Читать книгу Mami Bestseller Staffel 3 – Familienroman - Jutta von Kampen - Страница 9
ОглавлениеIn gestrecktem Galopp flogen die beiden prachtvollen Pferde dahin – zwei dunkle Silhouetten gegen das gleißende Sonnenlicht.
Rainhart Arundsen ließ dem Pferd die Zügel lockerer und wandte sich um.
Kathinka ritt dicht hinter ihm.
Er nickte ihr lächelnd zu. »Müde?«
»Nein«, erwiderte sie atemlos, »weiter! Ich bin im Sattel zu Hause!« Ihre dunklen Locken flatterten um ihr lachendes Gesicht, und ihre Augen leuchteten.
In diesem Augenblick preschte Kathinka an ihm vorüber. »Schneller, Rainer – noch schneller!« rief sie und gab dem Pferd die Sporen.
»Vorsicht, Katja, die Hecke!« rief Rainhart, doch sie setzte schon zum Sprung an.
Zorn wallte in dem jungen Majoratsherrn auf, als er sah, daß die geliebte Frau mit der Gefahr spielte. Mit heftig klopfendem Herzen trieb er seinen Hengst auf das Hindernis zu und erkannte, als sein Pferd die Hecke übersprang, daß Kathinka die Hürde tadellos genommen hatte.
Sie hatte ihr Pferd verhalten und war in langsamen Trab gefallen. Schließlich parierte sie den Rappen.
Er brachte sein galoppierendes Pferd dicht neben ihr zum Stehen. »Du bist verrückt!« sagte er finster. »Es war ein gefährlicher Sprung! Wirklich, du bist verrückt!«
»Weshalb?« Sie warf den Kopf zurück.
»Du hast ›Mustang‹ mit den Sporen angetrieben. Du weißt, daß ich grundsätzlich dagegen bin, mit Sporen zu reiten!«
Kathinka lachte unbekümmert. »Ich weiß – ja!« bestätigte sie. »Und du magst es auch nicht, wenn ich meine Reitpeitsche bei mir trage!«
Sie lächelte. Heiß und brennend stieg der Wunsch in ihm auf, dieses schöne und stolze Geschöpf, dessen Leidenschaft und Temperament ihn oft verwirrten, in die Arme zu schließen und sie endlich ganz zu besitzen.
Er trat neben »Mustang« und ergriff die Zügel des Rappen.
Kathinka blickte lachend auf Rainhart hinab.
Er hob den Kopf, und als sich ihre Blicke begegneten, durchzitterte ihn heißes Sehnen.
In vier Wochen ist sie meine Frau! dachte er. Ein Gefühl wild aufschäumenden Glückes erfüllte ihn, als er sich vorstellte, daß Kathinka bald an seiner Seite als Herrin auf dem Gut einziehen würde.
Er streckte die Arme aus, um Kathinka beim Absteigen zu helfen. Doch sie sprang aus dem Steigbügel. Mit einem tiefen Aufatmen blieb sie neben dem Pferd stehen. Sie lehnte sich an den Rappen und sah Rainhart an. Da bemerkte sie die steile Unmutsfalte auf seiner Stirn. »Was ist?« fragte sie leise und kam zu ihm.
»Manchmal fürchte ich, du spielst mit mir«, stieß er hervor.
Kathinka lachte. »Du lieber großer Junge!« sagte sie und legte die Arme um seinen Hals.
Mit einer heftigen Bewegung zog er sie an sich. »Ich liebe dich«, sagte er heiser.
»Ich weiß«, entgegnete sie flüsternd und schloß die Augen. »Muß ich dir immer wieder versichern, daß auch ich dich liebe?«
»Ja, Katja«, erwiderte er leidenschaftlich, »ich will es hören – immer wieder! Meine Liebe zu dir ist so groß, daß ich nicht ertragen könnte, nicht wiedergeliebt zu werden!«
»Wie kommst du auf so dumme Gedanken!« sagte Kathinka dann. »Ich liebe dich – genügt es dir nicht? Ich liebe dich, und in vier Wochen bin ich deine Frau!«
Rainhart hörte in ihren Worten noch einen anderen fremden Ton, den er in der letzten Zeit schon oft gehört hatte und der ihn jedesmal in neue Unruhe stürzte.
Er umspannte ihre Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Warum entziehst du dich mir, Katja?« fragte er leise und drängend. »Versteh mich nicht falsch! Ich will nicht, daß du mir jetzt schon ganz gehören sollst, obwohl es mein einziger und heißester Wunsch ist, dich ganz zu besitzen. Doch du weichst mir sooft aus – mit Worten, mit Blicken, in denen du mich förmlich von dir stößt. Warum tust du das?«
Ihr Lachen wirkte unnatürlich. »Du bist überempfindlich, Rainer«, erwiderte sie hastig. »Du willst alles ganz haben – nur für dich allein. Aber ich gehöre mir selbst! Ich gebe mich nicht aus der Hand!«
»Aber du hast eingewilligt, meine Frau zu werden, Katja!« stieß er leidenschaftlich hervor. »Wir werden ein gemeinsames Leben beginnen, ein Leben, in dem einer zum anderen gehört!«
»Verlangst du, daß ich mich selbst aufgebe?« fragte sie trotzig.
»Nein«, erwiderte er schnell, »aber ich möchte, daß wir uns in inniger Harmonie finden.«
»Vielleicht habe ich Angst vor dir«, sagte sie leise und zögernd.
»Angst?« Er blickte sie fassungslos an.
»Vor deiner Kraft, deiner Energie, deiner Leidenschaft und – deiner rauhen Härte, diesem plötzlich aufschäumenden Temperament!«
Er zog sie an sich. Sein Lächeln war voll Zärtlichkeit und Wärme. »Wie kannst du davor Angst haben?« fragte er.
Er lachte tief und dunkel. »Meine geliebte kleine Katja – was für dumme Gedanken du doch hast! Vier Wochen vor der Hochzeit bekommt die angehende Herrin von Gut Arundsen plötzlich Angst vor ihrem zukünftigen Ehemann! Die selbständige, stolze und eigenwillige Kathinka Wallges fürchtet sich vor der Ehe und dem Zusammenleben mit einem Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte!« Er lachte. »Wir kennen uns schon fast zwei Jahre, und trotzdem sind wir einander manchmal noch zwei Fremde. Auch du, Katja, gibst mir oft Rätsel auf…«
Kathinka lächelte unergründlich. »Das ist gut so«, murmelte sie.
»Nein, Katja«, stieß er heiser hervor und preßte sie an sich, »ich will dich kennen – mit allen deinen Fehlern und Schwächen. Nur so kann ich dir wirklich Kamerad, Ehemann und Geliebter sein! Du darfst dich nicht vor mir verschließen, hörst du?«
Beschwörend sah er sie an.
Sie erwiderte seinen Blick mit einem undefinierbaren Lächeln.
Rainhart hörte den Herzschlag Katjas, und sein sehnsüchtiges Verlangen wurde übermächtig. Seine Lippen suchten ihren Mund, und in einem langen, verzehrenden Kuß versuchte er, die Mauer niederzureißen, die ihre ängstlichen Gedanken aufgebaut hatten.
Kathinka atmete heftig, als er sich von ihr löste und sie mit fragendem Blick ansah. »Ich gehöre dir«, flüsterte sie leise, und ihre Wangen brannten in unbezähmbarer Erregung. »Du kannst nicht länger behaupten, daß ich mich dir entziehe!«
Rainhart Arundsen verlor sekundenlang die Beherrschung. Seine Liebkosungen wurden drängender, und seine Küsse waren voll leidenschaftlichen Verlangens.
Kathinka setzte ihm keinen Widerstand entgegen. Zum erstenmal erwiderte sie mit fast erschreckender Wildheit seine Küsse und preßte sich an ihn, als wollte sie sich an ihm festklammern, um bei ihm Kraft und Schutz und Geborgenheit zu finden.
Er durfte ihr Vertrauen nicht mißbrauchen! Mit einer heftigen Bewegung riß er sich los.
Kathinka taumelte und starrte ihn erschrocken an. »Was ist?« flüsterte sie.
Rainhart lächelte verlegen und fuhr sich über das blonde Haar. Es kostete ihn große Beherrschung, seine überlegene Ruhe wiederzufinden. »Verzeih«, sagte er und ergriff zögernd ihre Hände. »Es ist besser, wenn wir jetzt zurückreiten. Die Mittagshitze wird heute unerträglich werden!« Er beugte sich über ihre Hände und küßte die Innenflächen.
*
Elfriede Greve, die Frau Theodor Greves, war mittelgroß, schlank und hatte schwarzes Haar. Sie war nicht mehr jung, aber das charmante Lächeln und ihre weiche Stimme ließen sie sehr anziehend wirken. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Arundsen«, sagte sie, während sie Rainhart auf der Terrasse Platz anbot. »Leider ist mein Mann noch nicht daheim.«
»Es tut mir leid, daß ich in Ihren häuslichen Frieden mit einer geschäftlichen Angelegenheit einbreche«, sagte Arundsen.
Frau Greve lachte. »Wir hoffen ja, allerhand an Ihnen zu verdienen, Herr Arundsen«, gab sie fröhlich zurück. »Wenn Sie die Absicht haben sich auf die neuen landwirtschaftlichen Maschinen umzustellen, ist der Abschluß des Vertrages für meinen Mann ein interessantes Geschäft! Ich werde – wenn Sie mich für fünf Minuten entschuldigen – rasch einen kleinen Imbiß vorbereiten«, sagte Elfriede Greve und erhob sich. »Ich darf Sie inzwischen mit Whisky versorgen? Oder möchten Sie lieber etwas anderes trinken?«
»Danke, ein Whisky-Soda wäre mir sehr angenehm!«
Während Elfriede Greve in die Küche ging, blickte Rainhart Arundsen sich in dem gepflegten Garten des Villengrundstückes um. Er schwenkte das Glas hin und her, daß die Eisstückchen klirrten. Im Geiste überrechnete er die Kaufsumme, die er aufbringen mußte, um die neuen Maschinen zu erwerben. Er hoffte, daß Greve ihm günstige Bedingungen einräumen würde.
Heftiges Türenschlagen, das aus einem der angrenzenden Zimmer zu vernehmen war, schreckte Rainhart aus seinen Betrachtungen auf, und durch das geöffnete Fenster hörte er den empörten Ausruf einer metallisch klingenden Männerstimme: »Was ist? Was willst du hier? Ich habe dir gesagt, daß du nicht hierherkommen sollst!«
Ein Stuhl wurde gerückt, und aus dem Zimmer erklangen heftige Schritte.
»Ich hatte Sehnsucht. Ich mußte dich sehen«, antwortete eine leise Frauenstimme.
»Ja, aber nicht hier«, antwortete der Mann ungeduldig.
»Und warum nicht hier?« fragte die Frau.
So könnte Katja sprechen! dachte Rainhart. Er konnte jedes Wort verstehen.
»Du weißt, daß ich von meinem Bruder abhängig bin. Er finanziert mein Studium, ich wohne in seinem Haus, ich genieße hier Gastrecht. Ich möchte keine Differenzen mit meinem Bruder, hörst du?« sagte der Mann.
»Was hat dein Bruder gegen mich?«
»Muß ich dir das erst erklären?« fragte der Mann zynisch.
»Ja, erkläre es!« antwortete die Frau.
»Hör auf!« rief der Mann gequält aus.
Einen Augenblick war es still.
»Ich liebe dich«, flüsterte die Frau. »Ich liebe dich so sehr, ich könnte für dich sterben!«
Rainhart Arundsen spürte fast körperlich, daß die Frau jetzt in den Armen des Mannes lag und von ihm geküßt wurde. Warum muß ich immer an Katja denken? fragte er sich.
Ihm fiel ein, daß er sie vorhin mit seinem Besuch überraschen wollte und enttäuscht gewesen war, als er sie nicht angetroffen hatte.
Nachher fahre ich zu ihr! dachte er jetzt, während er ungewollt Zeuge des weiteren Dialogs wurde.
»Du bist eine Hexe«, sagte der Mann leise. »Immer wieder gelingt es dir, mich zu verführen.«
Die Frau lachte leise. »Nicht ich habe dich, sondern du hast mich zuerst verführt!«
»Sei still!« flüsterte er. Plötzlich wurde er nervös. »Du mußt gehen! Bitte, stell dir vor, wenn Elfriede dich hier antrifft!«
»Ja – was dann?«
»Es gibt eine unangenehme Auseinandersetzung!«
»Ich habe keine Angst davor!« Die Frau sprach lauter, und wieder war es Rainhart Arundsen, als hörte er Kathinka sprechen.
»Wie soll alles weitergehen?« fragte der Mann gepreßt.
»Mach dir keine Gedanken«, erwiderte die Frau gedämpft. »Ich werde meine Wohnung behalten, und dort werden wir uns regelmäßig treffen.« Ihre Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Ich liebe dich, Peter, ich kann ohne dich nicht leben! Ich brauche dich – deine Zärtlichkeit, deine Umarmungen, deine Liebe…«
»Und trotzdem willst du den anderen heiraten?« fragte der Mann heiser.
»Ich muß!« antwortete sie hart. »Du weißt warum!«
Zum erstenmal in dieser Minute hatte Rainhart Arundsen die wahnsinnige Vorstellung, daß dort drüben in jenem Zimmer wirklich Kathinka sprach, und der Gedanke, so verrückt und absurd er auch sein mochte, verursachte ihm beklemmende Übelkeit.
»Ich wünschte, ich hätte Geld und könnte dich heiraten«, sagte der Mann.
Sie schwieg einen Moment. »Ist das vom Geld abhängig?« fragte sie lauernd.
»Ja«, entgegnete er trotzig. »Ich habe dir erklärt, daß ich dich nicht heiraten kann! Ich bin von meinem Bruder abhängig. Ich war es schon, als wir uns kennenlernten, und
ich habe nie ein Hehl daraus gemacht.«
»Du bist ein Feigling!« sagte die Frau verächtlich. »Warum hast du für meine Liebe nicht das Geld deiner Verwandten und die ganze verdammte Sicherheit aufgegeben?«
Der Mann keuchte. »Und warum hast du den anderen nicht aufgegeben? Warum bist du immer wieder zu ihm gegangen?«
»Weil ich wußte, daß du mich niemals heiraten würdest! Aber er macht mich zu seiner Frau!« Es klang triumphierend.
Katja – es ist Katja! dachte Rainhart Arundsen wie betäubt.
»Sag, liebst du ihn?«
»Nein, ich liebe ihn nicht«, antwortete sie. »Vielleicht habe ich ihn einmal geliebt, aber als du kamst, war alles vorüber.«
»Und trotzdem willst du seine Frau werden!« Die Worte waren wie ein verzweifelter Aufschrei.
»Ich kann nicht anders«, erwiderte die Frau ungerührt. »Ich werde seine Frau, aber dich liebe ich, und dir gehöre ich auch! Mehr kannst du nicht verlangen! Ja, wenn du alles opfern würdest, um mich zu heiraten, wenn du wirklich zu mir hieltest – vielleicht wäre dann alles anders!«
»Ich kann es nicht! Ich stehe vor dem Staatsexamen! Willst du, daß ich dir meine Laufbahn, meine Karriere opfere?«
»Du könntest arbeiten!«
»Ich kann nur eines machen – entweder studieren oder arbeiten! Ich bin keine von den robusten Naturen, die Bäume ausreißen können. Vielleicht wäre dein bäuerlicher Großgrundbesitzer dazu imstande, aber ich…«
»Hör auf!« rief die Frau aus. »Sprich nicht von ihm!«
»Aha – du liebst ihn! Ist es so?«
»Nein, ich liebe ihn nicht!« erwiderte sie ungeduldig. »Er ist wild und rauh und erschreckt mich oft. Bei ihm finde ich weder Ruhe noch Zärtlichkeit. Deshalb habe ich mich ja in dich verliebt!«
»Katja – meine einziggeliebte Katja!«
Rainhart Arundsen sprang auf. Hatte er selbst diese Worte gedacht, oder hatte jener Unbekannte sie tatsächlich ausgesprochen?
Hastig stürzte er den Inhalt des vollen Whiskyglases hinunter, doch das brennende Würgen im Hals blieb. Seine Knie zitterten, er mußte sich wieder hinsetzen.
Es gab keinen Zweifel mehr; die Frau, die in jenem Zimmer zu dem fremden Mann sprach, war Kathinka, seine zukünftige Frau!
Es kann nicht sein! hämmerten seine Gedanken. Es ist unmöglich!
Katja liebt mich doch! Sie wird in einer Woche meine Frau werden! Kann sie tatsächlich so kunstfertig lügen, daß ich es nie bemerkt habe?
Zorn und wilde Empörung stiegen in Rainhart auf. Maßlose Eifersucht durchzitterte ihn, und er fühlte sich enttäuscht und tief verletzt.
Seit Wochen und Monaten belügt und betrügt sie mich! dachte er, und der Schmerz lähmte ihn fast. Sie spielt ein doppeltes Spiel und ich habe es nicht durchschaut!
»Geh jetzt, Katja«, sagte der Mann drinnen im Zimmer, und Rainhart war es, als erhielte er einen neuen Schlag.
»Ich kann nicht – ich kann nicht mehr!« murmelte Arundsen und stützte den Kopf in beide Hände.
Er hatte vergessen, daß Frau Greve in wenigen Augenblicken wieder auf der Terrasse erscheinen oder daß Theodor Greve heimkommen könnte, der Bruder jenes Mannes dort im Zimmer.
Ihm war jetzt alles egal. Er dachte nur noch an Kathinka und an seine Liebe, die so grausam enttäuscht worden war.
»Gut, ich werde gehen«, hörte er jetzt wieder die Stimme, die er so gut kannte, »aber du mußt mir versprechen, daß du heute abend noch zu mir kommst. Ich bin krank vor Sehnsucht nach dir, Peter! Ich hoffe, du kommst jetzt jeden Tag, bis – bis es soweit ist!« murmelte Katja hastig.
»Bis zur Hochzeit!« vollendete er bitter. »Ich könnte ihn umbringen diesen anderen!«
Rainhart hatte Mühe, nicht aufzuspringen und laut auszurufen: Hier ist er – der andere! Er steht zu einem Zweikampf zur Verfügung! Komm doch her, wenn du kein Feigling bist!
Aber er beherrschte sich, denn Katjas nächste Worte lähmten ihn.
»Du hast keinen Grund, ihn umzubringen«, sagte sie mit kühlem Spott. »Du solltest lieber froh sein, daß er unserem ungeborenen Kind einen Namen gibt!«
Ein Kind! dachte Rainhart Arundsen in dumpfem Brüten, Katja bekommt ein Kind!
Diese Vorstellung erschien ihm so ungeheuerlich, daß er glaubte, diesen Augenblick tiefster Erniedrigung und grenzenloser Enttäuschung niemals überleben zu können.
In jener Sekunde war für ihn alles, was er geliebt und was für ihn Glück und Lebensfreude bedeutet hatte, sinnlos geworden.
Erst das Türenschlagen riß ihn aus seiner Betäubung. In diesem Moment setzte sein Denkapparat wieder ein. Sein Herz raste mit heftigen Schlägen, und eine auflodernde Flamme der Empörung und des Zornes trieb ihn fort.
Mit eiligen Schriften stürmte er durch das Wohnzimmer, durchquerte die Dielenhalle und riß die Haustür auf. Sie fiel polternd hinter ihm ins Schloß.
Wie gehetzt lief er den Kiesweg entlang und bog in die Seitenstraße ein, wo er sein Auto geparkt hatte.
Ich muß zu ihr! dachte er, blind vor Schmerz und Verzweiflung. Ich muß mit ihr sprechen – sofort!
*
Es dauerte nur eine Stunde, aber in dieser Zeit, die Rainhart Arundsen in dem kleinen Bierlokal verbrachte, das Katjas Wohnung gegenüberlag, durchlebte er noch einmal alle Qualen dieser furchtbaren Enttäuschung.
Und dann sah er Katja aus dem Bus steigen.
»Bitte zahlen!« rief er heiser, und es dauerte ihm viel zu lange, bis der Wirt seiner Aufforderung Folge leistete und zu ihm an den Tisch kam.
Mit zitternden Fingern zog Rainhart einen Zehneuroschein aus der Brieftasche. »Es stimmt so.«
Arundsen erhob sich.
Gegenüber auf der anderen Straßenseite ging Kathinka eben durch die Haustür. Rainhart stürzte zum Ausgang, überquerte die Straße, ohne auf den Autoverkehr zu achten.
Als er die Haustür öffnete, waren seine Hände feucht vor Erregung.
Atemlos erreichte er die zweite Etage des Mietshauses. Alles drehte sich vor seinen Augen, als er auf den Klingelknopf drückte.
Dann stand er Kathinka gegenüber, und sekundenlang war er wie gelähmt und wußte nicht, was er sagen wollte.
»Rainer – du?« fragte Katja und schien verwirrt zu sein. »Warum hast du nicht angerufen, daß du kommst?«
»Störe ich?« fragte er heiser.
»Nein – das heißt, ich muß nachher noch mal weg – ich – ich bin eingeladen – ich werde abgeholt.« Sie hielt ratlos inne.
»Also störe ich doch!« brachte er mühsam hervor.
»Mach bitte nicht so ein finsteres Gesicht«, sagte Katja nervös, während sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete.
Rainhart ging mit harten Schritten an ihr vorüber. In der Mitte des Zimmers blieb er stehen und wandte sich zu ihr um.
Kathinka hatte ihre Sicherheit wiedergefunden. Mit einem verführerischen Lächeln ging sie auf Arundsen zu und wollte ihm die Arme um den Hals legen.
Er wehrte ihre Bewegung schroff ab.
»Nanu?« sagte sie. »Bekomme ich keinen Kuß?«
»Ich muß mit dir reden!«
»Bitte, setz dich!« sagte sie irritiert.
»Nein«, antwortete Rainhart Arundsen, »wir wollen es kurz machen. Ich glaube, wir haben uns ohnehin nicht mehr sehr viel zu sagen!«
Kathinka wechselte die Farbe. »Was – was meinst du damit?«
Er stand breitbeinig vor ihr. Die Brauen waren finster gerunzelt. »Wer ist Peter Greve?« fragte er knapp.
Kathinka taumelte, es sah aus, als wollte sie umsinken. Sie rang nach Luft und streckte hilfeflehend die Hände aus.
