Читать книгу Mami Bestseller Staffel 2 – Familienroman - Jutta von Kampen - Страница 5
Unser Glück kann jetzt beginnen Du musst nur noch Ja sagen Roman von Nicolai, Nina
ОглавлениеGegen Frauen hatte er nichts, überhaupt nichts. Frauen vermochten Langeweile zu vermindern, Freuden zu verdoppeln und Ausgaben zu verdreifachen. Eine ganze Menge also.
Und er kam blendend mit ihnen aus. Vorausgesetzt allerdings, sie waren jung, hübsch und amüsant.
Aber Frauen, die ihn warten ließen, in diesem unerfreulichen Fall zweifellos absichtlich, sozusagen als pädagogische Maßnahme, also solche lebensgefährlichen Frauen fielen bei ihm gnadenlos durchs Raster. Für immer und ewig. Weil es eine Frechheit war, ihn seiner kostbaren Zeit zu berauben.
Was bildete sich diese selbstherrliche Person eigentlich ein!?
Dr. Paul Tarnow hielt sich für einen ausgezeichneten Menschenkenner mit einer minimalen Fehlerquote. Weshalb er sich Davids dauernervende Klassenlehrerin hässlich vorstellte, reizlos und von der Art, um die Männer, insbesondere welterfahrene Männer wie er, instinktiv einen großen Bogen zu machen pflegten.
Ein weiterer ungehaltener Blick auf das Zifferblatt seiner noblen Armbanduhr steigerte – so dies überhaupt möglich war – seinen Zorn auf Frau Mahler. Die sich unfairerweise auf seinen armen Neffen fokussierte, um an ihm ihre Launen auszulassen.
Okay, ihm war bewusst, dass er nicht als personifizierte Langmut bezeichnet werden konnte. Im Magazin einer bekannten Tageszeitung hatte er die Frage nach seinem größten Fehler denn auch schwungvoll mit Ausrufezeichen beantwortet: »Zu wenig Geduld!«
In seinen Kreisen galt männliche Ungeduld als lässlich.
Andererseits hatte sich sein Internist kürzlich beim jährlichen Durchchecken alles andere als beiläufig erkundigt, ob er demnächst einen Urlaub plane.
»Urlaub? Ich weiß nicht mal mehr, wie man das schreibt, Tom.«
Sein alter Schulfreund hatte weiterhin besorgt auf den Ausdruck des EKGs geschaut. »Du hältst dich für unverzichtbar?«
Ich bin unverzichtbar, hatte Paul gedacht. Nicht etwa humorvoll. »Bin ich ein Kandidat für den gefürchteten Burn Out? Dann verschreib mir etwas. Ich muss unbedingt fit bleiben.«
»Ich denk nicht daran, deine kriminell ungesunde Lebensweise auch noch zu unterstützen!« Tom hatte ihm einen warnenden Blick über die Brille zugeworfen. »Das verbietet mir mein Eid.«
»Und ich habe dich damals abschreiben lassen!«
»Paul, du bist am Limit. In jeder Beziehung, fürchte ich. Komm wieder runter und denk über eine vernünftige Ernährung nach. Und du musst wesentlich ruhiger werden. Mehr Bewegung, mein Freund.«
»Ohne mich hättest du das Abi nie geschafft. Und jetzt traust du dich, mir alberne Vorschriften zu machen? Ist das dein Dank?«
Tom lachte trocken und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Sag mal, Paul, joggst du? Regelmäßig?«
»Sport und Turnen füllen Gräber und Urnen.«
»Okay. Anne und du, seid ihr inzwischen verheiratet?«
Paul hatte sich das weiße Hemd zugeknöpft. Seine Finger waren indes so fahrig, dass er lange dazu brauchte. »Wir sind nicht mehr zusammen. Sie lebt wieder bei ihrer Schwester in Cannes.«
»Schade. Sie war so charmant. Und sie hat dir gutgetan.«
Anne St. Simon hatte sich in ihrem Abschiedsbrief bitter darüber beklagt, von ihm nicht mehr wahrgenommen zu werden. »Du bist mit deiner Arbeit verheiratet, Paul, mich brauchst du nicht. Pass gut auf dich auf, damit du nicht eines Tages bereuen musst, auf die Liebe verzichtet zu haben …«
Dr. Paul Tarnow hasste es, fremdbestimmt zu werden. Prompt überrollte ihn eine neue gigantische Welle, ein wahrer Kaventsmann dumpfen Grolls und schnürte ihm die Luft ab. »Verdammt!«, fluchte er und rannte zum nächsten Fenster, um es aufzureißen.
Der Fensterflügel klemmte. Auch das nächste Fenster ließ sich nicht öffnen. Der attraktive Mittdreißiger sah sich grimmig im Klassenzimmer um. Wieso musste Schule immer so beklemmend ungelüftet riechen? Achteten die Lehrer nicht auf frische Luft?
Er schnaubte so abschätzig, dass man wahrzunehmen meinte, wie ihm eine Stichflamme aus den Nasenlöchern schoss.
Seine Schwester hatte durchaus nicht mit Respekt von der Klassenlehrerin ihres Sohns gesprochen, eher mit ungeschminkter Verachtung. Im gestrigen Gespräch war ausschließlich von einer Hexe namens Mahler die Rede gewesen. »Hexe Mahler will David fertigmachen, Paul«, hatte Sophie behauptet. »Und sie wird ihr Ziel erreichen, wenn sie nicht endlich gestoppt wird. Sieh dir den armen Jungen an, mein Lieber, er ist schon total eingeschüchtert.«
David und eingeschüchtert? War das nicht ein Widerspruch in sich? Paul fuhr sich nervös durchs volle dunkle Haar, während er sich an das Gespräch mit seiner Schwester erinnerte.
Sophie führte sich immer so intensiv auf – oder anstrengend? –, dass er sich spontan verpflichtet fühlte, ihr beizustehen.
»So ein Gespräch kostet Zeit, Sophie. Und Zeit …«
»Paul, diese Frau ist manisch. Und sie hat’s auf David abgesehen, weil wir alles verkörpern, was sie nie erreichen wird. Weil sie’s nicht kann«, hatte Sophie erklärt, erregt vor ihm hin und her rennend. Ihre atemberaubenden High Heels hatten auf dem Steinboden ein fürchterliches Geräusch verursacht, das sich ihm irgendwie in die innersten Gehirnwindungen schraubte.
»Was kann sie nicht?« Hinter seiner Stirn hatte es wüst gepocht. Als würde ein Schmied auf seinen Amboss einschlagen.
»Hexe Mahler ist grün vor Neid aufs Establishment, Paul.«
Wann machte der Schmied Feierabend? »Aufs Establishment?«
»Sie weiß, wo wir wohnen. Und wie wir wohnen. Unser Ambiente. Erinnerst du dich an diese Homestory?« Sophie hatte den Namen einer exklusiven Hochglanzzeitschrift erwähnt, und zwar eindeutig genüsslich. »Ich habe da nur Richard zuliebe mitgemacht.«
»Du glaubst, Davids Lehrerin interessieren Homestorys?«
»Hexe Mahler leidet an galoppierender Selbstüberschätzung. Sie bildet sich ein, meinen Sohn beurteilen zu können!«
»Nun, sie ist seine Klassenlehrerin, sie …« Er hatte sich gefragt, was wohl passieren würde, wenn er sie bitten würde, sich hinzusetzen. Damit das Geräusch ihrer Absätze endlich verstummte.
Der Schmied hatte sich Verstärkung geholt. Jetzt hämmerten zwei Wahnsinnige mit unvorstellbarer Wucht gegen seine innere Schädeldecke. Bis die barst, war’s nur eine Frage der Zeit.
»Natürlich stört es sie, dass sie nur eine unbedeutende Lehrerin ist und immer bleiben wird, während ich mir so ziemlich alle Wünsche erfüllen kann. Mir steht die Welt offen, sie muss kleine Rotznasen putzen.« Sophie hatte ihren Siegelring mit dem mütterlichen Familienwappen, den sie am kleinen Finger der linken Hand trug, unentwegt gedreht. Wie immer, wenn sie nervös war.
Schaute man hin, riskierte man, seekrank zu werden.
»Du bist Davids Patenonkel, Paul, du musst ihm helfen!«
Paul hatte seine Schläfen massiert. »Wird seine Lehrerin nicht darauf bestehen, mit Davids Vater zu reden?«
»Richard ist in New York, wie du genau weißt.«
»Wollte er nicht am letzten Wochenende heimkommen?«
»Paul, wir können ihm nicht zumuten, wegen einer durchgeknallten Lehrerin wichtige Termine zu vernachlässigen.« Sophie war weiß vor Zorn gewesen. »Sie ist eine Hexe, und zwar eine von der besonders fiesen Sorte. David kann einem leidtun …«
Schluss! Paul warf einen allerletzten, wutschnaubenden Blick auf die bunten Kinderzeichnungen ringsum an den Wänden, dann verließ er kurzentschlossen das Klassenzimmer. Die Tür fiel hinter ihm krachend ins Schloss, selbstverständlich nicht zufällig.
Das Echo des gewaltigen Lärms empfand er als balsamisch.
Die Wartezeit im leeren Klassenzimmer hatte ihn ausgelaugt, jetzt durchmaß er den glänzend gebohnerten Schulflur mit langen gereizten Schritten und dem vertrauten Bedürfnis, jeden anzufahren, der das Pech hatte, ihm über den Weg zu laufen.
Sein Herz pochte unheilvoll beschleunigt. Toms Warnungen hinsichtlich eines Herzkaspers bedrängten ihn machtvoll.
Eine Frechheit, ihn, den viel beschäftigten Businessmann, den erfolgreichen Unternehmer, warten zu lassen. Eine halbe Stunde!
Ein durchdringendes Klingelgeräusch gellte durchs Schulgebäude. Im nächsten Augenblick flogen Türen auf. Krachend. Kinder quollen aus den Klassen und wälzten sich in Richtung Treppenhaus, trampelten wie in Panik flüchtende Büffelherden in Richtung Pausenhof. Es wurde laut, richtig laut, ohrenbetäubend laut.
Der schlanke hochgewachsene Mittdreißiger schaffte es, sich mit einem kühnen Spurt durch die weit geöffnete Eingangstür in Sicherheit zu bringen. Nichts wie weg von diesem verfluchten Ort.
Vor der Eingangstür prallte er unverhofft gegen etwas Weiches, das zum Glück nicht nachgab, sondern standhielt. Und ihn vor einer weiteren Demütigung bewahrte: Nämlich lang hinzuschlagen.
Wunderbar aufrecht blieb sie stehen, die schmale junge Frau mit den leuchtenden, ungewöhnlich großen braunen Augen und der klugen Stirn. Das Sonnenlicht verwandelte ihre schulterlangen rotblonden Haare in eine schimmernde Aureole.
Fasziniert starrte Paul Tarnow sie an, als wäre sie eine Erscheinung aus einer anderen, besseren Welt. Irritiert überlegte er, was eine Frau wie sie, mit einem beneidenswert zarten, durchscheinenden Teint und einer unwiderstehlichen, sogar erotischen Ausstrahlung, wie man sie eher nicht in einer Schule vermutete, wohl bewogen haben mochte, dieses Gebäude aufzusuchen.
Ihn durchströmte das Bedürfnis, sie zu warnen, zu beschützen. Denn er vermutete in ihr eine junge Mutter, die auch von Hexe Mahler zur Hinrichtung, äh, in die Schule bestellt worden war.
»Dr. Paul Tarnow?« Sie richtete die Frage mit weicher, melodischer Stimme an ihn, die spontan für sie einnahm.
Verwundert nickte er zustimmend. Wieso kannte sie ihn?
Auf den ersten Blick hatte er begriffen, einer Schönheit begegnet zu sein, die echte Anmut und heitere Gelassenheit in sich vereinte. War sie wirklich ein irdisches Wesen?
»Ich bin Flora Mahler«, stellte sie sich mit einem Lächeln vor, das den Südpol zum Schmerzen gebracht hätte, und streckte ihm unbefangen ihre rechte Hand entgegen. »Guten Tag.«
Wie bitte? Paul hatte die unverhoffte Begegnung nicht nur die Sprache verschlagen, er war überdies außerstande, ihre Hand zu ergreifen. Sein Herz führte sich völlig idiotisch auf.
»Ich bin Davids Klassenlehrerin«, setzte sie hinzu.
*
Er glaubte es nicht: Diese megasüße, feingliedrige Frau im schlicht geschnittenen, durchgeknöpften Kleid aus leichtem lichtblauem Stoff, mit dem der warme Wind spielte, diese entzückende Frau, die eben noch dafür sorgte, dass sich seine Fantasie übermütig und leider nicht durchweg jugendfrei überschlug, sie war die von seiner Schwester angekündigte abscheuliche Hexe Mahler, der ultimative Schrecken der Schule?
Sie zog ihre Hand zurück. An der Art, wie sich ihre liebenswürdige Miene verschloss, war zu erkennen, dass sie sich von seiner Weigerung, ihre Hand zu ergreifen, brüskiert fühlte.
Über das Display ihrer hohen klaren Stirn lief in Neonschrift die niederschmetternde Botschaft, dass sie ihn mitsamt seinen Statussymbolen, vom maßgeschneiderten, selbstverständlich perfekt sitzenden hechtgrauen Anzug bis hinunter zu den handgenähten Budapester Schuhen für einen arroganten Schnösel hielt.
Normalerweise wäre die Beziehung an dieser Stelle frostklar beendet worden, und zwar von ihm.
Aber er, der sich bislang für einen souveränen Zeitgenossen hielt, insbesondere Frauen gegenüber, war skandalöserweise noch immer nicht in der Lage, auch nur ein Wort hervorzubringen – geschweige denn etwas Geistreiches.
»Wir waren verabredet«, stellte sie fest, deutlich distanzierter. Irgendwie meinte man, den Knall hören zu können, den die herunterfallende Zugbrücke auslöste.
»Jawohl, waren wir. Im Klassenraum!«, hörte er sich zu seinem Entsetzen so grimmig bestätigen, wie er sich vornahm. »Ich war dort. Eine halbe Stunde lang. Dreißig Minuten. Eigentlich sollte ich Ihnen die nutzlos vergeudete Zeit in Rechnung stellen.«
Seltsamerweise empfand er nicht die erhoffte Genugtuung. Stattdessen ärgerte er sich über seine fehlende Elastizität. Herrgott, ihr gegenüber, die eine unbegreifliche Anziehungskraft auf ihn ausübte, müsste er doch einen ganz anderen Ton anschlagen!
»Wir waren im Konferenzraum verabredet«, korrigierte sie, inzwischen mächtig unterkühlt. »Und zwar vor einer Stunde. Sie, Herr Dr. Tarnow, haben mich warten lassen, fürchte ich.«
Sie wagte es, ihm zu widersprechen? Das hatte er lange nicht mehr erlebt. Verblüfft starrte er sie an.
Sollte er sie fragen, ob ihr klar war, wen sie vor sich hatte?
Flora Mahler strahlte Intelligenz und körperliche Fitness aus, eine Kombination, die seinem alten Schulfreund, dem Internisten Tom, mit Sicherheit sehr gefallen hätte. Sie trank bestimmt keinen Tropfen Alkohol, rauchte nicht und liebte kernige Radtouren.
Alles in allem war sie sein exaktes Gegenteil. Paul beschloss, sie nicht mehr reizend zu finden. Er konzentrierte sich auf seine Mission, nämlich Sophies Aufforderung, Hexe Mahler den Marsch zu blasen, und zwar gehörig. So wie sie es verdiente.
»Was nun David betrifft, Frau Mahler …«
»Kann es sein, dass Davids Mutter Sie geschickt hat? Sozusagen als Verstärkung? Wieso meint sie, das nötig zu haben?«
Paul meinte, ein spöttisches Funkeln in der Tiefe ihrer braunen Augen wahrzunehmen. Atemlos fragte er sich, ob es ihr zuzutrauen war, dass sie sich über ihn lustig machte.
