte leise. »Du mußt zugeben, daß ich mich dagegen schlecht zur Wehr setzen kann!«

Urte schwieg wieder verbissen.

»Sei nicht albern, und steig ein – zum Kuckuck!« Urte blickte zur Seite und stutzte. Auf dem hinteren Sitz des offenen Sportwagens bewegte sich etwas Kleines, Goldbraunes. Es saß in einem Käfig und mümmelte an einer Mohrrübe.

»Aber das ist ja ein Goldhamster!« rief sie verblüfft.

»Der Beweis, daß ich in München war und trotz aller Hetze an dich gedacht habe!«

Urte fühlte sich beschämt. »Das..., das finde ich aber wirklich reizend.«

H.G.B. grinste. »So bin ich eben: reizend!«

Urte stieg ein. »Manchmal aber schon ein bißchen aufreizend!«

»Du auch, mein Goldkind, du auch!« Er küßte sie, bis ihr die Luft ausging und sie ihre kleinen Fäuste gegen seine Brust stemmte.

»Das war die Strafe!« erklärte er und startete mit einem Ruck, der Urte in die Lederpolster warf.

»Na, das ist ja wohl das letzte! Strafe – wofür?«

»Daß du an meiner Lauterkeit gezweifelt hast!«

Er unterstrich die Worte mit einer großen Geste.

Urte mußte gegen ihren Willen lachen.

»Weißt du, es ist schwer, dir wirklich böse zu sein. Und das ist gefährlich. Ich glaube, mit deinem Charme streust du allen Frauen Sand in die Augen.«

»Man tut, was man kann, um in einem Stall voller Wildkatzen und Schlangen nicht ununterbrochen als Dompteur fungieren zu müssen. Glaube mir, es ist manchmal nicht ganz einfach mit den Weibern!« Er seufzte komisch.

»Jetzt soll ich dich vielleicht auch noch bedauern?« Der empörte Tonfall gelang Urte nicht recht.

H.G.B. hielt ihr die Wange hin. »Bitte, streichle mich ein bißchen. Diesen Vorzug räume ich nur dir ein.« Er sagte es seltsam ernst.

Urte legte ihre Hand an seine Wange. Er drehte rasch den Kopf und küßte die Innenfläche. Dann stoppte er den Wagen vor dem »Oberen Felsenkeller«.

Veronika kam angerannt. Ihr Blick fiel auf den Passagier im Fond und ihre Augen wurden groß wie Stiefmütterchen.

»Das ist ja ein Goldhamster!«

»Er gehört dir.« Hans-Günther langte nach hinten und reichte dem kleinen Mädchen den Käfig.

»Och, ist der süß!« Veronika hielt den Käfig in die Höhe, und der kleine Hamster blinzelte sie mit blanken schwarzen Perlaugen an.

»Du darfst dich bei Herrn Buss bedanken!« mahnte Urte.

Veronika machte einen Knicks bis auf den Boden und verlor fast das Gleichgewicht. Dann rannte sie los, um den neuen Spielgefährten der Wirtin zu zeigen.

»Da hast du jemand glücklich gemacht, H.G.B.«, sagte Urte warm.

»Hm – ob es mir bei dir auch gelingt?«

Urte lehnte den Kopf an seine Schulter. »Es ist dir schon gelungen.«

Hans-Günther umspannte ihr Gesicht mit den Händen und sah ihr in die Augen. »Ich weiß nicht… Ich habe immer das Gefühl, da fehlt noch etwas.«

Urte erschrak. Wie gut er sie durchschaute! Seit ihrer letzten Enttäuschung krankte sie an einem Vergänglichkeitskomplex. Sie war mißtrauisch und glaubte nicht an die Dauer ihres Glücks.

Aber da waren die zärtlichen Hände und die sprechenden Augen des Mannes, und Urte hoffte plötzlich, daß Hans-Günther anders war, als sein Vater ihn geschildert hatte.

»Wir kennen uns noch so wenig«, murmelte sie.

»Dem kann abgeholfen werden! Was fangen wir heute abend an?«

»Ganz egal. Laß uns ein Stück spazierengehen, vielleicht zur Engelsburg hinauf.

»Ja, mein Mädchen«, sagte Hans-Günther zärtlich. »Das ist eine Burg, die zu dir paßt. Laß uns gehen.«

Sie stiegen den Berg hinauf. Das tiefe Taubertal lag bereits im Schatten. Der Abendwind flüsterte zärtlich in den dünnen Zweigen der Birken.

Hans-Günther und Urte gingen schweigend und eng aneinandergeschmiegt.

»Da sind wir schon«, sagte Urte nach einer Weile.

»Ja, aber, wo ist die Burg?«

»Eine richtige Burg gibt es gar nicht. Das alles hier nennt sich so.«

Hans-Günther sah sich um und entdeckte eine kleine verborgene Waldlichtung jenseits des Weges. Er zog Urte mit sich. Schweigend saßen sie minutenlang nebeneinander – und dann nahm der warme trockene Grasteppich sie auf.

Aus den dunklen Bäumen rieselte die Abenddämmerung auf sie nieder, hüllte sie ein wie ein weiches Tuch.

Urte sah das Gesicht des Mannes über sich. Seine Augen waren schwarze schimmernde Opale. Sie erzitterte unter seinen Händen, die brennende Zärtlichkeit verströmten, und sein Mund berührte wie eine Flaumfeder ihr Gesicht.

Am Nachthimmel blühte der erste Stern auf und dorthin entschwebte das Mädchen. Sie spürte die Weite des Alls und die Schwerelosigkeit des unendlichen Raumes.

Sie klammerte sich an den Mann, um ihn mitzunehmen. Immer schneller wurde der Flug zu den Sternen, immer größer die Seligkeit. Und dann kam der Sturz in die Nacht.

Urte fand sich in den Armen des Geliebten wieder. Seine Hände bewahrten sie vor dem Schmerz des Aufpralls, vor der Leere und der Einsamkeit.

Eine große Liebe war Wirklichkeit geworden. Urte wußte jetzt, daß sie nie zuvor von der Liebe berührt worden war.

Sie waren so erfüllt voneinander, daß sie das Wort fürchteten, das die Stimmung zerreißen würde.

Schweigend blickten sie in den samtschwarzen Nachthimmel. Brillanten und Sternenstaub. Zeugen der Geburt ihrer Liebe…

*

Als Urte am nächsten Morgen aus dem Fenster sah, dämmerte ein trüber Tag herauf. Dunkle Wolkenberge türmten sich über der Stadtsilhouette drohend wie Ungeheuer.

Urte nahm sich vor, ihre herrliche Stimmung dadurch nicht verderben zu lassen. Der Zauber des vergangenen Abends wirkte noch nach. Urte konnte nicht glauben, daß der Mann, mit dem sie jene Stunden verlebt hatte, ein oberflächlicher Mensch war – wie der alte Professor behauptete.

»Heute abend!« flüsterte sie. »Heute abend ist er wieder bei mir!«

Da Veronika ausgiebig mit ihrem Goldhamster beschäftigt war, bummelte Urte nach dem Frühstück ziellos über die Bogenbrücke.

Ihre Gedanken beschäftigten sich ausschließlich und ununterbrochen mit Hans-Günther. Ihre Blicke schweiften währenddessen über den Fluß, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.

Die Wolkendecke war inzwischen aufgerissen. Es bildeten sich Lichtinseln, die das Wasser aufblitzen ließen und den hellen Sand am Ufer golden färbten.

Plötzlich stockte Urtes Herzschlag.

In der Lichtinsel, wie von einem riesigen Scheinwerfer angestrahlt, stand das schwarz-rote Mädchen mit den Eisaugen.

Toska von Tersky trug einen winzigen Bikini und reckte ihre schönen schlanken Arme in aufreizender Pose gen Himmel.

Urte spürte dasselbe große Unbehagen wie an jenem Abend im Hotel Eisenhut. Sie rief sich energisch selbst zur Ordnung und sagte halblaut: »Na, wenn schon!«

Doch bevor sie sich zum Weitergehen zwang, warf sie noch einmal einen Blick zum Fluß hinunter, und jetzt war sie unfähig, sich zu rühren.

Denn aus den Büschen trat ein Mann, und dieser Mann war Hans-Günther Buss! Er näherte sich der Schwarzroten mit zielstrebigen Schritten und faßte nach ihren erhobenen Armen. Das Mädchen lehnte sich an ihn, nein, sie rankte sich an ihm empor wie eine Schlingpflanze, schmiegte die Arme um den Nacken des Mannes und küßte ihn.

Urte glaubte, der Kuß müsse ihn töten. Sie schloß die Augen und begann blind den Weg zurückzulaufen. Als sie die Lider wieder hob, verschwamm ihr Blick.

Diesmal gab es keine Ausrede! Diesmal war es bestimmt kein dienstliches Techtelmechtel!