Doch Rainhart rührte sich nicht, um sie zu stützen. »Sprich – wer ist das?«
»Ich weiß nicht, was du von mir willst, Rainer«, stammelte sie. »Weshalb erschreckst du mich so? Ich kenne diesen Peter – Peter Greve nicht!«
Arundsen trat auf sie zu und faßte sie hart bei den Schultern. »Warum lügst du?« herrschte er sie an. »Seit Wochen und Monaten belügst du mich! Bringst du es fertig, mir ins Gesicht zu lügen?«
»Oh, ich wußte, daß du zornig und unberechenbar bist!« rief sie erregt. »Nicht umsonst habe ich immer Angst vor dir gehabt!«
»Die Angst kommt von deinem schlechten Gewissen!« erwiderte Rainhart finster und ließ sie los.
»Ich habe kein schlechtes Gewissen!« antwortete sie flammend. »Was wirfst du mir vor?«
»Ich werfe dir vor, daß du einen beispiellosen Betrug an mir und an unserer Liebe begangen hast! Seit langem spielst du ein doppeltes Spiel! Während du mir nach wie vor deine Liebe versichert hast, warst du längst mit einem anderen Mann befreundet! Und dieser Mann heißt Peter Greve!«
Katja stieß einen gurgelnden Laut aus, dann schnellte sie plötzlich auf Rainhart zu. »Das ist nicht wahr!« rief sie aufgebracht. »Wer hat dir diese Lügen erzählt? Es ist nicht wahr! Nicht wahr! Nicht wahr! Hast du denn kein Vertrauen zu mir?« Sie stand dicht vor ihm. Ihre Stimme wurde leiser und schmeichelnder. Schließlich hob sie zögernd die Hände und legte sie Rainhart auf die Schultern.
Er stieß ihre Hände beiseite.
»Es ist aus, Kathinka«, erwiderte er hart. »Ich habe dich geliebt, aber nun kann ich dich nur noch verachten!«
Sekundenlang stand Kathinka wie erstarrt, dann verzerrte sich ihr Gesicht zu einer bösartigen Grimasse. »Was maßt du dir eigentlich an? Willst du mich verdammen, weil irgend jemand mich verleumdet hat?«
»Niemand hat dich verleumdet. Ich weiß nur endlich die Wahrheit die ganze, furchtbare Wahrheit!« Er schloß einen Augenblick die Augen, weil er glaubte, das alles nicht mehr ertragen zu können.
Vor ihm stand die Frau, die er geliebt hatte und immer noch mit einer schmerzhaften Sehnsucht liebte, doch gleichzeitig mischten sich in das Gefühl brennenden Verlangens Schmerz, Empörung und abgrundtiefe Verachtung.
Kathinka war totenblaß geworden. »Was – weißt – du?«
»Alles! Daß du den anderen liebst, daß du von ihm ein Kind erwartest, das meinen Namen tragen sollte, weil der andere dich nicht heiraten will!« Unbarmherzig schleuderte er ihr seine Anklage ins Gesicht.
»Nein!« schrie Kathinka auf. »Nein, das ist nicht wahr! Er – er war bei dir, nicht wahr? Hat er dir diese Geschichte erzählt? Er lügt! Du darfst ihm kein Wort glauben, Rainer – kein einziges Wort! Er lügt, denn er ist feige und schwach!«
Voll Verachtung sah er auf sie hinab. »Ich dachte, ihn würdest du wenigstens wirklich und ehrlich lieben!«
»Nein, ich liebe ihn nicht! Dich liebe ich – dich allein!«
»Vor einer Stunde hast du ihm das gleiche versichert«, sagte er. »Du hast beteuert, daß der Mann, den du heiraten willst, dir nichts bedeutet, sondern daß deine Liebe Peter Greve gehört!«
Sie wich vor ihm zurück. »Woher weißt du das?« flüsterte sie atemlos.
»Ich saß auf der Terrasse im Hause Theodor Greves. Ich habe alles mit angehört!«
Sie schlug die Hände vor das Gesicht und wandte sich aufschluchzend ab. »Du hast alles falsch verstanden«, murmelte sie leise.
»Erkläre es mir, bitte!«
»Ich – ich kann nicht!« stammelte Kathinka schluchzend. Dann hob sie ihr Gesicht zu ihm empor. »Hast du kein Mitleid mit mir? Du liebst mich doch! Wie kannst du mich so quälen!«
»Ich habe kein Mitleid, und ich liebe dich auch nicht mehr«, antwortete er mit äußerster Beherrschung. »Was du getan hast, ist weder zu verstehen noch zu entschuldigen!« Die Empörung übermannte ihn wieder. »Für uns gibt es keinen gemeinsamen Weg mehr«, sagte er bitter. »Meine Liebe ist tot. Ich selbst bin tot. Du hast alles zerstört, was mir im Leben wichtig war.« Mit einem Blick unsagbaren Schmerzes sah er sie an. »Adieu, Kathinka.« Er wandte sich um und ging hinaus.
Und erst jetzt, als er die Treppe Stufe für Stufe hinunterging, wurde Rainhart Arundsen bewußt, was er verloren hatte. Die Liebe und das Glück waren aus seinem Leben verschwunden. Er war allein und wußte nicht, für wen er weiterleben sollte.
*
Die folgenden Tage waren furchtbar. Mechanisch tat Rainhart Arundsen seine Arbeit, während ihn die schmerzhaftesten Gedanken quälten.
Immer wieder sah er Katja vor sich – Katja, die er geliebt hatte, mit strahlenden Augen und einem verführerischen Lächeln, und dann jene Katja, die ihm mit verzerrter Miene und einem haßerfüllten Blick gegenübergestanden hatte.
Nachts konnte er nicht schlafen. Ruhelos wälzte er sich von einer Seite auf die andere, und der Schmerz um seine verlorene Liebe ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Er mußte seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um mit unbewegter Miene die Leute auf dem Gut darüber aufzuklären, daß keine Hochzeit stattfinden würde.
Er begegnete manchem ungläubigen und neugierig forschenden Blick, doch niemand wagte, eine Frage zu stellen.
Nur Johanna, die alte Wirtschafterin, die Rainhart schon als kleinen Jungen gekannt hatte, sagte zögernd, als sie mit dem Majoratsherrn einen Augenblick allein war: »Vielleicht ist es besser für Sie, Herr Arundsen. Sie war nicht wie die Arundsens; sie wäre ewig eine Fremde geblieben.«
Viel schwieriger war es, die geladenen Hochzeitsgäste von der neuen Wendung der Dinge zu unterrichten. Stundenlang saß Rainer an seinem Schreibtisch und dachte über die Formulierungen nach, mit denen er seine Niederlage erklären mußte.
Dann ging er in den Ort zum Pfarrer.
»Nanu, Herr Arundsen – eine knappe Woche vor der Hochzeit, und dann so eine finstere Miene?«
»Es gibt keine Hochzeit!« stieß Rainhart kurz hervor. »Ich bin gekommen, um es Ihnen zu sagen, Herr Pastor!« Er vermied den Blick des Pfarrers.
Pastor Engelbrecht verbarg sein Erschrecken hinter gespielter Gleichmütigkeit. »Sie wollen mit der Heirat noch eine Weile warten, Herr Arundsen?« fragte er vorsichtig.
Rainhart blickte rasch auf und machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, ich werde überhaupt nicht heiraten!« antwortete er schroff und versuchte, es zu erklären.
*
Rainhart Arundsen stürzte sich mit wahrem Feuereifer in die Arbeit, als könnte er damit alles vergessen, was ihn bedrückte.
Aber die Gedanken kamen immer wieder. Abends, wenn er allein durch die stillen Räume des Gutes ging oder brütend an seinem Schreibtisch saß, nachts, wenn er nicht schlafen konnte. Und stets mußte er an die Folgen denken: Die anderen warten schon darauf, ihm den Erbanspruch streitig zu machen!
Er hatte nie darüber nachgedacht, weil vorher alles ganz selbstverständlich gewesen war. Er liebte Kathinka und wollte sie heiraten. Sie würden Kinder haben, ganz gewiß auch einen Sohn. Sie hatten sich auch schon einen Namen für den Erstgeborenen ausgedacht – damals, als sie sich verlobten und Kathinka voll wachsender Begeisterung mit Rainhart das Gut und die Ländereien durchstreifte und allmählich von allem Besitz nahm. Da hatte sie zum erstenmal über den Sohn gesprochen, den Rainhart sich wünschte. Er sollte Alexander heißen, und Kathinka hatte der Name sehr gut gefallen.
Wie lange ist das alles her? dachte Rainhart, als er eines Abends in seinem Arbeitszimmer saß und sich gedankenvoll eine Zigarette anzündete. Ihm kam es vor, als lägen Ewigkeiten zwischen jenen glücklichen Tagen und dem Heute. Und doch war nicht mehr als ein Jahr vergangen, seit er und Kathinka ihre Verlobung gefeiert hatten!
Damals hatte Rainhart Arundsen, der Herr auf Gut Arundsen, nie an die Klausel des Erbfolgesetzes gedacht, weil es für ihn keinen Zweifel gab, daß er eines Tages einen männlichen Erben haben würde, der später das Majoratserbe antreten würde. Er hatte vergessen, daß es eine Möglichkeit gab, ihn von dem geliebten Besitz zu vertreiben.
Jetzt mußte er unablässig daran denken. Und diese Vorstellung schmerzte ihn fast ebenso sehr wie der Kummer um seine verlorene Liebe.
Rainhart versank in dumpfes Brüten.
Wie soll es weitergehen, fragte er sich.
Es gab keinen anderen Ausweg als eine Heirat. Er mußte es endlich einsehen.
Arundsen erhob sich und trat ans Fenster.
Ich habe keine andere Wahl, dachte er. Entweder eine Ehe mit einer ungeliebten Frau oder Aufgabe des Besitzes, an dem mein Herz hängt.
Heiraten – irgendeine nette Frau, die ihm vielleicht Vertrauen und Zuneigung entgegenbrachte…
Ihn schwindelte.
Nein, es war unmöglich! Wie konnte er es wagen, einen anderen Menschen so zu enttäuschen!
Nein, ich kann und darf keine andere Frau an mich binden! sagte er sich in bitterer Resignation, und er wußte, was das für das Gut und für ihn bedeutete.
*
Es war das erste Mal seit jenem Ereignis, das Rainhart Arundsen aus der Bahn geworfen hatte, daß der Gutsherr einer Einladung Folge leistete.
Auf dem Wege zum Haus des Gemeindevorstands, der seinen Geburtstag feierte, fragte Rainhart sich mit spöttischer Belustigung, was wohl der Anlaß gewesen war, daß er diese Einladung nicht wie sonst abgelehnt hatte. Doch er fand keine Antwort auf diese Frage.
Es wurde an diesem Abend viel geredet, gelacht und noch mehr getrunken. Die anwesenden Damen saßen bald im Nebenzimmer bei einem starken Kaffee beisammen und unterhielten sich, während die Herren sich weiterhin an den Alkohol hielten.
Rainhart Arundsen hatte heute mehr getrunken als sonst, ohne eine Wirkung zu spüren.
Als ihm das ganze Stimmengewirr der lebhaft durcheinanderredenden Männer zu laut wurde, erhob er sich mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung und trat hinaus auf den Balkon.
Es war eine sternenklare Nacht, deren feuchte Kühle Rainhart frösteln ließ. Der Mond stand kalt und bleich am Himmel, und in diesem Augenblick kam dem Majoratsherrn seine Einsamkeit wieder deutlich zum Bewußtsein.
»Es ist alles vollkommen sinnlos«, murmelte er halblaut vor sich hin.
Hinter ihm klappte eine Tür. »Was – was ist sinnlos?« fragte eine heisere Stimme.
Rainhart wandte sich um.
Doktor Langeloh, der Arzt, der die beiden angrenzenden Ortschaften betreute, trat mit unsicheren Schritten auf den Balkon heraus.
»Ist’s gestattet, Arundsen?« fragte er mit schwerer Zunge, »daß ich Sie in Ihrer einsamen Mondbetrachtung störe?«
»Sie stören mich nicht«, erwiderte Rainhart lächelnd.
»Das ist gut«, antwortete der Doktor. Er schwankte ein wenig. »Verzeihen Sie, Arundsen, ich bin betrunken«, stotterte er leise.
»Von denen da drinnen ist, glaube ich, keiner mehr nüchtern«, entgegnete Rainhart mit einem gedämpften Lachen.
»Ich weiß«, sagte der Doktor, »aber bei mir ist’s schlimmer. Ich trinke, um zu vergessen. Komisch, nicht?«
»Ich finde es nicht komisch«, antwortete Rainhart ernst. »Es gibt gewisse Dinge im Leben, mit denen man nur schwer fertig wird.«
»Sie auch – ja?« Langeloh hob den Kopf und blickte forschend zu dem Majoratsherrn auf. »Kann mir denken, was Sie bedrückt. Aber glauben Sie mir, Arundsen, so was geht vorüber! Bestimmt! Ich spreche aus Erfahrung. Immerhin bin ich fünfundfünfzig, und Sie sind höchstens dreißig.«
»Neunundzwanzig!«
»Na also! In dem Alter überwindet man vieles!«
»Ich glaube, das kommt auf den Menschen an. Wenn es sich um Dinge handelt, die einen bis ins Innerste getroffen haben, wird man vielleicht das ganze Leben lang nicht damit fertig.«
Warum spreche ich mit dem angetrunkenen Mediziner darüber? dachte Rainhart. Er hört wahrscheinlich nicht einmal zu.
Doch Doktor Langeloh schien genau verstanden zu haben, worauf Arundsen angespielt hatte. »Ich dachte nicht, daß es für Sie so schlimm war«, sagte er. »Ich habe Sie immer für einen Mann gehalten, der über gesunde Kräfte verfügt und den nichts umwerfen kann. Hab’ mich wohl geirrt, wie?«
»Anscheinend«, entgegnete Rainhart mit einem Unterton von Bitterkeit.
»Bei mir ist’s ebenso«, sagte der Doktor, und seine Miene verdüsterte sich. »Alle halten mich für einen bärbeißigen, robusten Landarzt, der Zimperlichkeit und Sentimentalität haßt. Manche behaupten sogar, ich hätte kein Herz. Meine Frau ist vielleicht die einzige, die weiß, daß das nicht stimmt.« Er schwieg und hielt sich mit einem tiefen Seufzer am Balkongitter fest. »Es macht mich nämlich krank, Arundsen, wenn ich sehe, daß ich manchmal nicht mehr helfen kann!« fuhr er dann mit schwerer Zunge fort. »Ich stehe am Krankenbett und weiß genau, daß alle Mittel, die ich verschreibe, nichts nützen, weil der Kranke zu spät zu mir gekommen ist. Oder weil der Fall hoffnungslos ist. Dann sage ich ein paar rauhe Worte, mit denen keiner etwas anfangen kann, während ich heulen möchte wie ein Schloßhund! Sehen Sie, so ein Waschlappen bin ich!«
»Sie haben einen schweren Beruf, Doktor«, sagte Rainhart langsam. »Ich kann mir vorstellen, daß es im Leben eines Arztes manche dunkle Stunde gibt.«
»Gibt es!« bestätigte Langeloh grimmig. »Heute war es wieder einmal soweit. Sie kennen doch Ulrike Eckhoff? Ein schönes, stilles und liebenswertes Geschöpf – aber krank – unheilbar krank. Heute kam der Untersuchungsbefund. Nichts zu machen.« Seine Stimme zitterte ein wenig.
Der Majoratsherr war verwirrt und tief betroffen. »Ulrike Eckhoff ist krank? Davon wußte ich nichts«, stammelte er.
Langeloh nickte grimmig. »Keiner hat’s gewußt. Das Mädchen ist sehr tapfer. Aber ich habe sie schon oft in meiner Praxis gehabt. Wir haben herumgerätselt, ohne die Ursache ihrer Erkrankung zu finden. Sie war bei mehreren Fachärzten, man hat sie wochenlang zur Beobachtung in der Klinik behalten. Und nun wissen wir es: todkrank, keine Rettung!«
»Was für eine Krankheit hat sie denn?« Rainhart spürte, wie eine kalte Hand nach seinem Herzen griff.
Ich lebe in ihrer Mitte, dachte er, und ich weiß nichts von dem, was um mich her geschieht! Seit einem dreiviertel Jahr nehme ich keinen Anteil mehr an meiner Umgebung, weil ich nur mit meinem eigenen Schicksal beschäftigt bin!
Er erkannte, wie egoistisch er in seinem Leid geworden war, indem er für das Leid der anderen kein Auge mehr gehabt hatte.
Ich werde die Eckhoffs besuchen! nahm er sich in diesem Augenblick vor. Ich werde mich jetzt überhaupt viel mehr um das Wohl und Wehe der Leute aus dem Ort kümmern, so wie ich es früher getan habe!
»Ulrike Eckhoff leidet an einer hoffnungslosen Krankheit«, sprach der Doktor jetzt nach einem langen Schweigen zögernd weiter. »Es ist eine Erkrankung der Lymphdrüsen. Keine Rettung, wenn man nicht im allerfrühesten Stadium operiert. Krebs. Na, Sie wissen ja…« Er brach ab und kam mit einem unsicheren Schritt auf Arundsen zu. »Heute habe ich die Nachricht von der Klinik bekommen: hoffnungslos – absolut hoffnungslos. Sie hat wahrscheinlich noch zwei oder drei Jahre zu leben. Verstehen Sie jetzt, warum ich heute mehr trinken mußte, als mir guttat?«
»Ich verstehe es«, antwortete Rainhart heiser. Er hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen, um das zu begreifen, was er eben vernommen hatte.
Ulrike Eckhoff – ein hübsches dunkelhaariges Mädchen mit einem klaren, frischen Gesicht – große, warmherzige Augen mit einem stillen Leuchten – eine weiche, wohllautende Stimme. Und dieses Geschöpf war vom Tode gezeichnet!
Es fiel Rainhart schwer, sich Ulrikes Züge genau vorzustellen. Er hatte sie sehr lange nicht mehr gesehen, obwohl das Gut der Eckhoffs nicht weit entfernt von dem seinen lag.
»Gibt es – keine Rettung?« fragte er gepreßt. Langeloh schüttelte den Kopf. »Keine«, antwortete er dumpf. »Manche Ärzte sind der Meinung, die Bestrahlungen könnten die Krankheit aufhalten. Ich bin nicht davon überzeugt. Siebzig Prozent der an Lymphdrüsenkrebs Erkrankten stirbt innerhalb von fünf Jahren, wenn die Krankheit schon so weit fortgeschritten ist.« Er fuhr sich verzweifelt über die Augen. »Ich möchte so gern die Hoffnung der optimistischen Ärzte teilen, verstehen Sie? Aber ich kann es nicht!« Er schwieg, und als er wieder zu sprechen begann, war seine Stimme heiser und voll Unsicherheit. »Vielleicht sollte man das letzte, verrückteste Mittel versuchen, das einer der Ärzte vorgeschlagen hat, obwohl er dafür fast von seinen Fachkollegen gesteinigt worden wäre!«
»Was für ein Mittel ist das?« Rainhart sah den Arzt gespannt an.
Über die Miene des Doktors lief ein bitteres Lächeln. »Der Professor – ein junger Wissenschaftler aus Amerika, der ganz neue Wege geht – hat gesagt, sie solle ein Kind haben, denn sie hat sich seit jeher Kinder gewünscht. Einen Mann, der sie liebt, und drei oder vier Kinder das war schon immer Ulrikes heißester Wunsch, der sie sogar davon abgehalten hat, einen Beruf zu ergreifen.«
»Ein Kind?« wiederholte Arundsen fassungslos. »Darf eine so kranke Frau denn überhaupt ein Kind bekommen?«
Langeloh zuckte die Achseln. »Alle Welt verdammt den amerikanischen Professor, der eine so ketzerische Idee geäußert hat. Aber irgend jemand muß es Ulrike gesagt haben, und sie hat mich voll Erregung danach gefragt, ob es wahr wäre, daß dies ihr helfen könnte.«
»Was haben Sie geantwortet?«
»Ich mußte ihr sagen, daß ich es nicht weiß«, erwiderte Langeloh bedrückt.
»Wie kommt er dann auf einen solchen Vorschlag?« fragte Arundsen erregt.
Langeloh preßte die Hände ineinander. »Wir wissen so wenig, Arundsen«, erwiderte er langsam. »Im Grunde ist es ganz erbärmlich um unsere Wissenschaft bestellt, wenn wir mal ehrlich sein wollen. Sehen Sie, darum trinke ich an einem solchen Tag! Wenn ich glaube, das alles nicht mehr ertragen zu können«, setzte er entschuldigend hinzu. »Ich bin in einem furchtbaren Zwiespalt. Was soll ich mit Ulrike Eckhoff machen? Was soll ich ihr sagen? Sie hat so viel Vertrauen zu mir.«
»Gibt es denn einen Mann in Ulrike Eckhoffs Leben, der sie trotz der Krankheit und der fürchterlichen Gewißheit ihrer Unheilbarkeit heiraten würde?« fragte Arundsen.
»Ich weiß nicht«, antwortete der Doktor zögernd. »Manchmal hatte ich den Eindruck, daß Ulrike einen jungen Mann liebt, von dem sie sich leidenschaftlich ein Kind wünscht, aber sie hat niemals seinen Namen erwähnt.«
Ein Kind! dachte Rainhart, und diese Worte brannten sich in sein Gedächtnis ein.
Ein wahnsinniger Gedanke erfaßte ihn und ließ ihn sekundenlang vor sich selbst erschauern.
Wenn ich sie heiraten würde? Wie weit bin ich gekommen? warf er sich voll ohnmächtiger Verzweiflung vor, Ich denke nur an mich, an mich und das Gut, und in diesem fanatischen Bestreben, den Besitz zu erhalten, schrecke ich nicht einmal vor dem Schicksal dieses todgeweihten Mädchens zurück!
Vergiß es, Rainer! redete er sich selbst energisch zu. Vergiß es, denn es ist ein teuflischer, berechnender Plan!
*
Konrad Eckhoff begrüßte mit einem erstaunten Blick den jungen Majoratsherrn. »Wie schön, Sie nach so langer Zeit einmal wiederzusehen, Arundsen!« sagte er und geleitete den Gast in die Bibliothek.
Rainhart hatte Mühe, seine Verlegenheit zu überspielen, und es fiel ihm kein plausibler Grund ein, mit dem er seinen unverhofften Besuch erklären konnte.
Aber Eckhoff schien es auch nicht zu erwarten. »Setzen Sie sich, Arundsen! Wir werden in aller Ruhe einen Sherry miteinander trinken.«
»Danke, ich schlage Ihr Angebot nicht ab«, erwiderte Rainhart. Er war froh darüber, daß Eckhoff ihn mit völliger Selbstverständlichkeit behandelte.
Eckhoff schenkte die Gläser ein und setzte sich dann seinem Besucher gegenüber in einen der tiefen Ledersessel. »Wirklich, ich muß es noch einmal sagen: Ich freue mich, Sie heute bei mir zu sehen!«
»Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mich gelegentlich mit Ihrer Tochter auf dem Gut besuchen wollen«, sagte Reinhart, und er wunderte sich selbst, wie glatt ihm diese Aufforderung über die Lippen gekommen war.