Und wieso verspürte er mehr Verunsicherung als Empörung?
Zum Zwecke der Rückgewinnung verlorenen Terrains schlug er vor, die Unterhaltung an einem ruhigeren Ort fortzusetzen.
Die Abfuhr kam postwendend. »Ich habe die Pausenaufsicht«, teilte sie ihm mit und wirkte dabei besonders unzugänglich.
Ihre Distanziertheit ärgerte ihn. Sie schien weder seinen akademischen Titel noch sein gutes Aussehen zur Kenntnis zu nehmen.
Das war ihm lange nicht passiert. Also wenn sie eine normale junge Frau gewesen wäre, hätte sie sich längst in ihn verknallt.
Bei Flora Mahler ließ sich nicht das geringste Interesse an ihm erahnen. War sie immun gegen seinen Charme? Wie irritierend.
»Frau Mahler«, sagte er gallig, »meine Schwester ist alles andere als glücklich mit Ihrer Beurteilung, David betreffend.«
Irgendwo hatte er mal gelesen, dass Hexen sich grundsätzlich nicht verlieben konnten. Daran ließen sie sich sogar erkennen.
»Ich habe mehrmals, aber tragischerweise immer vergebens, versucht, Frau Taylor darüber aufzuklären, was meiner Meinung nach die Ursache von Davids Verhaltensstörungen sein könnte.«
Er scannte die auf dem weiten Pausenhof herumtobenden Kinder, um unter ihnen seinen Neffen David zu entdecken. Dass es ihm nicht gelang, trug eindeutig nicht zur Aufhellung seiner Stimmung bei. »Mein Neffe ist ein völlig normaler Junge, von Verhaltensstörungen kann überhaupt keine Rede sein!«
»David ist ein reich talentiertes Kind und für einen knapp Achtjährigen bemerkenswert aufgeweckt.« Sie strich sich das Haar zurück, das der warme Frühlingswind übermütig nach vorn blies.
Wieder fiel ihm ihre Aura des Besonderen auf.
In ihm regte sich eine gewisse Neugier: Wie würde sie wohl reagieren, wenn er sie anflirtete? Seine Spezialität.
Eine Lehrerin war schließlich auch eine Frau. Irgendwie.
Allerdings schien weder der hinlänglich bekannte Name Tarnow sie zu beeindrucken noch die Tatsache, dass er bei seinem beruflichen Engagement die Zeit fand, sich für seinen Neffen einzusetzen. Und von äußerst attraktiven, erfolgreichen Männer ließ sie sich offenbar prinzipiell nicht aus der Ruhe bringen. Schwärmte sie womöglich für blasse, bebrillte Krötenretter?
Sein Interesse schrumpfte. »Ich warte auf das Aber.«
»David ist von allen einsamen Kindern, die ich kenne, das einsamste«, fuhr sie fort, jetzt mit ernster Miene, die sich indes flüchtig aufhellte, als ein kleines Mädchen mit wehenden dunklen Locken vorbeiflitzte und ihr unbefangen zuwinkte. »Hallo, Stella, wie schön, dass es dir wieder besser geht.«
Sie fügte für Paul eine Erklärung hinzu: »Stella hatte Masern, es hatte sie leider ziemlich heftig erwischt.«
Wie, Masern?! Paul fiel dazu überhaupt nichts ein.
Die junge Frau wirkte besorgt. »Wissen Sie zufällig, ob David gegen Masern geimpft ist? Erkundigen Sie sich doch bitte bei seiner Mutter … Vielleicht sollte ich einen Info-Abend veranstalten, denn diese Kinderkrankheit ist alles andere als harmlos.«
Seine Schwester Sophie hätte ihr jetzt bestimmt unterstellt, dass ihr soziales Engagement einzig der Imagepflege diente. Paul hörte sie im Geiste ätzen: Wäre Hexe Mahler wirklich interessiert am Wohl ihrer Schüler, würde sie David anders behandeln.
»David ist im Grunde ein lieber Kerl.« Frau Mahler seufzte. »Doch er kommt selten dazu, sich von seiner liebenswerten Seite zu zeigen. Er gibt uns leider keine Chance, ihn zu mögen, wenn er im Unterricht stört und seine Mitschüler ablenkt und ärgert.«
Er schloss sich der Meinung seiner Schwester an: Frau Mahler übertrieb maßlos. »Ist es nicht normal, wenn Kinder gelegentlich über die Stränge schlagen?«
»Sie sind Davids Onkel und Patenonkel, ist das richtig?«
Während er zustimmend nickte, wappnete er sich innerlich. Frau Mahler hatte so eine insistierende Art, die ihn zunehmend irritierte. Frauen wie sie kannte er nicht. Und er fragte sich, ob es auch außerhalb des Schulbetriebs Frauen dieses Typs gab.
Ihre nächste Frage kam prompt. »Wie oft sehen Sie ihn?«
Und wie lange war es her, dass er sich eingehend mit David befasste hatte? Irgendwie fehlte es ja immer dramatisch an Zeit.
Er fragte gereizt: »Ist Ihnen wirklich noch nie der Gedanke gekommen, Sie könnten sich irren und ihn falsch beurteilen?«
»David führt sich wie ein Rowdy auf, weil er sich nach Aufmerksamkeit sehnt. Das klingt paradox, nicht wahr? Aber so ist es bedauerlicherweise. Finden Sie sein Verhalten nicht beunruhigend? Und er könnte seine Energie so viel vorteilhafter einsetzen!«
»David benimmt sich nicht anders als andere Kinder«, widersprach er ihr nachdrücklich. Oder trotzig? Um ihrer Frage zuvorzukommen, wie viele Kinder er eigentlich kannte, setzte er hastig hinzu: »Und meine Schwester ist eine selten liebevolle Mutter, die alles für ihr Kind tut.«
Tat Sophie wirklich alles für David? War ihm nicht neulich aufgefallen, dass sein Neffe nach einem ziemlich bösen Sturz vom Fahrrad spontan zu Frau von Ditzingen, der langjährigen Hausdame, gerannt war und eben nicht zu seiner Mutter?
»Frau Taylor verwöhnt David mit teuren Geschenken. Er trägt anspruchsvolle Markenkleidung. Aber glücklich ist er nicht. Glauben Sie mir: Glückliche Kinder treten ihre Klassenkameraden nicht und spucken noch weniger in deren Pausenmilch.«
Paul gingen die Argumente aus, insgeheim musste er erneut seiner Schwester zustimmen: Frau Mahler war ein harter Brocken. Denn anders als die Frauen in seiner Umgebung ließ sie nicht locker.
Dann traf ihn unverhofft ein harter Gegenstand am Hinterkopf. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn, ihm wurde gar flüchtig, wie peinlich, schwarz vor Augen. Gleichzeitig regte sich in ihm Empörung: Verdammt, wer war für das Attentat auf seine männliche Würde verantwortlich?
»David!«, hörte er Flora Mahler rufen, eindeutig entsetzt. Und nicht etwa mit satter Genugtuung. Wie ihm viel später klar wurde.
Dr. Paul Tarnow drehte sich um und blickte in das grinsende Gesicht seines Neffen David.
Sophies Engel stand vor ihm, er hatte beide Hände in die Seiten gestemmt und warf ihm einen herausfordernden Blick zu.
*
»Niemals, Paul. Das war niemals David. Er würde nie so rücksichtslos sein, also das würde ich sogar beschwören!«
Sophie Taylor in ihrer Lieblingsrolle als schwerelos schwerreiche Tochter eines Vaters mit Panzerechsengemüt, der einst zu den Top Ten der Hochfinanz zählte, und einer Mutter vom Typ Wunderflügelwesen, deren Glück darin bestanden hatte, mit ihren Juwelen zu spielen, Sophie also ließ sich laut aufseufzend der Länge nach mit ausgebreiteten Armen auf das schwellende Sofa fallen.
Sie hielt sich für eine Traumfrau, für eine Mensch gewordene Göttin der Schönheit und der Jugend, und zwar der ewigen.
Richard, ihr Ehemann, war interessanterweise der Meinung, ein standesdünkeldurchtränktes Luxusgeschöpf an seiner Seite zu haben, und zwar eins von der besonders anstrengenden Art.
Allerdings weilte Sophie höchst selten an seiner Seite: Richard schien darauf zu achten, dass wenigstens ein Ozean zwischen ihnen lag. Was die Frage aufwarf, ob das Glück eines verheirateten Mannes von den Leuten abhing, die er nicht geheiratet hatte.
»Sophie, es war sein Fußball, eindeutig!«
»Sehen alle Fußbälle nicht gleich aus? Paul, du nervst!«
»Hast du David nicht einen Fußball zu Weihnachten geschenkt, auf dem sich alle Spieler des FC Bayern verewigt haben?«
Sophie massierte sich ihre Schläfen. Ein Warnsignal. »Ich verstehe nicht, wie du David etwas derart Bösartiges unterstellen kannst, Paul! Du kennst ihn doch, er ist ein Engel!«
Ein Engel? Dr. Paul Tarnow stellte fest, natürlich heimlich, dass seine Schwester zu viel Rouge trug. Bei Sophie immer ein Zeichen von Frust im Endstadium.
»Ich hoffe doch sehr, dass du dich für deinen Neffen stark gemacht hast. Der arme David braucht dringend Unterstützung!«
Der arme David? Dr. Paul Tarnow entdeckte am Rand der winzigen Espressotasse Lippenstiftspuren und stellt sie angewidert zurück. Die unvergleichliche Frau von Ditzingen war zu ihrer kranken Mutter gefahren. Und ohne sie lief in der Villa leider nichts rund.
Paul unterließ jedoch mit Rücksicht auf Sophies strapazierte Nerven jedwede Anspielung auf das verschlampte Hauspersonal.
In der Villa Tarnow hatte alles Nerven. Die Bewohner, die Möbel, die aufwendigen Blumenarrangements, sogar die Gemälde.
»Und wie hat Hexe Mahler reagiert, als du ihr einen Punkt gesetzt hast? Sie war bestimmt verblüfft, oder?« Genugtuung blitzte in Sophies hellen Augen auf, die irgendwie an Glasmurmeln erinnerten. »Bravo! Der Denkzettel war längst fällig gewesen.«
Obwohl Sophie behauptete – es war keine fünf Minuten her, dem Leben zu grollen, weil es ihr fieserweise vieles, wenn nicht gar alles vorenthielt, wovon sie einmal geträumt hatte, wirkte sie in dem geranienroten eng fließenden, die dank häufiger Besuche im Fitnessstudio der gehobenen Art makellose Figur grandios nachmodellierenden Rohseiden-Hosenanzug erfreulich entspannt.
Er beschloss, sich aus dem imposanten Sessel zu erheben, der seine Existenz einem namhaften Designer verdankte. Dieser Designer schien ansonsten Burgen zu entwerfen. Oder Industrieanlagen. Jedenfalls wirkte der Sessel ungewöhnlich robust. Man traute ihm ohne Weiteres zu, auch als Bollwerk zu dienen.
Paul Tarnow stand etwas unschlüssig da, beide Hände in den Hosentaschen. Auch wippte er auf den Schuhsohlen auf und nieder. Weil es ihm so leichter fiel, Sophie zu widersprechen? Machte er sich so unbewusst bereit für die Flucht?
»Ich fürchte, Sophie, David hat sich einen denkbar ungünstigen Moment für seinen Schuss ausgesucht. Damit hat er dummerweise ziemlich viele Argumente seiner Lehrerin bestätigt.«
Sophie machte schmale Augen. Hatte sie ihn richtig verstanden?
Sie richtete sich auf und drehte dabei unablässig den Siegelring mit dem mütterlichen Familienwappen am kleinen Finger der linken Hand. »Du fällst deinem eigenen Neffen in den Rücken? O Paul!«, rief sie schockiert. Oder hysterisch?
»Aber er hat’s ja zugegeben!« Grinsend, wie sich Paul grimmig erinnerte. Und dann war er losgeflitzt, sein Neffe und Patenkind, Sophies Engel, die Aufforderung seiner Klassenlehrerin, seinen Onkel sofort um Entschuldigung zu bitten, schnöde missachtend.
»Was sind unter Zwang abgegebene Geständnisse wert!« Sophie regte sich auf. Sie gefiel sich gelegentlich in der Rolle als Rebellin, auch wenn sie gewöhnlich in wildem Aufruhr gegen sich selbst war. »Irgendjemand wird den armen kleinen Kerl dazu angestiftet haben, sich schlecht zu benehmen.«
»Nach dem dämlichen Zwischenfall war ich jedenfalls in keiner guten Position mehr, wie du verstehen wirst«, erklärte er ihr.
Unkleidsame rote Flecken krochen die Kehle hoch und tüpfelten ihr Gesicht. »Soll das heißen, dass du nichts ausgerichtet hast?«
»Vielleicht war es von Anfang an keine gute Idee, mich in die Schule zu schicken, Sophie.«
Die roten Flecken bissen sich unschön mit dem Geranienrot ihres exklusiven Hosenanzugs. Nur gut, dass Sophie es nicht wusste. Sie schwang die langen Beine vom Sofa und nahm jene Kampfhaltung ein, die Verkäuferinnen und Friseurinnen das Blut gefrieren ließ. »Soll das heißen, dass du versagt hast, Paul?!«
»Wie bitte?« Natürlich hatte er versagt. Auf der ganzen Linie. Und seither fühlte er sich ausgesprochen mies. Unter anderem.
»Du hast dich von Hexe Mahler einwickeln lassen. Du bist an der klebrigen Leimrute ihres mickrigen Charmes hängen geblieben, mein Lieber.« Letzteres sagte sie nicht etwa zärtlich, sondern verachtungsvoll. Schneidend. Und ihn wehte eine Ahnung jener Gründe an, die seinen Schwager zuverlässig an New York banden.
»Davon kann überhaupt keine Rede sein«, widersprach er, leider nicht so energisch, wie er es sich gewünscht hätte. »David scheint dir nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben, fürchte ich. Nach allem, was sie erzählte, führt er sich ziemlich wüst auf.«
»David und wüst?« Sie warf den Kopf zurück und lachte schallend. Um verärgert hinzuzufügen: »Paul, du sprichst von deinem Neffen. Schlimm, dass ich dich daran erinnern muss.«
»Bist du jetzt nicht ein bisschen unfair? Immerhin war ich dort, in dieser abscheulichen Schule. Wo eigentlich sollte der Termin stattfinden? Im Klassenzimmer? Oder im Konferenzraum?«
»Ist doch total unwichtig.«
»Kann es sein, dass du mir eine falsche Zeit gesagt hast?«
Sie fauchte ihn an: »Dein Job war es, dieser Hexe von Lehrerin klarzumachen, dass sie damit aufhören soll, David zu mobben!«
»Frau Mahler bittet dich übrigens um einen Anruf.«
Sophie war sprachlos. Und bekam Schnappatmung.
Wieso, wunderte er sich, musste er ausgerechnet in diesem Moment an Flora Mahler denken? An ihr Lächeln, das sich in ihren Mundwinkeln zeigte wie das rätselhafte Lächeln antiker Götterstatuen. Er ertappte sich dabei, wie er sich wünschte, er hätte es öfter sehen können, dieses sehr besondere Lächeln.
Vielleicht hätten sie über etwas anderes sprechen sollen als über David …
»Ist sie eigentlich verheiratet?« Paul konnte nicht fassen, dass er es war, der diese oberarglose Frage stellte, die ihn durchaus noch tiefer in Teufels Küche treiben könnte.