Urte stürmte den Weg bergan und gelangte zur Engelsburg. Als sie keuchend stehenblieb, erkannte sie die Stelle, an der sie am Vorabend mit Hans-Günther gesessen hatte. Sie ließ sich fallen, als sei alle Kraft aus ihr gewichen.

Hier hatte sie erst vor ein paar Stunden die große Seligkeit erlebt, und jetzt zerfetzte sie der Schmerz.

Sie krallte ihre Hände in das trockene Gras. Ihre Schultern bebten, als schüttele sie ein Sturm. Hinter den geschlossenen Lidern sah sie das Bild am Fluß. Es war in ihre Netzhaut eingebrannt: Die schwarzrote Schlange und der geliebte Mann!

Der Schmerz verebbte in kleinen Wellen, und dann war nur noch eine dumpfe Gefühllosigkeit in dem Mädchen. Sie lag leblos wie eine Scheintote und ließ einfach die Zeit vergehen. Sie war nicht fähig, einen endgültigen Entschluß zu fassen.

*

Zur gleichen Zeit stoppte vor dem Gasthaus ein Auto.

Veronika spielte gerade mit dem Spitz. Der Goldhamster stand in seinem Käfig neben ihr.

Als sich die Tür des Wagens öffnete, blickte das kleine Mädchen kaum auf. Doch dann war in seinem Blick ein Erkennen – und dann nackte Panik.

»Tante Anni!« flüsterte Veronika und stand unbeweglich wie eine Puppe.

»Veronika, du bist es also tatsächlich! Was machst du uns nur für Kummer!« Die Kindergärtnerin aus dem Heim »Alpenblick« ging mit raschen energischen Schritten auf das Kind zu. Sie streckte die Hand aus. Veronika griff danach und machte automatisch ihren Knicks.

»Ich bin gekommen, um dich zu holen, Ika! Aber ich muß natürlich zuerst mit der Wirtin sprechen. Ist sie da?«

Veronika brachte kein Wort über die Lippen. Sie nickte stumm und wies auf das Haus.

»Lauf nicht fort!« mahnte die Kindergärtnerin. »Wir fahren gleich ab!« Sie betrat die Gaststube. Wenige Augenblicke später erschien die Wirtin. »Grüß Gott.«

»Grüß Gott. Ich bin gekommen, um Veronika abzuholen. Ich bin Kindergärtnerin im Haus ›Alpenblick‹.«

»Na, das ist aber eine Überraschung. Da muß ich mich erst einmal setzen.« Die Wirtin sank auf den nächsten Stuhl. »Darum also Ikas Abneigung gegen das Kinderheim! Die Kleine kam in Panik, wenn wir sagten, daß sie vielleicht in ein Heim müßte.«

»Sie haben das Kind sicher sehr verwöhnt«, bemerkte die Kindergärtnerin kühl.

»Ika hat von einer Tante Anni erzählt. Aber viel mehr brachten wir aus ihr nicht heraus. Wir haben immer herumgerätselt, wo sie wohl hergekommen ist.«

»Sehen Sie, Frau Eckstein, das ist auch der Grund, warum Veronika nicht in eine private Pflegestelle vermittelt werden kann. Sie ist ein bißchen…, na, sagen wir einmal, sie ist ein bißchen zurückgeblieben.« Die Kindergärtnerin sah die Wirtin bedeutungsvoll an. »Sie verstehen, was ich meine?«

»Sie meinen, die Kleine ist ein bißchen blöd?« fragte die Wirtin empört. »Davon ist mir aber bisher noch nichts aufgefallen!«

»So? Aber mit fünf Jahren müßte ein Kind die notwendigen Antworten über seine Herkunft eigentlich machen können!«

Der Wirtin kam ein Gedanke. »Wenn ich mir vorstelle, wieviel Angst das Kind vor dem Heim hatte, möchte ich beinahe glauben, daß sie absichtlich nichts gesagt hat!«

Die Kindergärtnerin richtete sich steif auf.

»Es ist dem Kind bei uns kein Unrecht geschehen!« erklärte sie sichtlich verschnupft. »Und es wird ihr auch jetzt niemand etwas tun, obwohl Veronika uns eine Menge Scherereien gemacht hat.«

Die Wirtin warf der Frau einen mißtrauischen Blick zu. »Das ist ja alles ganz schön. Aber irgend etwas muß das Kind doch so verstört haben.«

»Es hat sie nichts verstört! Veronika ist von Natur aus so!«

»Wir fanden das Kind alle sehr liebenswert. Wir haben sogar schon in Erwägung gezogen, es bei uns zu behalten.«

»So, das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber ich glaube nicht, daß Sie die Genehmigung dazu bekommen. Eben aus dem bereits genannten Grund. Wenn es Ihnen ernst ist, versuchen Sie es. Das Jugendamt wird darüber entscheiden müssen. Jetzt nehme ich das Kind auf jeden Fall erst einmal mit!«

»Ach du liebe Zeit, wird das ein Theater geben!« prophezeite die Wirtin.

»Überhaupt nicht! Ich habe Veronika bereits getroffen und es ihr gesagt. Sie hat überhaupt nicht reagiert – wie immer. Sie ist ziemlich stupid.«

»Ich kann kaum glauben, daß wir das gleiche Kind meinen. Hier war Ika sehr aufgeschlossen und fröhlich und sehr leicht zu lenken.«

Die Kindergärtnerin musterte Frau Eckstein kühl. »Sie können das nicht so beurteilen. Ein Kinderpsychologe muß darüber entscheiden!«

»Ein Kinderpsychologe, du liebe Güte, was für ein Theater! Ich werde doch merken, wie ein Kind ist! Jedenfalls ist Ika völlig normal! – Na, wenn es also nicht anders geht, greifen Sie sich die Kleine. Ich will aber nicht dabei sein. Der Jammer bricht mir das Herz. Ich hole inzwischen noch das Kleidchen, das sie anhatte, als sie kam.«

Die Kindergärtnerin trat wieder vor die Tür, sah sich um und rief: »Veronika!«

Nichts rührte sich. Der Platz, an dem Veronika gespielt hatte, war leer. Nur der Käfig mit dem Goldhamster stand verlassen im Sand.

Die Wirtin erschien in der Haustür. »Haben Sie das Kind schon ins Auto verfrachtet?«

»Ich kann sie nirgends entdecken«, erwiderte die Kindergärtnerin ratlos.

»Da haben wir’s! Sie ist fortgelaufen, weil sie so große Angst hatte! Als ob ich mir das nicht schon gedacht hätte!«

»Wo könnte sie denn sein?« fragte die Kindergärtnerin kleinlaut.

»Keine Ahnung.« Die Wirtin hob die Schultern, obwohl ihr natürlich sofort der Professor im Toppler-Schlößchen einfiel. Aber sie wollte dem Kind eine Chance geben. Vielleicht konnte man inzwischen beim Jugendamt vorstellig werden und dem kleinen Mädchen eine Rückführung ins Heim ersparen.

»Ich möchte annehmen, daß Ika hier nicht wieder auftaucht, solange Sie noch hier sind.«

»Und es würde Ihnen nichts ausmachen, Veronika noch einen Tag zu behalten?« fragte die Kindergärtnerin mit einem erzwungenen Lächeln.

»Ich habe schon gesagt, uns stört die Kleine nicht. Wir haben sie ins Herz geschlossen. Da machen Sie sich nur keine Sorgen!«

»Was bleibt mir anderes übrig, als erst einmal wieder zu gehen? Auf diese Weise kommen wir sicher am ehesten ans Ziel. Vielleicht hat das Kind sich irgendwo versteckt und wartet nur darauf, daß ich abfahre. Ich frage später noch einmal nach.« Sichtlich verärgert stieg die Kindergärtnerin ins Auto.

Die Wirtin stand noch einen Moment in der Haustür und sah dem Wagen nach. Sie überlegte gerade, ob sie zum Professor gehen sollte, um sich nach Veronika zu erkundigen – da entdeckte sie Urte Söhrens auf dem Weg.

»Ach, Fräulein Söhrens, gut, daß Sie kommen! Eben war eine Kindergärtnerin hier, die Ika abholen wollte! Stellen Sie sich vor, die Kleine ist doch aus dem Heim! Und die Kindergärtnerin tat so, als sei die Kleine ein bißchen dumm! Na, ich habe ihr was erzählt, dieser Tante Anni!«

Dies alles sprudelte die Wirtin in einem Atemzug heraus. In ihrer Aufregung bemerkte sie gar nicht, wie verstört das blonde Mädchen wirkte.

»Ika ist also fort?« fragte Urte. Gemischte Gefühle hatten sie beim Bericht der Wirtin bewegt. Wenn das Kind fort war, hielt sie hier ganz bestimmt nichts mehr!

»Ja, sie ist fort! Woher wissen Sie das?« fragte die Wirtin verblüfft.