Eckhoff sah Arundsen forschend an. »Wir kommen gern«, antwortete er zögernd, »obwohl ich ehrlich gestehen muß, daß mich Ihre Einladung etwas merkwürdig berührt.«
»Warum?« Rainhart wurde unruhig. Glühende Röte schoß ihm ins Gesicht. Ahnte Eckhoff, welcher Gedanke ihn erfaßt hatte, als er von Ulrikes Erkrankung gehört hatte?
»Sie haben sich von allen Freunden und Bekannten zurückgezogen«, fuhr Eckhoff fort, »und deshalb wundere ich mich, daß Sie sich nun ausgerechnet auf uns besinnen. Hat das bestimmte Gründe?«
Rainhart lächelte und fand dabei seine Sicherheit wieder. »Nein, Herr Eckhoff, ich will nur allmählich – wie man so schön sagt – ins Leben zurückkehren. Ich hatte eine Enttäuschung erlebt, die ich nur mühsam überwinden konnte.«
Du hast sie ja noch gar nicht überwunden! sagte eine innere Stimme in ihm, doch er wollte sie nicht wahrhaben.
Eckhoff nickte kurz. »Ich habe davon gehört«, erwiderte er ruhig. »Sie standen damals kurz vor der Hochzeit, nicht wahr?«
»Ja«, gab er knapp zurück.
»Sie möchten nicht darüber sprechen?«
»Nein.«
Der Gutsherr hob das Glas. »Ich kann es verstehen«, sagte er und trank Rainhart zu. »Es gibt Dinge, die man mit sich allein abmachen muß«, setzte er leise hinzu.
Rainhart ahnte, was Eckhoff damit sagen wollte.
Wahrscheinlich bin ich der einzige Außenstehende, der es weiß! dachte er. Langeloh hatte ihm später, als er wieder nüchterner geworden war, das feste Versprechen abgenommen, über das, was er an jenem Abend gehört hatte, Stillschweigen zu bewahren.
Doch plötzlich hörte Rainhart eine Tür klappen, und Ulrike Eckhoff stand auf der Schwelle.
»Oh, ich wußte nicht, daß du Besuch hast, Papa«, sagte sie und wurde dunkelrot. »Ich störe gewiß, nicht wahr?«
Unsicher ging ihr Blick zwischen ihrem Vater und Rainhart Arundsen hin und her.
Sie hat sich verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe! dachte der junge Majoratsherr erschrocken.
Ulrikes Gesicht, das früher voll und lebendig gewesen war, hatte seine frischen Farben verloren. Es war blaß und schmal geworden, so daß die dunklen Augen übernatürlich groß erschienen. Die vollen Lippen zitterten ein wenig und gaben dem Gesicht einen angstvollen Ausdruck. Das braune Haar trug Ulrike glatt zurückgekämmt.
Rainhart erhob sich. »Sie stören nicht, Ulrike«, sagte er mit beklemmter Stimme. »Wollen Sie uns nicht Gesellschaft leisten?«
Zögernd kam sie näher. »Grüß Gott, Rainhart«, sagte sie und gab ihm ihre schmale Hand, die, kalt und zitternd, in der seinen fast verschwand. »Wir haben uns wohl eine Ewigkeit nicht gesehen!« Ihr Lächeln wirkte rührend und schmerzlich zugleich. »Bitte, behalten Sie doch Platz!«
Rainhart setzte sich wieder und fing den brennenden Blick voll schmerzvoller Verzweiflung auf, mit dem Konrad Eckhoff seine Tochter betrachtete.
»Trinkst du einen Schluck Sherry mit uns, Ulrike?« fragte er liebevoll.
»Nur einen winzigen Schluck«, erwiderte Ulrike leise.
Rainhart sah sie an, und alle Worte, die ihm durch den Kopf gingen, erstarben auf seinen Lippen. Eine heiße Woge des Mitleids wallte in ihm auf.
Sollte es wirklich wahr sein, was ihm der Doktor gesagt hatte? Unheilbar krank – ohne Hoffnung, ohne Rettung?
Die furchtbare Gewißheit schnürte ihm die Kehle zu.
»Wir haben oft von Ihnen gesprochen«, sagte Ulrike, während ihre durchsichtigen Finger mit dem Sherryglas spielten. »Nicht wahr, Papa?«
Eckhoff nickte. »Ich habe Arundsen schon gesagt, daß ich mich sehr über seinen Besuch freue. Ich hoffe, daß nun nicht wieder ein Jahr vergeht, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen!« Er zwinkerte Rainhart zu, doch sein heiterer Spott wirkte gezwungen, und seine hellen Augen blickten ungewöhnlich ernst und traurig auf Ulrike.
»Sie werden meinen Besuch hoffentlich bald erwidern«, sagte Arundsen rasch. »Sie kommen mit, Ulrike, ja?«
Ihre dunklen Augen leuchteten. »Ja – o ja, gern!« murmelte sie, doch sogleich erstarb der freudige Glanz auf ihrer Miene, und sie warf einen ängstlichen Blick auf ihren Vater. »Ich darf doch, Papa, ja?«
Rainhart sah, daß Eckhoff beide Hände zu Fäusten ballte und sie gegen die Knie preßte. »Natürlich, Ulrike«, antwortete er mit spröder Stimme. »Warum nicht?«
»Ich dachte«, flüsterte sie und senkte den Kopf.
Eckhoff straffte sich plötzlich und sah Arundsen mit einem entschlossenen Blick an. »Ulrikes Gesundheit ist nicht die beste«, erklärte er hastig. »Sie muß sich schonen. Der Arzt hat ihr Aufregungen und Anstrengungen verboten.«
Rainhart spürte, daß sehr viel von seiner Antwort abhing. »Nun, ich hoffe, daß ein Besuch auf meinem Gut weder mit besonderen Anstrengungen noch mit Aufregungen verbunden ist«, sagte er leichthin. »Jedenfalls werde ich mich bemühen, alles von Ihnen fernzuhalten, was Sie beunruhigen könnte, Ulrike!« Mit einem freundlichen Lächeln sah er sie an.
Sie erwiderte seinen Blick mit einem raschen Augenaufschlag. »Danke, Rainhart – vielen Dank!« flüsterte sie.
»Wir haben wenig Gäste«, sagte Konrad Eckhoff, aus dessen Gesicht die Spannung gewichen war. »Seit dem Tod meiner Frau ist es recht still im Haus geworden. Es wäre wirklich schön, wenn wir Sie öfter bei uns sehen würden, Arundsen!« Hinter seinen Worten stand eine so dringende Bitte, daß Rainhart eifrig zusagte.
»Sie wissen, daß ich lange Zeit ebenfalls sehr zurückgezogen gelebt habe. Auch ich habe jetzt den Wunsch, aus meiner Einsamkeit auszubrechen!« sagte er mit einer Spur von Selbstironie.
Ulrike streckte zögernd ihre blasse Hand aus, doch sie wagte nicht, Rainharts Arm zu berühren. »Es hat mir schrecklich leid getan damals«, flüsterte sie. Als sein Blick sie traf, senkte sie rasch die Lider.
Er sah, daß sie lange Augenwimpern hatte, die tiefe Schatten auf die durchsichtigen Wangen warfen, und plötzlich erfaßte ihn das Bedürfnis, dieses zarte, zerbrechliche Wesen zu beschützen. »Es ist vorbei, Ulrike«, sagte er unbewegt und bemühte sich, seiner Stimme die nötige Überzeugungskraft zu geben. »Es gibt Schlimmeres im Leben.« Als er es ausgesprochen hatte, erschrak er. Er sah, daß Ulrike zusammenzuckte, und er bemerkte den forschenden Blick, den Eckhoff ihm zuwarf.
»Kathinka hat einen anderen Mann geheiratet, nicht wahr?« fragte Ulrike hastig, und es war deutlich zu merken, daß sie mit ihrer eigenen Verwirrung rang.
Deshalb nahm Rainhart ihr diese Frage, auf die er bei jedem anderen schroff reagiert haben würde, nicht übel. »Ja«, antwortete er langsam. »Sie hatte ihn geheiratet, ehe das Kind zur Welt kam.«
»Es muß ein furchtbarer Schlag für Sie gewesen sein«, flüsterte Ulrike, und daran erkannte er, daß ihr jene Zusammenhänge kein Geheimnis waren.
»Sind Sie mir böse?« fragte sie angstvoll und wagte kaum, ihn anzusehen.
Rainhart lächelte ihr beruhigend zu. »Nein, Ulrike, ich bin Ihnen nicht böse!«
»Gott sei Dank!« Es war mehr ein Seufzer als ein gesprochenes Wort.
Konrad Eckhoff bemerkte die Spannung, die plötzlich entstanden war, und lenkte das Gespräch geschickt auf landwirtschaftliche Fragen.
Als Rainhart sich wenig später verabschiedete, fragte sie mit leiser Stimme: »Werden Sie wirklich wiederkommen?«
Er lächelte auf sie hinab. »Ich habe es Ihnen doch versprochen!«
*
»Sie haben wundervolle Pferde«, sagte Ulrike und beugte sich über die Seitenwand der Box.
»Sie lieben die Tiere, nicht wahr?« fragte Rainhart Arundsen und streifte Ulrikes schlanke Gestalt in dem duftigen Sommerkleid mit einem raschen Blick.
Sie nickte lebhaft und wandte sich zu ihm um. »Ich liebe die Tiere und die Menschen«, entgegnete sie mit einem zarten Lächeln. »Am allerliebsten habe ich kleine Kinder.«
Rainhart gab es einen Stich.
War sie wirklich ahnungslos, wie es um sie stand? Bei allen ihren Besuchen auf Gut Arundsen oder bei den Gesprächen, die er mit ihr geführt hatte, wenn er sie besuchte, hatte sie kein Wort von ihrer schweren Krankheit erwähnt.
Und auch Konrad Eckhoff sprach nie darüber. Nur seine sorgenvolle Miene verriet, wie er litt.
Rainhart Arundsen befand sich seit Wochen in einem inneren Zwiespalt, aus dem er keinen Ausweg sah. Der Gedanke, den er immer wieder von sich zu schieben versuchte, nahm ständig mehr Raum in ihm ein.
Ich könnte sie heiraten, dachte er oft, wenn er allein in seinem Arbeitszimmer saß. Sie würde meine Frau, und ich würde versuchen, ihr die wenigen Jahre, die ihr noch verbleiben, so angenehm wie möglich zu gestalten. Sie könnte ein Kind haben, Langeloh hat es gesagt.
Aber er wußte auch, daß es gefährlich war, wenn eine Frau mit diesen schwerwiegenden Krankheitserscheinungen ein Kind zur Welt bringen sollte…
Immer wieder geriet Arundsen in diesen Gedankenkreis. Er kam nicht davon los, und bei jedem neuen Zusammentreffen mit Ulrike drängte sich dieser Wunsch bei ihm in den Vordergrund.
Ulrike trat jetzt neben »Mustang«, der früher Kathinkas Lieblingspferd gewesen war, und legte ihm die Arme um den Hals.
»Vorsicht, Ulrike, ›Mustang‹ ist ein feuriges und unberechenbares Pferd!« warnte er. »Nehmen Sie sich vor ihm in acht!«
Doch Ulrike lächelte Rainhart unbekümmert an. »Ich habe keine Angst«, sagte sie ruhig, während sie ihr Gesicht an den Hals des Tieres legte.
»Mustang« schnaubte ein wenig und drehte neugierig den Kopf zur Seite.
Ulrike streichelte ihn zärtlich.
Rainhart beobachtete sie in stummer Ergriffenheit.
Sie ist gut, dachte er. An ihrer Seite würde ich wieder ruhig werden. Ich würde sie zwar niemals lieben, aber ich würde sie achten als einen treuen und zuverlässigen Kameraden…
Soll ich sie fragen? überlegte er, während er sie immer noch unverwandt ansah.
Schon längst hatte er gespürt, daß Ulrike für ihn ein Gefühl zärtlicher Zuneigung hegte.
Rainhart straffte sich. Mit einem tiefen Atemzug schob er alle Zweifel, die ihn immer noch bewegten, beiseite.
Er streckte seine Hände aus und zog Ulrike aus der Box. »Ich muß Sie etwas fragen, Ulrike«, sagte er mit heiserer Stimme.
In ihr blasses Gesicht stieg dunkle Röte, ihre halb geöffneten Lippen zitterten ein wenig. »Ja?« hauchte sie verwirrt.
»Ulrike, gibt es einen Mann in Ihrem Leben, der Ihnen viel bedeutet?« fragte er zögernd.
Er hatte nicht vergessen, was ihm Doktor Langeloh damals gesagt hatte. Ulrike wollte gern ein Kind haben, und keiner wußte, ob sie nicht schon längst eine stille Liebe im Herzen trug, die zu einer Heirat geführt hätte, wenn Ulrike ein gesunder Mensch gewesen wäre.
Ihre schmalen Hände zuckten unruhig in Rainharts kraftvollen Händen.
»Ja, es gibt einen Mann, der mir sehr viel bedeutet«, erwiderte sie tief errötend.
Fast ein wenig erschrocken ließ er ihre Hände los. »Verzeihung – ich konnte nicht wissen…«, stammelte er und fühlte sich plötzlich beschämt. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht indiskret sein…« Er brach ab.
Ulrike hob den Kopf und sah ihn mit einem weichen Lächeln an. »Sie wollen nicht wissen, wer es ist?«
»Dazu habe ich nicht das Recht«, entgegnete er spröde.
»Doch«, sagte sie, und in ihr Gesicht kam ein ungewöhnliches Leuchten. »Sie, Rainhart«, erwiderte sie schlicht.
Sekundenlang starrte er sie in ungläubigem Staunen an. »Ich?« wiederholte er.
»Ja, Sie«, erwiderte sie leise.
Er ergriff ihre Hände und zog sie behutsam an seine Lippen. »Ulrike, wollen Sie – willst du meine Frau werden?« fragte er zögernd und konnte sich nicht erklären, wie ihm die Worte so rasch und selbstverständlich von den Lippen gekommen waren.
»Du willst mich heiraten?« flüsterte sie, und in ihren Augen schimmerten Tränen.
»Ja«, sagte er.
»Weißt du, daß ich nicht ganz gesund bin?«
»Ich weiß es.«
»Du bekommst keine robuste, tatkräftige Frau, die auf dem Gut mit anpacken kann, wie es der Gutsherrin zukommt!« Angstvoll sah sie zu ihm auf.
Er strich ihr mit einer behutsamen Bewegung über die Wangen. »Das macht nichts«, erwiderte er. »Eines Tages wirst du ganz gesund sein, und dann kannst du nachholen, was du glaubst, versäumt zu haben!«
Ich belüge sie! dachte er gequält.
»Und wenn ich nun nie wieder ganz gesund werde?« riß ihn Ulrikes zarte Stimme aus seinen quälenden Überlegungen.
Er erschrak. »Warum denkst du das?«
Wußte sie mehr, als er geglaubt hatte?
»Doktor Langeloh hat gesagt, daß die rätselvolle Krankheit, an der ich leide, zum Stillstand gebracht werden könnte, wenn ich ganz vernünftig lebe, aber ich werde immer schwach und anfällig bleiben und muß mich stets schonen.« Sie schluckte und kämpfte mit den Tränen. »Ich möchte, daß du die Wahrheit weißt und dich keinen falschen Hoffnungen hingibst!«
Wortlos nahm er Ulrikes Gesicht in beide Hände. »Ich will dich trotzdem heiraten«, sagte er. »Glaubst du, daß du an meiner Seite leben und auf Gut Arundsen glücklich werden kannst?«
»Ja«, antwortete sie mit strahlenden Augen, »es ist mein einziger Wunsch seit vielen Jahren, aber niemand hat davon gewußt!«
Fassungslos sah er sie an. »Du hast mich schon lange…«
»... geliebt!« ergänzte sie lächelnd.
Er beugte sich über sie und berührte mit stummer Ergriffenheit ihre Lippen in einem zärtlichen Kuß.
Soll ich ihr sagen, daß ich sie niemals wiederlieben kann? fragte er sich in diesem Moment. Muß ich ihr nicht gestehen, daß mein Herz tot ist, unfähig zu einer neuen Liebe?
Ulrike löste sich sanft von ihm und trat einen Schritt zurück. »Ich weiß, daß ich dir niemals soviel bedeuten kann wie du mir«, sprach sie leise, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Aber es macht mir nichts aus. Ich bin glücklich, wenn ich bei dir sein kann.«
Er strich ihr gerührt über das glatt gekämmte braune Haar. »Wir wollen bald heiraten, Ulrike, ja?« fragte er verwirrt.
Sie nickte, während sie Hand in Hand mit ihm dem Ausgang der Stallungen zuging. Plötzlich blieb sie stehen und sah ihn mit brennenden Augen an. »Ich habe dich noch gar nicht gefragt: Magst du kleine Kinder? Willst du ein Kind haben, Rainhart?«
Er fühlte, wie seine Kehle trocken wurde. »Ja, Ulrike«, gab er heiser zurück, »es ist mein brennender Wunsch, einen Sohn und Erben zu haben.«
Sie seufzte erleichtert auf. »Dann ist es gut«, murmelte sie, und ihre Augen begannen wieder zu leuchten.
»Und du?« fragte er zögernd. »Möchtest du auch ein Kind – trotz deines angegriffenen Gesundheitszustandes?« Gespannt betrachtete er jede Regung in ihrem ebenmäßigen Gesicht. Von ihren nächsten Worten hing für ihn die Zukunft ab.
Sie sah ihn mit einem klaren Blick an. »Ich will ein Kind«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Auch wenn alle Ärzte dagegen sind! Ich will ein Kind!«
*
Konrad Eckhoff kam noch am selben Abend zu Rainhart Arundsen.
»Ulrike hat mir alles erzählt«, sagte er statt einer Begrüßung, und Rainhart Arundsen konnte auf den ersten Blick erkennen, daß der alte Gutsbesitzer erregt war.
»Ich wollte morgen zu Ihnen kommen«, antwortete Rainhart, während er den Besucher ins Wohnzimmer führte.
»Es ist besser, wir sprechen noch heute miteinander«, erwiderte Eckhoff mit brüchiger Stimme. Er ging einige ruhelose Schritte im Zimmer auf und ab, ehe er sich endlich setzte. »Ulrike war so verwirrt und glücklich, daß sie die Neuigkeit nicht für sich behalten konnte.«
Rainhart setzte sich ihm gegenüber. Mit einem ruhigen Lächeln sah er den knorrigen grauhaarigen Mann an, der sichtlich mit seiner Erregung kämpfte. »Dann darf ich jetzt meine Frage ganz offiziell wiederholen, Herr Eckhoff. Ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter. Ich will Ulrike heiraten.«
»Es ist unmöglich«, sagte Eckhoff schließlich nach einer kurzen, lastenden Pause.
»Warum?« Rainhart hielt den Atem an.
»Ulrike ist krank!« Abgerissen und zögernd kamen die Worte.
»Ich weiß«, erwiderte Arundsen ruhig.
»Aber Sie wissen nicht, wie krank sie ist!« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Sie muß sterben, sie ist unheilbar krank. Es gibt keine Rettung.« Zusammengesunken saß er im Sessel, die Hände lagen schlaff auf der Lehne.
»Auch das wußte ich!«
Eckhoff richtete sich mit einer ruckhaften Bewegung auf. »Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Ich habe mit Langeloh über Ulrikes Erkrankung gesprochen«, gab Rainhart knapp zurück. »Langeloh hat mir die Wahrheit gesagt, als ich ihm meine Absicht verriet, Ulrike zu heiraten.«
»Und Sie wollen trotzdem – ich meine, Sie haben keine Angst vor einer solchen Verbindung?« Fassungslos blickte er Arundsen an.
»Nein, ich habe keine Angst.«
»Lieben Sie sie so sehr?« fragte Eckhoff ungläubig.
Arundsen zögerte mit der Antwort. »Nein«, sagte er dann wahrheitsgemäß, »nein, Herr Eckhoff, es ist keine übergroße Liebe, die mich zu diesem Schritt getrieben hat. Ich muß es Ihnen sagen, auch wenn es Ihnen vielleicht weh tut. Aber ich will Ihnen gegenüber keine Ausflüchte gebrauchen. Es ist schlimm genug, daß ich Ulrike nicht die ganze Wahrheit offenbaren kann.«
»Ich verstehe Sie nicht«, murmelte er ratlos.
»Ich will es Ihnen erklären.« Rainhart schloß die Augen und suchte nach Worten. Es war viel schwerer, als er gedacht hatte.
»Sie wissen, daß Ulrike Sie liebt?« fragte Eckhoff. »Sie liebt Sie schon lange.«
Rainhart nickte. »Sie hat es mir gesagt, und dieses Geständnis gab mir den Mut zu meiner Frage, die ich sonst vielleicht nicht gewagt haben würde.«
Eckhoff kniff die Augen zusammen. »Spekulieren Sie auf Ulrikes Mitgift? Ich muß Ihnen sagen, daß ich nicht reich bin. Ulrikes Vermögen ist unbedeutend, jedenfalls solange ich lebe. Nach meinem Tod erbt sie Grund und Boden sowie das Gut. Aber bis dahin…« Er brach ab und bedeckte die Augen mit der Hand.
»Darum geht es mir nicht«, antwortete Rainhart hastig. »Und doch ist meine Absicht, die ich mit dieser Heirat verbinde, in Ihren Augen vielleicht ebenso verwerflich.« Er holte tief Luft und sah den Gutsherrn bittend an. »Ich wünschte, Sie würden mich verstehen.«
»Reden Sie!« sagte Eckhoff kurz.
»Als ich mich von Kathinka trennte, wußte ich, daß ich niemals wieder zu einer solchen Liebe fähig sein würde, wie ich sie damals empfunden hatte. Meine Ahnung hat mich nicht getrogen. Mein Herz ist mit dieser Liebe gestorben. Ich habe mir damals geschworen, nie zu heiraten.«
»Und jetzt wollen Sie diesen Schwur brechen?« Eckhoff blickte argwöhnisch auf.
Arundsen sah Eckhoff furchtlos in die Augen. »Ich verliere das Majorat, wenn ich keinen männlichen Erben habe«, sagte er hart. »Darum muß ich heiraten.«
»Heiraten und Kinder haben!« fuhr Eckhoff fort und sprang auf. »Meine Tochter ist todkrank! Haben Sie das nicht begriffen? Sie kann keine Kinder haben!« Seine Augen funkelten empört.