»Hexe Mahler? Keine Ahnung. Ich glaub’s eher nicht, denn wer ist schon so blöd, freiwillig sein Leben zu riskieren.« Sie warf ihm nun doch den gefürchteten argwöhnischen Blick zu. »Wieso?«
»Nur so.« Ihr Blick erinnerte ihn an die spanische Inquisition. »Sie scheint bei den Kindern ziemlich beliebt zu sein.«
»Nicht bei David. Er hat sie durchschaut und hasst sie.«
Waren Engel nicht zur Liebe verpflichtet? »Hast du schon mal überlegt, ihn in einer anderen Schule anzumelden?«
»Nicht David muss gehen, sondern die Mahler, und zwar möglichst schnell, bevor sie mir meinen Kleinen total ruiniert.«
Die Gefahr schien ihm bei David nicht gegeben zu sein. Paul zuckte mit der linken Schulter. »Leider muss ich jetzt …«
Prompt schob sie die Unterlippe vor. »Geh noch nicht. Ach, Paul, ich fühle mich so allein. Elementar allein.«
Allein? Seine Schwester kannte Gott und die Welt. Mindestens. In ihren Kreisen war sie tonangebend, alle Wege führten zu ihr.
»Ich war wegen des Schultermins heute noch nicht im Büro …«
Sophie umklammerte sein Handgelenk, ihre Glasmurmelaugen, zu größtmöglicher Weite geöffnet, schimmerten. »Du ahnst ja nicht, wie einsam ich mich gelegentlich fühle! All das hier«, sie beschrieb mit der freien rechten Hand einen weiten Kreis, den riesigen Raum mit den wuchtigen Designermöbeln und den großformatigen, explosivfarbigen Bildern an den kaltweißen Wänden umfassend, »all das ist wunderschön, einzigartig, ja! Aber es gibt Momente, viele Momente, glaub mir, in denen mich dieser Luxus anwidert.«
Er räusperte sich. »Richard …«
»Richard«, wiederholte sie mit einem tiefen Aufseufzen. »Er ist ein hinreißender Mann, er sieht fantastisch aus, ja! Aber er ist nie da, wenn man ihn braucht. Und um David kümmert er sich so gut wie nie. Es ist eine Katastrophe, Paul.« Sie schniefte.
»Vor allem für David«, warf er ein. Kurzatmig, er fühlte sich bedrängt. Von der Szene, klar. Plus den zu erwartenden Tränen.
Sie beachtete seinen Einwurf nicht. »Wie gut, dass Mama nicht mehr miterleben muss, wie unglücklich ihre kleine Prinzessin ist. So hat sie mich immer genannt, weißt du noch?«
»Du bist nicht unglücklich, Sophie. Lebst du nicht genau das Leben, von dem du immer geträumt hast?«
»Ich habe nie davon geträumt, von Davids Lehrerin verachtet zu werden. Denn das tut sie, Paul, Frau Mahler sieht auf mich herab. Einzig deshalb behandelt sie unseren kleinen Engel so mies.« Sie warf sich in die Sofakissen, achtete aber darauf, ihr professionell geschminktes Gesicht nicht gegen die Kissen zu pressen.
Er hatte nicht den Eindruck gehabt, dass Flora Mahler auf sie herabsah. Und hatte Sophie nicht kürzlich behauptet, Davids Lehrerin würde sie glühend beneiden? Paul hätte gern darüber nachgedacht, doch Sophies lautes Schluchzen verhinderte es.
Großer Gott. Er fühlte sich wie von einem Hurrikan erfasst. Und das, obwohl er seit der Begegnung mit Flora Mahler ohnehin eigenartig instabil war. Und nun diese Tränenspringflut. Er warf einen ratlosen Blick auf Sophies zuckende Schultern.
Wenn sich irgendjemand in den Verlorenheiten des großbürgerlichen Alltags perfekt auskannte, in den abgelegten Illusionen, den Zugeständnissen, Fluchten, kleinen und größeren Lügen, dann seine Schwester. Und sie sah sich allen Ernstes als Opfer?
Er streckte die Hand aus, letztlich doch von Mitleid erfüllt.
»Hi!« Eine Stimme wie Rabenruf ertönte unverhofft und sorgte für eine umgehende und wesentliche Veränderung des Raumklimas.
Auftritt Emily Warburg mit eisblonder Sturmföhnfrisur. Aus unerfindlichen Gründen war es ihr unmöglich, unauffällig einen Raum zu betreten. Wo immer Emily Warburg erschien, war ihre Präsenz überwältigend. Schien sie nicht sogar alles Licht zu absorbieren?
Sie kam zum allmorgendlichen Champagner-Frühstück mit Sophie und präsentierte entwaffnend unbefangen eins dieser just wieder in Mode gekommenen, ungemein erotischen Wickelkleider. Ein grellbunter Schmetterling, der sehnsüchtig neuer Flugrouten harrte.
Aber hatte Emily Warburg, ihren Neurosen blind ergeben, nicht ihr Leben lang auf das absolut Sensationelle, noch nie Dagewesene, die Welt aus den Angeln Hebende gewartet?
Sophie schnellte hoch. Und Paul konnte zu seiner Verblüffung keine einzige Träne entdecken. Ihr Make-up war unversehrt!
Emily hielt sich für eine Businesslady, das hieß, sie entwarf Schmuck, legte davon reichlich an, war sozusagen eine wandelnde Vitrine, und verkaufte ihn an wehrlose Freundinnen.
Sophie Taylor produzierte flugs ihr Strahlelächeln und sorgte für die vertraute Kommunikationsfassade: Mit ausgebreiteten Armen segelte sie souverän auf die beste Freundin von allen zu.
Dr. Paul Tarnow, fraglos das Objekt der Begierde der Besucherin, wagte den Versuch, sich zurückzuziehen. Weit kam er nicht.
Emily stellte ihn mit ihrem schrillen, etwas metallisch klingenden Lachen, das bei ihm Erinnerungen an seine einstige Eisenbahnanlage weckte. »O Paul, du bist hier? Eine himmlische Überraschung!«, schwindelte sie routiniert, denn Sophie hatte ihr beim letzten Telefonat der intimen Freundinnen natürlich von Pauls Versprechen erzählt, sie direkt nach dem Schultermin zu besuchen.
»Hätte ich das gewusst, wäre ich eher gekommen.« Emily drohte ihrer Freundin Sophie mit dem Zeigefinger. »Du schlimme Egoistin, wolltest deinen Bruder ganz für dich allein haben, oder?«
»Ihr habt euch sicher viel zu erzählen. Und ich wollte gerade gehen«, sagte Paul und murmelte etwas von einem ungeheuer wichtigen Termin. Obwohl er doch wissen müsste, dass es unmöglich war, Emily Warburg zu entkommen. Vor allem dann, wenn ihr etwas ins Fadenkreuz geraten war. Er nämlich. Wobei er fürchtete, dass seine Schwester Emilys Herzenswunsch eifrig unterstützte.
»Du warst shoppen?«, erkundigte sich Sophie interessiert.
»Prada!«, jubelte Emily und zog das Kostümchen aus der Tüte mit dem magischen Schriftzug. »Ein Schnäppchen, Sophie!«
Sophie schrie hingerissen: »Süß!«
Pauls Smartphone meldete sich. Er hätte es küssen mögen. Vielleicht seine letzte Gefühlsregung, denn Emilys schweres Parfüm benebelte zuverlässig seine Sinne. »Der Empfang ist hier nicht so günstig. Ich versuch’s draußen mal.« Er taumelte hinaus.
*
Die schlanke junge Frau im schlichten lavendelblauen Kleid mit dem weit schwingenden Rock hatte es eilig. Sie wollte die Straße zügig überqueren und warf nur einen sehr flüchtigen Blick nach beiden Seiten, bevor sie den anderen Passanten folgte.
Der Fahrer der hochglänzenden schwarzen Limousine ausländischer Marke schien auch keine Zeit zu haben. Das Auto der Extraklasse bog just in dem Augenblick temporeich um die Ecke, als die junge Frau ihren linken Fuß auf den Zebrastreifen setzte.
Eine ältere Frau schrie entsetzt auf. Der Unfall schien unvermeidlich. Doch dazu kam es gottlob nicht, denn im allerletzten Moment gelang es dem Fahrer, das Auto zum Stehen zu bringen. Zwischen die vordere Stoßstange und die schlanken Beine der jungen Frau mit den vielen Einkaufstüten passte keine Zeitung mehr.
Sie war vor Schreck blass geworden. Die winzigen Sommersprossen waren plötzlich sichtbar, den Mund hatte sie wie zum Schrei geöffnet. Doch sie blieb stumm. Denn sie hatte ihn erkannt, den attraktiven Fahrer des noblen Autos, der fassungslos durch die Windschutzscheibe starrte. Als hätte er einen Geist gesehen.
»Herr Dr. Tarnow!«, brachte Flora Mahler hervor. Zutiefst verblüfft. Weil sie sich in den letzten fünf Minuten gedanklich mit ihm befasste, und zwar sehr zu ihrem Missbehagen, Herrgott, sie war schließlich eine erwachsene Frau, eine Frau, die etwas vom Leben wusste, die als vernünftig und beispiellos galt. Weshalb war es ihr nicht möglich, diesen Menschen aus ihrem Denken zu eliminieren?! Er verkörperte, nein, er war alles, was sie nicht nur nicht mochte, sondern regelrecht ablehnte. Und dies auch schlüssig begründen konnte.
Ach, es müsste im Kopf eine Taste mit der Funktion Rücklauf und Löschen geben. So eine Erfindung wäre nobelpreiswürdig.
Pauls erster Gedanke war: Ausgerechnet sie! Was sollte das? Kosmische Strahlung, eine ungünstige Mondkonstellation oder vielleicht schlechtes Karma? Wurde man neuerdings dafür bestraft, den Müll mal nicht korrekt getrennt zu haben?
Die erste Begegnung mit Flora Mahler in Davids Schule hätte nicht komplizierter verlaufen können. Pech für ihn, der Komplikationen prinzipiell aus dem Weg ging. Anne St. Simon hatte ihn mal fürchterlich gekränkt, als sie ihn einen Flüchter nannte, einen Schönwetterpiloten. Gar nicht mal spitz, sie hatte es einfach festgestellt. Daraufhin hatte er sich umgedreht und war aus dem Zimmer gegangen. Und aus ihrem Leben verschwunden.
Rotblonde Frauen sahen in Lavendelblau hinreißend aus.
Und nun? Einfach so tun, als wäre nichts geschehen, und weiterfahren, ne, das ging nicht. Pauls Herz wummerte besorgniserregend. Situationen wie diese waren ihm gründlich zuwider – es blieb ihm keine Wahl. Und keine Fluchtmöglichkeit, nirgendwo.
Plötzlich packte ihn Panik und schüttelte ihn. Er verspürte eine nie gekannte, flammende Besorgnis, er könnte Flora Mahler irgendwie geschadet haben. Schleunigst sprang er aus dem Auto.
»Hoffentlich ist Ihnen nichts passiert, Frau Mahler. Das wäre unverzeihlich. Wie geht es Ihnen? Wie fühlen Sie sich?«
Eine ältere Passantin blitzte ihn gallig an. »Sie sind zu schnell gefahren, ich hab’s genau gesehen.«
Ein alter Herr Typ Oberstudienrat schüttelte tadelnd den Kopf. »Fußgänger auf Zebrastreifen haben Vorfahrt! Grundsätzlich! Gnädige Frau, ich stelle mich als Zeuge zur Verfügung.«
Eine elegante Dame ergriff Pauls Partei. »Die Frau ist kopflos losgerannt, ihn trifft keine Schuld!« Sie lächelte Paul zu. Und ein bisschen auch seinem Auto. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde jeden Eid darauf leisten, dass Sie unschuldig sind.«
»Immer diese rücksichtslosen Autofahrer«, giftete ein junger Mann mit lila Kapuzenpulli. »Soll ich die Polizei rufen?«
Flora Mahler war die Szene sichtlich peinlich. »Es ist doch überhaupt nichts passiert«, rief sie in die Runde. »Alles okay.«
»Weil Sie einen Schutzengel hatten«, sagte die ältere Passantin streng. »Der hat Sie gerettet vor dem Verkehrsrüpel.«
Paul wartete, bis sich die Passanten beruhigten und weitergingen. »Es tut mir schrecklich leid«, bedauerte er dann. Aufrichtig. »Sind Sie wirklich sicher, dass Ihnen nichts geschehen ist?«
»Absolut sicher. Vielen Dank, Herr Dr. Tarnow.«
»Ich habe Ihnen zu danken, Frau Mahler.« Als sie die Brauen fragend hochzog, setzte Paul hinzu: »Sie haben mich immerhin davor bewahrt, am helllichten Tag gelyncht zu werden.«
Sie lachte, zwar nicht schallend, aber sie lachte. Und er war nicht nur erleichtert, nein, er sah sie fasziniert an, denn sie errötete leicht. Ein warmes, sanftes Rosa legte sich über ihre feinen Züge wie ein Hauch von Morgenröte.
Wie lange war es her, dass er eine Frau hatte erröten gesehen? Paul ertappte sich dabei, wie auch er lachte. Und er fühlte sich plötzlich seltsam, nein, wunderbar wohl und leicht. Unfassbar.
»Leider habe ich es sehr eilig«, teilte sie ihm mit und warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr.
Interessanterweise sorgte die an sich banale Mitteilung für eine Beschleunigung seines Herzschlags. »Ich wollte Sie gerade bitten, einen Kaffee mit mir zu trinken. Auf den Schreck hin.«
»Nett von Ihnen, vielen Dank. Aber ich bin sehr spät dran. Deshalb hatte ich es ja so eilig, über die Straße zu kommen.«
»Vielleicht sollten Sie einen Arzt aufsuchen.« Ihm lag viel daran, sie festzuhalten. »Falls Sie einen Schock haben.«
Jetzt lachte sie hellauf. »Ich bin Lehrerin«, erinnerte sie ihn. »Und als solche bin ich inzwischen ziemlich feuergehärtet.«
»Dann erlauben Sie mir, Sie heimzufahren. Bitte.« Paul wunderte sich. Wieso bemühte er sich um Flora Mahler, die doch definitiv nicht sein Typ war? In keiner Hinsicht. Er flog auf mondäne Frauen, nicht auf Lehrerinnen, die sich mit kleinen Rotznasen befassten. Wie Sophie kürzlich abfällig bemerkte.
Sophie hatte ihn vor Flora Mahler gewarnt und Davids Klassenlehrerin als niederträchtige, launische Tussi bezeichnet.
Er konnte das nicht bestätigen. War er zu naiv oder hatte seine Schwester übertrieben? Übertrieb Sophie nicht ständig?
Flora Mahler zuckte zusammen, als eine laute Autohupe drohend ertönte: Pauls noble Limousine blockierte den Verkehrsfluss.
Er sah sie fragend an. Nicht auch bittend? O doch!
»Okay«, gab sie nach und stieg ein, während er ihre Einkaufstüten – unerklärbar beschwingt – auf dem Rücksitz deponierte.
»Das sieht nach einem erfolgreichen Einkaufsbummel aus«, sagte er, als er auf dem Fahrersitz Platz nahm und den Motor startete.
»Meine Tochter feiert in der nächsten Woche ihren Geburtstag. Höchste Zeit, dass ich ihre Geschenke besorgt habe.«
»Ihre Tochter?« Eine Tochter hatte Sophie nicht erwähnt, sie hatte Frau Mahler nicht mal einen Ehemann zugetraut.
Sie nickte und nannte ihm ihre Adresse. »Lena wird neun«, setzte sie mit deutlichem Stolz hinzu. »Haben Sie auch Kinder?«
Er und Kinder? Als er verblüfft schwieg, fuhr sie rasch fort: »Verzeihen Sie, ich wollte nicht indiskret sein.«
»Sie waren nicht indiskret. Was bekommt Lena denn geschenkt?«
»Ihre erste Geige. Und dann natürlich viele Bücher.«
»Ihre Tochter ist also musikalisch.«
»Lena kann schon sehr schön Klavier spielen.«
»Erteilen Sie Ihrer Tochter Klavierunterricht?«
Sie lächelte ihm zu. »Ich gebe mir Mühe.«
Er, der viel bezweifelte, war davon überzeugt. Er räusperte sich. »Ich habe keine Kinder.«
»Schade. Kinder sind ein großes Glück.«
Er warf ihr einen überraschten Blick zu. »Das sagen ausgerechnet Sie? Immerhin beschäftigen Sie sich beruflich mit unzähligen problematischen kleinen Nervensägen.«
Sie meinte leichthin: »Es gibt keine problematischen Kinder. Meiner Meinung nach gibt es nur problematische Eltern.«
In diesem Fall stimmt er ihr zu: Sophie war problematisch. Im Gegensatz zu ihm, der sich für völlig unkompliziert hielt.