»Aber Frau Eckstein, Sie haben es mir doch eben selber gesagt. Die Kindergärtnerin hat Ika geholt und…«

»Nein, eben nicht! Die Kleine ist nämlich vorher ausgerissen! Ich denke mir, sie wird beim Herrn Professor sein. Was meinen Sie? Ich wollte dem armen Hascherl wenigstens eine Galgenfrist gönnen.« Plötzlich wurde die Wirtin aufmerksam. »Sie sind so blaß, Fräulein Söhrens! Ist Ihnen nicht gut?«

»Ach, ein bißchen Kopfschmerzen.« Urte wich dem forschenden Blick aus. »Dann werde ich nachsehen, ob ich Ika bei Herrn Professor Buss finde.«

»Lieber nicht! Besser, wir wissen gar nicht, wo die Kleine ist. Sollte die Kindergärtnerin noch einmal auftauchen, brauchen wir wenigstens nicht zu schwindeln. Und Ika kommt wieder, da habe ich gar keine Bange.« Die Wirtin lächelte zuversichtlich.

»Na schön. Dann lege ich mich jetzt ein bißchen hin.«

»Ja, wollen Sie denn gar nichts essen?«

»Keinen Appetit! Danke.«

»Ach, übrigens, der Sohn vom Herrn Professor Buss läßt Ihnen ausrichten daß er heute unverhofft nach München mußte.«

Da war er wieder, dieser gemeine Schmerz in der Herzgegend.

Nun war alles klar! Die andere hatte gesiegt! Wenigstens hatte die Abreise jetzt keine große Eile mehr. Heute würde sie H.G.B. nicht begegnen, und morgen…

Ach, morgen! Wie lange war das noch hin…

Mit müden Schritten suchte Urte ihr Zimmer auf.

*

Veronika stürmte die Straße entlang.

Fortlaufen! Tante Anni selbst hatte ihr das Stichwort gegeben! Fort!

Opa Buss fiel ihr zuerst ein. Sie lief wie ein Wiesel. Als sie das komische kleine Haus erreicht hatte, sah sie ein Auto am Straßenrand stehen. Eine Tür war nur angelehnt. Das brachte Veronika auf die Idee, sich in dem Wagen zu verkriechen. Hier würde sie bestimmt keiner suchen! Sie war auf einmal nicht mehr so sicher, ob Opa Buss sie vor der energischen Tante Anni bewahren könnte.

Sie kauerte sich also in den engen Zwischenraum hinter die vorderen Sitzlehnen und rollte sich zusammen wie ein Igel. Hier fühlte sie sich einigermaßen sicher. Sie atmete auf.

Nach ein paar Augenblicken stieg jemand in den Wagen. Was jetzt? Veronika war ratlos. Vorsichtig lugte sie über die Lehne und erkannte den Mann sofort. Das war doch der nette Herr, der ihr den Goldhamster geschenkt hatte!

Sie war sehr erleichtert.

H.G.B. steckte, ohne das Kind zu bemerken, den Zündschlüssel ein und startete.

Veronika war sehr froh, daß sie auf diese Weise erst einmal aus Tante Annis Nähe kam! Doch sie war auch vorsichtig genug, sich zunächst noch nicht bemerkbar zu machen.

Nach einer, wie es dem kleinen Mädchen schien, endlos langen Zeit konnte sie es nicht mehr aushalten. Ihre Beine waren schon eingeschlafen, und es war auch äußerst langweilig, so zusammengekrümmt zu hocken. Also erhob sie sich vorsichtig, um wenigstens aus dem Fenster sehen zu können. Plötzlich zuckte sie heftig zusammen.

»Ich werde verrückt! Wen haben wir denn da?« Das Auto machte vor Überraschung einen kleinen Schlenker.

Hans-Günther Buss hatte Ika im Rückspiegel entdeckt und sich kurz umgedreht, weil er an eine Sinnestäuschung glaubte.

Veronika lächelte verlegen. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut.

Da sie sich auf der Autobahn befanden, konnte der Mann weder sofort halten noch wenden. Diese Tatsache ermutigte Veronika.

»Onkel, bist du mir böse?« fragte sie zaghaft.

»Ich bin so platt, daß ich dir gar nicht böse sein kann – noch nicht! Was hast du dir denn dabei gedacht, hier heimlich einzusteigen? Was meinst du, wie deine Mutti dich jetzt sucht!«

»Du meinst Urte?« fragte Veronika.

»Du sagst Urte zu ihr? Modernes kleines Mädchen! Ja, ich meine Urte. Sie wird sich sehr ängstigen.«

»Fährst du denn nicht wieder zurück?« fragte Veronika, unsicher geworden.

»Das hatte ich heute eigentlich nicht mehr vor. Was machen wir denn nun?«

Veronika war im Grunde sehr froh. Morgen würde Tante Anni bestimmt wieder weg sein. Aber Urte mußte natürlich Bescheid wissen! »Onkel, wenn wir aussteigen, kannst du dann nicht telefonieren? Tante Eckstein hat ein Telefon.«

»Gute Idee! Du bist ein intelligentes Kind«, meinte H.G.B. anerkennend, und Veronika bekam immer mehr Oberwasser. »Onkel, kann ich denn bei dir schlafen?«

Hans-Günther lachte sie an. »Du darfst! Hoffentlich kommen wir beide klar. Kannst du dich denn schon allein ausziehen und waschen?«

»Klar, kann ich alles!« Plötzlich fiel ihr der Goldhamster ein. Vor Schreck hielt sie sich die Hand vor den Mund.

»Was ist?« fragte der Mann erschrocken.

»Der Goldhamster! Ich habe ihn draußen stehengelassen! Ob er Angst hat allein im Dunkeln?«

»Du läßt deinen Hamster im Stich, nur weil du Autofahren willst?« fragte H.G.B. vorwurfsvoll.

Veronika nagte verlegen an ihrer Unterlippe. Sie überlegte krampfhaft, ob sie erzählen sollte, warum sie sich im Auto versteckt hatte. Ihre Vorsicht siegte.

Nach etwa einer Stunde stiegen sie aus. An der Hand des Mannes ging Veronika durch eine Glastür in eine Halle, die ganz aus Marmor war. Dann fuhren sie mit einem Fahrstuhl und betraten eine Wohnung. Veronika hielt vor Staunen den Atem an. Das Wohnzimmer war riesig und hatte Fenster, die bis zur Erde reichten. Es begann schon zu dunkeln, und tief unter sich sah Veronika viele kleine Lichtpunkte.

»Als ob da unten Sterne sind!« sagte sie begeistert.

»Ja, da hast du gar nicht unrecht. Aber jetzt gehst du Hände waschen, und ich werde telefonieren. Dann essen wir zusammen Abendbrot.« H.G.B. schob das Kind ins Badezimmer.

Er wählte die Nummer des »Oberen Felsenkellers«, aber das Besetztzeichen ertönte. »Pech! Na, hat auch bis nach dem Abendessen Zeit«, murmelte er und begab sich in die Küche.

Als das kleine Mädchen erschien, hatte er schon ein paar Brote belegt. Er drückte Ika eine Flasche Orangensprudel in die Hand, und sie gingen wieder in den Wohnraum.

Ika sah interessiert zu, wie der Mann den Tisch deckte.

»Onkel, hast du denn gar keine Frau? Wohnst du hier ganz allein?« wollte sie wissen.

»Ja, stell dir nur vor, ganz allein.«

»Bist du darüber traurig?«

»Weißt du, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber wenn du mich so fragst – ein kleines Mädchen wie dich möchte ich schon haben.«

Ika war begeistert. Sie sprang auf und umarmte den Mann. »Au fein! Dann darf ich hierbleiben?«

Hans-Günther wurde es ganz weich ums Herz, als er die kleinen Ärmchen spürte, die sich um seinen Hals schlangen. Um die Rührung abzuschütteln, fragte er: »Was würde deine Mami dazu sagen? Ich meine Urte?«

Veronika wurde nachdenklich. Einerseits fühlte sie sich hier sehr sicher, andererseits hatte sie schon Sehnsucht nach Urte.

»Kannst du Urte nicht auch brauchen?« fragte sie schließlich und machte ein ernstes Gesicht.

Ebenso ernst fragte der Mann: »Glaubst du denn, daß Urte für immer bei mir bleiben möchte?«

»Bestimmt! Urte ist immer so traurig. Sie mag gar nicht gern allein sein. Keiner möchte gern allein sein!«

Veronika sagte es mit ziemlichem Nachdruck.

»Das ist ein wahres Wort, Ika!« Er erhob sich. »Ich muß noch einmal telefonieren.« Während H.G.B. die Nummer wählte, sah er, daß das kleine Mädchen müde mit den Augenlidern klappte, sich auf der schwarzen Ledercouch ausstreckte und in Sekundenschnelle eingeschlummert war.

Endlich bekam er Urte an den Apparat. »Urte, du bist sicher um Ika besorgt. Sie ist bei mir.«

»Ach!« Nichts weiter.