»Ulrike wünscht sich ein Kind!«
»Sie hat keine Ahnung, wie es um sie steht! Sie weiß nicht, daß sie an Lymphdrüsenkrebs erkrankt ist und daß es keine Rettung für sie gibt! Ulrike wird niemals Kinder haben, und wenn das Ihr Plan gewesen ist, so haben Sie sich gründlich verrechnet!«
Rainhart erhob sich ebenfalls. »Doktor Langeloh hält es nicht für unmöglich«, erwiderte er ruhig. »Er hat mir ausdrücklich versichert, daß ein amerikanischer Professor, der Ihre Tochter untersucht hat, in einer Schwangerschaft sogar das einzige Mittel zur Gesundung sieht!«
Konrad Eckhoff hieb mit der flachen Hand wütend durch die Luft. »Das ist Unsinn! Ich glaube kein Wort davon!« Er wandte sich ab und ging zum Fenster. »Meine Tochter ist für Sie also Mittel zum Zweck?« fragte er mit einer Stimme, die vor Empörung zittertet »Sie wollen einen Erben und schrecken nicht davor zurück, ein todkrankes Mädchen noch unglücklicher zu machen, als es ohnehin schon ist?«
Rainhart ging mit zögernden Schritten bis in die Mitte des Zimmers. »Ich hoffe, Ulrike ein wenig Glück zu geben«, antwortete er bedächtig. »Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird. Aber ich will es versuchen.«
»So, Sie wissen es nicht! Aber Sie wollen es wenigstens versuchen! Wie löblich! Wie ehrenhaft!« höhnte Eckhoff. »Aber was Sie meiner Tochter zumuten, haben Sie sich vermutlich nicht überlegt?«
»Ich habe es mir sehr genau überlegt, Herr Eckhoff«, erwiderte Rainhart langsam. »Tagelang – wochenlang. Ulrike liebt mich und hat mir selbst gesagt, daß es sie glücklich machen würde, an meiner Seite zu leben, obwohl ich ihr nicht verhehlt habe, daß ich sie nicht so lieben kann, wie sie mich liebt.«
»Das haben Sie ihr gesagt?«
»Ja. Ich wollte Sie nicht belügen, wenn sie schon das Letzte, Schlimmste nicht wissen durfte.«
»Und wie hat sie es aufgenommen?« fragte Eckhoff zögernd.
»Sie war sich darüber im klaren, noch ehe ich es ihr sagte, und sie ist darüber nicht gekränkt.«
»Sie muten meinem armen kranken Kind zu, eine Ehe ohne Liebe zu führen?«
»Ich werde Ulrike beschützen und umsorgen, und das ist vielleicht in ihrem Zustand mehr wert als leidenschaftliche, himmelstürmende Liebe«, antwortete Rainhart.
Eckhoff schwieg einen Augenblick. »Sie liebt Sie«, sagte er dann mit schwerer Stimme. »Sie glaubt, an Ihrer Seite das Glück zu finden.« Er räusperte sich und richtete seinen Blick eindringlich auf Arundsen. »Sie hat nicht mehr lange zu leben«, fuhr er beschwörend fort. »Ich würde es Ihnen nie verzeihen, wenn Sie Ulrike enttäuschten!«
»Ich werde alles tun, um ihr die Jahre, die ihr verbleiben, so schön wie möglich zu gestalten«, erwiderte Rainhart. »Das verspreche ich Ihnen.«
»Sie soll glücklich werden, Arundsen«, sagte Eckhoff gepreßt. »Etwas anderes will ich nicht. Wenn es in Ihrer Macht läge, ihr das Glück und die Zufriedenheit zu schenken, die sie verdient…«
»Ich kann ihr nicht die Liebe schenken, die ich einmal für Kathinka empfunden habe, aber ich werde Ulrike meine grenzenlose Achtung, meine Freundschaft und Fürsorge entgegenbringen und ihr alle Wünsche erfüllen…«
»Außer dem einen!« fiel Eckhoff hastig ein. »Sie darf keine Kinder haben!«
Arundsens Miene wurde hart und entschlossen. »Es ist Ulrikes heißester Wunsch, und auch die Ärzte haben geäußert…«
»E i n Arzt hat es geäußert! Ein spleeniger Amerikaner, dessen Urteil mich nicht interessiert!«
»Ich werde andere Ärzte mit Ulrike aufsuchen!«
Eckhoff trat dicht auf Arundsen zu. »Ist meine Tochter für Sie Mittel zum Zweck, Herr Arundsen«, fragte er scharf, »oder denken Sie auch an Ulrikes Wohl?«
»Ich habe Ihnen alles gesagt – die ganze Wahrheit«, erwiderte Rainhart entschlossen. »Soll man einer Schwerkranken, die keine Aussicht auf Heilung hat, den heißesten Wunsch versagen, wenn man doch weiß, daß auch dieser Verzicht sie nicht retten würde?«
»Wenn ich Sie nicht besser kennen würde, müßte ich annehmen, Sie sind kalt und berechnend«, erwiderte er nachdenklich. »Doch ich vertraue auf Ihren anständigen Charakter, Arundsen.« Er lächelte traurig und streckte dem Majoratsherrn die Hand entgegen.
»Sie willigen also ein?« fragte Rainhart.
»Ja«, sagte der Gutsherr und umschloß mit festem Druck Rainharts Rechte, »wenn Sie gut zu ihr sind, wenn Sie sich ehrlich bemühen, sie glücklich zu machen, will ich mich der Heirat nicht widersetzen – zumal es Ulrikes Herzenswunsch ist.«
»Ich danke Ihnen, Herr Eckhoff«, antwortete Rainhart bewegt.
*
Mit Rücksicht auf Ulrikes Gesundheitszustand wurde die Hochzeit in aller Stille gefeiert.
Ulrikes Augen strahlten, als sie auf dem Standesamt den neuen Namen unter die Heiratsurkunde setzte, und Konrad Eckhoff, der als Trauzeuge der Zeremonie beiwohnte, hatte Mühe, seine Rührung zu verbergen.
Für den Gang zur Kirche hatte Ulrike ein duftiges weißes Spitzenkleid angelegt, das ihre schlanke Erscheinung wie eine zarte Wolke umfloß und sie noch schutzbedürftiger und zerbrechlicher erscheinen ließ als sonst.
Rainhart hatte ihr zu diesem besonderen Tag weiße Orchideen geschenkt, die sie behutsam in ihrer schmalen Hand trug.
Stumm und feierlich schritt sie neben dem hochgewachsenen Majoratsherrn zum Traualtar, und mit klarer, deutlicher Stimme sprach sie ihr »Ja«.
»Bis daß der Tod euch scheide«, sagte der Pfarrer.
Rainharts Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und er warf einen angstvollen Blick auf seine junge Frau, die den Worten des Pastors jedoch keine besondere Bedeutung beimaß.
Ulrike schien nichts von Rainharts dunklen Gedanken zu ahnen. Mit einem weichen Lächeln hob sie das Gesicht zu ihm auf und nickte ihm kaum merkbar zu.
Unter dem brausenden Klang der Orgel verließen sie die Kirche.
Die Bewohner des Ortes, die in die Kirche gekommen waren, um Zeuge der Trauungszeremonie zu werden, sahen dem jungen Paar mit einem wohlgefälligen Blick nach. Niemand spürte die düstere Tragik, die über dem Bund dieser beiden Menschen lag.
Nur zwei Augenpaare waren ungewöhnlich ernst, als die glückliche Braut am Arm ihres Mannes vorüberging.
Wird er sie glücklich machen? dachte Konrad Eckhoff besorgt, und Doktor Langeloh fragte sich voll Kummer, wie lange Ulrike Arundsen wohl noch zu leben hatte.
*
»Ich möchte mit dir ausreiten!« sagte Ulrike am Frühstückstisch. Sie trug Reithosen und eine ausgeschnittene weiße Bluse.
Rainhart legte die Morgenzeitung, in der er geblättert hatte, ehe Ulrike das Zimmer betreten hatte, beiseite. »Ausgeschlossen!« sagte er entschieden. »Du weißt, daß du dir solche Anstrengungen nicht zumuten darfst.«
Ulrike setzte sich ihm gegenüber auf ihren gewohnten Platz und warf trotzig das glattgebürstete Haar zurück. »Ich habe es satt, mich immer zu schonen und auf alles zu verzichten!«
»Du mußt vernünftig sein, Ulrike. Bitte!« Er sah sie beschwörend an.
Ihre Augen waren kühl und entschlossen. »Ich will aber nicht länger vernünftig sein! Ich nehme regelmäßig meine Medikamente, ich gehe zu den Bestrahlungen, ich ruhe mich aus, sobald ich mich schwach oder elend fühle! Aber an den Tagen, da es mir gutgeht, will ich so leben wie jeder andere gesunde Mensch! Warum darf ich das nicht?«
Weil du todkrank bist! dachte er. Weil jeder Anschein der Besserung trügerisch ist!
Aber er behielt seine Gedanken für sich.
»Du würdest dich hinterher um so schlechter fühlen«, entgegnete er ruhig. »Vergißt du, daß du gestern erst einen Fieberanfall hattest und fast den ganzen Tag im Bett liegen mußtest?«
»Das war gestern«, erwiderte sie lachend. »Heute bin ich wieder gesund und munter. Glaubst du mir nicht?« Strahlend sah sie ihn an.
»Ich glaube dir, Ulrike«, antwortete er. »Trotzdem fürchte ich, daß der Ritt über die Felder dich zu sehr anstrengen wird.«
»Es strengt mich nicht an!« entgegnete sie heiter und lachte.
An ihren guten Tagen sieht sie so gesund, ja, beinahe robust aus, dachte Rainhart, daß man kaum glauben kann, mit einer Todgeweihten zu sprechen!
Nachdem sie das Frühstück beendet hatten, erhob sich Ulrike noch vor Rainhart. »Ich hole nur rasch meine Jacke«, sagte sie.
Er sprang auf und hielt sie zurück. »Laß, ich gehe hinauf und bringe sie dir.«
»Nein, bitte, nicht«, flüsterte sie hastig.
Er sah, daß sie blaß geworden war und mit unsicheren Schritten zur Tür wankte.
»Was ist, Ulrike?« fragte er besorgt.
»Nichts«, wehrte sie verwirrt ab und riß die Tür auf. Er blieb an ihrer Seite. »Du hast wieder einen Schwächeanfall, nicht wahr?« Er wollte sie stützen, doch sie stieß seine Hand zurück.
»Laß mich!« keuchte sie und rang nach Luft. Wankend ging sie zur Treppe. »Es ist nichts weiter, Rainer! Du brauchst dich nicht zu beunruhigen«, sagte sie atemlos, doch schon erfaßte sie das quälende Würgen, das er bereits kannte.
»Wieder diese scheußliche Übelkeit«, murmelte er und wollte sie ins Badezimmer führen.
Er wußte jetzt über alle Symptome ihrer Krankheit Bescheid. Konrad Eckhoff hatte ihn kurz vor der Hochzeit eingehend darüber aufgeklärt. Aber er hätte es auch so gespürt, denn jede Veränderung in Ulrikes Verhalten fiel ihm sofort auf.
Oft genug hatte er ihre Anfälle miterlebt, das unüberwindliche Würgen, das zum Erbrechen führte, die Schmerzen, unter denen sie zeitweise litt, die Schlaflosigkeit, die sie oft nächtelang quälte, und zwischendurch die hohen Fieberanfälle.
Ulrike hatte sich jetzt von ihm losgerissen und stürzte ins Badezimmer. Ehe er ihr folgen konnte, hatte sie von innen die Tür abgeriegelt.
Unschlüssig ging Rainhart auf dem Korridor auf und ab und überlegte, warum Ulrike ihn heute zum erstenmal von sich gestoßen hatte.
Habe ich etwas falsch gemacht? fragte er sich. Habe ich sie gekränkt oder verletzt?
Nach einer Weile wurde der Riegel geöffnet, und Ulrike kam mit zögernden Schritten heraus.
»Hast du hier vor der Tür auf mich gewartet?« fragte sie und wurde unverständlicherweise rot.
»Ja. Ich verstehe nicht, weshalb du mich ausgesperrt hast, Ulrike!« Er hob die Hände und legte sie ihr behutsam auf die Schultern. »Geht es dir wieder ein wenig besser? Du mußt dich hinlegen. Aus unserem Ritt wird heute nichts werden!« sagte er.
Sie lächelte immer noch und lehnte sich an ihn. »Warum nicht? Mir geht es schon wieder gut!«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich erlaube es nicht! Du weißt, daß diese Anfälle der Übelkeit wiederkommen.«
»Nein«, sagte sie leise, und in ihren Augen schimmerte ein geheimnisvolles Licht. »Heute war es anders – ganz anders!« Sie hob triumphierend das Gesicht zu ihm auf. »Es war nicht die Übelkeit, die zu meiner dummen Krankheit gehört, sondern es war… es war…« Sie stotterte und hielt verwirrt inne. Hilflos hob sie die Hände. »Es war alles ganz natürlich, Rainer«, sagte sie, und in ihrer Stimme war ein unterdrücktes Schluchzen. »Ich glaube, es ist soweit! Ich bekomme ein Kind!« Erwartungsvoll sah sie ihn an.
»Du – du bekommst ein Kind?« stammelte er fassungslos. »Ulrike, ist das wahr?«
Sie lächelte voll Seligkeit. »Ja, Rainer«, flüsterte sie, »ich bin ziemlich sicher, und eben die Übelkeit…« Sie schloß die Augen und sank an seine Brust. »Freust du dich?« murmelte sie angstvoll zitternd.
In einer Aufwallung heißer Zärtlichkeit preßte er sie an sich. »Wenn es wahr wäre, Ulrike – wenn es wirklich keine Täuschung gibt…«
»Es ist wahr! Ich weiß es! Ich fühle es!« antwortete sie mit Überzeugung. »Freust du dich?« setzte sie noch einmal drängend hinzu.
»Ja, Ulrike, ich freue mich unbeschreiblich«, entgegnete Rainhart überwältigt und schloß sie in die Arme. »Ich habe mir ebenso wie du ein Kind gewünscht!« Er strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Und doch mache ich mir Sorgen um dich.«
Sie schüttelte lebhaft den Kopf. »Das darfst du nicht«, erwiderte sie mit blitzenden Augen. »Ich bin stark, Rainer. Ich werde es durchhalten, auch wenn niemand es mir zutraut. Ich bin nicht so krank, wie ihr alle glaubt!«
Er preßte die Lippen aufeinander. Er durfte sich nichts anmerken lassen, wie es in ihm aussah. »Wir werden sofort zu Doktor Langeloh fahren«, sagte er entschlossen.
*
Rainhart Arundsen überquerte den Hof und ging durch den Garten zur Terrasse. Er wußte, daß Ulrike um diese Zeit im Liegestuhl saß, um die milde Luft des strahlenden Sommermorgens zu genießen.
Ulrike sah ihn schon von weitem und winkte ihm mit einem strahlenden Lächeln zu. Langsam und schwerfällig erhob sie sich.
Mit raschem Schritt war Rainhart bei ihr. »Weshalb bist du nicht liegengeblieben?« sagte er mit zärtlichem Vorwurf.
»Ich habe mich so gefreut, dich zu sehen«, erwiderte Ulrike.
Er nahm ihre Hände, die trotz der warmen Temperatur eiskalt waren, in die seinen und küßte sie. »Wie geht es dir, Ully?«
»Gut, danke«, entgegnete sie ruhig.
Sie sagte nie etwas anderes, auch wenn sie sich schwach und elend fühlte.
Behutsam führte er sie zum Liegestuhl. »Eine halbe Stunde habe ich Zeit«, sagte er und rückte einen Gartenstuhl dicht neben sie.
»Bald ist es soweit«, flüsterte sie. »Noch drei Wochen!«
»Ja«, wiederholte er dumpf, »noch drei Wochen!«
Drei Wochen der Angst, der Sorge und der hilflosen Verzweiflung! dachte er. Und wenn es dann soweit ist, wird alles nur noch schlimmer!
Rainhart sah seine Frau an.
Sie war mein Freund, dachte er, während er sie schweigend betrachtete, ein guter, zuverlässiger Freund, den man achtet und ehrt.
Und dann war plötzlich alles anders geworden. Er entsann sich ganz genau. Es hatte an jenem Tag begonnen, als Ulrike aus dem Sprechzimmer Doktor Langelohs herausgekommen und strahlend auf ihn zugetreten war.
»Es ist wahr, Rainer«, hatte sie leise gesagt, »wir werden ein Baby haben!«
Da hatte er sie in die Arme genommen und stumm an sich gepreßt, und aus dem kleinen Kameraden, den er beschützen und umsorgen wollte, war eine Frau geworden, die zu ihm gehörte – seine Frau! Und in diesem Moment hatte sich der eiserne Reif, der sein Herz bis dahin immer noch umklammert hielt, gelockert, und ein Gefühl heftiger Zuneigung für diesen tapferen kleinen Kameraden war in ihm aufgewallt.
Erstaunt hatte er es festgestellt und nicht begriffen, was mit ihm vorgegangen war.
Doch später merkte er, daß er Ulrike mit anderen Augen ansah. Er verfolgte ihre Bewegungen nicht nur mit dem Blick der Sorge, sondern er wurde von der schwebenden Leichtigkeit ihrer Handbewegungen angerührt, er bemerkte zum erstenmal die zart ansteigende Linie ihres Halses, und immer öfter versank er in dem tiefen Blick ihrer dunklen Augen.
Und wenn sie sich nachts an ihn schmiegte, hielt er sie oft fest an sich gepreßt und fragte sich, ob das zitternde Glücksgefühl, das ihn erfaßte, wenn er ihre Nähe spürte, dem kleinen Wesen galt, das Ulrike zur Welt bringen würde, oder nur der Frau, die er in den Armen hielt.
Von Monat zu Monat wurde diese Empfindung stärker, und jetzt, da er ihr gegenübersaß und sanft ihren Arm streichelte, wurde ihm klar, was er noch nie bewußt zu Ende gedacht hatte: Er liebte Ulrike, liebte sie mit einer tiefen, alles umfassenden Liebe, die sein ganzes Herz durchdrang und ihn in diesem Augenblick fast erstickte.
Er sah sie lange und tief an. »Ich liebe dich, Ully«, sagte er leise.
In fassungslosem Staunen richtete sie sich langsam auf. »Das – das hast du noch nie gesagt«, murmelte sie.
»Vielleicht habe ich es bisher selbst noch nicht gewußt«, entgegnete er zögernd. »Aber jetzt weiß ich es! Ich liebe dich!«
Sie lächelte, während Tränen in ihre Augen traten. »Ich kann nichts sagen«, stammelte sie mit einem unterdrückten Schluchzen. »Es ist so wundervoll – bitte, verzeih!« Die Tränen lösten sich von ihren Wimpern und tropften über ihre Wangen.
Er küßte sie fort. »Weine nicht«, sagte er zärtlich, »vielleicht wird alles gut!«
»Ich bin glücklich«, erwiderte Ulrike, »und wenn ich glücklich bin, habe ich keine Angst vor der Zukunft! Auch du solltest keine Angst haben, Rainer!« Sie fuhr ihm zärtlich über das blonde Haar.
*
Schon eine Woche zuvor war Rainhart Arundsen mit seiner jungen Frau in die Stadt gefahren, wo sie in der besten Privatklinik ihr Kindchen zur Welt bringen sollte. Beinahe täglich suchte er den Arzt auf.
»Wie ist der Gesundheitszustand meiner Frau?« fragte er besorgt.
»Ich kann nichts darüber sagen, Herr Arundsen«, antwortete Professor Schliebach, der Klinikchef. »Den Umständen entsprechend geht es Ihrer Frau gut.«
»Das sagt mir nichts«, erwiderte Rainhart unruhig. »Ich will wissen, ob sie den Strapazen der Geburt gewachsen ist!«
Der Professor zuckte die Achseln. »Ich kann nicht voraussagen, ob es eine schwere oder einfache Geburt werden wird, Herr Arundsen. Die Lage des Kindes ist normal. Von dieser Seite sind keine Schwierigkeiten zu befürchten.«
Rainhart musterte mit einem aufmerksamen Blick die undurchdringliche Miene des Arztes. »Aber Sie haben Bedenken wegen des Allgemeinzustandes meiner Frau. Ist es nicht so?«
»Sie wußten, was Ihrer Frau zugemutet wird, als Sie sich entschlossen, ein Kind zu haben«, erwiderte der Professor knapp.
»Wird – wird sie es überleben?«
Die Worte kamen nur zögernd von seinen Lippen, sein Blick war unruhig und flackernd.
»Verlangen Sie von mir keine unmöglichen Voraussagen, Herr Arundsen«, entgegnete der Arzt mit unbewegter Miene. »Ich bin Gynäkologe und Geburtshelfer, aber kein Krebsspezialist!«
Rainhart war durch den unverblümten Ton des Arztes schockiert. »Können Sie nicht begreifen, daß ich mir große Sorgen um meine Frau mache?« rief er gequält aus.
Der Arzt sah ihn aus kühlen Augen an. »Sie waren sich über die Folgen im klaren, als Sie Ihrer schwerkranken Frau eine Schwangerschaft zumuteten!«
»Sie machen mir daraus einen Vorwurf?«
Der Professor machte eine beschwichtigende Geste. »Das steht mir nicht zu. Aber ich habe Ihnen bereits bei der Aufnahme Ihrer Gattin in meine Klinik gesagt, daß ich die Sache als einen äußerst schwierigen Fall betrachte. Es ist ein Fall, der in der Geschichte der Medizin noch nicht dagewesen ist!«
»Sie haben also wenig Hoffnung?« Rainharts Stimme war heiser. Er mußte seine ganze Beherrschung aufbringen, um die äußere Ruhe zu bewahren.
»Ihre Frau ist sehr schwach, aber unendlich tapfer«, antwortete der Arzt mit bedächtiger Miene. »Und sie freut sich auf das Kind. Vielleicht wird ihr diese innere Einstellung Kraft geben. Ich werde jedenfalls alles tun, um Ihrer Frau die Geburt zu erleichtern.«
»Ich danke Ihnen, Herr Professor«, sagte Rainhart, obwohl ihn die Worte des Arztes aufs neue aufgewühlt hatten.
*
Eine Schwester kam auf Rainhart Arundsen zu. »Sind Sie Herr Arundsen?« fragte sie.
»Ja, ich heiße Arundsen«, stieß er keuchend hervor. »Wie geht es meiner Frau?«
»Sie haben einen gesunden Jungen bekommen, Herr Arundsen«, verkündete die Schwester.