»Wie geht es David?«, erkundigte sich Flora Mahler.
Er hob die Schultern. »Vermutlich gut.«
Er konnte es nicht sehen, aber irgendwie nahm er wahr, wie sie die Brauen in die Stirn zog.
Leise fragte sie: »Darf ich Ihnen einen Rat geben?« Als er zustimmend nickte, fügte sie hinzu: »David braucht dringend einen Freund. Könnten Sie nicht dieser Freund sein?«
»Natürlich. Gern. Aber ich weiß nicht … Ich bin beruflich sehr eingespannt. Außerordentlich eingespannt. Völlig verplant.«
»So etwas habe ich mir schon gedacht.«
Er meinte, erklärend hinzufügen zu müssen. »Glauben Sie mir, es ist nicht durchweg erfreulich, beruflich erfolgreich zu sein.«
»Sie scheinen zumindest keine finanziellen Sorgen zu haben.«
»Aber ich zahle einen hohen Preis. Das Privatleben bleibt völlig auf der Strecke, denn die ganze Energie frisst der Job. Und immer diese Hektik, der Druck, die Staus und Störungen, die lästigen Verspätungen, dieses dumpfe Hamsterradgefühl.« Er stieß einen völlig ernst gemeinten Seufzer aus. »Meine Work-Life-Balance stimmt schon lange nicht mehr, um ehrlich zu sein.«
»Sie sehen sich als Opfer des nach allen Seiten expandierenden Musters westlicher Wachstumslogik, das da lautet: Höher, schneller, weiter?«
Respekt, das hatte sie perfekt analysiert. »Genau«, bestätigte er und fühlte sich verstanden, was selten genug vorkam, sich aber extrem gut anfühlte. »Nun, Sie sind Beamtin …«
Sie widersprach mit sanfter Stimme: »Bin ich nicht.« Dann legte sie ihm unverhofft die Hand auf den rechten Unterarm. »Da vorn kurz vor der Kreuzung bitte abbiegen. Nach links.«
Sie nahm die Hand sofort wieder weg. Es war nichts als eine flüchtige, gewiss ganz belanglose Geste gewesen. Und sie hatte sie bestimmt nicht bewusst eingesetzt.
Bei Emily Warburg wäre er da nicht so sicher gewesen.
Aber selbst als Flora Mahlers Hand schon wieder fort war, meinte er, die Berührung noch immer zu spüren. Winzige Stromstöße gingen von der Stelle aus und brachten sein Herz aus dem Konzept.
Er bog ab, während er versuchte, sein Herz zu beruhigen. Herrgott, was war bloß los mit ihm? Sollte er seinen alten Freund Tom, den Internisten, um Rat fragen? Er atmete tief durch.
»Wir sind gleich da«, stellte sie fest und deutete auf das große, gründerzeitliche Haus am Ende der Seitenstraße. »Es war sehr freundlich von Ihnen, mich heimzufahren. Vielen Dank.«
»Keine Ursache. Sie wohnen schön, richtig idyllisch.«
Flora Mahler nickte. »Ich mag diese alten Villen. In einem modernen Haus könnte ich nicht wohnen. Trotz des Komforts.«
Er hielt direkt vor dem Gartentor. Der Altbau wirkte auf den ersten Blick nicht besonders gepflegt, auf den zweiten vernachlässigt und auf den dritten irritierend renovierungsbedürftig.
Doch das Haus strahlte Atmosphäre aus. Im romantisch verwilderten, verwunschenen Garten gab es prachtvolle Bäume mit breiten Kronen, eine weite Rasenfläche und viele Blumen. Es war still, balsamisch still. Ein paradiesischer Ort, der zum Entspannen einlud. Gerade weil alles natürlich wirkte, eben nicht gestylt.
Paul überlegte: Hatte er als Kind je den spontanen Wunsch verspürt, sich im parkähnlichen Garten, der zu seinem Elternhaus gehörte, der Länge nach auf den Rasen zu legen und in den Himmel zu schauen? Er hätte es nicht gewagt, denn in den Augen seiner Eltern wäre dies einem Kontrollverlust gleichgekommen.
Sophie hatte nach dem Tod der Eltern einen namhaften Gartenarchitekten mit der Umgestaltung beauftragt. Der berühmte Mann hatte kurzen Prozess mit dem Landschaftsgarten nach englischem Vorbild gemacht und der Natur asiatisches Flair aufgezwungen.
Was hätte seine Schwester zum bröckelnden Putz des Gründerzeithauses gesagt, in dem Frau Mahler wohnte? Wie hätte sie auf die blatternnarbige Haustür reagiert?
Wieso legte er eigentlich an alles Sophies Maßstäbe?
Aus den Augenwinkeln nahm Paul wahr, wie etwas Gelbes im wuchernden Grün aufblitzte und sofort wieder verschwand.
»Ah, der Professor«, stellte Frau Mahler heiter fest. »Dann wird meine Lena nicht weit sein.«
Ihr Mann war ein Professor? Trug er diese gelben V-Pullis, die man unweigerlich mit einem gewesenen Politiker verband?
Sein Herz pochte dumpf. Ganz klar als Reaktion auf die Tatsache, dass sie verheiratet war. Was ihm eigentlich egal sein sollte, denn schließlich war sie absolut nicht sein Typ.
Allerdings hätte er ihr jemand Aufregenderes gewünscht als einen Ehemann mit uncoolen V-Pullovern.
Ein ramponiert wirkendes rotes Kinderfahrrad lag auf dem gewundenen, mit Unkraut getupften Weg, der zur Haustür führte.
Die junge Frau lachte. »Typisch Lena. Als Tochter eines Ordnungsfreaks ist sie entsprechend locker.« Dann sah sie Paul an. »Ich würde Sie ja gern ins Haus bitten, aber ich habe noch einen wichtigen Termin.« Sie verzog das Gesicht. »Elternabend.«
»Das trifft sich gut, weil ich auch keine Zeit habe.« Was nicht stimmte. Tatsächlich hätte er gern gesehen, wie sie wohnte. Sie und der Herr Professor, der gelbe V-Pullis trug. Und erfahren, ob ihr die Villa am Stadtrand womöglich gehörte. Oder diesem Knilch von Ehemann mit null Ahnung von aktueller Herrenmode. »Vielleicht holen wir den Kaffee irgendwann mal nach?«
Was sollte diese Einladung? Und wieso vertraute er auf die Wirkung seines als unwiderstehlich charmant bekannten Lächelns?
Flora Mahler schien unbeeindruckt. »Ja. Warum nicht.«
»Falls Ihr Mann nichts dagegen hat.«
»Ich bin nicht verheiratet«, erwiderte sie schlicht.
Seltsamerweise löste ihre Antwort ein merkwürdiges Gefühl in ihm aus. Später deutete er es als Freude. Weil es keinen Ehemann in ihrem Leben gab? Sollte ihm das nicht gleichgültig sein? Was ging ihn diese Lehrerin an, die seinen Neffen schikanierte! Laut Sophie, der es bekanntlich souverän gelang, die Bosheit unter der Verbindlichkeit ihres Auftretens zu verbergen, die Reißzähne hinter dem Strahlelächeln und das Messer in der Chanel-Handtasche.
*
Frau von Ditzingen war wieder da. Endlich kehrte wieder die gewohnte Ordnung in die große Villa mit den blendendweißen Fassaden und dem Säulenportal ein. Irgendwie tickten die Uhren seit ihrer Rückkehr wieder gleichmäßig, die Haustürglocke schellte nicht mehr ohrenbetäubend und es wurde gottlob wieder gekocht.
David verließ freiwillig sein Exil, pardon, sein Kinderzimmer und suchte die Nähe der unvergleichlichen Hausdame. Nichts an Frau von Ditzingen war indes aufregend oder überraschend und sie war weit, kolossal weit davon entfernt, ein sogenannter Hingucker zu sein. Und gerade das beschrieb exakt ihre Vorzüge – sie regte weder sich noch andere auf, bei ihr gab’s keine Überraschungen und sie zog die inneren Werte eines Menschen dessen äußeren vor.
Kurzum, Frau von Ditzingen war in jedweder Hinsicht Sophie Taylors Gegenstück und somit ein echter Glücksfall für David.
Sie strich sein festes dunkles Haar aus der Stirn und lächelte ihm wohlmeinend zu. »Ich hab dir etwas Feines gekocht, David.«
Er schnupperte. Alle Sommersprossen auf seiner Nase schienen zu tanzen, als er erfreut rief: »Rindfleischsuppe mit Nudeln!«
»Damit du wieder zu Kräften kommst.« Sie fand, dass er während ihrer Abwesenheit abgenommen hatte. Und blass war der Bub! »Wie war’s denn so? In der Schule zum Beispiel.«
Ein Dauerstress-Thema. Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Soll ich dir helfen?«, erkundigte er sich beflissen.
»Du könntest die Petersilie hacken, David. Aber sei vorsichtig mit dem großen Messer, es ist ziemlich scharf.«
»Kein Problem.« Einzig sie traute ihm etwas zu. Also ging er mit Feuereifer an die Arbeit. »Bleibst du jetzt hier?«
Sie hielt inne. Wie hatte er die Frage gemeint?
»Mama hat gesagt, dass du vielleicht nicht mehr zurückkommst.«
Ach. Frau von Ditzingen stemmte eine Hand in die Seite.
»Weil deine Mutter schon sehr alt ist. Ist sie doch, oder?«
»Klar. Es geht ihr aber wieder ganz gut. Glücklicherweise.«
»Dann musst du nicht mehr zu ihr fahren und dich kümmern?«
»Erst mal nicht. Hoffentlich nicht. Na ja, man weiß ja nie.«
»Mama hat gesagt, dass dir die Arbeit langsam zu viel wird.«
»Soso.« Nun stemmte sie auch die andere Hand in die Seite.
»Aber du gehst nie für immer weg, versprochen?«
Sie sah die Angst auf dem Grund seiner blauen Augen und zog ihn spontan an sich. »Ich bleibe, so lange du willst, David.«
Er seufzte tief auf. »Für immer, Frau von Ditzingen.«
Sie hielten einander umschlungen und wirkten wie zwei glückliche Schiffbrüchige, die ihr Floß tapfer über den Wellen hielten.
Ein spitzer Schrei beendete die Idylle in der riesigen Küche, die an ein Filmset für durchgeknallte TV-Kochshows erinnerte.
Sophie Taylor, atemberaubend schick in einem äußerst schmalen schwarzen Hosenanzug, wenn auch etwas wacklig auf besonders hohen High Heels, schrie ihren Sohn an: »Leg sofort das Messer weg!«
Dann traf Frau von Ditzingen ein Blick von Eiszapfenqualität. »Es wird immer schlimmer mit Ihnen! Wie können Sie zulassen, dass David mit diesem Mordwerkzeug umgeht! Wie leichtsinnig!«
»Sehen Sie irgendwo Blut?« Frau von Ditzingen blieb gelassen.
Sophie fauchte ihren Sohn an. »Was suchst du hier überhaupt?! Solltest du nicht deine Hausaufgaben machen? Und dann kriege ich wieder die Vorwürfe deiner Lehrerin ab. Willst du das etwa?«
Davids Miene war fest verschlossen, ausdruckslos sowieso. Und sein Kopf senkte sich so tief, dass das Kinn die Brust berührte.
»Sieh mich an!«, forderte Sophie wütend.
Frau von Ditzingen meinte, sich einmischen zu müssen. »Er hat doch nichts Unrechtes getan, Sophie!«, vermittelte sie.
Sie war in die Villa gekommen, als Sophie noch in die Grundschule ging. Sie hatte sie aufwachsen gesehen und sie auf allen Stationen ihres bisherigen Lebens begleitet. Treu und unwandelbar. Aber nie war es ihr gelungen, näher an Sophie heranzukommen. Das herzliche Einvernehmen, das zwischen ihr und Paul herrschte, Sophies jüngerem Bruder, hatte sich nie einstellen wollen.
Froh darüber war sie nicht. Inzwischen glaubte Frau von Ditzingen jedoch, dass es unmöglich war, Sophies Herz zu öffnen. Weil es kein solches Organ gab.
Frau von Ditzingen blieb einzig Davids wegen in der Villa, die Sophie nach dem Tod der Eltern nach ihren eigenen Vorstellungen umgestaltet hatte, vielmehr hatte umgestalten lassen. Von einem prominenten, hochgeschätzten und kostspieligen Innenarchitekten.
Und das Ergebnis war eine Art Kühlhaus, in dem man trotz Fußbodenheizung das ganze Jahr über fröstelte.
»David, du zeigst mir sofort deine Hausaufgaben.« Sophie straffte sich, als sie ihre Hausdame fixierte. »Und für Sie bin ich Frau Taylor, wenn ich bitten darf«, zischte sie ungnädig.
Sophies Arbeitgebermiene konnte Frau von Ditzingen nicht einschüchtern. »Wollen Sie auch etwas essen? David und ich werden uns die Rindfleischsuppe mit Nudeln gleich schmecken lassen.«
Rindfleischsuppe? Auch noch mit Nudeln? Sophie wirkte angewidert, als wäre von Krötenschleim die Rede gewesen. »Ich will noch mal rasch in die Stadt fahren. Mein Mann kommt am Wochenende.«
»Mr Richard kommt?« Frau von Ditzingen strahlte über das liebe, rundliche Gesicht. »Wie nett.« Sie tätschelte Davids Wange. »Gelt, das ist schön, dass der Papa mal wieder heimkommt.«
Es klingelte. »Die Post kommt täglich später«, zickte Sophie.
David sauste in die Eingangshalle, froh zu entkommen.
Frau von Ditzingen rechnete nicht damit, dass sich die Dame des Hauses, der sie einst Puppenkleider genäht hatte, nach dem Befinden ihrer Mutter erkundigte. Sophie nahm niemals Anteil.
David kam zurück, er hielt einen Packen Briefe in der Hand. »Einer ist für mich!«, verkündete er begeistert. Die blauen Augen leuchteten. »Es ist eine Geburtstagseinladung. Von Lena Mahler.«
Selten lud ihn jemand zum Geburtstag ein. Zwar bewunderten ihn einige Mitschüler wegen des Blödsinns, den er anstellte, doch die dazugehörigen Eltern mochten ihn gerade deshalb nicht. Einzig seiner Mutter zuliebe, der tonangebenden Sophie, mit der man sich nicht anlegen wollte, nahm man ihn gelegentlich zur Kenntnis.
Sophie schnappte sich den apfelgrünen Brief und kümmerte sich nicht um Davids betroffene Miene. Auf Frau von Ditzingen achtete sie erst recht nicht, das meinte sie, nicht nötig zu haben.
»Lena Mahler?« In Sophies Glasmurmelaugen wetterleuchtete es.
»Ist Lena nicht die Tochter deiner Klassenlehrerin?«, wollte die Hausdame fabelhaft arglos von David wissen.
David nickte, er schien kurz davor zu sein, vor Stolz zu platzen. »Lena hat schon mal eine Klasse übersprungen.«
»Kunststück, wenn die Mutter Lehrerin ist«, versetzte Sophie abschätzig und schlitzte den Umschlag mit dem muschelfarben lackierten Nagel des kleinen Fingers der linken Hand auf, der den Siegelring mit dem mütterlichen Wappen trug. »Fragt sich nur, wo Lenas Vater steckt oder ob der längst die Flucht ergriffen hat.«
Die Hausdame hätte gern den Kopf geschüttelt. Stattdessen versuchte sie, den Jungen mit einem Lächeln zu beschwichtigen.