»Urte, bist du verärgert? Glaube mir, ich kann nichts dafür. Sie hatte sich im Wagen versteckt und ich bemerkte sie erst kurz vor München. Sie ist jetzt sehr müde und schläft bereits auf der Couch. Was sie sich bloß dabei gedacht hat, sich bei mir im Wagen zu verstecken?«

»Die Erklärung ist ganz einfach. Eine Kindergärtnerin war hier, die Ika ins Heim holen wollte.«

»Ach, sie lebt sonst in einem Heim? Das arme Ding!«

»Ich kann sie leider nicht zu mir nehmen. Schließlich muß ich meine Brötchen selbst verdienen. Aber Frau Eckstein würde sie eventuell behalten.«

»Am besten wäre es«, sagte Hans-Günther, »wenn Ika in einer richtigen Familie leben würde.«

»Wie besorgt du bist!«

Klang das nicht ironisch?

»Urte, ich kann verstehen, daß dir das Problem zu schaffen macht. Ich wüßte vielleicht einen Ausweg.«

»So?«

»Ja, aber den verrate ich dir besser mündlich! Ika ist von der Idee jedenfalls sehr angetan.«

»Das ist allerdings wichtig.«

»Du bist so seltsam, Urte. Natürlich ist das wichtig! Mir ist es sehr wichtig!«

»Wie edel du bist!«

»Also, mit dir ist am Telefon nichts anzufangen! Wir reden morgen darüber.«

»Warum nicht jetzt? Aber du bist sicher nicht allein.«

»Nein, Ika schläft im Zimmer. Aber das ist nicht der Grund. Ich habe das Gefühl, du begreifst nicht, was ich meine.«

»O doch, ich begreife sehr gut! Du hast ein Herz für Waisenkinder! Man sollte es nicht glauben!«

Urte biß sich auf die Lippen, nachdem ihr diese Worte entschlüpft waren. Dann legte sie rasch auf. Sie hatte den beißenden Spott nicht unterdrücken können. Der Mann wurde ihr immer rätselhafter. Bei solchen Typen, die Frauen wie süßes Konfekt vernaschen, sollte man nicht glauben, daß sie sich um Waisenkinder sorgen!

Urte seufzte. Der alte Gelehrte hatte sicher recht. Ein guter Kern steckte bestimmt in seinem Sohn.

Eine heiße Welle, gemischt aus Scham und Zorn, schäumte in Urte auf, als sie plötzlich wieder das Bild am Fluß vor ihrem geistigen Auge sah.

Hastig eilte sie in die Gaststube, um der Wirtin zu erzählen, wo Veronika steckte.

»Kinder haben doch einen guten Instinkt«, lächelte die Wirtin. »Ika wußte also einen Retter zu finden!«

Urte winkte müde ab. »Ach, das ist natürlich keine Lösung!«

»Sicher nicht! Aber erst einmal ist Zeit gewonnen! Das ist für Ika schon viel wert, denn Kinder denken nicht in die Zukunft.«

»Wenn man doch auch so leben könnte – nicht an die Zukunft denken! Aber wenn man es mal versucht, muß man bestimmt in Kürze dafür bezahlen. Manchmal frage ich mich: Lohnt sich das alles?«

»Wenn man Sie so reden hört! Das ganze Leben liegt doch noch vor Ihnen! Man könnte meinen, Sie hätten Liebeskummer!«

Urte fühlte sich ertappt. Sie wandte sich rasch ab. »Ich gehe noch ein bißchen spazieren. Gute Nacht.«

Der laue Nachtwind war weich und zärtlich. Heiße Sehnsucht wallte in Urte auf. Aber die Welle zerbrach an den scharfen Kanten des Schmerzes.

Mit raschen Schritten eilte das Mädchen dahin, als könnte sie allen Empfindungen entfliehen.

Der Himmel war fast sternenlos. Eine feuchte Dunkelheit lastete auf der Landschaft und machte das Atmen schwer.

In der Stadt vernahm Urte das vertraute Plätschern der Brunnen. Es wirkte seltsam beruhigend auf sie. Die Straßen waren leer und still. Vor dem Hotel »Eisenhut« zögerte Urte. Neulich war es ihr nicht möglich gewesen, die Atmosphäre dieses Hauses auf sich wirken zu lassen. Heute würde ihr sicher gelingen, was sie sich vorgenommen hatte: allein auf der Terrasse zu sitzen und die Gedanken ziellos schweifen zu lassen. Heute würde sie hier keine heitere Tischgesellschaft finden, die sie sofort mit einbezog.

Urte durchquerte das Restaurant, in dem nur wenige Gäste saßen, und ließ sich auf der Terrasse an einem abseits stehenden Tischchen nieder. Eine abgeschirmte Lampe schuf eine Lichtinsel in der Nacht mit ihrer wehmutsvollen Schwüle.

Nachdem der Kellner den gewünschten Martini gebracht hatte, gelang es Urte, die Gedanken an H.G.B. zu verbannen. Nur ein dumpfer Schmerz wühlte noch immer an der Bewußtseinsgrenze. Urte konzentrierte sich auf die bittere Süße des Getränks, spürte erfrischend die Eiswürfel an den brennenden Lippen, sah einem Nachtfalter zu, der vergeblich versuchte, sich in das Licht der Glühbirne zu stürzen. Er prallte immer wieder gegen das Glas, bis er ermattet auf den Tisch fiel.

Von seinen Flügeldecken starrten Urte zwei Augen an – eine unheimliche, unbewegliche Maske des Schreckens. Urte war so in die Betrachtung des kleinen Nachtungeheuers versunken, daß sie heftig zusammenfuhr, als jemand hinter ihr sagte:

»Das ist aber eine Überraschung!« Die Stimme der Schwarzroten war honigsüß und in Urtes Hirn flammte ein Warnsignal auf.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen? Danke.« Sie saß, bevor Urte ein Wort sagen konnte. Der Kellner erschien sofort.

»Sekt mit Campari«, bestellte Toska von Tersky, ohne den Blick von Urte zu wenden.

»Sie sehen unglücklich aus, Fräulein Söhrens. Verzeihen Sie, ich will nicht indiskret sein, aber ich glaube, Sie sind zu viel allein.«

Urte lehnte sich zurück und fragte mit aufreizender Langsamkeit: »Und was glauben Sie sonst noch?«

»Interessiert Sie das wirklich?« Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr Toska fort: »Ich glaube, daß Sie in H.G.B.verliebt sind, und Sie tun mir leid.«

»Sie hätten zur Heilsarmee gehen sollen mit Ihrer überströmenden Menschenliebe.«

»Ich glaube, die Uniform würde mir nicht sonderlich stehen!« Das überlegene Lächeln war Sonne auf dem Gletschereis.

»Die Menschenfreundlichkeit steht Ihnen auch nicht besonders«, erwiderte Urte kühl.

»Oh!« Toskas Schlangenfinger mit den roten Nägeln legten sich auf den Arm des blonden Mädchens. »Aber Kindchen, ich meine es doch nur gut mit Ihnen! H.G.B. können Sie nicht verkraften! Dazu braucht man eine ganze besondere Lebensauffassung.«

Urte wischte die Hand des anderen Mädchens fort wie ein lästiges Insekt. Die Berührung war ihr unangenehm.

»Ihre Lebensauffassung, Fräulein von Tersky, nicht wahr? Und wie sieht die aus?«

»Ich würde sagen: großzügig, modern und flexibel.«

»Ja, ich glaube gern, daß dies Ihre Auffassung vom Leben ist. Aber Ihre rührende Besorgnis ist völlig unangebracht. Ich brauche keine Lehrmeisterin im Umgang mit Männern. Ich denke, Sie können den Lauf der Dinge in Ruhe abwarten.«

Urte trank ihr Glas leer und sah unter gesenkten Lidern, daß Toska von Tersky die perlweißen Zähne in die Unterlippe grub. Doch nur eine Sekunde lang – dann hatte sie wieder Eisaugen und Haltung.

Urte stand auf. »Ich wünsche Ihnen angenehme Träume, meine Dame.«

Sie ging ins Restaurant und fühlte Toskas Blicke wie Phosphor auf der Haut. Der Trotz hatte dem Mädchen geholfen, der mondänen Schönheit entsprechend zu begegnen. Urte zahlte im Vorübergehen und floh.

Als sie ihr Zimmer im Gasthaus betrat, wirkte es seltsam leer. Wie sie sich in wenigen Tagen an das Kind gewöhnt hatte! Sie vermißte das kleine Wesen mit den fragenden Vergißmeinnichtaugen und den immer verwuschelten krausen Haaren.

Auf dem Nachttisch stand der Käfig mit dem Goldhamster. Urte nahm das Tierchen heraus und spürte das kleine krabbelnde Leben in ihrer Hand. Zutraulich blitzten die schwarzen Perlaugen.

Auch Hans-Günther hatte dunkle, fast schwarze Augen…

Ihre Gedanken begannen wieder zu kreisen.