Er brach nicht, wie die Schwester erwartet hatte, in einen erleichterten Jubelruf aus. Hart faßte er die Schwester am Arm. »Wie geht es meiner Frau?« wiederholte er drängend. »Lebt sie, Schwester?«
»Ihre Frau ist zwar sehr schwach und erschöpft, aber es geht ihr gut.«
Arundsens Miene war immer noch vor Anspannung verzerrt. »Ist das wirklich wahr?« fragte er heiser.
»In einer Viertelstunde können Sie sich selbst davon überzeugen!« Ohne ein weiteres Wort ließ sie Rainhart stehen, der ihr wie erstarrt nachsah.
Ulrike lebt! dachte er. Sie ist schwach und erschöpft, aber sie lebt!
Unendliche Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber erfüllte ihn, und er beschloß, jeden Tag, der ihm an Ulrikes Seite vergönnt war, wie ein kostbares Geschenk des Himmels zu betrachten.
Er konnte es nicht erwarten, bis er endlich zu ihr durfte.
Blaß und mit schweißverklebtem Haar lag sie in den weißen Kissen.
»Nur fünf Minuten, Herr Arundsen«, warnte die Schwester, die ihren Kopf zur Tür hereinsteckte, als Rainer neben Ulrike auf den Bettrand sank.
»Liebste«, murmelte er und bedeckte ihre Hand mit Küssen. »Meine geliebte Frau!«
»Ein Junge, Rainer«, murmelte Ulrike. »Wir haben einen Sohn!«
»Ich weiß, Ully«, erwiderte er. »Aber jetzt mußt du mir sagen, wie es dir geht!«
Sie bemühte sich um ein kleines Lächeln, das ihr nicht gelingen wollte. »Gut, danke«, flüsterte sie. »Wo ist unser Sohn?«
»Ich weiß nicht, und das ist auch im Moment nicht wichtig«, antwortete er hastig. »Fühlst du dich wirklich gut, Ulrike? War es schlimm all die vielen Stunden, in denen du dich quälen mußtest?«
»Ich habe an dich gedacht«, hauchte sie. »Da waren die Schmerzen leichter zu ertragen.«
Rainharts Augen brannten, und seine Kehle war trocken. »Ich danke dir, Ully – ich danke dir von ganzem Herzen!«
»Freust du dich gar nicht?« fragte sie zögernd, und in ihrer Miene war angstvolle Enttäuschung zu lesen.
»Ich bin außer mir vor Freude, daß du alles gut überstanden hast!« antwortete er.
»Nein«, sagte sie, »ich meinte unseren Sohn!«
»Doch, natürlich freue ich mich über unseren Sohn«, entgegnete er verwirrt.
Woher kam es, daß ihn dieses kleine Wesen nicht interessierte? War es wirklich erst ein Jahr her gewesen, daß sich seine Gedanken unablässig mit dem männlichen Erben beschäftigten, der später einmal das Majorat übernehmen sollte?
Die Schwester trat wieder ins Zimmer. »Sie müssen jetzt gehen, Herr Arundsen«, sagte sie streng. »Ihre Frau braucht Ruhe. Sie dürfen morgen wiederkommen!«
Rainhart umfaßte Ulrikes schmale Rechte. »Leb wohl, Ully«, sagte er mit einem Blick voll zärtlicher Liebe. »Ich werde die ganze Nacht an dich denken und keine Minute schlafen können!«
*
»Ein strammer Bub«, sagte Konrad Eckhoff mit großväterlichem Stolz und beugte sich über die Babywiege.
Rainhart Arundsen stand daneben und blickte auf das Kind hinab, das sein Sohn war. Er konnte es immer noch nicht fassen, und zu seiner größten Bestürzung mußte er feststellen, daß er keine innere Beziehung zu dem winzigen Wesen verspürte, das unruhig in seiner Wiege strampelte.
»Nun ist dein größter Wunsch erfüllt«, sagte Konrad Eckhoff und blickte den Schwiegersohn mit einem langen Blick an, »du hast deinen Erben.«
»Du zürnst mir immer noch deswegen«, sagte Rainhart langsam, während er den Schwiegervater in sein Arbeitszimmer führte, »aber eigentlich hast du dazu keinen Grund.«
Eckhoff nickte bedächtig. »Ich weiß. Ulrike hat sich das Baby ebenso sehr gewünscht wie du.«
»Das meinte ich nicht. Zwischen Ulrike und mir hat sich alles verändert«, fuhr Rainhart zögernd fort. »Du weißt, weshalb ich Ulrike geheiratet habe…«, er brach ab. Es kam ihm jetzt beinahe unvorstellbar vor, daß er ohne Liebe diese Ehe eingegangen war.
»Du warst anständig genug, wenigstens mir die Wahrheit zu sagen«, erwiderte er. »Aber eines darf ich dir heute bestätigen: Du hast dir wirklich Mühe gegeben, Ulrike froh und glücklich zu machen. Dafür muß ich dir danken.«
»Du brauchst mir nicht zu danken«, wehrte Rainhart hastig ab. »Ich habe es nicht getan, weil ich es dir versprochen habe, sondern weil ich Ulrike liebe.«
»Du liebst sie?« fragte er heiser.
»Ja, Vater, schon lange. Und jetzt möchte ich alles tun, damit sie gesund wird.«
Eckhoffs Züge beschatteten sich. »Du weißt, daß es keine Rettung gibt!«
»Ich werde nichts unversucht lassen«, entgegnete Rainhart fanatisch. »Wir waren vorgestern, ehe wir auf das Gut zurückkamen, bei Professor Schildren, dem berühmten Krebsspezialisten, der Ulrike schon einmal untersucht hatte. Es war zwar sehr schwierig, Ulrike zu diesem Arztbesuch zu bewegen, weil sie sich angeblich nicht krank fühlt, und ich konnte ihr ja schließlich meine geheimen Befürchtungen nicht offenbaren.« Mit einem tiefen Seufzer senkte er den Kopf.
Eckhoff nickte. »Ich weiß, wie schwer es ist, ihr die furchtbare Wahrheit vorzuenthalten. Ich habe es ja selbst durchgemacht!«
Rainhart fuhr sich gequält durch das Haar. »Professor Schildren sagte mir nach der Untersuchung, daß er erstaunlicherweise eine geringe Besserung in Ulrikes Befinden feststellen konnte. Aber er fügte auch sofort hinzu, daß diese neue Diagnose zu keinen großen Hoffnungen Anlaß gebe!«
Eckhoff runzelte die Brauen. »Schildren hat eine neue Therapie bei Lymphdrüsenkrebs entwickelt. Wußtest du das?«
»Selbstverständlich. Schon seit langem verfolge ich die gesamte Fachliteratur und lese alle neuen medizinischen Veröffentlichungen, die auf diesem Gebiet erscheinen.«
Konrad Eckhoff sah seinen Schwiegersohn erstaunt an. »Ich bin beschämt, Rainer«, murmelte er. »Du tust mehr für Ulrike, als ich jemals für sie getan habe!«
Rainhart hob den Blick. »Sie ist meine Frau, und ich liebe sie«, erwiderte er schlicht.
Eckhoff streckte dem Schwiegersohn bewegt die Hand entgegen. »Ich glaube, ich habe dir sehr viel abzubitten«, sagte er.
»Wir wollen beide, daß Ulrike gesund wird«, sprach Rainhart weiter. »Und dazu ist mir jedes Mittel recht. Ich würde sogar das Gut verkaufen, wenn es nötig sein sollte!«
Eckhoff fuhr auf. »Das darfst du nicht tun!«
Rainhart lächelte. »Vorläufig ist es auch noch nicht soweit!«
»Solltest du finanzielle Schwierigkeiten haben, wende dich bitte an mich!« sagte Eckhoff. »Ich werde dir jederzeit helfen.«
»Danke, Vater. Ich hoffe, es kommt nicht dazu! Ich habe den Plan, Ulrike in Kürze zu Professor Schildren in die Klinik zu geben. Er hat mir selbst den Vorschlag einer neuerlichen Behandlung gemacht.«
Eckhoff kniff die Augen zusammen. »Und was sagt Ulrike selbst dazu?«
Rainhart machte eine verzweifelte Handbewegung. »Sie weiß noch nichts von meiner Absicht, und ich zerbreche mir den Kopf, wie ich es ihr beibringen könnte.«
»Meines Erachtens ist es im Augenblick unmöglich, solange Ulrike das Kind stillt.«
Mit einem gequälten Ausdruck blickte Rainhart den Schwiegervater an. »Sie kann nicht mehr lange stillen! Sie ist viel zu schwach dazu. Sie ahnt nicht, daß es über ihre Kräfte geht!«
Konrad Eckhoff schwieg einen Augenblick. Dann fragte er: »Wer soll das Kind versorgen, wenn Ulrike in der Klinik ist?«
»Ich habe bereits ein Kindermädchen engagiert. Es wird in der nächsten Woche auf dem Gut eintreffen.«
»Weiß es Ulrike schon?«
»Ich habe es nur beiläufig erwähnt, doch sie widersprach sofort. Daraufhin habe ich das Thema fallenlassen und auf einen günstigeren Moment verschoben.«
Eckhoff stand auf und ging in Rainharts Arbeitszimmer hin und her. »Ich muß dich etwas fragen, Rainer«, sagte er schließlich und blieb vor dem Schwiegersohn stehen. »Bedeutet dir das Kind gar nichts?«
Arundsen war verwirrt. »Wie kommst du darauf?«
»Ich spüre es«, antwortete Eckhoff knapp. »Du sprichst von dem Baby wie von einer Sache, die dich nicht eigentlich berührt.«
»Vielleicht hast du recht«, gab er mit finsterer Miene zu. »Ich habe mir diesen Sohn gewünscht, und jetzt kann ich ihn nicht einmal lieben!«
»Das ist schlimm«, sagte Eckhoff. »Da habt ihr nun euer Wunschkind Alexander, und trotzdem bist du nicht glücklich!«
In Rainers Augen standen Schmerz und namenlose Qual. »Wie kann ich glücklich sein, wenn meine Frau todkrank ist!«
»Siehst du«, sagte Eckhoff leise, »jetzt leidest du genauso wie ich! Seit du sie liebst, ist alles viel schlimmer!«
»Und darum werde ich auch nichts unversucht lassen!« Rainer richtete sich entschlossen auf. »Nächsten Monat fahre ich mit Ulrike zu Professor Schildren!«
*
Ulrike lehnte sich mit einem unterdrückten Seufzer in dem bequemen Sessel zurück und schloß einen Moment die Augen, um den Schwächeanfall zu überwinden.
Klein-Alexander, den sie in den Armen hielt, bewegte sich unruhig.
»Mein Liebling«, flüsterte Ulrike angestrengt, »mein liebes kleines Herzchen, wenn ich doch etwas mehr Kraft hätte, um mich dir ausgiebig widmen zu können!«
Der Kleine strampelte mit den Beinchen und krähte vor Vergnügen.
Es waren die schönsten Minuten des Tages für sie, wenn sie ihr Kindchen bei sich haben konnte.
»Ich bin dir keine gute Mutter«, flüsterte Ulrike, während sie jetzt ihr kleines Söhnchen fest an sich preßte. »Ich bin zu schwach und hilflos, um dich zu umsorgen!« Tränen zitterten in ihrer leisen Stimme.
Klein-Alexander riß die hellen Augen auf und blickte seine Mutter mit offenem Mündchen an. Dann verzog sich sein Gesicht, und er begann wieder freudig zu krähen.
Ulrike fühlte, daß ihr der kalte Schweiß auf die Stirn trat.
Ich kann ihn nicht mehr halten, dachte sie in panischer Angst, und diese Furcht, die sie immer häufiger befiel, wenn sie ihr Kind auf dem Schoß hatte, wurde für sie zu einer schmerzhaften Qual.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie mit einem unterdrückten Schluchzen. Sie wollte aufstehen, um das Baby in das Körbchen zu legen, das wenige Schritte von Ulrike entfernt auf der Terrasse stand. Doch sie war zu schwach und kraftlos, um sich mit dem Kind auf den Armen zu erheben.
Tränen schossen in ihre Augen und liefen über ihre Wangen.
Wahrscheinlich bin ich kränker, als ich ahne! Keiner hat mir bisher gesagt, was mir eigentlich fehlt!
Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie mußte sich abermals zurücklehnen. Sie hatte kaum noch Kraft, den ungebärdig mit den Ärmchen rudernden Kleinen festzuhalten.
Ist es wirklich eine rätselhafte Krankheit, an der ich leide? dachte sie, während ihre Gedanken sich überstürzten. Kennt man tatsächlich nicht die Ursache für diese Schwächezustände, die Anfälle und das plötzlich auftretende Fieber? Oder verheimlichen sie mir etwas?
Sie fühlte sich so elend, daß sie sogar im Schein der milden Spätsommersonne fror.
»Warum kann ich nicht für
mein geliebtes Kindchen sorgen wie andere Mütter«, flüsterte Ulrike schmerzerfüllt, während sie nach dem Klingelknopf tastete, um das Kindermädchen zu rufen.
Trudi erschien sofort. »Soll ich Ihnen den Kleinen abnehmen, Frau Arundsen?« fragte sie mit freundlichem Lächeln.
Ulrike nickte und beobachtete voll Kummer die leichten, beinahe spielerischen Bewegungen, mit denen das Mädchen ihr den Kleinen abnahm, ihn hochhob, daß er selig jauchzte, um ihn dann in sein Körbchen zu legen.
Während Ulrike sich tiefer über das Körbchen beugte, bekam sie wieder einen heftigen Schwindelanfall. Vorhin hatte sie gefröstelt, und nun war ihr plötzlich unerträglich heiß.
Sie sank mit einem leisen Stöhnen in den Sessel zurück. Als sie Trudis forschenden Blick auf sich ruhen fühlte, zwang sie sich zu einem krampfhaften Lächeln. »Ich werde mich eine halbe Stunde im Wohnzimmer auf die Couch legen«, sagte sie so gleichmütig wie möglich, um dem Mädchen ihre Schwäche nicht zu zeigen.
*
Der Tag, an dem Ulrike aus der Klinik Professor Schildrens entlassen werden sollte, war ein kalter Tag im Januar, an dem ein rauher Wind durch die Straßen pfiff, der dichte Schneewolken vor sich her trieb.
Rainer zögerte vor dem Krankenzimmer, ehe er die Klinke niederdrückte.
Als er eintrat, gelang es ihm, Ulrike mit einem zärtlichen Lächeln zu begrüßen. »Du siehst zauberhaft aus«, sagte er und streifte ihre schlanke, anmutige Erscheinung mit einem liebevollen Blick.
Ulrike trug ein rehbraunes Kostüm, das fast die gleiche Farbe wie ihr Haar hatte. Dazu hatte sie die grüne Bluse angezogen, die er an ihr so gern sah.
»Jetzt fängt ein neues Leben an«, erklärte Ulrike strahlend und griff nach ihrem Mantel, den sie sich schon zurechtgelegt hatte. »Ich kann es kaum erwarten, wieder daheim zu sein – als gesunde, tatkräftige Frau!«
Er nahm sie in die Arme und küßte sie. »Ich bin glücklich, daß wir nun von morgens bis abends zusammen sein werden!«
Sie lachte ein wenig und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Willst du nichts mehr tun? Soll die ganze Arbeit jetzt von den anderen gemacht werden?«
»Es geht sehr gut ohne mich«, antwortete Rainhart lachend. »Die Monate, während ich hier bei dir war, haben es bewiesen.«
War wirklich alles so gut gelaufen? Er hatte in der vorigen Woche, als er zurückgekommen war, um alles für Ulrikes Heimkehr vorzubereiten, manches entdeckt, was ihm nicht gefiel. Aber er hatte nicht die Zeit gefunden, sich eingehend um die Wirtschaftslage des Gutes zu kümmern und alles zu inspizieren. Er war völlig davon in Anspruch genommen, den Vertrag über eine neue Hypothek abzuschließen, die er auf das Gut aufnehmen mußte, um die hohen Krankenhauskosten von Professor Schildren zu bezahlen.
Aber davon wußte Ulrike nichts, und sie sollte es auch nicht erfahren.
»Du hast mir noch kein Wort von unserem Liebling erzählt«, sagte Ulrike und schmiegte sich an ihn. »Wie geht es unserem Söhnchen?«
Rainhart nickte zerstreut. »Es geht ihm gut. Er krabbelt jetzt schon auf allen vieren in seinem Ställchen hin und her.«
»Läßt er die Mami nicht grüßen?«
»Doch – ja, natürlich!« Rainhart strich Ulrike über das Haar, und sie sah an seinen Augen, daß er nicht bei der Sache war.
»Es ist doch alles in Ordnung mit dem Kind, Rainer?« forschte sie besorgt. »Oder verheimlichst du mir etwas?«
Er lachte beruhigend. »Nein, Alexander ist wohlauf, und wird nach wie vor von Trudi gut versorgt.«
Ulrike löste sich von Rainhart und griff nach ihrer Handtasche. »Jetzt werde ich endlich die Erziehung und Betreuung unseres Sohnes in die Hand nehmen!« sagte sie mit einer Energie, die Rainhart überraschte und erfreute. »Es wird höchste Zeit, daß die Mami sich um den kleinen Kerl kümmert!«
Rainhart ergriff Ulrikes Koffer. »Wollen wir gehen?«
»Ja«, erwiderte sie mit leuchtenden Augen, »in fünf Stunden sind wir daheim, nicht wahr? Dann werde ich endlich mein Baby wiedersehen!«
*
Ulrike sank neben dem Ställchen in die Knie. »Alexander – mein Liebling – mein Herzchen!« rief sie mit tränenerstickter Stimme aus und streckte die Hände aus, um ihr Söhnchen zu begrüßen.
Alexander sah die Mutter mit großen, erstaunten Augen an, ohne ein Zeichen des Erkennens zu äußern. Er blieb regungslos inmitten des Ställchens sitzen.
Rainer stand unbeholfen daneben. »Erkennst du die Mami nicht mehr?« fragte er.
Trudi war diskret aus dem Zimmer gegangen, um die Wiedersehensfreude zwischen Mutter und Kind nicht zu stören. Doch Ulrike kam sich plötzlich ohne die Anwesenheit des Kindermädchens hilflos vor.
»Soll ich ihn herausnehmen?« fragte sie unschlüssig und sah Rainhart zögernd an.
»Ich weiß nicht. Ich habe nicht viel Geschick mit unserem kleinen Sprößling. Mich darfst du nicht fragen«, antwortete er.
Ulrike beugte sich über das Gitter des Ställchens und hob ihren Liebling empor. Alexander sträubte sich und stemmte seine beiden Ärmchen gegen Ulrikes Brust.
»Willst du deine Mami nicht begrüßen?« fragte sie mit zitternder Stimme.
Alexander horchte erstaunt den Worten nach. Sein Mündchen stand halb offen, und seine Augen waren weit aufgerissen. Plötzlich lief ein schelmisches Lachen über sein Gesichtchen, und er klatschte erfreut in die Hände.
Mit einem unterdrückten Aufschluchzen zog ihn Ulrike fest an sich. »Mein Liebling«, murmelte sie überwältigt, »mein Herzblatt!« Mit überströmender Zärtlichkeit küßte sie ihr Söhnchen, das nach anfänglichem Widerstreben nun die Ärmchen um Ulrikes Hals schlang.
»Willst du dich nicht ausziehen, Ully?« fragte Rainer. »Du bist noch in Hut und Mantel…«
Ulrike wandte sich mit leuchtenden Augen zu ihm um. »Ist das nicht vollkommen gleichgültig? Ich bin wieder daheim! Ich bin gesund und habe mein Söhnchen wieder! Oh, Rainer, ich bin so glücklich – so unendlich glücklich!« Ihre Miene strahlte.
*
»In Ihrem Arbeitszimmer wartet ein Herr auf Sie«, sagte Johanna, als Rainhart von einem Besuch bei dem Forstmeister zurückkam. »Den Namen habe ich leider nicht verstanden. Er sagt, es wäre dringend, und er wollte unbedingt mit Ihnen selbst sprechen. Er wartet schon seit einer Stunde.«
Rainhart Arundsen runzelte die Brauen. Hastig warf er seine Lodenjoppe ab und hängte sie an die Garderobe.
»Ist meine Frau bei dem Besucher?«
Johannas Gesicht bekam einen sorgenvollen Ausdruck. »Nein, Herr Arundsen, die gnädige Frau fühlte sich nicht wohl und hat sich heute morgen wieder hingelegt, gleich nachdem Sie fortgefahren sind!«
»Sagen Sie bitte meiner Frau, ich wäre in einer Viertelstunde bei ihr«, antwortete Arundsen hastig, während er die Halle durchquerte.
Der Mann, der sich aus einem Sessel erhob und seine Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, war mittelgroß und untersetzt und hatte ein schmales Gesicht mit aufmerksamen, kühlen Augen.
Rainhart kannte den Mann nicht. »Sie wollten mich sprechen?« fragte er abwartend, als er den Besucher begrüßte.
Der Mann lächelte. »Greve«, sagte er. »Eigentlich kennen wir uns schon – wenn auch nur telefonisch!«
Sekundenlang überlegte Rainhart, wo er diesen Namen schon gehört hatte, und aus dem Unterbewußtsein kam das Gefühl einer dunklen Bedrohung. Im nächsten Augenblick fiel ihm alles wieder ein.
»Es ist jetzt mehr als drei Jahre her, daß wir miteinander korrespondiert und telefoniert haben, Herr Greve«, sagte er zurückhaltend und bot dem Besucher Platz an. »Damals wollte ich von Ihnen landwirtschaftliche Maschinen kaufen, doch die Sache zerschlug sich.«
Greve sah Rainhart mit einem schmalen Lächeln an. »Ja – warum eigentlich?«
Rainhart hob die Hände zu einer fragenden Gebärde. »Es ist schon lange her – ich kann mich nicht mehr entsinnen«, sagte er ausweichend.
Er wußte alles ganz genau. Er hatte damals auf der Terrasse der Greveschen Villa gesessen und auf den Hausherrn gewartet. Dabei war er Zeuge jenes Gesprächs geworden, das sein ganzes Leben verändert hatte.
»Unsere vereinbarte Besprechung, bei der wir den Vertrag abschließen wollten, hat niemals stattgefunden«, erwiderte Greve mit leichtem Spott. »Anscheinend hatten Sie damals die Geduld verloren. Ich ließ Sie ziemlich lange warten.«
»Ja – mag sein«, antwortete Rainhart einsilbig. »Darf ich fragen, was der Anlaß Ihres heutigen Besuches ist? Wollen Sie an das seinerzeit unterbrochene Verkaufsgespräch anknüpfen?« Er richtete sich entschlossen auf. »Ich muß Sie enttäuschen. Leider ist dafür im Augenblick der ungünstigste Zeitpunkt.«
Das spöttische Lächeln auf der Miene des Fabrikanten vertiefte sich. »Sie irren, Herr Arundsen. Der Kaufvertrag ist bereits erteilt, und zwar in der Zeit Ihrer Abwesenheit von Ihrem Gutsverwalter, dem Sie alle Vollmachten gegeben haben!«
Rainer brauchte einige Sekunden, um sich zu fassen.