»Eine Frechheit!«, rief Sophie Taylor ungeheuer aufgebracht und riss Brief und Umschlag in kleine Fetzen. Die rieselten wie apfelgrüne Schneeflocken auf den Boden. Was sie nicht kümmerte.
Davids schockierte Miene nahm sie auch nicht wahr. Es war Frau von Ditzingen, die den Arm um die Schultern des Jungen legte.
»Wärst du gern hingegangen?«, fragte sie ihn leise.
Sein Kinn krauste sich. »Nein!«, stieß er trotzig hervor.
»Aber Lena hat dich zu ihrem Geburtstag eingeladen. Nett von ihr. Sie scheint ein liebes Mädchen zu sein und dich zu mögen.«
»Zu diesen Leuten geht David ganz bestimmt nicht«, ließ sich Sophie vernehmen, schon aus dem Hintergrund der riesigen Küche. »Außerdem kennt er Lena überhaupt nicht.«
»Doch«, brachte er hervor. Leider viel zu leise, weil er damit beschäftigt war, die Tränen zurückzudrängen.
Sophie bestellte sich bei Frau von Ditzingen einen Espresso.
Die Hausdame verdrehte die Augen, zog David an sich und strich ihm über den dunklen Kopf. »Sie meint es bestimmt nicht so«, murmelte sie begütigend, obwohl leider vom Gegenteil überzeugt. »Ich werde gleich noch mal mit ihr reden. Einverstanden?«
Im Wohnzimmer blätterte Sophie Taylor die Seiten eines Hochglanzmagazins um, dass es nur so knallte. Sie nahm die bunten Fotos aber nicht wahr, weil zutiefst aufgewühlt. Wie lästig, musste sie doch smart aussehen für Richard, den smarten Ehemann, der in der Villa leider nur Gastspiele gab. Für Sophie äußerst peinlich, denn das widersprach ihrer Inszenierung einer Traumbeziehung.
»Ich wäre sowieso nicht hingegangen«, sagte David erstickt.
Die Hausdame fragte mitfühlend: »Warum denn nicht?«
»Weil … sie mich in Wirklichkeit nicht leiden kann.«
»Also ich würde mir niemanden einladen, den ich nicht mag«, sagte die Hausdame und blickte in Richtung Wohnzimmer. »Hör mal, David, an deiner Stelle würde ich mir die gute Gelegenheit nicht entgehen lassen, Lena näher kennenzulernen. Wer weiß, vielleicht gefällt sie dir so sehr, dass sie deine Freundin wird.«
»Das geht nicht, weil …« Er brachte den Satz nicht zu Ende.
»Weil?«
Der fast Achtjährige flüsterte unwillkürlich, als würde er das Böse beschwören, wenn er den Namen aussprach: »Sie ist doch Frau Mahlers Tochter. Und Mama kann Frau Mahler nicht leiden.«
»David, vielleicht ist die Einladung ein Friedensangebot.«
»Lassen Sie das Kind in Ruhe, Frau von Ditzingen«, rief Sophie mit klirrender Stimme. »Merken Sie nicht, wie durcheinander er ist? Diese Frau verbreitet nichts als Chaos, egal, was sie tut!«
Frau von Ditzingen verlor langsam die Geduld. »Welche Frau?«
»Die Mahler, Davids unausstehliche Klassenlehrerin. Tun Sie nicht so, als ob Sie nicht wüssten, wen ich meine!« Sophie warf die Zeitschrift auf den Boden. »Und wo bleibt mein Espresso?«
»Kommt sofort.« Die rundliche Frau sah David an. »Willst du mich begleiten? Der Erdbeerkuchen müsste gleich fertig sein.«
Seine randvollen Augen leuchteten auf. »O ja.«
»David muss mir erst seine Hausaufgaben zeigen«, bestimmte Sophie böse. »Und zu der Mahler geht er auf keinen Fall. Im Übrigen verbitte ich mir jede weitere Einmischung. Das ist eine Familienangelegenheit, Frau von Ditzingen!«
David riss sich los und rannte aus dem Wohnzimmer. Gleich darauf hörte man in der Halle etwas poltern. Als hätte jemand kräftig gegen den Barockstuhl getreten und ihn zu Fall gebracht.
Sophie liebte es, sich ausufernd über dessen hochadlige Herkunft zu verbreiten, dies die Version des Antiquitätenhändlers. Ein kleines Vermögen hatte das Möbel gekostet, hatte die Dame des Hauses ihren Sohn nicht oft genug darauf hingewiesen?
Aber, ach, ein Unglück kommt bekanntlich selten allein.
Im nächsten Augenblick meldete sich Sophies Smartphone. Sie warf einen Blick aufs Display. Ihre Miene gefror, als sie die Message aus New York las. Richard sagte ab, wichtige Termine zwangen ihn, den Flug nach Deutschland zu stornieren.
*
Helene Mahler hatte gerade die riesige Schüssel mit der Schlagsahne aus dem Kühlschrank geholt, als sie innehielt. Verblüfft blickte sie aus dem weit geöffneten Küchenfenster, durch das der Frühlingsgarten betörend süß hereinduftete.
»Sag mal, Flora, kennst du jemanden, dem eine Luxuslimousine gehört? So eine hält nämlich direkt vor dem Gartentor.« Sie ließ ihre Tochter nicht zu Wort kommen und setzte hinzu, womöglich noch überraschter: »Du, er will zu uns, dieser fabelhaft aussehende Mann. Kann das denn sein? Ich denke, alle Gäste sind da.«
Flora Mahler blickte ihrer Mutter über die Schulter. »Ach, du liebe Zeit«, stellte sie leise fest. Während sie zart errötete. Und ihr Herz, das neun aufgeregte Geburtstagsgäste bisher nicht aus dem Rhythmus brachten, sprang in einen doppelten Salto.
»Du kennst ihn?« Helene Mahler sah sie forschend, allerdings auch mit einem Hauch von Respekt an. »Der unterscheidet sich aber krass von deinen Steppenwölfen.«
»Mutter!« Flora wich vom Fenster zurück. Über das Display ihrer hohen klugen Stirn lief Kryptisches. Beschwor sie ihren Schutzengel, ihr schleunigst eine Tarnkappe überzuwerfen?
»Meine Güte, sieht der Mann klasse aus«, schwärmte Frau Mahler. »Wie ein Filmstar. Und so geschmackvoll angezogen, Flora. Es ist lange her, dass ich jemanden mit einer derart kultivierten Ausstrahlung sah. Früher hätten wir Gentleman dazu gesagt.«
»Er ist ein Schnösel, Mutter. Furchtbar arrogant. Einer von den Typen, die glauben, die Welt würde sich um sie drehen.«
»Ich finde ihn sympathisch. Er hat etwas sehr Besonderes.«
»Er hat das Charisma eines Bankstahlfachs.«
»Banker ist er? Schade. Bist du sicher, Flora?«
»Dr. Tarnow ist Unternehmer, Mutter.«
»Wieso bist du auf einmal so unwirsch, Liebes?! Der Mann ist ein Traummann. Wenn du mich fragst.«
Nichts wie weg. Aber wohin? »Ich frage dich nicht.«
»Und der kleine Junge ist absolut süß!«
»Lena hat weder David noch Herrn Dr. Tarnow eingeladen.«
Helene rief erstaunt: »Ach, das ist David, der Junge, von dem du mir schon so viel erzählt hast? Hübsch ist er. Na ja, bei dem tollen Vater!«
»Das ist nicht Davids Vater, sondern sein Onkel.«
»Ach. Und womöglich nicht verheiratet?«
»Mutter!« Flora wirkte plötzlich erhitzt. »Wo ist Lena?«
»Wieso gehst du nicht zur Tür, um ihn zu begrüßen?«
»Weil ich nicht will, dass … Mutter, bitte, geh doch vom Fenster weg. Er muss ja denken, dass wir ihn erwartet haben.«
»Wär’s so schlimm?« Helene Mahler gehörte zu jenen Frauen, die nach dem Motto lebten: Wer lacht, überlebt. Jetzt lächelte sie freilich eher sparsam, denn sie wusste um die Achillesferse ihrer Tochter. »Flora, Liebes, meinst du nicht, dass …?«
»Nein, Mutter, das meine ich nicht. Das Leben ist durch nichts verpflichtet, uns das zu geben, was wir erwarten.«
»Ich wünsche mir so sehr, dass du glücklich bist.«
Flora konterte gereizt: »Glück ist eine stabile Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis.« Zack!
»Gesund bist du, wofür ich dem Himmel nicht genug danken kann. Aber ein schlechtes Gedächtnis hast du eben nicht. Sonst …«
»Sorry, ich muss mich jetzt um die Geburtstagsgäste kümmern.«
Lena hüpfte in die Küche. Sie trug stolz das Geburtstagsgeschenk ihrer Großmutter, nämlich das neue Kleid, das Helene aus einem Stück Himmelsblau geschneidert zu haben schien. »David kommt, ist das nicht super? Ich hab’s schon kaum mehr geglaubt.«
»Wieso hast du ihn eingeladen?«, fragte Flora kurzatmig.
»Hoffentlich ist das okay für dich, Mami.« Lena mit den blonden Zöpfen und den glänzenden Eichhörnchenaugen lächelte ihr Zahnlücken-Lächeln, dem einfach nicht zu widerstehen war.
»Natürlich. Aber wieso weiß ich nichts davon?«
»Du sagst so oft, dass David eine Chance verdient hat«, verteidigte Lena entwaffnend logisch. »Hab ich was falsch gemacht?«
Helene gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ein gutes Herz kann gar keine Fehler machen, meine Süße.«
Blitzschnell warf Lena beide Arme um Helene und drückte sie nach Art der Würgeschlangen. »Mami, der Saft ist alle. Und wann spielen wir Theater? Ich hab die Kostüme nämlich schon verteilt.«
Flora schnappte sich zwei Apfelsaftflaschen und schob Lena aus der Tür. Verdächtig eilig hatte sie es, in den Garten zu kommen.
Nur der erste Schritt kostet Mühe, dachte Helene Mahler und öffnete beherzt die Haustür, deren kornblumenblauer Lack in letzter Zeit betrüblich abblätterte. Was der Hausbesitzer ignorierte.
Vor ihr standen im goldenen Sonnenschein, umflattert von Schmetterlingen, Onkel und Neffe, Dr. Paul Tarnow und David, der hinter dem kapitalen Strauß bunter Rosen fast verschwand.
Er ist es!, schoss es Helene Mahler jubilierend durch den Kopf, als sie dem hochgewachsenen, schmalköpfigen Paul die Hand zur Begrüßung reichte. »Herzlich willkommen«, rief sie, die Stimme trunken von Entzücken. Fast zog sie ihn ins Haus.
Alles entsprach haargenau ihrer Vorstellung vom perfekten Erdenglück. Das Schicksal hatte es bisher nicht besonders gut mit ihr gemeint, doch nun schien sich das Blatt zu wenden – es hatte einen Traumschwiegersohn vorbeigeschickt. Wunderbar, endlich passierte mal wieder etwas, und zwar etwas Vielversprechendes!
*
Die Geburtstagsgesellschaft veranstaltete einen ohrenbetäubenden Lärm, vibrierte nicht auch die Luft? Die Vögel schienen sich in die schützende Tiefe der Baumkronen zurückgezogen zu haben und auf das Ende der turbulenten Veranstaltung zu warten.
Für Paul Tarnow hätte das Fest noch stundenlang dauern können. Er war von Floras liebenswürdiger Mutter in einen superkomfortablen, mit allerweichsten Kissen gepolsterten Korblehnstuhl auf der Terrasse platziert worden und wurde seither von ihr abwechselnd mit frischem Kaffee und Geburtstagstorten verwöhnt.
Ein wunderbarer Empfang. Eine selten gastfreundliche Familie.
Lena Mahler hatte sich aufrichtig gefreut über das ihr von David etwas schüchtern überreichte Geschenk. Wobei erwähnt werden musste, dass nicht etwa Sophie das Buch plus CD über den jungen Mozart auswählte, sondern Paul. Hätte er seiner Schwester überlassen, für Lena Mahler ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen, wäre es magerer ausgefallen, davon war er überzeugt.
Paul seufzte behaglich auf. Er konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt er sich derart entspannt gefühlt hatte. Nicht mal während seines letzten Fünfhundert-Sterne-Urlaubs auf einer Privatinsel in der Karibik war ihm derart wohl gewesen.
Das Inselparadies gehörte dem Cousin der hinreißend schönen Joanne, die ihn eingeladen hatte, um ihn ihrer Familie vorzustellen. Was sie ihm diplomatisch verschwiegen hatte. Nicht gerechnet hatte sie indes mit ihrer Zwillingsschwester Jennifer, die Paul bei erstbester Gelegenheit ruckzuck in ihren Bungalow zog, um ihn über Joannes Absichten aufzuklären.
Mit dem nächsten Flugzeug hatte er die Insel verlassen.
»Eigentlich wollte ich gar nicht lange bleiben. Hoffentlich störe ich nicht«, sagte Paul, freilich eher höflichkeitshalber.
Fast hätte Helene aufgelacht. »Wie gesagt, Sie sind uns herzlich willkommen. Nicht doch noch ein Stück Butterkuchen?«
»Er ist köstlich. Haben Sie den auch selbst gebacken?«
»Natürlich.« Sie schenkte ihm erneut Kaffee ein und versorgte ihn mit einem großen Stück Butterkuchen. »David ist ja reizend. Wie ist er bloß zu dem Ruf gekommen, ein Radaubruder zu sein?«
Sein Neffe fügte sich problemlos in die Schar der Geburtstagsgäste ein, die durchweg älter als er waren. Die Umgebung schien ihm gutzutun, denn er zeigte sich von seiner Schokoladenseite.
Flora beschäftigte die Kinder mit spannenden Spielen, die allesamt Anklang fanden. Obwohl es keine Preise zu gewinnen gab.
Während Paul mit Frau Mahler plauderte, etwas träge freilich, was dem sich füllenden, auf Hochtouren arbeitenden Magen geschuldet war, versuchte er, Flora möglichst unauffällig zu beobachten.
Sie war eine erstaunliche Frau. Er bewunderte grenzenlos, wie entspannt sie den Kindergeburtstag managte. Unglaublich jung wirkte sie, wenn sie mit den Kindern um die Wette rannte oder zur von ihr sorgfältig vorbereiteten Schnitzeljagd aufrief.
Bei ihrer ersten Begegnung in der Schule hatte sie streng gewirkt, erinnerte sich Paul. Und zuletzt unnahbar. Aber dann, als er sie fast überfahren hätte, neulich in der City, da war sie faszinierend natürlich gewesen. Und alles andere als abweisend.
Die Frage war, was er anstellen musste, um mehr über diesen Professor herauszufinden, den Mann mit dem gelben V-Pullover.
Helene Mahler beobachtete ihn ihrerseits betont unauffällig und war darin wesentlich erfolgreicher. Was sie sah, schien erfreulicherweise Anlass zu den schönsten Hoffnungen zu geben.
Immer wieder dachte sie: Ihn muss der Himmel geschickt haben!
»Sie sind gewiss viel unterwegs, Herr Dr. Tarnow. Mein Mann war übrigens auch Unternehmer, er musste viel reisen.«
»Ich fürchte, ich bin öfter in der Luft als hier unten auf der Erde.« Bislang hatte er seinen rasanten First-Class-Lebensstil als Normalität betrachtet. Wie maßgeschneidert passte er zu ihm, der ungern an einem Ort länger verweilte. Insbesondere dann, wenn Langeweile aufkam. Langeweile ging gar nicht.
Zum ersten Mal fragte er sich, was eigentlich an dieser Hektik so reizvoll war. Ferner war er noch nie auf den Gedanken gekommen, jemand könnte darüber nachdenken, was ihn mit solcher Lust durch die Weltgeschichte trieb.