*

Urte erwachte am nächsten Morgen mit bleiernen Gliedern und einem benommenen Gefühl. Sie erinnerte sich, daß sie gestern eine Schlaftablette geschluckt hatte, um den quälenden Bildern zu entfliehen.

Mit Gewalt wischte Urte die Benommenheit fort, die ihre Wahrnehmungen und Erinnerungen dämpfte.

H.G.B., das Kind, die Schwarzrote tauchten nacheinander aus dem Nebel auf, mit ihnen das Unbehagen und dann der Schmerz.

Urte sprang aus dem Bett. Der Nebel vor ihren Augen wurde schwarz. Sie klammerte sich ans Waschbecken, der Schwächeanfall ging vorüber.

Urte ließ das eiskalte Wasser aus dem großen Schwamm über den nackten Körper fließen. Es war ein Schock, aber es half. Dann wählte sie mit Sorgfalt ein fliederblaues Kleid aus Naturseide. Sie spürte den Stoff glatt und zärtlich auf ihrer Haut. Schmuck? Die glitzernden Steine waren kalt und hart. Urte wählte den warmen goldenen Bernstein – Herzblut untergegangener Urwälder. Erstarrte Tropfen, die einst Leben waren, legte sie sich tröstlich um ihren Hals. Sie steckte auch den Ring auf und fühlte sich bereits besser.

Urte frühstückte auf der Veranda. Sie sah eine Schwalbe in den Telefondrähten sitzen wie eine Note zwischen den Linien. Ein verlorener Ton im blauen Himmel.

Auch Urte fühlte sich verloren, entwurzelt und seltsam ratlos. Sie spürte, daß es so nicht weitergehen konnte. Sie mußte sich aufraffen und eine Entscheidung treffen. Aber sie verschob diesen Gedanken bis zur Ankunft des Kindes. Mit Veronika würde auch H.G.B. kommen… Eine irre Hoffnung durchzuckte sie.

Sie dehnte das Frühstück aus in der Hoffnung, H.G.B. und das kleine Mädchen würden bald eintreffen.

Endlich erhob sie sich und setzte sich auf die schiefe Steintreppe, die zur Straße hinunterführte. Sie wollte unbedingt da sein, wenn H.G.B. das Kind brachte. Sie mußte eine letzte Gewißheit haben – die Gewißheit, daß…

Sie dachte den Satz nicht zu Ende.

Sie rupfte einen Grashalm aus und begann an der Rispe zu zählen: Er liebt mich, von Herzen, mit Schmerzen, über alle Maßen, fast gar nicht… mit Schmerzen, über alle Maßen!

Das Mädchen seufzte tief. Schön wär’s ja!

»Blödsinn ist’s!« Sie erhob sich. In diesem Moment hörte sie den starken Motor des Sportwagens, der Sekunden später am Fuß der Treppe stoppte.

Urtes Herz hämmerte.

Die Tür ging auf und Ika schlüpfte heraus.

Urte wollte die Stufen hinuntersteigen, obwohl ihre Knie merkwürdig zitterten – da entdeckte sie das andere Mädchen. Es saß auch noch ein Mann auf den schmalen Rücksitzen, aber Urte sah nur die Schwarzrote.

Ihr Schritt stockte. Sie erstarrte zur Leblosigkeit. Dann sah sie H.G.B. lässig winken. »Urte, wir unterhalten uns nachher. Ich möchte Toska nicht unnötig warten lassen. Wir fahren nach Detwang zur Kirche. Bis bald!«

Er ließ sich wieder hinter das Lenkrad sinken.

Veronika stürmte die Treppe herauf. »Ist sie fort?«

»Wer?« fragte Urte verständnislos.

»Tante Anni.«

»Ach so. Ja, natürlich.« Sie hob das Kind auf und drückte es an sich. »Schön, daß du wieder da bist.«

Veronika schlang die Ärmchen um Urtes Hals und löste damit die Erstarrung…

»Ich brauche nicht wieder ins Heim!« plapperte Ika aufgeregt. »Onkel H.G.B. hat gesagt, ich kann bei ihm bleiben. Er hat eine schöne Wohnung, und er mag auch nicht mehr allein sein. Da können drei wohnen! Ist das nicht prima?«

So war das also! Da können drei wohnen – das konnte doch nur bedeuten, daß Hans-Günther heiraten wollte. Urte spürte ihr Herz wie einen kleinen Hammer. Sie glaubte, wieder die Stimme des Mannes zu hören: Ich möchte Toska nicht warten lassen. Wir fahren zur Kirche…

Urte glaubte es plötzlich zu wissen: Sie würden in der berühmten alten Kirche heiraten – eine romantische Marotte, die zu der Schwarzroten gut paßte!

Urtes Schultern fielen nach vorn, ihre Arme sanken kraftlos hinab.

»Was ist denn?« fragte Veronika ungeduldig. »Du sagst ja gar nichts!«

»Sicher wird es sehr schön werden, mein Kleines. Aber hast du sie eigentlich gern?«

»Wen denn?« fragte Ika verständnislos.

»Die Dame, die mit euch gefahren ist.«

»Ach so, die… Ooooch, nicht so doll. Aber Onkel H.G.B. ist prima, nicht?«

Urte strich ihr über das Haar, und heiß schossen ihr die Tränen in die Augen, als sie die Begeisterung des Kindes sah. Sie wandte sich schnell ab und fragte: »Hast du schon gefrühstückt?«

»Och, schon lange. Ich hab’ schon wieder Hunger.«

»Dann lauf mal zu Tante Eckstein in die Küche!«

Ika stürmte davon.

So, nun habe ich Gewißheit, dachte Urte und bemühte sich, die aufsteigende Bitterkeit zu unterdrücken. Das war also der Vorschlag, den Hans-Günther dem Kind gemacht hat! So hatte sie also auch noch Ika verloren!

Die Einsamkeit warf das Netz nach ihr, und diesmal wehrte Urte sich nicht gegen die grauen Fäden. Eine tiefe Gleichgültigkeit ergriff von ihr Besitz.

Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen und stieg den Weg zur Engelsburg hinauf. Ihre Glieder waren bleischwer.

Ehe sie den Wald erreicht hatte, stand die Sonne schon im Zenit. Ihre heißen Strahlen lähmten die letzte Energie. Urte hatte die Vision einer Verirrten in der Wüste.

Schließlich ließ sie sich ins Gras sinken.

Ihr Geist irrte durch wüste Stätten und fand nirgends Ruhe. Gepeinigt, gequält und vergessen!

Plötzlich berührte etwas Erquickendes ihre ausgedörrten Lippen. Es war wie Tau… Nein, es war noch viel schöner – zart und weich. Dann war es wieder fort. Entsetzt fuhr Urte hoch. War sie eingeschlafen, hatte sie geträumt?

Dann sah sie sein Gesicht ganz nah vor sich, seine blitzenden Augen, seinen lachenden Mund.

»Nein, bitte nicht! H.G.B., bitte!« stammelte sie. Nicht noch einmal Hoffnungen wecken, die sich nicht erfüllen konnten! Das war grausam!

Hans-Günther sah das Entsetzen in den Augen des Mädchens und führte es auf den Schreck des jähen Erwachens zurück.

»Entschuldige!« sagte er und faßte nach ihrer Hand, um sie an die Lippen zu ziehen. Sie zog die Hand hastig zurück. Hans-Günther begriff noch immer nicht. Er glaubte, das Mädchen wolle sich aufrichten und stützen.

»Wie hast du mich hier gefunden? Keiner wußte, wohin ich wollte. Ich wußte es ja selber nicht.«

Urte sah sich um, und sie erkannte den Platz ihres ersten gemeinsamen Abends wieder.

»Aber ich wußte es!« erwiderte H.G.B. ernst. »Ich habe deinen Ruf aufgefangen. Wir senden doch auf der gleichen Welle.«

Er wollte sie küssen, aber sie drehte den Kopf zur Seite. »Du hast mir doch noch etwas zu sagen!«

»Gut, also das Sachliche zuerst. Ika ist ein ganz reizendes Kind, und ich meine, wir sollten sie auf keinen Fall wieder ins Heim lassen. Ika und ich verstehen uns prächtig. Ich denke, ich werde ihr ein guter Vater sein. Was meinst du?«

H.G.B. sah sie erwartungsvoll und mit glitzernden Augen an.

Urte senkte den Kopf.

»Natürlich«, sagte sie tonlos. »Es wird schon richtig sein. Ich mag Ika auch sehr, aber ich kann ihr nichts bieten.«

H.G.B. starrte sie entgeistert an. »Soll das heißen, daß du nur dem Kind ein Opfer bringst, wenn du…«

»Nein, nein!« fiel sie ihm ins Wort. »Wie gesagt, in meiner Lage…«

»Und ich habe mir eingebildet, daß du mich liebst!« Ein Schatten der Enttäuschung verdunkelte das Gesicht des Mannes.