»Das – das ist doch nicht möglich!« rief er erregt.
»Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß Sie von der ganzen Angelegenheit nichts gewußt haben?« Mißtrauisch beobachtete er den Majoratsherrn.
Rainhart sprang auf. »Nein, ich habe tatsächlich nichts davon gewußt!« antwortete er außer sich. »Ich verstehe die Zusammenhänge nicht! Mein Verwalter hatte niemals den Auftrag, einen solchen Kauf zu tätigen, denn ich bin im Augenblick finanziell gar nicht in der Lage, derartigen Verpflichtungen nachzukommen!«
Die Miene Greves wurde undurchdringlich. »Deshalb habe ich Sie aufgesucht, Herr Arundsen«, sagte er förmlich. »Der Kaufvertrag ist abgeschlossen, die erste Lieferung der Maschinen bereits erfolgt. Eine geringfügige Anzahl wurde von Ihrem Verwalter bei Vertragsabschluß geleistet, die nächste Zahlung wäre vor vier Wochen fällig gewesen. Ich habe höflich gemahnt, bin aber ohne Antwort geblieben. Zwei weitere Schreiben wurden ebenfalls nicht beantwortet. Daraufhin habe ich mich in den Wagen gesetzt und wollte selbst mit Ihnen sprechen, da ich Sie – per Renommee – als einen sehr zuverlässigen Geschäftspartner kenne.« Er öffnete die Aktentasche, die neben ihm am Tischbein lehnte, und zog ein Vertragsexemplar hervor. »Bitte, lesen Sie! Die Unterschrift Ihres Verwalters stimmt doch? Und es entspricht doch auch den Tatsachen, daß er absolute Geschäftsvollmachten hatte?«
»Ja – allerdings«, murmelte Rainhart, während er den Vertrag überflog.
Birkhain war ein verschlossener, verläßlicher Mitarbeiter gewesen, seit er ihn kannte. Er hatte nicht gezögert, ihm alle Vollmachten zu übertragen, als er mit Ulrike das Gut verließ und die ganze Zeit während Ulrikes Krankenhausaufenthalt in der Stadt geblieben war. Bei seinen wenigen und kurzen Besuchen auf dem Gut hatte er sich flüchtig überzeugt, daß alles in Ordnung war, und er war froh gewesen, wenn er am nächsten Morgen wieder abfahren konnte, um bei seiner geliebten Frau zu sein.
Ich habe das Gut vernachlässigt! dachte Rainhart in diesem Augenblick in panischem Entsetzen. Ich habe alles laufen lassen, ohne mich darum zu kümmern! Es war mir gleichgültig geworden – alles war mir gleichgültig geworden. Ich habe nur an Ulrikes Genesung gedacht!
Kalter Schweiß brach ihm aus, als er noch einmal die schwindelnd hohe Summe überflog. Es war unmöglich, einen so hohen Betrag in seiner finanziell angespannten Situation aufzubringen!
»Ich will Sie nicht bedrängen«, sagte Greve, nachdem das Schweigen schon einige Minuten zwischen ihnen lastete, »aber ich muß Sie heute dennoch fragen, wie Sie sich die weiteren Zahlungen vorstellen.«
»Ich werde von dem Vertrag zurücktreten!« erwiderte Arundsen heftig.
Greve legte ruhig die Hände ineinander. »Das ist ausgeschlossen, Herr Arundsen, und das wissen Sie auch ganz genau. Vertrag ist Vertrag, und ich bin ein viel zu guter Geschäftsmann, als daß ich einen Vertrag ohne weiteres annullieren würde, nachdem die Lieferung bereits erfolgt ist.«
»Sie sagten, es sei vorläufig nur zu einer ersten Lieferung gekommen! Ich werde die anderen Maschinen, die ich noch nicht erhalten habe, nicht abnehmen!«
»Die Maschinen sind bereits unterwegs«, antwortete Greve kühl.
»Ich habe von diesem Geschäft nichts gewußt«, murmelte Rainhart verzweifelt.
»Das kann ich Ihnen nur schwer glauben. Sind Sie der Herr auf Gut Arundsen – oder nicht?« Aus seiner Miene sprach spöttische Herausforderung.
Rainhart sprang auf. »Ja, ich bin der Herr auf dem Gut, aber ich war monatelang fort. Ich habe die gesamte Verwaltung in Birkhains Hände gelegt! Wie konnte ich wissen…«
»Sie haben ihm Vollmachten gegeben«, fiel Greve unbewegt ein. »Über die Konsequenzen mußten Sie sich im klaren sein!«
»Meine Güte, Herr Greve, begreifen Sie mich denn nicht?« brach Rainhart unbeherrscht aus. »Ich habe eine schwerkranke Frau, mit der ich von einem Arzt zum anderen reise! Ich kenne kein anderes Ziel, als meine Frau gesund zu machen! Können Sie sich nicht vorstellen, daß dabei der Gedanke an das Gut in den Hintergrund tritt?«
Greve zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Aufmerksam sah er den jungen Majoratsherrn an. »Ihre persönliche Situation tut mir sehr leid, Herr Arundsen«, sagte er diesmal eine Spur freundlicher, »aber ich kann als Geschäftsmann keine Rücksicht darauf nehmen!
Ich habe sogar meinen Bruder, den ich jahrelang unterstützt habe, aus dem Haus gesetzt, als er kurz vor dem Staatsexamen unbedingt heiraten wollte.« Er sah Arundsen unverwandt an.
Rainhart fühlte einen schmerzhaften Stich. Da war sie wieder, die Vergangenheit, die schon so weit hinter ihm lag! Plötzlich wurde alles wieder gegenwärtig und bedrängte ihn auf unangenehme Weise.
Was wußte Greve über seine Rolle in jener Geschichte?
»Sie haben Ihren Bruder also fallenlassen, nur weil er etwas tat, das nicht in Ihre Pläne paßte?« fragte er scharf.
Greve lächelte nachsichtig. »Ich wollte die akademische Ausbildung meines Bruders finanzieren«, erwiderte er ruhig, »aber nicht seine Torheiten. Er war schwach und willenlos in den Händen jener Frau. Sie bekam ein Kind von ihm.«
»Ihr Bruder hat sie – trotzdem geheiratet?« fragte Rainhart heiser.
»Ja, geheiratet hat er sie, aber kurz darauf wieder verlassen«, gab Greve gleichmütig zurück. »Wahrscheinlich war es das beste für beide. Sie paßten nicht zusammen. Das Kind lebt in einem Heim. Kathinka hat sich von meinem Bruder scheiden lassen.« Greves Blick wurde bohrend. »Sie kannten sie übrigens auch, nicht wahr? Sie erwähnte es einmal…«
»Kathinka?« wiederholte er langsam, als müßte er erst allmählich die Zusammenhänge begreifen. »Ja, ich kannte sie – allerdings nur flüchtig…« Er brach ab.
»Sie besucht uns jetzt manchmal«, fuhr Greve fort. »Seit sie nicht mehr die Frau meines Bruders ist, verstehen wir uns besser mit ihr.«
»Was macht sie?« fragte Rainer.
»Kathinka leitet einen Modesalon«, erwiderte Greve. »Wenn Sie Wert darauf legen, kann ich ihr einen Gruß von Ihnen bestellen!« Es klang herausfordernd.
»Nein, es ist nicht nötig«, wehrte Rainhart ab, denn er hatte im Hintergrund eine Tür klappen hören.
Als er sich umwandte, sah er Ulrike im Türbogen zum Nebenzimmer stehen. Sie war ungewöhnlich blaß, und ihre Lippen bebten.
»Störe ich?« fragte sie mit einer Stimme, die Rainhart erschrecken ließ.
»Ich habe gerade eine geschäftliche Besprechung mit Herrn Greve, Ulrike«, sagte er hastig, um seiner Verwirrung Herr zu werden.
Ulrike kam zögernd näher.
Rainhart machte sie mit Greve bekannt.
»Es handelt sich um einen Vertrag über den Kauf landwirtschaftlicher Maschinen«, erklärte Greve höflich, während Ulrike unschlüssig neben dem Tisch stehenblieb.
»Ich störe also doch?« fragte sie. »Soll ich wieder gehen?«
»Ich glaube, es wäre besser, du würdest dich noch eine Weile hinlegen«, erwiderte Rainer rasch.
Ulrike sah ihn stumm an, dann nickte sie Greve kurz zu und entfernte sich zögernd.
»Bitte, entschuldigen Sie mich«, sagte Rainhart, zu Greve gewandt. Er legte einen Arm um Ulrikes Schultern und geleitete sie zur Tür. Dabei fühlte er den leichten Widerstand ihres Körpers gegen seine Berührung. Am liebsten wäre er ihr gefolgt und hätte sich sofort mit ihr über alles Bedrückende ausgesprochen.
Aber Greve saß immer noch wachsam in seinem Sessel und verfolgte den Gutsherrn mit einem aufmerksamen Blick.
»Kommen wir wieder zum Geschäft, Herr Arundsen«, sagte er, als Rainer zurückkam. »Wann zahlen Sie?«
»Ich werde die Maschinen wieder verkaufen, wenn Sie nicht von dem Vertrag zurücktreten!« entgegnete Rainhart. »Dann bekommen Sie Ihr Geld!«
»Was Sie mit den Maschinen machen, wenn Sie sie bezahlt haben, ist Ihre Sache. Aber solange Sie die finanziellen Verpflichtungen des Vertrags noch nicht erfüllt haben, bleiben die Maschinen mein Eigentum. Sie dürfen sie also nicht veräußern!«
»Ich weiß«, antwortete Arundsen hart. »Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Greve! Sie werden Ihr Geld bekommen! Und wenn ich das Gut vorher verkaufen müßte! Von den Arundsens hat noch keiner unehrenhafte Schulden gemacht!«
Greve erhob sich. »Ich verlasse mich auf Ihr Wort, Herr Arundsen!« sagte er. »Ich gebe Ihnen noch vier Wochen Frist. Das ist ein sehr großzügiges Entgegenkommen. Ich hoffe, Sie sind sich darüber im klaren!«
*
Ulrike hatte Trudi aus dem Kinderzimmer geschickt, damit das Mädchen ihre Erregung nicht bemerken sollte. Mit einem verzweifelten Aufschluchzen kniete Ulrike neben dem Ställchen ihres kleinen Sohnes nieder.
»Mein Liebling!« stammelte sie unter Tränen. »Mein Herzblatt!« Sie zog den Buben zu sich heran. Mit wilder Zärtlichkeit umarmte sie den kleinen Kinderkörper. »Er denkt immer noch an sie!« schluchzte Ulrike. »Er hat mit diesem fremden Mann von Kathinka gesprochen! Er hat sie also nicht vergessen!« Sie preßte ihre tränenfeuchte Wange gegen Klein-Alexanders Gesicht. »Alles war ein Irrtum! Ich dachte, er liebt mich wirklich, aber jetzt weiß ich, daß es eine fromme Lüge war! Er ist niemals von Kathinka losgekommen!« Ihre Worte erstickten in hemmungslosem Schluchzen.
Für sie war in diesen Minuten eine Welt zusammengebrochen, und sie hatte in ihrer Schwäche diesen inneren Anfechtungen keinerlei Widerstand entgegenzusetzen.
Endlich hob sie das tränenüberströmte Gesicht. Mit letzter Kraft hob sie Alexander aus dem Ställchen. Er schlang zärtlich die Arme um den Hals seiner Mutter und plapperte in den unverständlichen Lauten seiner Kleinkindersprache munter drauflos.
Ulrike setzte sich auf einen Stuhl und nahm den Kleinen auf den Schoß.
Wie soll es nun weitergehen? dachte sie. Rainhart ist verändert, seit wir vor einigen Tagen aus der Stadt zurückgekommen sind. Ich habe es nur nicht wahrhaben wollen…
Wieder liefen Tränen über ihre Wangen.
Alexander patschte mit den Händen in Ulrikes Gesicht und jauchzte dabei fröhlich.
Zum erstenmal ließ sie sich von der unbekümmerten Freude des Kindes nicht aufheitern. Die unerwartete Erkenntnis ihrer eigenen Ohnmacht hatte sie zu tief getroffen.
Nach einer Weile erhob sie sich und ging zum Fenster.
Warum kommt er nicht? fragte sie sich. Der Besucher ist doch längst gegangen…
Sie hatte die Tür schlagen hören und gehofft, daß Rainhart heraufkommen und alles erklären würde. Vielleicht hatte sie sich diese düstere Vermutung auch nur eingebildet…
Aber er war nicht gekommen. Minute um Minute verrann, und Ulrike saß in verzweifelter Mutlosigkeit im Kinderzimmer.
Ihr Herz schlug schneller, als sie Rainhart plötzlich mit raschen Schritten über den Hof kommen sah.
Rainharts Miene war düster, die Lippen fest aufeinandergepreßt, und es ging eine unheilvolle Bedrohung von ihm aus.
Sie bekam plötzlich Angst vor dem Mann, den sie mehr liebte als ihr Leben. Dennoch überwand sie sich. Energisch wischte sie die Tränen ab und zog die Gardine zurück.
»Schau, da unten ist der Papi!« sagte sie zu ihrem Söhnchen und wies auf den Hof hinunter.
Alexander stieß einen hellen Freudenlaut aus, während er beide Ärmchen weit ausstreckte und sich vorbeugte.
»Wollen wir mal rufen?« fragte sie, während ihre Stimme verräterisch zitterte. »Papi!« rief sie laut und beobachtete Rainharts Reaktion. »Papi!«
Rainhart, der mit einem der Leute von den Stallungen sprach, machte eine ungeduldige Handbewegung. Dann wandte er sich um und sah zu ihnen hinauf.
»Mach das Fenster zu!« rief er hinauf. »Der Kleine erkältet sich und du auch!« Kein Lächeln, kein froher Gruß, kein vertrauensvolles Zunicken, wie Ulrike es insgeheim zitternd erwartet hatte!
Wie betäubt trat sie zurück und schloß das Fenster. Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich an den Fensterrahmen.
Er liebt mich nicht! dachte sie. Er hat mich nie geliebt! Warum ist er so ablehnend und finster? Weshalb ist er nicht, wie sonst, zu mir heraufgekommen?
Kraftlos ließ sie den Kleinen wieder in das Ställchen gleiten und beobachtete mit schwimmendem Blick, wie Alexander sich auf seinen Stoffhund stürzte und ihn innig an sich preßte.
Ich habe niemanden! dachte Ulrike. Auch mein Kind gehört mir nicht so, wie es einer Mutter gehören sollte. Ich muß mein Söhnchen mit einem Kindermädchen teilen!
*
Von diesem Tag an verschlechterte sich ihr Zustand beträchtlich. Sie versuchte, es vor ihrer Umgebung zu verheimlichen, doch es fiel allen auf, daß sie kaum mehr ihr Zimmer verließ und nur zu den gemeinsamen Mahlzeiten ins Wohnzimmer hinunterkam.
»Ich fahre heute nachmittag in die Stadt«, sagte Rainhart eines Morgens beim Frühstück. »Ich habe wichtige Dinge zu erledigen.« Er sah nicht auf, und deshalb bemerkte er auch nicht Ulrikes Zusammenzucken.
»Was willst du in der Stadt?« fragte sie mit heiserer Stimme.
»Ich sagte doch, ich habe wichtige Dinge zu erledigen«, antwortete er gereizt.
Sie darf die Wahrheit nicht erfahren! dachte er. Wenn sie wüßte, wie hoch die Schuldenlast bereits ist, hätte sie keinen ruhigen Tag mehr. Und sie muß unbedingt wieder in ärztliche Behandlung. Alle Krankheitssymptome sind in der letzten Zeit wieder aufgetreten.
»Was für wichtige Dinge?« Ulrike ließ nicht locker.
»Wirtschaftsverhandlungen, Ulrike«, gab er einsilbig zurück.
»Warum kann Birkhain das nicht machen?«
Er zögerte mit der Antwort. Unsicher blickte er auf und begegnete ihren aufmerksamen Augen, die ihn nicht losließen. »Du hast es wohl noch nicht bemerkt, daß ich Birkhain entlassen habe«, sagte er schroff.
Der Löffel, mit dem Ulrike in ihrem Kaffee rührte, entfiel ihrer Hand. »Du – du hast Birkhain entlassen?«
Er nickte wortlos.
»Warum?« fragte Ulrike fassungslos.
»Ich – ich brauche ihn nicht mehr«, erwiderte er hastig, und es war unverkennbar, daß er nach einer Ausrede suchte. »Ich kann die Arbeit gut allein machen. Es ist Luxus, einen Verwalter zu beschäftigen!«
»Sind wir so arm?« fragte sie mit bitterem Spott, ohne zu wissen, wie nahe sie der Wahrheit war.
»Vielleicht«, gab er unbestimmt zurück.
Ulrike schob energisch die Kaffeetasse beiseite. »Sag mir, weshalb du Birkhain wirklich entlassen hast!«
»Ich war mit seiner Arbeit während der Zeit meiner Abwesenheit nicht zufrieden. Genügt dir das?«
Ulrike kämpfte mit den Tränen. Es gab keinen Zweifel mehr – sie hatte ihn verloren! Er liebte sie nicht, alle seine Gedanken galten Kathinka. Wahrscheinlich fuhr er heute in die Stadt, um sich mit ihr zu treffen!
Vor Ulrikes Augen tanzten rote Kreise. Hastig erhob sie sich. »Ich… ich will rasch nach dem Kleinen sehen«, sagte sie atemlos. »Mir war, als wenn er eben geschrien hätte!«
Rainhart wollte sie zurückhalten. »Trudi ist oben«, erwiderte er. »Sie soll sich um das Kind kümmern!«
Ulrike riß sich los. »Nein – ich möchte lieber selbst nach ihm sehen!« antwortete sie erregt und lief mit schwankenden Schritten zur Tür.
In der Halle konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Mit größter Anstrengung stieg sie die Treppen hinauf.
Oben angekommen, ging sie nicht, wie sie vorgegeben hatte, ins Kinderzimmer, sondern schloß sich in ihrem Zimmer ein, um endlich ihren angstvoll zurückgehaltenen Tränen freien Lauf zu lassen.
*
Rainhart hatte bei der Verabschiedung zu Ulrike gesagt, daß er möglicherweise über Nacht in der Stadt bleiben würde, und sie hatte ihn dabei mit versteinerter Miene angesehen. Er hatte Angst um sie bekommen, und seine Sorgen waren schlimmer als vorher geworden.
Heute muß es sich entscheiden! sagte er sich in diesem Moment, während er Ulrike einen flüchtigen Kuß auf die Wange gab, den sie nur widerstrebend erduldete.
Als er jetzt inmitten des dichten Stadtverkehrs aus seinem Auto stieg, stand sein Entschluß fest.
Hastig überquerte er die Straße und betrat das Hotel, in dem er schon oft gewohnt hatte, wenn er Ulrike zu den jeweiligen Arzt- oder Krankenhausbesuchen begleitet hatte.
Er bestellte ein Zimmer, und dann meldete er das Ferngespräch nach Paris an.
»Wollen Sie im Foyer bleiben, oder soll ich Ihnen das Gespräch in Ihr Zimmer stellen lassen, wenn Paris sich meldet?«
»Ich werde im Zimmer warten. Bitte, schicken Sie mir einen kleinen Imbiß und einen Whisky-Soda hinauf.«
»Wird gemacht, Herr Arundsen.«
Rainhart packte seinen kleinen Koffer nicht aus, sondern warf ihn achtlos auf das Bett. Er zog einen kleinen Block aus seiner Jackentasche und suchte nach den Telefonnummern, die er sich notiert hatte. Einen nach dem anderen rief er an.
Dann bemühte er sich telefonisch um den Verkauf des Waldstreifens, der ihm am meisten Geld einbringen würde.
Mit zwei der bekanntesten Makler vereinbarte er für den nächsten Morgen Besprechungstermine. Danach schloß er aufseufzend die Augen. Vielleicht wird doch noch alles gut! dachte er.
An Greve waren noch zwanzigtausend Euro zu zahlen, die Steuer war im nächsten Monat mit einer hohen Summe fällig, und mit den Hypothekenzinsen war er seit drei Monaten im Verzug…
Ihn schwindelte.
Wie soll es weitergehen? fragte er sich, Ulrike mußte wieder in ärztliche Behandlung, und diesmal wollte er sie zu dem prominentesten Arzt schicken, den es auf diesem Gebiet gab.
Gedankenlos aß er von dem Imbiß, den man ihm gebracht hatte, während er unablässig auf die Uhr sah.
Die Zeit wollte nicht vergehen.
Endlich schrillte das Telefon.
Wie elektrisiert sprang Rainhart auf und hob den Hörer ab.
»Ihre Anmeldung Paris, Herr Arundsen«, sagte der Rezeptionist.
»Hallo – hallo?« Rainers Stimme war heiser vor Erregung.
Dann meldete sich das Fräulein vom Amt. »Hier ist Paris, bitte sprechen Sie!«
Danach kam eine andere Stimme: »Ici Paris – voulez-vous parler!«
Rainhart Arundsen war so aufgeregt, daß er in dem Summen und Schwirren, das ihm aus der Leitung entgegendrang, fast die leise Stimme des Mannes überhört hätte, auf die er so sehnsüchtig gewartet hatte.
»Hier spricht Deval«, sagte der andere in französischer Sprache. »Ist dort Monsieur Arundsen?«
»Ja! Sie haben meinen Brief bekommen, Herr Professor?«
»Ich habe ihn gelesen…« Er zögerte.
»Würden Sie meine Frau in Ihrer Klinik behandelt?«
»Selbstverständlich! Ich wollte Ihnen schreiben, aber da Sie erwähnten, daß Sie anrufen wollten, habe ich mit meinem Brief gewartet.«
»Haben Sie Hoffnung, Herr Professor? Sie haben die Krankengeschichte eingesehen, Sie haben alle Gutachten über den Gesundheitszustand meiner Frau gelesen. Glauben Sie, daß es eine Rettung für sie gibt?«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung war warm und voll herzlichen Mitgefühls. »Ich sage niemals nein, Herr Arundsen. Wie könnte ich auch! Bis zuletzt glaube ich an Heilung, selbst wenn dieser Glaube an Vermessenheit grenzt! Nur so können wir manchmal ein kleines Wunder vollbringen!«
»Ich danke Ihnen, Herr Professor. Wann kann ich mit meiner Frau kommen?«
»Wenn Sie wollen, sofort.«
Deval räusperte sich. »Schicken Sie ein Telegramm, wann Sie in Paris eintreffen werden?«
»Ich verspreche es Ihnen. Sie haben in Ihrer Klinik in jedem Fall Platz für meine Frau?«
»Ja, Herr Arundsen. Ich erwarte Sie!«
*
Auch in Paris war es noch nicht Frühling.