Und was trieb ihn durch die Weltgeschichte? Paul bemerkte hastig, indem er auf das Haus und den Garten deutete: »Ein gemütlicheres Zuhause habe ich in der ganzen Welt noch nicht gesehen.«
Mit einem Lächeln dankte sie ihm. »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie viel eleganter wohnen.« Flora hatte einige wenige Andeutungen gemacht, Davids mütterliches Anwesen betreffend. Eine feine Villa mit Park, Pfauenvögel draußen, Personal drinnen.
Mag sein, räumte er ein. Sophies Vorstellung von Eleganz, vielmehr die ihres Innenarchitekten, war fraglos beeindruckend, auch eignete sie sich vorzüglich für Homestorys. Gleichwohl konnte man die Villa nicht wirklich als behagliches Heim bezeichnen.
Als er an seine Schwester dachte, erinnerte er sich unseligerweise an die letzte böse Szene in ihrem kühl-eleganten Haus.
Sophie war strikt dagegen gewesen, dass David an Lena Mahlers Geburtstagsfeier teilnahm. »Du gehst nicht zu dieser Hexe von Lehrerin. Wer weiß, was sie im Schilde führt.«
Paul hatte sich für seinen Neffen stark gemacht. »Nicht Flora Mahler hat ihn eingeladen, Sophie, sondern ihre Tochter Lena.«
»Die Mahler betrachtet David als ihr privates Trojanisches Pferd, Paul. Ist das so schwer zu begreifen? Sie benutzt meinen Sohn! Um sich bei uns einzuschleichen! Aber da hat sie sich verkalkuliert. Über meine Schwelle setzt sie ihren Fuß nicht.«
David hatte gemurmelt: »Muss sie ja auch nicht.«
Sophie hasste es, aus dem Konzept gebracht zu werden. »Wie?«
»Wenn sie eine Hexe ist, wie du behauptest, dann fliegt sie.«
»Sie fliegt?«
»Mama, Hexen haben einen Besen. Eine Art Flugbesen.«
Bekanntlich war Sophie völlig humorbefreit. »Was gibt’s da zu lachen, Paul?«
»Ich werde David zu seiner Schulfreundin fahren.«
Sophies Miene ähnelte nun der von Davids Hamster, als er ihn mal bei den Ohren aus dem Ranchhaus herausgezogen hatte.
»Nein!«, rief Mrs Taylor mit streng gerunzelten Brauen.
»Doch!« David war wie der Blitz losgeflitzt …
Paul dankte seiner Gastgeberin für das mächtige Stück Erdbeertorte, lehnte auch den Klacks Schlagsahne nicht ab und war grenzenlos froh, sich bei Sophie durchgesetzt zu haben. Andernfalls wäre ihm dieser himmlische Nachmittag entgangen.
Wo war er eigentlich, auf einem anderen Stern?
Helene Mahler musste ihre Stimme erheben, um das fröhliche Kinderstimmengewirr zu übertönen. »Meine Tochter wird bestimmt gleich Zeit für Sie haben, Herr Dr. Tarnow. Wenn die Kinder nämlich ihre Pizzen verspeisen.«
»David liebt Pizza.« Paul fragte vollkommen beiläufig: »Und der Herr Professor, lässt er sich heute gar nicht blicken?«
Sie sah ihn verblüfft an. »Der Herr Professor?«
»Er wohnt doch hier, oder? Ich spreche von Lenas Vater.«
Sie stutzte. Dann warf sie zu seiner Überraschung den Kopf zurück und lachte schallend. So laut, dass Flora aufmerksam wurde.
»Alles in Ordnung«, bedeutete Helene ihrer Tochter, noch immer höchst erheitert. »Davids Onkel hat sich nach dem Professor erkundigt. Wo steckt er eigentlich?«
»Hinter dem Zelt«, rief Flora und pustete sich eine Locke aus der Stirn. »Eben noch hat er zum Gotterbarmen geschnarcht.«
Paul war befremdet. Der Hausherr schien keinen gesteigerten Wert auf Formen zu legen. Und wieso nahm er nicht am Kindergeburtstag seiner Tochter teil? Alles überließ er Flora.
Paul fand Lenas Vater zunehmend unsympathisch. Wie kam diese tüchtige junge Frau mit so einem Knilch zurecht?
David rannte hinter das Zelt und kam wenig später mit einem großen gelben Hund zum Vorschein, den er am Halsband führte. Auch bei dem Siebenjährigen hatte die entspannte Umgebung Wunder vollbracht: Davids Angst vor großen Hunden war komplett verschwunden.
Der Hund hatte bis zu Davids Kommen auf der Seite gelegen, die vier Pfoten von sich gestreckt, ein wenig in die Sonne geblinzelt und gelegentlich gegähnt. Wie jemand, der auf bessere Zeiten wartet. Jetzt sprang er auf und war mit wenigen Sprüngen bei dem fremden Besucher, um ihn zu beschnuppern.
»Er beißt nicht«, sagte Lena.
»Mein Onkel auch nicht«, sagte David. »Jedenfalls nicht oft.«
Darauf sahen sich die Kinder an, prusteten gleichzeitig los und rannten davon, um sich wenig später ins Gras zu werfen. Der Länge nach und mit brüllendem Gelächter.
Paul wirkte ungewöhnlich verunsichert. Und zwar nicht nur, weil ihm die Abstammung des großen Gelben fragwürdig vorkam.
»Das ist der Professor«, stellte Helene Mahler vor. »Fällt Ihnen der intellektuelle Ausdruck seiner Augen auf? Wir haben ihm deshalb den akademischen Titel verliehen. Aber auch, weil ich finde, dass es wichtig ist, einen Mann im Haus zu haben.«
»O Gott«, seufzte Paul verlegen. »Wie peinlich.«
»Sie erfährt nichts. Also ich spreche von meiner Tochter.«
Er hätte sie vor Dankbarkeit küssen mögen, diese unwiderstehlich warmherzige ältere Dame mit dem quicklebendigen Temperament.
»Lenas Vater lebt leider nicht mehr«, setzte Helene Mahler hinzu, jetzt ernst. »Er starb lange vor ihrer Geburt. Dass er Vater werden würde, hat er tragischerweise nicht mehr erfahren.«
Paul sah sie schockiert an. »Das bedaure ich sehr.« Eine furchtbare Geschichte erzählte sie ihm da.
»Flora war damals wie von Sinnen, als man ihr die Nachricht von Michaels Unfalltod überbrachte, wenigstens schonend. Aber was heißt das schon in einer solchen Situation, nicht wahr?«
Er war blass geworden, Mitgefühl durchströmte ihn. Er dachte an Flora, die in jungen Jahren Entsetzliches erfahren musste.
»Ja, ein schwerer Schicksalsschlag.« Die zierliche, ältere Dame im schlichten marineblauen Sommerkleid mit der kurzen Perlenkette im runden Halsausschnitt, ein weißer Lackgürtel akzentuierte die Taille, wirkte bekümmert. Die Erinnerungen an jene unglückliche Zeit belasteten sie fraglos noch immer. »Lange hat es gedauert, bis meine arme Flora wieder ins Leben, zur Normalität zurückkehren konnte. Die erste Zeit war schwierig, schon der Anblick eines glücklichen Paars ließ sie in Tränen ausbrechen.«
Paul fröstelte trotz der warmen Sonnenstrahlen.
»Es war natürlich schmerzlich, dass Lena ihren Vater nie kennenlernen würde«, gab Frau Mahler bekümmert zu bedenken. »Dennoch empfand ich es als tröstlich, dass es das Ungeborene gab. Das Baby war zugleich Michaels Vermächtnis und unser aller Hoffnung, dass es trotz allem doch weitergehen würde.«
»Ihre Tochter ist eine großartige Mutter, Frau Mahler. Wie sie auch eine ungewöhnlich engagierte Lehrerin ist.«
»Das ist sie. Ich höre es immer wieder von dankbaren Eltern.«
Nie sollte sie erfahren, wie Sophie über Flora herzog. »Es war gewiss ein Glück im Unglück, dass Sie Ihrer Tochter beigestanden haben.« Paul war damals, nach dem tragisch frühen Tod des Vaters, sehr allein gewesen. Um ihn hatte sich niemand gekümmert, seine Mutter war direkt nach der Beisetzung – im großen Stil, versteht sich – auf eine Kreuzfahrt gegangen. Zusammen mit Sophie.
»Und ich empfinde es als weiteres Glück im Unglück, dass Flora mir erlaubte, mich zu kümmern«, gestand ihm Frau Mahler. »Viele Menschen neigen ja leider dazu, sich zu verschließen. Und eine einmal zugeworfene Tür ist immer so schwer zu öffnen.«
Sie trank einen Schluck Kaffee. Im nächsten Moment zuckte sie zusammen und krümmte sich ein wenig. Als er sie beunruhigt ansah, winkte sie beschwichtigend ab. »Alles in Ordnung.«
Paul fand sie außerordentlich sympathisch. Sie schien ein Herz aus purem Gold zu haben. Und er fragte sich, wieso er Frauen wie ihr bisher nie begegnet war. Hätte er sie denn erkannt in der Menge der Schicken, Gestylten, Anspruchsvollen seiner Umgebung?
»Die kleine Lena ist übrigens nach mir genannt worden. Damit wollte mir Flora eine Freude machen. Tja, und so sind wir ein Dreimädelhaus geworden, eine WG der besonderen Art.« Helene Mahler lachte ihr ansteckendes, warmherziges Lachen.
Paul suchte und entdeckte Flora inmitten der bunten, zappelnden Kinderschar. Ihre rotblonden Haare waren zerzaust, die Wangen glühten. Nie hatte sie hübscher ausgesehen als in diesem Moment.
Sein Herz öffnete sich, ein nie gekannter Gefühlsmix durchströmte ihn derart, dass er sich vollkommen überwältigt fühlte und nur einen Wunsch verspürte, nämlich den, ihr nahe zu sein.
Er, der Nähe misstraute und notorisch floh, er, den Anne St. Simon einmal augenzwinkernd einen Flüchter nannte, er wünschte sich nun innig, Flora möge ihn akzeptieren und nicht ablehnen.
Wie hatte er sie nur für kühl und distanziert halten können, warf er sich nun vor, da er mehr von ihr wusste und sie in einem ganz anderen Licht sah. Warum bloß hatte er ihre aufrechte, klare Haltung missdeutet?
Die Antwort war wenig schmeichelhaft: Er hatte sich von Sophies Meinung unkritisch beeinflussen lassen. Dabei hätte er, der sich für einen welterfahrenen Mann hielt, auf den ersten Blick erkennen müssen, dass Flora sich lediglich aus gehabter Erfahrung eine Art Schutzschild zulegte.
Ihre große Liebe, Lenas Vater, lebte nicht mehr.
Wie dachte sie über eine neue Beziehung? Gab es womöglich wieder einen Mann in ihrem Leben, der ihr etwas bedeutete?
Ihre Mutter konnte er schlecht danach fragen.
Flora legte gerade den Arm um Davids Schultern und hörte ihm aufmerksam zu. Sein raffinierter Neffe schien die Mitteilung absichtlich in die Länge zu ziehen, um Zeit zu schinden.
Paul dachte sehnsuchtsvoll: Wenn sie jetzt den Kopf hebt und mich ansieht, dann habe ich eine Chance.
Ach nein, setzte er in Gedanken hinzu, wie blöd, das ist Opas Kintopp und funktioniert nur in ranzigen Drehbüchern.
Flora Mahler hob den Kopf, strich sich dabei das rotblonde, im Sonnenschein flirrende Haar zurück – und lächelte ihm zu.
*
Bei ihr kam die Pflicht grundsätzlich vor dem Vergnügen: Flora hatte den Garten aufgeräumt und es sich anschließend auf dem breiten Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Auf dem Tischchen neben ihr standen eine Teekanne und ein Becher sowie ein großer Teller mit den Überresten von Helenes üppigem Kuchenbüfett.
Die junge Frau in der weißen Bluse und den hellen Baumwollhosen schloss die Augen. Aber statt der erhofften Entspannung war sofort und, klar, ungerufen Paul Tarnows Gesicht da. Ein schönes Gesicht mit feinen und doch atemberaubend männlichen Zügen. Dunkles Haar, glatt, fest und glänzend. Die noble Form der Stirn, manchmal sprang eine Ader hervor, Zeichen der Ungeduld. Blaue Augen unter kühn geschwungenen Brauen. Ein vielleicht etwas großer, aber fester Mund. Und der Teint hatte einen Goldton, den Flora an niemandem zuvor gesehen hatte. Wo erwarb man sich solche Sonnenbräune? Beim Golfen in Florida? Auf Sylt? An der Côte d’Azur?
Die Tür zum Garten stand weit offen, die Vorhänge bauschten sich ein wenig, weil draußen Wind aufgekommen war. Lenas Lachen irrlichterte wie ein Sonnenstrahl durchs Grüne. Helene Mahler klapperte in der Küche mit Geschirr. Entspannte Sonntagsstimmung.
Floras Gedanken mäanderten vor sich hin und gerieten in Gegenden, die ihr in den letzten Jahren fremd geworden waren. Sie seufzte behaglich auf und kuschelte sich in die Kissen.
Bis das Telefon schrillte und sie aus süßen Träumen riss.
Lena kam angesaust, der Professor folgte ihr phlegmatisch.
»Ist es für mich, Mami? David wollte anrufen.«
Helene Mahler kam aus der Küche, das Geschirrhandtuch in der Rechten. »Es könnte für mich sein, Flora. Gib mal her.«
Flora hielt die Sprechmuschel mit der Hand zu. »Es ist für mich, stellt euch vor.« Sie setzte sich im Schneidersitz aufrecht hin und wartete, bis Mutter und Tochter sich zurückzogen.
»Hallo«, sagte sie dann mit merkwürdig belegter Stimme.
»Hoffentlich störe ich nicht.« Paul lachte verlegen. Ein Lachen, das ihm völlig unbekannt war.
»Ich habe schrecklich viel zu tun«, sagte sie, bemüht um einen distanzierten Ton. Als sie ihre Mutter an der Tür entdeckte, bedeutete sie ihr, schleunigst zu verschwinden. Sie drehte, was noch nie vorgekommen war, sogar den Kopf zur anderen Seite.
»Das Wetter ist so schön, ich dachte, wir könnten an die See fahren. Wenn Ihre Frau Mutter und Lena Lust haben, dann …«
Flora lächelte selig. »Heute geht’s ganz schlecht. Leider.«
Helene kam näher. »Wieso denn?«, zischelte sie. »Du hast nichts vor, Flora. Hast du vorhin selbst gesagt!«
Flora warf ihr einen ungehaltenen Blick zu, was sonst gar nicht ihre Art war. »Vielen Dank für Ihren Anruf, aber ich muss jetzt wieder was tun. Hefte korrigieren, Sie verstehen.«
Helene Mahler flüsterte beschwörend: »Flora!«
»Wir können auch in der Stadt bleiben und irgendwo einen Espresso trinken«, sagte Paul. »Es muss ja nicht ewig dauern.«
»Vielleicht ein andermal«, vertröstete ihn Flora, verabschiedete sich überraschend hastig und beendete das Telefonat.
Anschließend saß sie mit geschlossenen Augen regungslos da.
Frau Mahler baute sich vor dem Sofa auf und sah sie an, unzufrieden wie selten. »Ich verstehe dich nicht, Kindchen!«
»Mutter, würdest du mich bitte in Ruhe lassen?«
»Den Teufel werde ich tun!« Frau Mahler holte tief Luft. »Du magst ihn doch, das weiß ich. Eine Mutter spürt so etwas.«
»Ach ja?« Flora gab sich beherrscht. Nicht sehr erfolgreich.
»Seit du ihn kennengelernt hast, bist du anders. Jawohl, du hast dich verändert. Erfreulich positiv, wie ich finde. Und das hängt definitiv mit Paul Tarnow zusammen. Du bist viel entspannter als früher, wirkst wesentlich weicher. Und femininer.«
»Mutter, ich würde gern das Thema wechseln.«
»Aber ich nicht. Mir ist jetzt enorm danach, dir zu erzählen, was ich mir so vorstelle. Ich habe nämlich einen Traum.«
Flora verdrehte die braunen Augen und ließ sich zurückfallen.