Urte sprang auf. Das war zuviel!

»Was denkst du dir eigentlich? Du willst mir die Kleine nehmen, und ich soll dir auch noch sagen, daß ich mich in Sehnsucht nach dir verzehre, wie? Nimm das Kind und werde selig mit deiner Schwarzroten!«

H.G.B. brauchte ein paar Augenblicke lang, bevor er begriff, was Urte da hervorgesprudelt hatte. »Mit meiner Schwarzroten? Meinst du Toska? Glaubst du etwa, ich will Toska heiraten? Ja? Und dann hättest du mir Ika trotzdem überlassen?«

Urte war völlig irritiert. Sie nickte nur.

»Du liebst mich also doch!«

Urte nickte ergeben. »Ich kann es nicht leugnen. Wozu auch? Aber bitte, quäle mich nicht unnötig. Es ist also nicht Toska von Tersky? Du willst eine andere heiraten?«

»Ja, eine andere! Und du liebst mich so sehr, daß du mir deine Tochter überlassen würdest? – Auch dann?«

»O Gott!« Jetzt endlich begriff Urte das Mißverständnis.

»Ich muß mich setzen«, sagte sie schwach und ihre Knie knickten ein.

»Ich…, ich…, mein Gott, was glaubst du von mir?« Sie barg ihr Gesicht in den Händen, ihre Schultern zuckten.

H.G.B. legte den Arm um sie. »Hältst du mich wirklich für so grausam, daß ich dir dein Kind nehmen wollte! Ich will natürlich dich heiraten.«

Urtes Schultern zuckten noch krampfhafter.

»Liebste, weine doch nicht. Ich liebe dich! Glaube mir doch!« Er zog vorsichtig ihre Hände vom Gesicht und sah, daß sie – lachte.

Aber dann wurde sie schlagartig ernst. »Sag das noch einmal, H.G.B.. Du willst mich heiraten, auch wenn ich ein uneheliches Kind habe?«

»Aber ich bitte dich! Was soll diese Frage? Ich freue mich nur, daß Ika mich auch mag.«

Jetzt warf Urte die Arme um den Hals des geliebten Mannes und küßte ihn.

Hans-Günther riß sie an sich. »Das heißt also – ja«

»Ja, ja, ja.«

Seine Lippen preßten sich auf ihren Mund. Und als sie wieder zu Atem kam, sagte Urte feierlich: »Jetzt weiß ich, daß du mich wirklich liebst. Ich werde nie wieder mißtrauisch sein! – Aber nimmst du mich auch ohne uneheliches Kind?«

»Was soll diese Frage?« H.G.B. war völlig aus dem Konzept.

»Ika ist doch gar nicht meine Tochter!«

»Sie ist nicht deine Tochter?« Der Mann schlug sich an die Stirn. »Ach, darum sagt sie auch nicht Mutti oder Mami, sondern Urte. Und ich habe sie für ein besonders modern erzogenes Kind gehalten!«

Sie setzten sich wieder ins Gras, und Urte erzählte die ganze Geschichte. H.G.B. hielt ihre Hände und zog sie immer wieder an seine Lippen.

»Mein Vater!« sagte er, nachdem Urte geendet hatte. »Der zerstreute Professor! Er hat natürlich gar nicht richtig hingehört, als ich mich nach dir und deinem Kind erkundigte! Er schwebt geistig dauernd über den Wolken! – Aber nun mußt du mir noch erklären, wie du darauf gekommen bist, daß ich Toska heiraten

will?«

Urtes Miene verdüsterte sich. »Ich habe gesehen, wie ihr euch geküßt habt. Unten an der Tauber.«

»Sie – ich, das exaltierte Frauenzimmer! Wir haben am Fluß Fotoaufnahmen gemacht.«

»Du fotografierst…?«

»Ja, privat. Aber beruflich arbeite ich mit einem Fotografen zusammen. Hast du ihn denn nicht gesehen? Nein? Er stand zwischen den Büschen. – Urte, es tut mir so leid!«

»Ich habe ein paar schwarze Stunden hinter mich gebracht und die Nacht nur mit einer starken Schlaftablette überstanden.«

»Deshalb warst du am Telefon so seltsam!« Er küßte sie zärtlich.

Sie nickte.

»Du wirst nie wieder eifersüchtig sein?« fragte Hans-Günther.

»Bestimmt nicht!« sagte sie fest.

»Weißt du, Eifersucht würde uns das Leben zur Hölle machen. Denn ich muß ja mit den Weibern arbeiten!«

»Mußt du das wirklich?« fragte sie, schon wieder ein wenig verzagt.

»Es läßt sich nicht vermeiden. Die Leute wollen Bilder sehen!«

»Bist du denn nicht – Handelsvertreter?«

H.G.B. stutzte. »Wie kommst du denn darauf?«

»Dein Vater… Nein, warte, so direkt hat er es nicht gesagt. Er erzählte mir, daß du keinen richtigen Beruf hast, daß du den Leuten Zeg aufschwatzt, das sie eigentlich gar nicht brauchen.«

Hans-Günther lachte schallend. »Mein alter Herr! Typisch! Aber von wegen keinen richtigen Beruf! Ich bin studierter Psychologe. Meine Spezialgebiete sind Betriebs- und Werbepsychologie. Außerdem bin ich der Inhaber einer Werbeagentur.«

»Du…, du machst mit den verschiedenen Mädchen also Werbefotos?«

»So ist es!«

»H.G.B., ich schäme mich.«

»Aber an den Mißverständnissen sind doch nur die Redensarten meines Vaters schuld!« fuhr Hans-Günther auf. »Er hat meinen Beruf nie als solchen anerkannt. Er glaubt, ich hätte mit jedem der Mädchen ein Verhältnis! Ich habe es aufgegeben, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Aber dich möchte ich…«

Urte legte den Zeigefinger auf seinen Mund. »Kein Wort mehr! Ich glaube dir. Mein Gott, gestern war der schwärzeste Tag meines Lebens, und heute ist auf einmal alles so einfach.«

»Wie lange hast du Toska und mich eigentlich beobachtet?«

»Ich habe die Augen zugemacht, weil ich den Anblick nicht ertragen konnte.«

»Wenn du eine Sekunde länger hingesehen hättest, wäre es dir nicht entgangen, daß ich die Dame Toska sehr unwirsch zur Seite geschoben habe.«

»Ich kann es immer noch nicht fassen.« Urtes Augen wurden dunkel. »Und Ika findet auch ein Zuhause? Weißt du, irgendwie habe ich mich von Anfang an für das Kind verantwortlich gefühlt.«

»Ich habe mich schon an den Gedanken gewöhnt, daß Ika zu unserem gemeinsamen Leben gehört. Ich denke, wir sollten sie zu uns nehmen und adoptieren. Was meinst du dazu?«

Urte küßte ihn spontan und glücklich. »Du bist ein großartiger Mann!«

Er lachte.. »Ja, ich bin auch ganz stolz auf mich. Laß uns mal überlegen.« Sie streckten sich ins Gras und Urte kuschelte ihren Kopf an Hans-Günthers Schulter. »Hat Ika irgendwen, der Anspruch auf sie erheben könnte?«

»Ich glaube nicht. Aber die Kindergärtnerin äußerte Frau Eckstein gegenüber, Veronika sei geistig leicht zurückgeblieben und deshalb für eine Pflegestelle oder Adoption nicht geeignet.«

»Geistig leicht zurückgeblieben? Da kann ich ja nur lachen! Sie ist so intelligent, daß sie mir im Auto vorschlug, dich telefonisch zu benachrichtigen! Aber vielleicht war sie im Heim völlig verschüchtert? Wenn es keine anderen Hindernisse geben sollte, werden wir die Angelegenheit schnell bereinigen!«

Urte richtete sich auf und küßte den Mann auf den Mund. »Ich bin so glücklich, daß es beinahe schon weh tut. Es wäre schrecklich, wenn Ika wieder unglücklich würde. Ein bißchen ist sie doch mit schuld an meinem Glück.«

»Ich werde das schon machen. Hab’ nur Vertrauen.« Er zog Urte zu sich herab.

Lange lagen sie so, und jeder lauschte auf den Herzschlag des anderen. Eine Lerche jubilierte im Blau. Sie schraubte sich hoch, bis sie nur noch als winziges Pünktchen zu sehen war, dann ließ sie sich fallen, voller Vertrauen in die Kraft ihrer Schwingen, die sie im letzten Augenblick ausbreiten würde.

»Ein herrliches Gefühl, wenn man sich fallen lassen kann und weiß, daß man sanft aufgefangen wird!« sprach Urte ihre Gedanken aus. »Ich habe mich auch so fallen lassen, hier an dieser Stelle, in deine Hände.«

»Und jetzt halte ich dich fest und gebe dich nie wieder frei!« Er zog sie fest an sich.

»Laß mich leben!« seufzte Urte.