Ulrike ging fröstelnd neben Rainhart einher, schweigsam geradeaus blickend. »Ich wäre lieber daheim geblieben«, sagte sie. »Daheim bei meinem kleinen Buben.«
»Du weißt, daß du dich wieder in ärztliche Behandlung begeben mußt«, erwiderte Rainhart und drückte liebevoll ihre Hand.
Sie erwiderte seinen Händedruck nicht. Sie war überhaupt in der letzten Zeit von einer seltsamen Starre, die ihn erschreckte. »Die Behandlung bei Doktor Langeloh hätte genügt«, sagte sie gleichgültig.
»Langeloh mag ein ausgezeichneter Landarzt sei, aber mit deiner schwierigen Krankheit wird er nicht fertig«, gab Rainhart hastig zurück. »Das haben wir doch gesehen!«
Ulrike verhielt den Schritt, als sie vor der Klinik Professor Devals anlangten. »Hier soll ich also bleiben?« fragte sie furchtsam und blickte an dem schmucklosen Gebäude empor.
Plötzlich riß sie sich los und sah ihn mit brennenden Augen an. »Was soll das alles?« fragte sie bebend. »Ich will nicht mehr! Von einem Krankenhaus bringst du mich ins andere! Immer neue Ärzte, neue Behandlungsmethoden! Keiner weiß angeblich, was mir fehlt, aber alle experimentieren mit mir. Ich will nicht mehr! Ich will nach Hause zu meinem Kind!«
Rainhart legte liebevoll den Arm um sie. »Ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte er verständnisvoll.
Sie sah ihn wild an. »Nein, das weißt du nicht! Wie kannst du ahnen, was in mir vorgeht, wenn ich immer wieder fortgeschickt werde, um mein Leben in Krankenhäusern zu verbringen! Ich hasse die Kliniken mit ihren weißen Betten, den antiseptischen Schwestern und den kühlen, intelligenten Ärzten, die doch so machtlos sind! Lieber will ich früher sterben, als ewig das Opfer ihrer fruchtlosen Versuche zu sein! Warum läßt du mich nicht sterben! Wäre das nicht viel einfacher für dich?«
Er legte beschwörend die Hände auf ihre Schultern. »Ully, du weißt nicht mehr, was du sagst! Bitte, beruhige dich!«
Er wollte nicht zugeben, daß ihn ihre Worte so stark erschütterten, daß er ihr hilflos gegenüberstand.
»Ich habe ein Kind«, sagte Ulrike jetzt leise und mit Schluchzen in der Stimme, »ein Kind, das die Mutter braucht. Aber ich bin nie bei meinem Söhnchen! Es wird von Fremden behütet und großgezogen!« Sie hob den Kopf und blickte Rainhart vorwurfsvoll an. »Warum läßt du mich nicht bei unserem Kind? Ich werde ja doch niemals ein gesunder Mensch werden!«
Rainhart strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und suchte verzweifelt nach Worten, mit denen er sie beruhigen könnte. »Komm, Liebes, wir werden später noch einmal darüber sprechen, wenn Professor Deval dich untersucht hat.«
Willenlos ließ sie sich von Rainhart in die Klinik führen. Schweigend stand sie neben ihm, als er mit der Schwester in der Anmeldung sprach, und ohne ein weiteres Wort folgte sie ihm durch den langen Gang bis zum Lift, der sie in die zweite Etage brachte, wo Professor Deval auf sie wartete.
Und dann standen sie vor der Tür, hinter der sie den berühmten Professor wußten.
»Keine Angst, mein Liebes«, flüsterte Rainhart zärtlich.
Als der kleine weißhaarige Mann auf sie zukam und ihr beide Hände entgegenstreckte, löste sich Ulrikes versteinertes Gesicht. Ein verlorenes Lächeln flog über ihre Züge. »Sie sind Professor Deval?« fragte sie mit dünner Stimme.
Der Mann in dem weißen Kittel nickte mit einem gütigen Lächeln.
»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte er sanft.
Ulrike seufzte ein wenig und schloß einen winzigen Moment die Augen, während sie mit beiden Händen die Rechte des Professors ergriff. »Jetzt habe ich keine Angst mehr«, flüsterte sie und sah dem Professor in die Augen, die hinter randlosen Brillengläsern aufmerksam auf sie gerichtet waren. »Zu Ihnen habe ich Vertrauen. Ich weiß, Sie werden mir helfen!«
*
Rainhart ging mit Ulrike durch den Krankenhauspark. Verstohlen betrachtete er von der Seite ihr fieberhaft gerötetes Gesicht. Er wußte, daß sich ihr Zustand in den beiden letzten Tagen wieder verschlimmert hatte, und deshalb fiel es ihm doppelt schwer, ihr die Eröffnung zu machen, die sich nun nicht länger aufschieben ließ.
»Ich muß nächste Woche nach Deutschland zurückfahren, Ully«, sagte er und hielt ihre Hand fest in der seinen.
»So?« sagte sie, und es klang, als wäre es ihr gleichgültig. »Wann?«
»Ende der Woche spätestens. Ich werde dringend auf dem Gut gebraucht.« Er hätte es ihr gern deutlicher erklärt, aber eine uneingestandene Scheu hielt ihn davon ab, ihr seine zerrüttete Finanzlage zu gestehen. »Bist du enttäuscht?« Angstvoll sah er sie an.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich konnte mir denken, daß du früher zurückfahren würdest.«
»Eigentlich wollte ich länger bleiben«, sagte er gequält, und der Trennungsschmerz, vor dem er sich jetzt schon fürchtete, legte sich in dumpfer Beklemmung auf sein Herz.
Ulrike lächelte mit trauriger Resignation. »Was solltest du auch hier bei einer kranken Frau, die dir nichts geben kann außer den Anblick ihres Leidens!«
Er preßte verzweifelt ihre Hand. »Bitte, sprich nicht so, Ulrike!« sagte er heiser. »Du ahnst nicht, wie schwer es mir fällt, fortzufahren!«
»Wirklich?«
Er blieb stehen und faßte sie mit sanftem Griff bei den Schultern. Forschend blickte er in ihr Gesicht. »Ulrike, was hast du?« fragte er drängend. »Irgend etwas steht zwischen uns – eine geraume Zeit schon. Ich spüre es, aber ich kann es mir nicht erklären. Habe ich dir Grund zur Klage gegeben? Bist du mir böse, Ulrike?«
»Ich bin dir nicht böse«, erwiderte sie leise und senkte den Kopf.
Sie kämpfte mit sich, ob sie über ihre dunklen Vermutungen mit ihm sprechen sollte, ob sie ihm sagen sollte, daß sie das Gespräch, das er mit Greve über Kathinka geführt hatte, zum Teil mitgehört hatte. Aber was würde es nützen? Nie würde er zugeben, daß er diese andere Frau tatsächlich noch liebte. Er würde sie belügen, und diese Lüge würde noch mehr schmerzen als das geheime Bewußtsein, ihn verloren zu haben.
Sie weiß etwas! dachte Rainhart. Von der Verschuldung des Gutes und dem drohenden Ruin kann sie nichts ahnen, weil sie sich nie um die Wirtschaftslage gekümmert und keine Einsicht in die Unterlagen gehabt hat. Aber sie ahnt die Wahrheit über ihre Krankheit! Wer mag es ihr gesagt haben?
»Ulrike, warum bist du mir gegenüber nicht aufrichtig?« sprach er weiter. »Sag mir, was dich bedrückt!«
Sie wandte sich ab. »Du kannst mir auch nicht helfen!« antwortete sie erstickt. »Professor Deval ist der einzige, der es vielleicht noch kann!«
Rainharts Herzschlag stockte. Sie weiß es! dachte er. Es gibt keinen Zweifel mehr: Sie weiß es!
Jetzt wird sie mich fragen, ob es bei Krebs, der so weit fortgeschritten ist, überhaupt noch Heilung gibt! dachte er in panischer Angst, und er überlegte sich krampfhaft, was er ihr antworten sollte.
Doch Ulrike schwieg. Mit zögernden Schritten setzte sie ihren Spaziergang durch den Garten fort. »Wer weiß, wie lange er mich hier behält«, sagte sie nur.
»Du wirst so lange in der Klinik bleiben, bis du wirklich gesund bist!«
»Und wenn ich vorher an Heimweh sterbe?« fragte sie mit einem verlorenen Lächeln.
Rainhart sah, daß ihre Augen feucht geworden waren. »Ich komme sobald wie möglich wieder nach Paris«, versprach er.
»Aber unseren kleinen Alexander werde ich all die Wochen nicht sehen können!«
»Damit mußt du dich abfinden, Ully«, erwiderte er sanft. »Dafür wird dann das Heimkommen nach deiner völligen Genesung um so schöner sein!«
Lieber Gott, laß sie gesund werden, betete er in diesem Moment voll Inbrunst, und er wußte nicht, wie oft er diesen Stoßseufzer schon zum Himmel geschickt hatte.
*
Rainhart Arundsen saß über den Wirtschaftsbüchern und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Verzweifelt starrte er auf die Zahlenreihen, die ihm seine stetig anwachsenden Schuldverpflichtungen vor Augen führten.
Er wußte keinen Ausweg mehr.
In ein oder zwei Jahren wird mir das Gut nicht mehr gehören! dachte er niedergeschlagen.
»Was soll ich tun?« murmelte er.
Rainhart erhob sich mit einem Seufzer und öffnete das Fenster.
Seine Gedanken eilten zu Ulrike, die immer noch in Paris in der Klinik Professor Devals lag.
Geliebte, einzige Ulrike, du mußt gesund werden! dachte Rainhart voll sehnenden Schmerzes. Ich liebe dich – ich brauche dich!
Mit schweren Schritten ging er zum Schreibtisch zurück.
Aus der Halle erklangen laute Stimmen, die ihn einen Augenblick von seinen Gedanken ablenkten.
Johanna sprach erregt auf eine Frau ein, deren Stimme Rainhart nur undeutlich vernehmen konnte.
Einen Augenblick später wurde die Tür zu seinem Arbeitszimmer aufgerissen.
Unwillig über die Störung blickte er auf.
In der Tür stand Kathinka!
»Sie wollte mich nicht zu dir lassen!« sagte sie mit zornig geröteten Wangen und kam mit einer Selbstverständlichkeit näher, als ginge sie noch heute auf dem Gut aus und ein.
Johanna war einen Schritt hinter Kathinka zurückgeblieben und machte eine hilflose Gebärde.
Kathinka schlug hinter sich die Tür zu. Ihre Augen glänzten in einem wilden Feuer, als sie Rainhart brennend ansah.
»Endlich!« murmelte sie und blieb wenige Schritte vor ihm stehen.
Er hatte sich noch nicht von seiner Verblüffung erholt. »Was willst du?« fragte er rauh.
»Dich sehen! Mit dir sprechen!«
»Nach allem, was du mir angetan hast, wagst du, wieder hier zu erscheinen? Ja, du schreckst nicht einmal vor der Tatsache zurück, daß ich verheiratet bin – glücklich verheiratet!« Seine Empörung kannte keine Grenzen.
»Glücklich?« wiederholte sie ironisch. »Deine Frau ist krank – todkrank, wie ich weiß. Sie hat nicht mehr lange zu leben. Dann bist du endlich frei – frei für mich!«
Er holte aus zum Schlag, doch im letzten Moment beherrschte er sich. »Geh!« sagte er leise mit dunkler Drohung. »Geh – ehe ich dich hinauswerfe!«
»Du wirst mich nicht hinauswerfen, denn ich weiß, daß du mich begehrst!« Sie wollte die Hände auf seine Schultern legen, doch er faßte sie hart am Handgelenk und stieß sie zurück.
»Ich liebe dich nicht und begehre dich auch nicht! Ich wünsche nicht, dir jemals wieder zu begegnen! Hast du mich verstanden?«
»Was willst du machen, wenn deine Frau stirbt? Willst du ewig einsam bleiben und den trauernden Witwer spielen?« Sie lachte höhnisch auf. »Das ist eine Rolle, die dir nicht steht! Du brauchst Liebe – du brauchst eine Frau! Meinst du, ich wüßte das nicht? Du brauchst mich!«
»Schweig!« herrschte Rainhart sie an. »Kein Wort weiter – oder ich vergesse mich!«
»Du hast Angst vor mir, nicht wahr?« murmelte sie leise. »Du spürst, daß du mir nicht mehr lange widerstehen kannst! Jahrelang hast du von diesem Augenblick geträumt, in dem du mich endlich besitzen wirst! Du hast dich vor Sehnsucht verzehrt, und aus verzweifeltem Trotz, weil du mich damals nicht bekommen konntest, hast du eine andere Frau geheiratet! Ein hilfloses, krankes Geschöpf, bei dem du weder Liebe noch Leidenschaft gefunden hast!«
»Ich habe bei meiner Frau alles gefunden, was ein Mann sich wünschen kann!« antwortete Rainhart mit leidenschaftlicher Erregung. Er sprach laut, und es war ihm gleichgültig, ob jemand diese Auseinandersetzung mit anhören konnte. »Ich liebe meine Frau!« fuhr er fort. »Sie bedeutet mir mehr als mein Leben – sie ist für mich das Glück und der Inhalt meines Daseins!«
Rainhart war so erregt, daß er das laute Klopfen an der Tür überhört hatte. Er wurde erst aufmerksam, als die Tür geräuschvoll geöffnet wurde und Konrad Eckhoff hastig eintrat.
»Verzeihung, wenn ich störe«, sagte er atemlos und warf einen raschen Blick auf Kathinka. »Ich mußte dich unbedingt sprechen!«
Kathinka starrte dem unerwarteten Besucher haßerfüllt entgegen. »Ich habe gerade eine wichtige Auseinandersetzung mit Herrn Arundsen, bei der ich gern mit ihm allein wäre!«
»Bedaure«, erwiderte Rainhart Arundsen, »den Wunsch kann ich dir nicht erfüllen, Kathinka! Das ist Herr Eckhoff, mein Schwiegervater, den ich bitte, unserem Gespräch beizuwohnen, damit keinerlei Mißverständnisse entstehen!« Er sah Kathinka durchdringend an. Dann wandte er sich an Eckhoff, der kaum seine Verwirrung verbergen konnte. »Vater, das ist Kathinka Greve, die mich heute überraschend aufgesucht hat, um mir einzureden, daß ich sie immer noch liebe!« Kalt und schneidend kamen die Worte von seinen Lippen.
»Rainhart!« rief Kathinka empört aus. »Wie kannst du es wagen…«
»Ich habe vor meinem Schwiegervater keine Geheimnisse«, entgegnete Rainhart zornentbrannt.
»Was wollen Sie von meinem Schwiegersohn?« fragte Eckhoff heiser, während sein durchdringender Blick sich auf Kathinka heftete.
»Sie wollte mir begreiflich machen, daß sie die richtige Frau für mich wäre«, erklärte Rainhart in schneidendem Ton. »Und ich habe sie eben hinausgewiesen, doch sie wollte nicht gehen.«
Er wandte sich zu Eckhoff um. »Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, Frau Greve zum Verlassen meines Gutes zu bewegen!«
Kathinka war fassungslos über die ungeheure Demütigung, die Rainhart ihr zufügte. Ihr Blick loderte vor Zorn und Empörung. »Das das wirst du mir büßen!« flüsterte sie heiser. Nach einer Sekunde der Erstarrung warf sie den Kopf zurück und eilte mit hastigen Schritten zur Tür.
Rainhart machte keine Anstalten, sie zu begleiten. Fassungslos sah er ihr nach. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen war, strich er sich aufstöhnend über die Stirn, als müßte er das Bild, das sich ihm wie ein böser Traum eingeprägt hatte, hinwegwischen.
Konrad Eckhoff faßte sich als erster. »Es muß ziemlich schlimm gewesen sein«, sagte er langsam. »Ich habe noch nie erlebt, daß du dich so vergessen konntest!«
Rainhart wandte sich langsam zu dem Schwiegervater um und blickte in seine verständnisvollen Augen. »Es war wirklich sehr schlimm«, entgegnete er leise. Mit einem Seufzer ließ er sich in einen Sessel fallen.
Eckhoff setzte sich ihm gegenüber und wartete. Er wollte nicht durch voreilige Fragen in ihn dringen.
Nach einer Weile begann Rainhart zu erzählen. Er schilderte die ganze Szene, die er eben mit Kathinka erlebt hatte. »Ich sehe es als eine Fügung des Schicksals an, daß du gekommen bist«, sagte er dankbar. »Wahrscheinlich hätte ich sie geschlagen, und hinterher hätte ich mich geschämt. Aber sie hat mich bis aufs äußerste gereizt. Kannst du das verstehen?«
Eckhoff nickte. »Es ist mir unverständlich, wie eine Frau sich so erniedrigen kann!«
»Kathinka lebt nach ihren eigenen Gesetzen«, antwortete Rainhart düster. »Ich hoffe, sie wird nie wiederkommen!«
»Das glaube ich nicht«, meinte Eckhoff mit bitterem Spott.
Eine Weile schwiegen sie beide.
Dann sagte Eckhoff: »Ich hatte eigentlich einen wichtigen Grund für meinen Besuch.«
Rainhart hob gespannt den Blick.
»Ich habe gehört, du willst das Waldstück am Hügelkamm verkaufen?« fuhr Eckhoff fort. »Ist das wahr?«
»Ja, es ist wahr«, gab Rainhart bedrückt zurück.
»Warum? Es ist dein bestes Waldland!«
»Ich will mich verkleinern!«
»Du hast mir immer noch nicht den Grund gesagt!« Eckhoffs durchdringender Blick ließ den Schwiegersohn nicht los.
»Ich brauche Geld«, antwortete Rainhart.
Eckhoff nickte bedächtig. »Ich dachte es mir«, sagte er breit. »Wieviel brauchst du?«
Rainhart lachte trocken auf. »Viel – sehr viel…«
»Wieviel genau?«
»Ich kann dir die Summe nicht nennen!«
»Warum nicht! Ist sie so hoch?«
»Ja.« Der Majoratsherr senkte den Kopf.
»Du wirst das Waldstück nicht verkaufen.«, sagte Eckhoff kurz und bündig. »Ich werde dir das Geld, was du als Kaufpreis bekommen hättest, geben.«
»Das kann ich nicht annehmen!« fuhr Rainhart auf. »Ich brauche deine Hilfe nicht, Vater! Ich muß allein mit den Schwierigkeiten fertig werden!« Er war zu stolz, um seine wirtschaftliche Niederlage zuzugeben.
»Willst du lieber Schulden machen? Ich will nicht, daß meine Tochter auf einem verschuldeten Besitz lebt!« Er erhob sich. »Wir wollen jetzt nicht mehr davon sprechen. In den nächsten Tagen schicke ich dir den Scheck, und wehe dir, du läßt ihn zurückgehen!«
*
Es war ein strahlender Sommertag, als Ulrike nach Hause zurückkehrte.
Trudi stand mit Klein-Alexander vor dem Portal des Wohnhauses und winkte, als der Wagen vorfuhr.
Ulrike kamen die Tränen, während sie auf ihr Söhnchen zuging und den Kleinen, der die Ärmchen nach ihr ausstreckte, emporhob.
»Mein Liebling!« flüsterte sie erstickt. »Mein geliebter kleiner Sohn! Daß ich dich endlich wiederhabe! Ich habe solche Sehnsucht nach dir gehabt!« Voll zärtlicher Liebe herzte und küßte sie den Kleinen, der aufgeregt jauchzte und sich bei Ulrike festklammerte.
Rainhart stand unbeholfen daneben. Sein Herz war voll jubelnder Freude, weil er Ulrike nun wieder nach Hause holen durfte, und er wünschte und hoffte inständig, daß die geliebte Frau nun wirklich ganz gesund werden würde.
»In vier oder fünf Wochen komme ich nach Deutschland«, hatte Professor Deval beim Abschied gesagt. »Dann werde ich Ihre Frau noch einmal untersuchen, und ich kann dann erst mit Sicherheit feststellen, ob die Besserung eine endgültige ist.«
So glücklich Rainer war, Ulrike wieder bei sich zu haben, so groß war auch seine Angst vor diesen Wochen, in denen er auf die letzte schwerwiegende Entscheidung warten mußte.
Und wenn alles nichts genutzt hat? dachte er. Wenn das ganze Leiden wieder von vorn beginnt?
Sei dankbar für jeden Tag – für jede Stunde! mahnte eine innere Stimme, und er nahm sich vor, dieser Stimme Folge zu leisten.
»Wie groß er geworden ist!« sagte Ulrike und stellte ihren kleinen Sohn wieder auf die Erde. »Schau nur, Rainhart, er kann schon ganz allein stehen!« Zärtlich strich sie dem Kleinen über das hellbraune Haar.
Alexander streckte seine Ärmchen aus und sagte: »Mama!« und dann noch einmal: »Mama!«
Ulrike war fassungslos vor Glück und freudigem Staunen. »Alexander!« rief sie überwältigt aus, während Tränen in ihre Augen schossen. »Mein kleiner Alexander! Das war die schönste Begrüßung, die du deiner Mami bereiten konntest!«
»Mama!« wiederholte der Kleine begeistert, und es schien ihm Spaß zu machen, das neue Wort immer wieder auszusprechen. »Mama! Mama!«
»Ich hab’s ihm beigebracht«, erklärte Trudi stolz. »Ich habe so sehr gehofft, daß er es bis zu Ihrer Rückkehr lernen würde! Seit drei Tagen sagt er es!«
Ulrike kauerte sich nieder, um ihren Liebling noch einmal zu umarmen. In seliger Verzückung hob sie den Blick zu Rainhart. »Du hast mir gar nichts davon verraten!«
Ich wußte es gar nicht! dachte er, doch er sagte: »Es sollte eine Überraschung sein!«
»Die ist euch gelungen!« antwortete Ulrike voll überschwenglicher Freude, und Hand in Hand mit ihrem kleinen Söhnchen betrat sie ihr Heim, dem sie so lange fernbleiben mußte.
*
Die Schatten kamen wieder. Viele bange Fragen beschäftigten Ulrike, wenn sie heimlich die verschlossene Miene ihres Mannes beobachtete.
Sie fühlte, daß immer noch etwas zwischen ihnen stand; und eines Tages kam es zur Katastrophe.
Rainhart war zeitig am Morgen in die Stadt gefahren, um über den Kauf eines neuen Düngemittels zu verhandeln. Er war schon fort, als die Post kam.