Helene seufzte auf, so tief, wie nur Mütter seufzen können. »Ich will doch nur dein Glück, Kindchen«, sagte sie. »Und nun behaupte nicht, dass du glücklich bist. Das stimmt nämlich nicht.«
»Mutter, du irrst dich. Mir fehlt nichts zu meinem Glück.«
»Eine hübsche und begabte junge Frau wie du sollte nicht allein durchs Leben gehen. Jeder Mensch sehnt sich nach Liebe.«
»Lena hat mich lieb. Und du hoffentlich auch, Mutter.«
»Sei doch nicht so störrisch, Flora. Du weißt genau, wie ich’s meine. Ich denke weder an die Liebe einer Tochter noch an die Liebe einer alten, albernen Mutter. Sondern an die eines Mannes.«
»Gib nicht so an, du bist weder alt noch albern.«
»Aber wenn ich eines Tages mal die Augen schließe, dann …«
Flora richtete sich auf. »Mutter, du bist kerngesund!«
Helene Mahler zögerte. »Ich bin nicht unsterblich.«
Die junge Frau war sofort beunruhigt, denn solche Töne hörte sie selten von ihrer Mutter. »Warst du endlich beim Arzt?«
»Vor vierzehn Tagen.« Helenes Stimme klang bedrückt.
»Und?« Flora fragte es angespannt.
»Er will noch einen Test machen. Zur Sicherheit.«
»O nein.« Flora sprang auf und umarmte Helene. »Mutter, es tut mir schrecklich leid, dass ich eben so garstig war. Und in den letzten Tagen war ich anscheinend auch nicht sehr aufmerksam.«
»Du hast ja immer so viel um die Ohren.«
»Du bist die Beste von allen.« Zärtlich zog Flora ihre Mutter an sich. »Und ich will dich nicht verlieren. Du bist mein Stecken und mein Stab, mein Vorbild, ohne dich bin ich verloren.«
»Du liebe Zeit, ist schon wieder Muttertag?« Helene gab sich gern unverwüstlich. Ungern mutete sie sich ihrer Umgebung zu.
Flora wusste um das hohe Verantwortungsgefühl ihrer Mutter. Hatten Lena und sie nicht immer davon profitiert?
»Es ist bestimmt nichts Schlimmes.« Helene gab sich große Mühe, ihre Verzagtheit zu überspielen. »Außerdem bin ich, wie du weißt, ein Stehaufweibchen, mich wirft so schnell nichts um.«
»Du hast immer Stärke gezeigt, auch dafür bewundere ich dich. Aber was spricht dagegen, sich kleine Auszeiten zu gönnen?«
»Das fragt ausgerechnet eine überaus disziplinierte Frau. Wann zuletzt hast du dir eine Schwäche gestattet?«
»Leni und ich, wir können dich nicht entbehren, Mutter. Allein der Gedanke ist gruselig!« Flora sah sie forschend an. »Dein Interesse an Paul Tarnow, sag mal, hat es irgendwie mit dem zu tun, wovor wir uns alle fürchten? Willst du mich versorgt wissen?«
»Der Mann ist großartig, Flora. Und nicht nur das, ich hab’s sofort gewusst, dass er der Richtige ist. Der einzig Richtige.«
Flora holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus.
Helene rief triumphierend: »Du bist also meiner Meinung!«
»Natürlich«, gab die junge Frau zu. Erneut aufseufzend.
»Dem Himmel sei Lob und Dank!«
»Stopp, Mutter.« Flora wurde ernst. »So einfach ist es nicht.«
»Er hat sich in dich verliebt, daran gibt’s überhaupt keinen Zweifel. Und du hast dich in ihn verliebt, Kindchen. Wo, bitte schön, ist das Problem? Ist er etwa verheiratet?«
»Keine Ahnung. Eher nicht. David hat keine Tante erwähnt.«
»Da haben wir ja Glück gehabt.«
»Wir?«
»Wenn ich mir einen Schwiegersohn wünschen dürfte, dann …«
»Du würdest mit diesem Schwiegersohn dein blaues Wunder erleben.« Flora sagte es mit Nachdruck und Überzeugung. »Diesen Mann kann man nicht domestizieren.«
»Und was willst du damit sagen?«
»Paul Tarnows Ruf ist zumindest schillernd.«
»Einspruch. Ich habe mich nämlich informiert, Kindchen.«
»Du liebe Zeit, Mutter, wo denn bloß!?«
»Im Internet war ich. Weil ich wissen wollte, wer sich da um meine einzige Tochter bemüht.«
»Mutter, Männer wie Paul Tarnow sind ewige Jäger auf der Jagd nach neuen Trophäen. Und ich sehe mich nicht als Jagdbeute.«
»Ach, die Journalisten übertreiben doch immer maßlos. Weil das den Auflagen nützt. Der kleinste Flirt wird zu einer Affäre aufgeblasen, und zwar aus rein kommerziellen Interessen.«
»Paul Tarnow ist kein Opfer der Presse«, widersprach Flora scharf. »Sondern ein Mitglied der sogenannten High Society, die mit Bravour skrupellos über die Amüsierszene fegt.«
Plötzlich hatte sie eine Vision der ungeheuer sorglosen, juwelenblitzenden Ladys in Pauls Umgebung. Flora schüttelte sich. »Das ist nicht meine Welt, sie ist mir viel zu oberflächlich.«
»Du warst lange allein, Flora, bist quasi aus der Übung …«
»Meine große Liebe war Michael. Muss ich dich erinnern?«
Herzzerreißend, wie sie sich bemühte, Lenas Vater gerecht zu werden. »Aber er lebt nicht mehr. Im Gegensatz zu dir, Kindchen. Du bist jung. Und bildhübsch. Willst du wirklich allein bleiben?«
»Paul Tarnow würde mich früher oder später nur unglücklich machen. Weil er bindungsunfähig ist. Er mag ja unglaublich charmant sein. Ja, ich weiß, und reich ist er auch, reich von Haus aus und wahnsinnig erfolgreich als Unternehmer. Aber ich will keine Episode im Leben eines Mannes sein, sondern sein Roman.«
»Gib ihm eine Chance.«
»Ich werde ihm auf keinen Fall mein Herz schenken«, entgegnete Flora entschlossen. »O Gott, nein! Er würde es nur verlieren.«
»Ich hielt dich für mutiger.«
»In diesem Fall ist Vernunft besser als Mut. Lebensrettend.«
»Vielleicht ist Paul Tarnow bisher nicht der richtigen Frau begegnet. Was sein turbulentes Privatleben erklären würde.«
»Weshalb sollte ich einem Mann vertrauen, der nicht nein sagen kann?« Flora warf die Hände in die Luft und ließ sie wieder fallen. »Ich muss mich schützen, Mutter, ich will nicht noch einmal eine Katastrophe erleben.«
»Du hast dich in ihn verliebt. Trotzdem hältst du ihn auf Abstand? Du misstraust deinen eigenen Gefühlen?«
»Ich werde ihn nicht mehr sehen, Mutter. Es ist besser so.«
»Und der kleine David? Lena mag ihn. Seinen Onkel auch.«
»Es hat ein Leben vor Paul Tarnow gegeben. Ein gutes Leben. Wir werden auch ohne ihn zurechtkommen, meinst du nicht?«
Lena kam ins Wohnzimmer, sie war total atemlos. »Mami, komm schnell, er ist da. Davids Onkel ist gekommen.«
Halleluja! Frau Mahler dachte: Der Mann macht alles richtig.
»Sag ihm, dass ich nicht da bin. Nein, sag ihm, dass ich nicht gestört werden will.« Floras Stimme zitterte. Panik. Sie sah an sich herunter. »Er darf mich in der alten Bluse nicht sehen. Und die Hosenbeine fransen am Saum aus. Peinlich.«
Helene fackelte nach Art lebenserfahrener Mütter nicht lange. Sie schob die sich sträubende Tochter zur Tür hinaus und produzierte ein strahlendes Lächeln, als sie Paul im Flur entdeckte.
*
»Echt?« Emily Warburg war fasziniert. »Das ist echt ein echter Picasso? Ich meine, der hat das Bild wirklich gemalt? Selbst?«
»Ich würde nie etwas anderes als Originale aufhängen.« Sophie, die auch privat immer wie frisch aus dem Modejournal gepellt aussah, spähte wie ein nervöses Frettchen zu ihrer Freundin hinüber. »Nicht anfassen!«
»Habt ihr eine Alarm-Anlage?«
»Wir haben Frau von Ditzingen.«
»Die Bilder waren bestimmt sehr teuer, oder?«
»Sagen wir es mal so: Du müsstest eine ganze Menge Schmuck verkaufen, um dir wenigstens einen der Rahmen leisten zu können.«
Emily empfand die Bemerkung nicht als Kränkung, obwohl sie sehr wohl so gemeint war. »Ich verstehe. Wie bist du an die Bilder gekommen? Der Picasso ist doch schon lange tot. Oder?«
Die Dame des Hauses trank einen Schluck Champagner. Die hellen Augen, die irgendwie an Glasmurmeln erinnerten, wirkten trübe. Und immer wieder blickte sie auf das Display ihres Smartphones, um es anschließend zurück auf den Tisch zu werfen. Ungehalten.
»Meine Güte, Emily, es gibt Galerien!«, stellte Sophie Taylor mit dem blasiertesten Lächeln der Welt fest.
Eigentlich war es gar kein Lächeln, jedenfalls konnte man es keinesfalls mit Floras Lächeln vergleichen. Das jedenfalls fand Paul Tarnow, dem immer, wenn Flora lächelte, das Herz aufging.
Emily quiekte, als sie den hochgewachsenen Mann im Hintergrund des riesigen Raums entdeckte. »Du hast eine Art, immer unverhofft aufzukreuzen, Paul! Meine Güte, hab ich mich erschreckt!«
Als Emily ihm um den Hals flog, weil sie wie selbstverständlich davon ausging, dass ihm das sehr gefiel, flogen Fransen, Volants wirbelten. Und die Absätze schlugen wie ein Trommelwirbel aufs Parkett, sodass Sophie das Smartphone aus der Hand fiel.
Emilys Garderobe war ja grundsätzlich eine Hommage an glühende Himmel, lodernde Sonnenuntergänge oder farbentrunkene Landschaften. Sah sie sich als Botschafterin der guten Laune? Schwelgte sie deshalb in Buntstiftfarben? Ihre Kleider wirkten wie Vitamin-Kicks fürs Auge. Paul allerdings wich geblendet zurück.
»Pardon, Emily, ich dachte, du wüsstest, dass ich hier wohne.«
»In letzter Zeit kann man das nicht mehr wohnen nennen«, mischte sich Sophie ein. »Jedenfalls nicht guten Gewissens.«
Emily flötete mit Kinderstimme: »Mein Gewissen ist rein!«
»Weil du es nie benutzt«, konterte die beste Freundin von allen, den Siegelring mit dem mütterlichen Wappen am kleinen Finger der linken Hand nervös drehend. Immer eine Sturmwarnung.
Emily ging um ihn herum und betrachtete ihn wie die moderne Skulptur vor dem Panoramafenster. Deren Wert entsprach mindestens einem Premiumfahrzeug. »Du siehst super aus, Paul«, stellte sie schmachtend fest. »Der Anzug steht dir! Neu? Ach, Paul, wieso läuft ein aufregender Mann wie du immer noch frei herum?«
»Weißt du, einer der Gründe, warum ich nie geheiratet habe«, entgegnete er trocken, »waren die Hochzeiten, die ich als Kind erlebt habe.«
Sophie beobachtete ihren jüngeren Bruder mit schmalen Augen, die Lippen womöglich noch schmaler, was ihr nun das Aussehen eines außerordentlich gereizten Luchsweibchens verlieh. »Ich habe dich heute in der Stadt gesehen«, teilte sie Paul mit, und zwar so, dass man meinte, ein Fallbeil sausen hören zu können.
»Tatsächlich?« Er blieb gelassen. »Wo ist David?«
»Die Ditzingen weiß immer, wo er steckt. Frag sie.«
»Ich würde gern wissen, wie sein Diktat ausgefallen ist.«
»Sollte das nicht seine Lehrerin wissen?« Sophie sagte es übertrieben sanft. Wie ein Arzt, der einen potenziell gefährlichen Geisteskranken vor sich hat. »Hättest du Hexe Mahler nicht danach fragen können, als ihr euch in der Stadt getroffen habt?«
Emily war begeistert. Sie gestikulierte, bis ihre Armreifen klirrten. Nur ihre steif gesprayte Frisur bewegte sich nicht. Und ihre Stirn, so marmorglatt wie die einer Toten – das Meisterwerk eines Schönheitschirurgen, war sowieso bar jeder Mimik.
»Du kennst eine Hexe? Wahnsinn!« Emilys Augen blitzten. Dann setzte sie ihr blankzahniges, allumfassendes Lächeln auf, das dank der mit Silikon unterspritzten Lippen immer gleich geriet.
»Wie geschmacklos, Paul«, sagte Sophie verächtlich.
Er sah sie verständnislos an. »Wie bitte?«
»Diese Hexe und du, das war hoffentlich nur ein Zufall.«
Paul zögerte nicht mit der Antwort. »Mitnichten!«
Sophie sog wie nach einem Faustschlag die Luft ein.
Emily blickte wie bei einem Tennismatch in Wimbledon hin und her. Sie lachte nervös. »Worum geht’s eigentlich?«
Sophie sah sie nicht an. »Wolltest du nicht gehen?«
Paul fragte sich, wieso Emily nicht verschnupft reagierte. Warum perlten Sophies kleine Bosheiten einfach an ihr ab?
Seine Schwester, mal wieder atemberaubend elegant in einem havannabraunen Leinenkleid, setzte hinzu: »Ich warte, Paul.«
»Tun wir das nicht alle?« Emily lachte gackernd.
»Es geht dich nichts an, mit wem ich ausgehe, oder?«
Sophie griff erneut nach ihrem Champagnerglas. »In diesem Fall schon, würde ich sagen. Diese Frau ist nämlich unsere Feindin!« Sie hatte zu hastig getrunken und hustete.
Emily strahlte: »Liebe und Husten kann man nicht verbergen.«
Paul beachtete sie nicht. »Nun komm mal wieder runter, Sophie. Flora Mahler ist alles andere als das. Ganz im Gegenteil.«
»Ganz im Gegenteil?« In ihren Ohren klang das wie ein Verbrechen wider den guten Geschmack. »Kleine Gehirnwäsche?«
Er wurde deutlich: »Ich möchte nie wieder hören, dass du Flora Mahler als Hexe oder als unsere Feindin bezeichnest, Sophie.«
Emily sank auf die nächste Sessellehne, hingerissen ob Pauls Ritterlichkeit. »Oh«, seufzte sie, »wenn sich doch mal jemand so schützend vor mich stellte! Ich wäre ihm ewig dankbar!«
»Hör doch auf mit diesen Albernheiten!« Sophie wies ihre Freundin barsch zurecht und griff nach der Champagnerflasche.
Paul nahm sie ihr aus der Hand. »Du hattest genug, Sophie.«
»Es gibt Tage, da kann man nicht genug trinken!«
»Und es gibt Sorgen, die sehr gut schwimmen können«, konterte er. »Was ist los, Sophie? Hat David wieder was angestellt?«
Emily rief unbefangen: »Richard ruft nicht an.«
Sophie warf ihr einen wahren Medusenblick zu. Als Emily ihr nicht den Gefallen tat, augenblicklich zu versteinern, drehte sie ihr den Rücken zu. Damit war die Freundin sozusagen entlassen.