Erschrocken lockerte Hans-Günther seinen Griff. »Gehen wir jetzt, um der Welt unser Glück zu verkünden?« fragte Urte rasch.

H.G.B. seufzte. »Ich wünschte, ich wäre mit dir auf einer einsamen Insel.«

Engumschlungen schlenderten sie zum Gasthaus zurück. Urte hatte

das Gefühl, die ganze Welt sei ein blankgeputztes, schön geschmücktes Hochzeitshaus.

Ika stürmte ihnen entgegen. »Kommt Urte mit in deine Wohnung, H.G.B.?« Ihr ganzer Körper war ein Fragezechen.

»Wie kommt sie darauf?« fragte Urte erstaunt.

»Wir beide haben es gestern so beschlossen. Ika meinte, du würdest mitmachen«, erklärte H.G.B. sachlich.

»Was ist denn nun?« Ika sah ungeduldig von einem zum anderen. »Bleiben wir alle drei zusammen?«

»Jawohl!« Hans-Günther hob sie zu sich empor und stemmte sie hoch in die Luft. »Wir drei bleiben zusammen, das verspreche ich dir.«

Veronika jubelte, klammerte sich an seinem Hals fest und küßte ihn auf die Wange. Dann wandte sie sich an Urte:

»Ich habe dir ja gesagt, er ist prima! Bist du froh?«

Urte küßte das Kind auf die Nase. »Ja, sehr!«

Jetzt strampelte Ika sich frei. »Ich muß es Tante Eckstein erzählen!« Sie rannte ins Haus.

Kurze Zeit später erschien die Wirtin. »Ist es wahr, was die Kleine da erzählt?«

»Was hat sie denn erzählt?« grinste H.G.B..

»Ich habe herausgehört, daß Sie zusammenbleiben wollen, nach München ziehen und das Kind mitnehmen.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte H.G.B. ohne Kommentar.

Die Wirtin wurde unsicher. »Ja, kann man da gratulieren?«

»Ich denke, ja.« Hans-Günther sah Urte zärtlich an.

»Zur Verlobung?« fragte die Wirtin, um ganz sicher zu gehen. Dann fügte sie schnell hinzu: »Ja, wenn man die strahlenden Gesichter sieht, ist die Frage überflüssig. Das ist aber eine Überraschung. Und ich habe gar nichts davon geahnt!«

»Gibt’s das auch?« fragte H.G.B. ironisch.

»Also meinen herzlichen Glückwunsch! Darauf müssen wir gleich anstoßen!« Eilfertig ging sie zur Theke und goß Zwetschgenwasser in drei Gläser. »Auf Ihr junges Glück! Nein, wie mich das freut! Und besonders für die kleine Ika! Sie ist ja ganz außer Rand und Band.«

»Ich habe Hunger«, erklärte H.G.B. um die ein wenig rührselige Stimmung zu verscheuchen. »Ich schlage vor, wir trinken jetzt Kaffee.«

»Großartige Idee! Hast du schon einmal Frau Ecksteins köstliche Schneebälle probiert?«

»Schneebälle?«

»Eine Gebäck-Spezialität, die Frau Eckstein ganz besonders delikat herstellt. Kunststück, sie hat ja das Originalrezept von ihrer Großmutter!«

»Also her mit einem Berg von den Dingern!« forderte H.G.B. gut gelaunt.

Als der Kaffee auf dem Tisch stand, erschien auch der grauhaarige, schweigsame Wirt und gratulierte. Es war eine fröhliche Runde, und die leckeren Schneebälle schmolzen wie echte an der Frühlingssonne.

»Gehen wir jetzt zu Opa?« fragte Ika schließlich.

»Ich muß dringend noch einmal in den ›Eisenhut‹, erklärte Hans-Günther. »Ich schlage vor, ihr kommt beide mit, und gleich anschließend fahren wir dann zu meinem alten Herrn.«

Als sie vor dem Hotel »Eisenhut« aus dem Auto stiegen, stellte sich Ika zwischen Urte und H.G.B. und faßte sie an den Händen. So betraten sie die Halle wie eine glückliche junge Familie.

Unvermittelt tauchte Toska von Tersky auf. Das Gefühl eines starken Unbehagens sprang Urte an wie ein Panther.

Toska stutzte. Dann lächelte sie spöttisch.

»Hallo, H.G.B.! Wenn ich nicht wüßte, daß der Schein trügt, würde ich glauben, du hast Familiensinn entdeckt!«

Das elegante Mädchen streifte Urte und das Kind mit einem verächtlichen Blick.

Urte hielt unwillkürlich den Atem an.

H.G.B. sagte ganz nebenbei: »Diesmal trügt der Schein nicht, liebe Toska. Ich möchte dir Fräulein Söhrens als meine Verlobte vorstellen. Und dies ist Ika, meine Tochter.«

Zum ersten Mal geriet die Schwarzrote völlig aus der Fassung. »Verlobte? Tochter? Das kann doch nur ein Scherz sein! Das Kind ist doch mindestens vier Jahre alt!«

»Fünf, liebe Toska, fünf!« verbesserte sie H.G.B..

»Dann wird es ja auch Zeit, daß du sie legalisierst!« Toska hatte sich endlich von ihrem Schreck erholt und war wieder die feurige Dame mit den Eisaugen. »So laufen einem die Jugendsünden manchmal nach, was? Soll ich nun einen Glückwunsch oder mein Beileid sagen?« Sie sprach nur mit dem Mann. Urte existierte gar nicht für sie.

»Übernimm dich nur nicht, Toska. Wir sind restlos glücklich, so daß wir auf alle Wünsche verzichten können.«

H.G.B. schickte zu Urte einen Blick hinüber, der ihr heiß zum Herzen schoß. »Ich bin eigentlich nur gekommen«, fuhr er fort, »um dir zu sagen, daß ihr morgen bei den Aufnahmen ohne mich auskommen müßt. – Ich nehme ein paar Tage Urlaub. Grüße alle von mir. Ich bin überzeugt, du wirst ihnen die Neuigkeit in der entsprechend taktvollen Form beibringen. Auf Wiedersehen also.«

Sie wandten sich wieder dem Ausgang zu, während Toska von Tersky noch immer starr wie eine Statue stand.

»So, das war’s, was ich erledigen wollte«, erklärte H.G.B.

»Brauchst du jetzt gar nicht mehr zu arbeiten?« fragte Ika begeistert. »Schimpft denn keiner, wenn du nicht zur Arbeit kommst?«

»Nein, du kleiner Naseweis. Ich bin mein eigener Chef. Ich kann nur mit mir selber schimpfen.«

Ika lachte glücklich und hopste um sie herum wie ein Gummiball.

»Warum hast du das getan, H.G.B.?« fragte Urte mit gemischten Gefühlen.

»Was meinst du?«

»Ach, du weißt es ganz gut. Jetzt glauben Toska und bald auch alle deine Mitarbeiter, du hättest seit fünf Jahren mit mir ein uneheliches Kind!«

»Stört es dich sehr? Ich werde den Irrtum später aufklären, wenn du möchtest. Aber jetzt laß mir die Freude erst einmal!«

»Was bist du nur für ein seltenes Exemplar! Nein, mich stört es nicht im geringsten. Aber Toska hat es völlig aus der Fassung gebracht.«

»Das wurde auch Zeit, daß sie mal aus der Fassung geriet. Sie tat schon so, als ob ich ihr gehörte. Das hat mich seit geraumer Zeit gestört. Und besonders seit ich dich kannte!«

Urte war sehr glücklich über seine Worte. Trotzdem konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen: »Und du hast der Schwarzroten keine Veranlassung gegeben, daß sie dich als ihr Eigentum betrachten könnte?«

H.G.B. lächelte nachsichtig. »Bestimmt nicht. Ich mag diese Art Frauen nicht besonders. Zu gekünstelt, zu selbstbewußt, zu siegessicher. Besonders das letzte hat mich gestört.«

»Diese Eigenschaft steht nur einem Mann zu, nicht wahr?«

»So ist es! – Gehen wir noch ein wenig in den Burggarten. – Vielleicht möchtest du die Eichhörnchen füttern?« wandte er sich an Ika.

Veronika stimmte erfreut zu.

»Kauf dir eine Tüte Erdnüsse.« H.G.B. gab ihr ein Geldstück, und sie verschwand im nächsten Geschäft.

Wenige Minuten später schlenderten sie durch den ruhigen schattigen Burggarten. Als sie sich auf eine Bank setzten, erschien auch schon eines der possierlichen Tierchen und machte Männchen.

Veronika streute ein paar Nüsse auf die Hand und hielt sie dem Eichhörnchen hin. Die Verlockung war groß, und das niedliche kleine Tier kam auch tatsächlich, zwischendurch immer wieder zögernd, und nahm die Nüsse aus der Hand des Kindes.

Veronika war selig. Sie sah sich triumphierend um und bemerkte, daß Urte und H.G.B. sie gar nicht beobachtet hatten, sondern sich selbstvergessen küßten.