Ulrike sah die Briefe und Drucksachen durch, und dann fiel ihr die offene Karte in die Hand.
Ich werde wiederkommen – schon bald werde ich wiederkommen! Kathinka, stand darauf.
Ulrike mußte sich setzen. Ein Schwindel erfaßte sie und ließ ihr Herz in rasendem Rhythmus schlagen.
Ich habe recht gehabt! dachte sie in hilfloser Verzweiflung. Nun halte ich den Beweis in den Händen!
Sie brach nicht zusammen, und es dauerte auch lange, bis endlich die befreienden Tränen kamen.
Dann wußte sie plötzlich, was sie zu tun hatte. Sie ging in ihr Zimmer, packte ein kleines Köfferchen und bestellte sich eine Taxe. Ohne sich von ihrem kleinen Söhnchen zu verabschieden, bestieg sie den Wagen und ließ sich zu ihrem Vater fahren.
*
»Warum hast du nicht schon längst mit mir darüber gesprochen!« sagte Konrad Eckhoff kopfschüttelnd. »Ich hätte dir deine Sorgen sofort nehmen können! Es hat nichts zu bedeuten, Ulrike – wirklich nichts!«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Du willst Rainhart in Schutz nehmen, weil du glaubst, daß mir jede Aufregung schaden könnte! Wenn du wüßtest, wie falsch das ist! Ich will lieber Gewißheit als das ewige Gefühl der Angst und des Zweifels.«
»Hör zu, Ulrike«, sagte er eindringlich. »Ich schwöre dir, daß jedes Wort, das ich sage, wahr ist! Ich war dabei, als Kathinka bei Rainhart war. Ich habe den Ausgang ihres Gesprächs selbst mit angehört! Er hat sie aus dem Haus gewiesen!«
»Ja – nachdem er sich vorher zahllose Male mit ihr getroffen hat! Wahrscheinlich hat er es nur getan, weil du gekommen warst!« Verzweifelt preßte sie ein Taschentuch an die Augen.
»Nein, Ulrike. Ich habe mit der Wirtschafterin gesprochen, als ich das Gut betreten habe. Sie erzählte mir voll Aufregung von dem Besuch Kathinkas, und ich konnte aus ihren Worten unschwer entnehmen, daß es das erste Mal war, daß die beiden sich seit ihrer Trennung wiedersahen. Johanna hat mir in ihrer Erregung die Szene deutlich geschildert, die sich bei Kathinkas Eintreten abgespielt hatte. Noch während ich in der Halle stand, wurden die Stimmen in Rainharts Zimmer laut, daß mir kein Wort der Unterhaltung entging. Ich wurde Zeuge, wie Rainhart Kathinka verbot, sich jemals wieder bei ihm sehen zu lassen.« Er legte Ulrike beide Hände auf die Schultern. »Das ist die Wahrheit, Ulrike. Du mußt Vertrauen zu deinem Mann haben!«
»Als ich in Paris war, habe ich so viel darüber nachgedacht, und allmählich hatte ich keinen Zweifel mehr, daß er sie immer noch liebt!«
»Siehst du, du hast dich selbst in diese Wahnvorstellung hineingesteigert!« sagte Konrad Eckhoff vorwurfsvoll. »Versprichst du mir, daß du alle diese dummen Gedanken ganz schnell vergißt und Rainhart kein Mißtrauen mehr entgegenbringst?«
»Es wäre so schön, wenn ich dir glauben dürfte«, entgegnete Ulrike zitternd.
»Du kannst mir glauben, Ulrike!«
Sie hob den tränenverschleierten Blick zu ihrem Vater auf. »Ist das wahr, Papa?«
»Ja, Ulrike, in solchen Dingen lüge ich nicht. Ich weiß, daß Rainhart dich liebt, wie ein Mann eine Frau nur lieben kann!«
Ein zaghaftes Lächeln blühte in ihrem Gesicht auf. »Dann – ja, dann habe ich ja wirklich keinen Grund mehr, unglücklich zu sein!«
»Nein«, erwiderte er, »das hast du nicht!« Er räusperte sich. »Und wenn du deinen Kummer überwunden hast, fahre ich dich wieder nach Hause zurück, damit niemand etwas von deiner überstürzten Flucht merkt!«
*
Die Worte ihres Vaters hatten Ulrike gutgetan, und doch kam jetzt, da sie allein auf dem Gut zurückgeblieben war, der Zweifel wieder.
Wäre Rainhart bei ihr gewesen und hätte sie sofort mit ihm über alles sprechen können, wäre es ihr gelungen, die bohrende Ungewißheit für immer aus ihrem Herzen zu verbannen.
So aber ging sie ruhelos durch die Zimmer und wartete auf Rainharts Rückkehr, nach dessen Nähe sie sich plötzlich in verzweifeltem Schmerz sehnte.
In seinem Arbeitszimmer blieb sie einen Augenblick zögernd vor seinem Schreibtisch stehen.
Ob diese Karte, die heute früh angekommen war, das erste Lebenszeichen gewesen war, das Kathinka Rainhart schickte?
Vielleicht hatte sie ihm schon öfter geschrieben?
Ulrikes Herz schlug laut und heftig, als sie näher an den Schreibtisch herantrat und die Hand nach der Schublade ausstreckte.
Ehe sie versuchte, sie zu öffnen, zuckte sie noch einmal voll Schauder vor ihrem eigenen Tun zurück. Doch dann warf sie trotzdem den Kopf zurück.
»Ich bin seine Frau«, murmelte sie mit plötzlicher Entschiedenheit, »ich habe ein Recht, alles zu wissen. Eheleute haben keine Geheimnisse voreinander!«
Die Schublade war verschlossen, doch Ulrike fand den Schlüssel in der Bleistiftschale. Sie zögerte jetzt nicht mehr, als sie den Schlüssel herumdrehte und die Schublade aufzog.
Obenauf lagen die Wirtschaftsbücher, die sie nicht interessierten, darunter mehrere Listen mit Aufstellungen landwirtshaftlicher Güter, zusammengeheftet mit etlichen Zeitungsartikeln, die das Thema Landwirtschaft behandelten.
Daneben lag eine Mappe, die Ulrike nicht kannte.
Das sind die Briefe! dachte sie und schlug die Mappe auf.
Zahllose Rechnungen fielen ihr entgegen. Rechnungen über Wirtschaftsgüter und darunter, säuberlich zusammengeheftet, Krankenhaus- und Arztrechnungen.
Ulrike blätterte Rechnung für Rechnung durch, und sie erschrak über die Höhe der Summen, die ihre Behandlung verschlungen hatte.
Er hat mir niemals etwas davon gesagt! dachte sie bestürzt, und plötzlich glaubte sie zu wissen, weshalb Rainharts Miene oft verschlossen und düster war und warum er in letzter Zeit stets eine unsichtbare Last mit sich herumzuschleppen schien.
Beschämt sank sie in den Schreibtischsessel. »Ich habe nie danach gefragt«, murmelte sie betroffen, als sie die zahlreichen Mahnungen auf längst fällige Zahlungen entdeckte.
Entsetzt wühlte sie weiter in den Papieren. Wie schlimm ist es eigentlich? überlegte sie fieberhaft. Haben wir etwa gar schon Schulden?
Alles fiel ihr in diesem Moment ein, worauf sie bisher nicht geachtet hatte.
Rainharts endlose Telefongespräche, die er mit städtischen Stellen führte, seine Besuche in der Stadt, die er nur selten einleuchtend begründet hatte, die Briefe, die er spätabends noch schrieb, wenn sie längst im Bett lag, und der Verkauf eines Landstückes, das Rainhart immer besonders am Herzen gelegen hatte… Ulrike ließ die Papiere sinken.
Ich dachte, er trifft sich mit Kathinka, sagte sie sich im stillen, statt dessen ist er bemüht, die schlechte Finanzlage des Gutes aufzubessern!
Jeder Augenblick, in dem sie ihm voll Argwohn oder mit kühler Zurückhaltung begegnet war, reute sie nun.
Sie legte die Rechnungsmappe in die Schublade zurück. Eben wollte sie den Kasten schließen, als ihr Blick auf ein großes Kuvert fiel, das die Aufschrift »Krankengeschichte« trug.
Mit zitternden Händen griff Ulrike danach. Sie hatte nicht gewußt, daß es so viele Unterlagen über ihre Krankheit gab, um damit ein dickes Kuvert zu füllen.
Eine unerklärliche Ahnung erfüllte sie, als sie das zugeklebte Kuvert in der Hand wog.
Dann riß sie es auf.
Zunächst las sie die ersten Berichte mit sachlichem Interesse, besah sich die Röntgenbilder und die Protokolle der verschiedenen Testuntersuchungen.
Bis sie auf das Wort stieß, das sie wie mit einem jähen Schlag betäubte: Lymphdrüsenkrebs!
Sie wußte nicht, wie lange sie regungslos auf das Blatt gestarrt hatte, ehe sie mit fieberhafter Erregung weiterlas, bis sie alles wußte, was man ihr jahrelang barmherzig vorenthalten hatte.
*
Der Rückfall in Ulrikes Gesundheitszustand kam so plötzlich, daß niemand sich die Verschlechterung erklären konnte.
Rainhart war außer sich und umsorgte seine Frau mit aller Liebe und Zärtlichkeit, ohne ihr seinen tiefen Kummer verhehlen zu können.
Ulrike wußte, warum sie so überraschend zusammengebrochen war. Sie hatte zwei oder drei Tage lang versucht, allein mit dieser entsetzlichen Gewißheit, zum Tode verurteilt zu sein, fertig zu werden. Dann hatten ihre Nerven nachgegeben, und sie hatte sich mit einem heftigen Fieberanfall ins Bett legen müssen.
Rainhart fuhr zu Dr. Langeloh, der sofort nach Ulrike sah und ihr die üblichen Medikamente verschrieb.
Noch am gleichen Abend rief er Professor Deval in Paris an und erzählte ihm die schlimme Wendung der Dinge. »Können Sie nicht früher nach Deutschland kommen, Herr Professor?« fragte Rainhart aufgeregt. »Ich kann meine Frau in diesem Zustand nicht nach Paris bringen!«
»Ich werde mir alle Mühe geben, meine Termine vorzuverlegen«, antwortete Deval zögernd.
Vierzehn Tage später war er da. Rainhart holte ihn vom Flugplatz mit dem Auto ab und brachte ihn aufs Gut.
Schweigend hörte sich der Professor Rainharts Bericht an, und als sie auf dem Gut ankamen, wollte er Ulrike sofort sehen.
Er blieb lange in ihrem Krankenzimmer.
Als der Professor endlich die Treppe herunterkam, riß Rainhart die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf, wo er voll Unruhe gewartet hatte, und ging dem Professor entgegen.
»Nun, was sagen Sie, Herr Professor?« fragte er atemlos.
Deval antwortete nicht sofort.
Erst als er Rainhart in einem der tiefen Sessel gegenübersaß, sagte er zögernd: »Was ich Ihnen jetzt vorschlage, wird Sie überraschen, Herr Arundsen. Es ist auch eine vollkommen ungewöhnliche Therapie. Aber meiner Meinung nach das einzige, was Ihrer Frau helfen kann.«
Rainhart beugte sich erregt vor. »Was – was ist es, Herr Professor? Ich will keine Kosten scheuen, wenn es ein neues Verfahren gibt, das die Krankheit meiner Frau bekämpfen kann!«
»Ihre Frau sollte ein zweites Kind bekommen!«
Rainhart starrte den Professor fassungslos an. »Ausgeschlossen!« rief er dann entschieden aus. »Ich habe meiner Frau einmal diese Strapazen zugemutet, aber ein zweites Mal würde ich dazu niemals mein Einverständnis geben!«
»Und wenn es Ihre Frau retten könnte?«
»Haben Sie dafür einen Beweis?« Rainharts Augen brannten.
Deval hob unschlüssig die Hände. »Beweise gibt es dafür keine, aber eine Reihe von Vermutungen. Nach gründlichem Studium des Krankheitsverlaufes konnte ich eine deutliche Besserung nach der ersten Schwangerschaft bei Ihrer Frau feststellen. Gewisse Krankheitserscheinungen sind sogar völlig zurückgegangen. Durch einen unerwarteten seelischen Schock jedoch hat sich später der Zustand Ihrer Frau wieder verschlimmert.«
»Und nun soll meine Frau sich einem so riskanten Experiment unterziehen, das eine Schwangerschaft für sie bedeuten würde? Nein, ich will es nicht! Ich will es nicht, ehe Sie mir keine handfesten Beweise für die Richtigkeit dieser Therapie geben können.«
»Ich möchte Ihre Frau noch einmal genau beobachten und testen«, sagte Deval nach einer kleinen Pause. »Ich schlage vor, wir bringen sie in die Klinik meines Kollegen Maurer. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich sofort mit Maurer telefonieren und alles Weitere veranlassen.«
Arundsen stand zögernd auf. »Dort drüben steht das Telefon, Herr Professor. Das Telefonbuch liegt daneben.«
*
»Ich will nicht mehr«, sagte Ulrike mit fieberheißen Augen. »Ich will nicht wieder in eine Klinik und mich von zahllosen Ärzten untersuchen lassen!« Ihre Stimme klang leidenschaftlich erregt, so wie sie Rainhart noch nie gehört hatte. »Es hat ja doch alles keinen Sinn! Laßt mich doch endlich in Ruhe!«
»Es ist zu deinem Besten, Ully«, sagte er sanft und versuchte, sie durch zärtliches Streicheln zu beruhigen.
»Wie oft hast du das schon gesagt – und es hat alles nichts genützt!« Mit einem wilden Flackern in den Augen sah sie ihn an. »Meinst du, ich wüßte nicht Bescheid? Ich muß sterben – es gibt keine Rettung für mich! Jede Behandlung ist nur ein Aufschieben der letzten, unausweichlichen Konsequenz!« Die Erregung riß sie mit sich fort, und sie sprach die Dinge aus, die sie still für sich bewahren wollte.
Rainhart blickte seine Frau in fassungslosem Entsetzen an. »Wie kommst du darauf?« fragte er mit heiserer Stimme.
»Ich weiß es, ich fühle es!« Sie richtete sich heftig auf. »Krebs ist doch unheilbar, nicht wahr? Es gibt kein Mittel gegen diese Krankheit, wenn sie erst so spät wie bei mir erkannt wird!«
»Wer sagt dir, daß du Krebs hast?«
»Ich weiß es!«
»Hat Professor Deval…« Er sprach seinen Satz nicht zu Ende, weil er merkte, daß er sich verraten hatte.
»Also ist es wahr!« rief Ulrike hastig. »Warum belügst du mich auch jetzt noch, Rainhart! Ist es nicht viel einfacher, wir sprechen endlich die Wahrheit aus? Laß mich sterben, das ist mein einziger Wunsch!«
»Nein! Niemals!« stieß er erstickt hervor und umarmte sie leidenschaftlich.
»Du ruinierst dich und das Gut«, fuhr Ulrike mit überstürzten Worten fort, »und es hat doch alles keinen Sinn.«
»Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit!« Plötzlich wies er den Vorschlag, den ihm Deval vor einer Stunde gemacht hatte, nicht mehr so entschieden von sich wie vorhin.
Ulrike schüttelte heftig den Kopf. »Nein, es gibt keine«, antwortete sie. »Ich will nicht mehr! Ich will sterben.«
»Ully! Wie kannst du so etwas sagen!« Alles in ihm bäumte sich gegen die grauenvolle Erkenntnis auf, daß Ulrike ihren Lebenswillen verloren hatte und sich selbst aufgab.
»Laß mich, bitte!« Erschöpft sank sie in die Kissen zurück. »Es gibt keine Rettung – keine!« Ihre Worte erstarben in undeutlichem Murmeln.
*
»Heute erst hat er es mir gesagt«, berichtete Ulrike mit strahlenden Augen, als Rainhart sie in der Klinik Professor Maurers besuchte. »Und du hast es mir auch verschwiegen!«
»Was?« Rainhart beobachtete verwundert das zu neuem Leben erwachte Gesicht seiner Frau, das ihm noch gestern in völliger Apathie entgegengesehen hatte.
»Wir sollen ein Kind haben – ein zweites Baby!« sagte Ulrike mit glänzenden Augen. »Das könnte die Rettung bringen!«
»Unsinn!« wehrte er hastig ab.
»Deval hat diese Möglichkeit nur erwogen, aber es ist keinesfalls sicher…« Ulrike unterbrach ihn. »Sicher ist nur eins: daß ich sterben muß, wenn wir nicht auch diesen Weg noch versuchen!« Sie umklammerte seine Hände. »Nach den
eingehenden Untersuchungen, die Maurer und Professor Deval bei mir angestellt haben, ist er der Meinung, daß ich eine zweite Schwangerschaft ohne weiteres aushalten kann.«
»Aber ich will es nicht!«
»Warum nicht?«
»Ich will dich nicht auf diese Weise verlieren!« entfuhr es ihm unbeherrscht.
Doch Ulrike lächelte nur. »Ob ich an Krebs sterbe oder an der Schwangerschaft, ist doch gleich, nicht?«
»Du wirst nicht sterben!« stieß er hastig hervor.
»Wir wollen uns doch keiner Täuschung hingeben, Rainer«, antwortete Ulrike sanft und sah ihren Mann durchdringend an. »Ein Kind könnte den Körper regenerieren, so wie es damals während der ersten Schwangerschaft geschehen ist. Aber die Veränderung der inneren Wirkstoffe reichte nicht aus, um eine völlige Genesung herbeizuführen. Erst eine zweite Schwangerschaft könnte diesen Prozeß vollenden.« Sie lächelte siegessicher. »Deval hat mir alles genau erklärt.«
Ulrike nahm seine Rechte in ihre beiden schmalen Hände und sah ihn mit einem verzweifelten Flehen an. »Wenn du mich wirklich liebst, Rainer, dann erfüllst du mir diesen einen Wunsch – den einzigen, letzten, den ich jemals äußern werde!«
Seine Kehle wurde eng. Er konnte nicht sprechen. Nach langem Zögern nickte er wortlos.
*
»Ein Schwesterchen!« rief Trudi begeistert aus und stürzte ins Kinderzimmer. »Alexander, du hast ein kleines Schwesterchen bekommen!«
Der Kleine, der knapp zweieinhalb Jahre alt war, warf sein Spielzeugauto auf den Boden und sprang auf. »Is das wahr?« fragte er mit ungläubigem Staunen.
Trudi nickte. »Ja, bestimmt! Es ist so klein!« Sie breitete die Hände aus.
»Och« machte Alexander enttäuscht. »So klein? Kann ich ja gar nich damit spielen!«
»Nein«, antwortete Trudi lachend, »das kannst du auch nicht. Du mußt warten, bis das Schwesterchen größer ist.«
»Wächst es denn?«
»Natürlich! Du wächst doch auch!«
»Bin ja auch ’n Junge!«
Trudi amüsierte sich wieder einmal köstlich. »Mädchen wachsen ebenfalls, Alexander. Hast du gedacht, sie bleiben immer so klein?«
Alexander steckte ein Fingerchen in den Mund und dachte nach. »Weiß nich«, sagte er dann kleinlaut. Plötzlich besann er sich. »Wo ist’n die Mami?«
»Die Mami ist unten im Schlafzimmer. Du kannst jetzt nicht zu ihr, Alexander. Aber es geht ihr gut, und sie läßt dich schön grüßen.«
»Und wo is’n der Papi?«
»Unten in der Halle. Wir werden zu ihm gehen, ja?« Trudi nahm den Kleinen an die Hand und ging mit ihm die Treppe hinunter.
Rainhart kam ihnen mit blassem, angespanntem Gesicht entgegen. Er streckte die Arme aus und hob seinen Sohn hoch in die Luft. »Wir haben ein gesundes Baby, Alexander!« rief er aus. »Was sagst du dazu?«
»Is fein, Papi!« erwiderte der Kleine jauchzend. »Kann ich zu Mami?«
»Nein, Alexander, vorläufig noch nicht. Aber in einer halben Stunde, wenn der Onkel Doktor fortgegangen ist, werden wir sie gemeinsam besuchen, ja? Sie wird sich bestimmt freuen, wenn wir beide zu ihr kommen.«
»Und wo is das Schwesterchen?«
»Das Schwesterchen ist bei Mami im Schlafzimmer und wird gebadet und gewickelt«, erwiderte Rainhart und war noch aufgeregter als sein Sohn, der das freudige Ereignis bedeutend ruhiger aufnahm.
»Zeig’s mal!« verlangte Alexander.
Rainhart mußte trotz der Anspannung, in der er sich immer noch befand, herzhaft lachen. »Damit müssen wir auch noch warten, Alexander. Wenn wir dann die Mami im Schlafzimmer besuchen, werden wir auch das Schwesterchen im Körbchen ansehen, ja?«
Trudi kam aus der Küche mit einer Tasse Kakao. Voll Erstaunen beobachtete sie die herzliche Szene zwischen Vater und Sohn, ehe sie dazwischentrat und Alexander zum Trinken nötigte.
*
Professor Deval saß ihnen im Wohnzimmer gegenüber.
Rainhart schenkte Sherry ein, und Ulrike trank ohne Zögern mit.
»Es ist ein Wunder«, sagte Deval und hob das Glas. »Ich hatte darauf gehofft, aber nun, da eingetreten ist, was wir alle gewünscht haben, steht man doch stumm und ergriffen vor der Macht eines Höheren.«
In Ulrikes Augen schimmerte es feucht. »Sie haben mir den Mut zum Durchhalten gegeben, Herr Professor«, sagte sie. Dann streckte sie ihre Hand nach Rainhart aus. »Und deine Liebe hat es möglich gemacht, daß das Wunder geschehen konnte: Ich bin gesund! Ich bin wirklich gesund!«
»Wir wollen darauf trinken«, erwiderte Deval schlicht. »Wunder geschehen höchst selten. Ihre Gesundung ist eines.« Er nickte Ulrike mit einem warmen Lächeln zu.
Später zog sich Deval in das Gästezimmer zurück, und Ulrike und Rainhart blieben allein zurück.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, flüsterte Ulrike und schmiegte sich an ihren Mann. »Aber ich fühle, daß es wahr ist. Alles ist anders – ich bin frei und kräftig und ohne Angst. Es ist ein herrliches Gefühl!«
Rainhart Arundsen legte die Hände auf die Schultern seiner Frau. »Jetzt sind alle Schatten geschwunden«, sagte er ernst. »Und nun will ich arbeiten wie nie zuvor in meinem Leben!«
Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Vielleicht kann ich dir dabei helfen!«
»Dazu werden die Kinder dir wohl keine Zeit mehr lassen!« erwiderte er. Dann zog er sie an sich und küßte sie lange und innig.