Das Eichhörnchen verschwand mit der letzten ergatterten Nuß, und Ika sagte vorwurfsvoll: »Konntet ihr mit dem Küssen denn nicht warten? Nun habt ihr gar nicht gesehen, wie mir das Eichkätzchen aus der Hand fraß!«

Urte und der Mann lachten laut. Veronika wurde böse. »Warum lacht ihr denn?«

»Weil wir glücklich sind!« erklärte H.G.B. strahlend.

»Ja, ich auch!« erwiderte Veronika. »Nun müssen wir aber zum Opa!« forderte sie dann energisch. »Er soll sich auch freuen.«

Sie verließen den Burggarten. Die alten Bäume rauschten. Es klang wie Meeresrauschen. Es war die ewige Melodie dieser Erde.

*

Kaum stoppte das Auto vor dem Toppler-Schlößchen, als Ika auch schon heraussprang, um ihrem Opa die große Neuigkeit zu erzählen. Sie wollte natürlich die erste sein!

Der alte Gelehrte blickte von einem dicken Folianten auf, den er in beiden Händen hielt. »So, da bist du ja wieder, Goldtöchterchen!« Daraufhin vertiefte er sich wieder in die alte Schrift.

Diesmal ließ Veronika es aber nicht zu.

»Opa!« Sie zog an seinem Jackett. »Opa!« Sie rüttelte an seinem Arm.

»Ja?« fragte er, ohne sich von der Schrift zu lösen.

»Opa, ich darf… eh, ich bleibe! Ich ziehe mit H.G.B. in die Wohnung nach München und brauche nie wieder ins Heim!«

»Hm!« brummte der alte Herr.

Veronika begriff, daß er wieder einmal gar nicht hinhörte.

»Aber Opa!« sagte sie vorwurfsvoll. »Freust du dich denn gar nicht?«

»Was? Wie? Natürlich, ich freue mich meistens«, erwiderte er zerstreut.

»Opa, hör doch mal zu!«

In diesem Moment standen Urte und der Sohn des Professors in der Tür.

»Das ist aber nett, daß ihr mich besucht. Bitte, nehmt Platz.« Er sah sich geistesabwesend um. »Legt das Zeug von den Stühlen auf den Fußboden.« Wieder wandte er sich dem Werk zu, das er in den Händen hielt.

»Vater!« sagte H.G.B. energisch. »Ika hat dir eben verkündet, daß wir drei beschlossen haben, eine glückliche Familie zu gründen!«

»Hm, das ist ja schön.« Er sah flüchtig auf.

»Vater, Urte und ich werden heiraten!«

»Hm.« Plötzlich drang ein Wort ins Bewußtsein des Professor. »Heiraten? Sagtest du heiraten?« Das Buch fiel auf die Tischplatte.

»Na endlich!« H.G.B. grinste. »Ja, heiraten!«

Der alte Herr starrte Urte bewundernd und noch immer ein wenig ungläubig an. »Das haben Sie geschafft?«

Urte lächelte nur.

»Dieses Risiko wollen Sie eingehen?« polterte der alte Gelehrte. »Einen Windhund heiraten, der nicht einmal einen richtigen Beruf hat?«

Urte drückte verstohlen die Hand des geliebten Mannes. »Ich habe keine Bedenken, Herr Professor.«

Der Gelehrte lächelte. »Nun, ich muß sagen, ich auch nicht! Ich traue Ihnen nämlich zu, daß Ihnen das Kunststück gelingt, diesem Ausbund die Zügel anzulegen!«

»Danke!« sagte Urte.

»Und dir, mein Sohn, möchte ich sagen…« Der Professor legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Ich glaube, dies ist der erste vernünftige Entschluß deines Lebens. Jetzt habe ich die Hoffnung, daß aus dir doch noch etwas Richtiges wird.«

»Vater, ich…«

Der alte Mann hob die Hand. »Keine Widerrede!« Und zu Urte gewandt: »Aus einem Mann wird immer das, was die Frau aus ihm macht. Und da meinem Sohn bisher noch keine vernünftige Frau begegnet ist… Nun, Sie werden es schon schaffen!«

»Hugh, ich habe gesprochen!« H.G.B. grinste. »Alter Häuptling, vielleicht sind wir diesmal sogar einer Meinung.«

»Na bitte!« Der Professor blickte Urte bedeutungsvoll an.

»Diese Worte habe ich aus dem Mund meines Sohnes noch nie vernommen.«

Ika fühlte sich während dieses Gesprächs ein bißchen übersehen. Deshalb sagte sie: »Jetzt bist du mein richtiger Opa!«

Der Professor musterte sie verdutzt. Dann sah er zu Urte und seinem Sohn auf. In seinem Blick stand der Zweifel.

»Wir werden Ika zu uns nehmen, und wenn es geht, sogar adoptieren. Dann wirst du der rechtmäßige Opa, gar kein Zweifel!«

»Tatsächlich! Also ich muß schon sagen, alle Achtung! Es gibt heutzutage ja viele Leute, die ihre Ehe mit einem Kind beginnen, aber dann ist es meistens Pech.«

»Bei uns ist es Glück!« strahlte Urte.

»Ich finde, es ist eine sehr bequeme Art, eine Familie zu gründen«, stellte Hans-Günther fest. »Wenn das Kind bereits fünf Jahre alt ist, garantiert es uns die entsprechende

Bewegungsfreiheit, es gibt keine

Entbindung und keine Windelwäsche!«

»So kann man es auch sehen«, sagte der Professor und musterte seinen Sohn mit einem anerkennenden Blick. »Ich muß sagen, mein Sohn, so etwas hätte ich bei dir nicht für möglich gehalten. Du steigst in meiner Achtung ein mächtiges Stück. – Also, meinen Glückwunsch und den Segen habt ihr alle drei!« Er drückte seinem Sohn und dem Mädchen die Hände und hob Ika zu sich empor. Veronika küßte ihn auf beide Wangen, und um seine Rührung zu verbergen, fragte der Professor rasch: »Wo feiern wir denn eure Verlobung?«

»Bitte nicht im ›Eisenhut‹!« sagte Urte rasch.

»Natürlich nicht!« H.G.B. lächelte verstehend. »Ich denke, im Hotel Adam.« Sie sahen sich an und dachten an ihren ersten Abend.

»Ich würde vorschlagen«, sagte der Professor, »ihr bringt erst einmal eure Tochter zu Bett und holt mich dann hier ab.«

»Ich habe Hunger!« erklärte Ika, die Angst hatte, daß sie gleich ins Bett gesteckt werden sollte.

»Du hast dich zu einem richtigen Nimmersatt entwickelt«, stellte Urte lächelnd fest. »Natürlich bekommst du zuerst dein Abendbrot.«

Ika polterte zufrieden die Treppe hinunter. Jetzt erst fiel ihr wieder der Goldhamster ein, den sie in der freudigen Aufregung ein paar Stunden lang vergessen hatte. Das Goldtier! Sie würde also nicht allein sein, wenn Urte noch einmal fortging!

Sie ließen das Auto stehen und spazierten zu Fuß zum Gasthaus.

Ohne Murren ließ sich Veronika nach dem Essen zu Bett bringen und schlief, umgeben von ihren Stofftieren und dem Goldhamster auf dem Nachttisch, glücklich lächelnd ein.

»Unsere Tochter!« flüsterte H.G.B. und Urte schmiegte sich zärtlich an ihn.

Es dunkelte bereits, als sie wieder zum Schlößchen gingen, um den alten Herrn abzuholen. Ein schwach erleuchtetes Fensterviereck zeigte an, in welchem Zimmer er sie erwartete. Es war ausnahmsweise nicht das Studierzimmer. Der Professor hatte nach der freudigen Botschaft tatsächlich für kurze Zeit seine geistige Welt verlassen, in der er sonst ununterbrochen lebte.

»Weißt du, daß ich schon damals, als wir uns bei meinem alten Herrn das erste Mal trafen, ein bißchen eifersüchtig war?« fragte H.G.B.

»Auf deinen alten Herrn?« fragte Urte ungläubig. »Das ist doch nicht möglich!«

»In der Liebe ist alles möglich!« erklärte H.G.B. ernst.

Urte stellte sich vor ihn, hob sich auf die Fußspitzen, und ihre Lippen forderten einen Kuß. Als der Mann sich zu ihr neigte, sah sie eine große Zärtlichkeit in seinen Augen.

Urte seufzte kaum wahrnehmbar. Die Liebe und Geborgenheit, der Mann, das Kind, das sie gemeinsam glücklich gemacht hatten – das Leben schenkte ihr mehr, als sie je zu hoffen gewagt hatte.

Die Sterne im dunklen Nachthimmel waren deutlicher geworden, und das Rauschen des Flusses klang wie das verheißungsvolle Flüstern einer Schicksalsmelodie.

Mami Bestseller Staffel 3 – Familienroman

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