Aber noch nicht fristlos gekündigt. »Paul«, sagte Sophie, »ich fürchte, ich muss dich erneut warnen. Vor Hexe Mahler. Kann man von einer Frau Gutes erwarten, die kleine Kinder schikaniert? Die Müttern arrogant über den Mund fährt? Und die keine Gelegenheit auslässt, arglose Männer zu täuschen?«
»Paul und arglos?« Emily kicherte in ihre Sektflöte.
»Seit ich Flora kenne …«, begann Paul.
»Ihr duzt euch schon? Nein!« Sophie war schockiert.
»Wir haben uns in letzter Zeit häufiger gesehen, Flora und ich. Ja, Sophie, ich mag sie. Ich finde sie sogar großartig.«
Seine Schwester verdrehte die Augen. »Mein Beileid. Ich hielt dich bisher für einen Mann mit Stil und Anspruch.«
Emily befeuchtete mit der Zungenspitze die Wulstlippen. Sie hielt das für sexy.
Paul sah irritiert in eine andere Richtung. Er fragte sich, wieso ihm nicht schon viel früher aufgefallen war, dass er in einer Welt lebte, die ihn langweilte, sogar abstieß.
Seit er Flora kannte … Er schmunzelte. Neuerdings starteten seine Überlegungen oft mit diesen vier Wörtern. Und tatsächlich hatte sich sein Leben rasant verändert, seit er sie kannte.
Er freute sich über diese Veränderung, denn plötzlich hatte er das wundervolle Gefühl, wirklich bei sich angekommen zu sein.
Oh, er hatte die Kunstfiguren in seiner Umgebung so satt.
Emily sah Sophie klagend an. »Was hat diese Flora, was ich nicht habe, kannst du mir das vielleicht sagen?«
»Entspann dich, Emily, noch haben wir ihn nicht verloren.«
»Aber so habe ich ihn noch nie erlebt. Es ist was Ernstes.«
»Quatsch, Emily, ich hab dir doch versprochen, dass du ihn kriegst, meinen kleinen Bruder. Weshalb sonst hätten wir uns kürzlich in diesem exquisiten Brautsalon umgeschaut?«
Paul hörte es nicht, leider, er dachte an Flora, wie sein zärtlicher Gesichtsausdruck verriet.
Bisher hatte körperliche Attraktivität ganz oben auf seiner Prioritätenliste rangiert. Viel zu weit oben, wie er jetzt fand.
Flora war wunderbarerweise schön, sogar atemberaubend schön. Sie war mit ihren goldgesprenkelten braunen Augen und dem seidigen rotblonden Haar, dem makellosen Teint und dem Mund, sanft geschwungen wie ein Blütenblatt, eine Augenweide. Allerdings auf eine andere Art als zum Beispiel Anne St. Simon. Und eine kalte Schönheit wie Sophie war sie erst recht nicht. Gottlob.
Flora besaß Anmut und Charme. In Hülle und Fülle. Und ein riesengroßes Herz. Früher waren ihm Herzlichkeit und Harmonie schnuppe gewesen. Seit er Flora kannte, wusste er Feingefühl zu schätzen und ein Rückgrat, das sich nicht verbiegen ließ.
Sophies Smartphone meldete sich mit den ersten Takten des Frank-Sinatra-Songs ›New York.‹ Eine kleine Huldigung an Richard.
Ihre Hand schoss nach Muränenart nach vorn. Die erwartungsvolle Miene verfiel jedoch schnell, als sich nicht der heftig vermisste Gatte meldete, sondern der angesagteste Promifriseur der City.
Sophie hörte mit verbissener Miene zu. Dann nickte sie. Als ihr klar wurde, dass der Anrufer das nicht sehen konnte, stieß sie ein unfreundliches »Okay«, hervor. »Bis morgen also. Ciao.«
»Richard kommt morgen?«, jubelte Emily. »Super!«
»Wieso musst du zu allem deinen Senf geben, verdammt, Emily!« Wie immer ließ Sophie ihren Frust an ihrer vermeintlich besten Freundin aus, die ihr ergeben als Blitzableiter diente.
Paul fand, dass seine Schwester zu weit ging. Er nickte Emily aufmunternd zu. »Heute kriegen wir beide Saures, oder?«
Sophie griff sich Emilys Sektflöte und leerte sie zügig. »Was dich betrifft, Paul«, bemerkte sie giftig, wenn auch nuschelnd, »so bin ich weniger tolerant. Emily ist Emily. Aber du bist mein Bruder. Und ich will nicht, dass du dein Leben wegwirfst.«
Er sah sie an, vollkommen verblüfft.
»Die Mahler will was von dir, o ja, Paul, keine Widerrede, ich weiß es. Berechnend, wie sie ist, hat sie schnell begriffen, wen sie vor sich hat. Leider ist sie eine Frau, die weiß, was sie will, eine Frau, die sich durchsetzen kann!«
Das ist ja ein Albtraum, dachte er entsetzt.
»Aber sie hat nicht mit mir gerechnet«, trumpfte Sophie auf. »So clever ist sie nun auch wieder nicht.«
Emily wagte einzuwenden, wenn auch nur flüsternd: »Aber wenn er sie doch lieb hat, Sophie, was kann man da tun?«
»Sei doch still«, fauchte Sophie sie an.
Paul fand die vergiftete Atmosphäre unerträglich.
»Paul!«, zeterte seine Schwester. »Wieso gehst du? Noch bin ich nicht fertig. Du benimmst dich ja schlimmer als David.«
Später würde er behaupten, in just diesem Augenblick den Entschluss gefasst zu haben, Flora zu bitten, ihn zu heiraten. Weil er sich seine Zukunft ohne sie nicht vorstellen konnte.
*
Im Hintergrund des verwilderten, wohlwollend als verwunschen bezeichneten Gartens stand eine mächtige alte Eiche. Wer in ihrer Krone saß, genoss nicht nur einen günstigen Blick auf die Terrasse, sondern konnte auch in die Nachbargärten linsen.
An denen waren Lena und David aber nicht interessiert. An diesem Nachmittag fokussierten sich beider Blicke auf die Terrasse. Dort saßen nämlich Lenas Mutter Flora und Davids Onkel Paul.
Helene Mahler hatte direkt nach dem Mittagessen und dem Aufklaren der Küche das Haus verlassen. Offizielle Begründung war ein Besuch bei ihrer hochbetagten Patentante Gertrud, tatsächlich hatte Helene einen Termin bei Pauls Freund Tom, dem Internisten.
In der Eiche hatte sich die patente Lena mit der tatkräftigen Unterstützung ihrer Mutter und trotz der durchaus berechtigten Einwände ihrer Großmutter, bekanntlich eine Frau, die eine Menge vom Leben wusste, aus drei Brettern einen Anstand gebaut. Der hing wie eine Gebirgsbrücke über der unten schäumenden Klamm, kühn reichten die Bretter von einem Ast zum anderen.
»Festhalten!«, erinnerte Lena ihren gut ein Jahr jüngeren neuen Freund, dem zwar leicht schwindlig war, aber insgesamt pudelwohl in der mit grellgrünem Maiengrün geschmückten Baumkrone.
Ihr Gesicht wurde entweder von der Sonne vergoldet oder dunkel gesprenkelt von Blätterschatten. Ein Arm lag lässig auf dem letzten Ast vor dem Wipfel, die andere hielt Davids Kragen fest.
»Wenn du runterfällst, ist der Professor platt. Und dann kriegen wir echt Stress. Okay?« Die Neunjährige fühlte sich für David verantwortlich, ganz klar. Wie sie stets Verantwortung übernahm für alles in ihrer Umgebung. Der Professor, der große Gelbe, bekam zum Beispiel allabendlich eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen, wenn er in seinem riesigen Hundekorb lag, beide Vorderpfoten überraschend zierlich gekreuzt, den Kopf darauf gelegt.
»Was machen sie jetzt? Lass mich mal gucken, Lena.«
»Du beugst dich zu weit nach vorn. Das ist echt gefährlich.«
Echt gefährlich? Davids Herz wummerte vor Begeisterung. Er liebte das Risiko. Ansonsten war sein Leben viel zu langweilig und unerträglich kontrolliert. Und mittlerweile nervte ihn auch die Außenseiterrolle in der Schule. Ziemlich anstrengend war’s ja doch, sich immer was neues Fieses auszudenken, um aufzufallen.
Leider konnte er seinem Onkel schlecht von diesem superwilden Abenteuer erzählen. Dann hätte er ja sich und Lena verraten.
David lachte auf. Weil er sich im Baum fabelhaft frei fühlte. Wie er Lena um den großen, verwilderten Garten beneidete! Und um ihre Großmutter. Sie backte die besten Muffins von der Welt.
»Psst«, zischte Lena. »Sie könnten uns hören.«
»Manno, Lena, die Terrasse ist weit weg.«
»Mami hört alles. Auch wenn man nichts gesagt hat.«
David antwortete nicht. Ungern dachte er an seine Mutter. Weil sie ihm nie zuhörte. Und wenn sie redete, dann immer so schnell. Irgendwie ewig lange. Er hatte sich angewöhnt, sich auszuklinken.
Nur gut, dass seine Mutter davon nichts wusste. David seufzte.
Lena missverstand das Seufzen. »Willst du wieder runter?«
Große blaue, erschrockene Augen. »Nein!«, protestierte er.
»Du hast eben so komisch traurig ausgesehen. Frierst du?«
»Mir ist total warm. Und was machen sie jetzt?«
»Komisch«, stellte Lena überrascht fest. »Irgendwie stehen jetzt die Stühle näher zusammen als vorher.«
David stellte sich auf die Zehenspitzen. »Stimmt!« Er sah sie fragend an. »Ist das ein gutes Zeichen?«
Die Neunjährige lächelte verschmitzt. »Ein sehr gutes.«
»Meine Mutter hat gesagt, dass sie deine Mutter nicht riechen kann. Onkel David kann sie offenbar riechen«, freute er sich.
»Mannomann«, sagte Lena beeindruckt. »Jetzt wird’s spannend.«
»Warum?«
»Weil er ihre Hand festhält. Mamis Hand, meine ich.«
»Warum?«
Baby! Lena verdrehte die Augen. »Das machen sie auch im Fernsehen. Wenn sie sich zum Schluss ganz bestimmt kriegen.«
»Wenn sie sich kriegen?«, wollte David erstaunt wissen. »Krieg ich den Professor? Ich hab vorhin seine Pfote gestreichelt.«
Nicht übel wäre es, denn einen Hund wünschte er sich schon lange. Das Problem war indes, dass seine Mutter Tiere hasste. Weil sie unberechenbar waren. Laut sowieso. Und Schmutz ins Haus trugen. Außerdem rochen sie manchmal streng. David wurde nachdenklich. Das alles traf auch auf ihn zu. War er – gruseliger Gedanke – seiner Mutter womöglich auch lästig?
»David, du nervst«, murmelte Lena. »Stör mich nicht, ich muss mich jetzt konzentrieren. Weil sie nicht mehr reden.«
»Schade«, sagte er aufrichtig. Sein Onkel Paul war nämlich sein großes Vorbild. Leider sah er ihn viel zu selten, woran natürlich Onkel Pauls hoch wichtiger, zeitfressender Job schuld war.
In letzter Zeit schien sein Onkel glücklicherweise ein neues Zeitmanagement zu haben, denn er fuhr ihn fast täglich zu den Mahlers. Und zurück. Wobei er dann immer oberentspannt wirkte.
»Sie tun was viel Besseres. Sie sehen sich in die Augen.«
David konnte Lenas Aufregung nicht nachvollziehen. Wenn seine Mutter ihm in die Augen sah, ging’s ihr immer darum herauszufinden, ob er wieder etwas angestellt hatte. Das war unangenehm.
Lena packte ihn unverhofft an der Schulter. »Sie küssen sich, David. O super, sie küssen sich. Und so lange!«
»Sie küssen sich? Deine Mutter und mein Onkel?« David streckte sich und blickte fasziniert auf das junge Paar. »Ist das gut?«
»Megagut sogar.« Lena wirkte völlig begeistert. »Das musste ja so kommen. Weil sie sich mögen, meine Mami und dein Onkel.«
»Sie küssen sich schon wieder, Lena.«
»Ne, immer noch.« Jetzt seufzte Lena. »Meine Mami hat’s echt verdient, glücklich zu sein. Sie war so lange traurig.«
»Warum? Weil ich in der Schule ziemlich oft frech war?«
»Das war doch nur Stress. Aber die Sache mit meinem Vater, also das war eine richtige Katastrophe. Sagt Omi manchmal.«
»Dein Vater ist tot, nicht?«
»Ja.« Lena zerrupfte ein Eichenblatt in kleine Fetzen.
»Mein Vater ist nie da. Das ist auch nicht toll.«
»Aber du hast wenigstens einen.«
»Sie zanken sich ja immer, wenn er mal da ist.«
Sie sah ihn bedauernd an. »Keine Ahnung, was bescheuerter ist: Gar kein Vater oder einer, der selten da ist.«
»Meinst du, sie werden heiraten, deine Mutter und mein Onkel?«
»Wär nicht übel, wie?« Lena lächelte ihm zu.
»Na klar!«, stimmte er spontan zu. Auch weil das für ihn nur von Vorteil sein konnte. Seine Klassenlehrerin würde dann seine Tante sein. Sehr besonders. Dann verfinsterte sich seine Miene. »Es könnte schwierig werden«, gab er stockend zu bedenken.
»Weil deine Mutter meine Mutter nicht riechen kann?« Als er zustimmend und dabei ziemlich bedrückt nickte, setzte sie unbekümmert hinzu: »Ach, sie wird sich schon beruhigen.«
Seine Mutter? Da hatte David seine Zweifel.
Lena war optimistisch. »Geduld ist die Tugend der Revolutionäre. Sagt meine Omi. Hat dein Onkel eine Freundin oder so?«
»Meine Mutter hat eine Freundin. Emily heißt sie.« David zog die Brauen hoch. »Sie bringt mir immer coole Geschenke mit.«
Lena war unbeeindruckt. »Sie will dich bestechen.«
»Meinst du? Emily ist eigentlich ganz nett. Aber …«
»Aber?« Das wollte Lena jetzt genau wissen.
»Ich glaube, mein Onkel findet sie nicht so gut.«
»Meine Mami mag er, das merkt man. Hat meine Omi gesagt. Sie hat den Erdbeerkuchen übrigens nur für ihn gebacken.«
»Meinst du, sie lassen uns was übrig?«
Lena prustete los. »Keine Bange, wer sich andauernd küsst, futtert keine Erdbeertorte.«
Er stimmte in ihr Lachen ein. Genau wusste er nicht, was komisch an ihrer Bemerkung war. Aber es machte Spaß, mit ihr zusammen in der Eiche zu sein, sozusagen auf dem Dach der Welt.
*
Der Wettergott hatte offenbar beschlossen, anderen Regionen seine Gunst zu schenken. Der Frühlingssonnenschein hatte sich verabschiedet und aschigen, zunehmend bedrohlich finsteren Wolkenknäueln Platz gemacht. Ein überraschend kalter, schneidender Regen verwandelte den Schulhof in eine Riesenpfütze, »Sie haben um diesen Termin gebeten, weil Sie mit mir über Ihren Sohn sprechen möchten?« Flora Mahler schob der eleganten Besucherin einen Stuhl hin. »Leider habe ich heute wenig Zeit, um es gleich zu sagen. In Kürze beginnen die Zeugniskonferenzen.«
»Was ich Ihnen mitzuteilen habe, dauert nicht lange.« Sophie Taylor hatte sich vom Chauffeur bis vors Schultor fahren lassen, denn wenn sie etwas hasste, waren es Regengüsse. Jetzt saß sie vor dem Schreibtisch der Lehrerin, hatte ein schlankes Bein über das andere geschlagen und betrachtete die eleganten Stiefel.
Weil ihrer dominierenden Persönlichkeit die tuschkastenbunte und alles andere als durchgestylte Umgebung auf die Nerven ging?
Sophie strich über den schmalen brombeerfarbenen Rock ihres Kostüms aus distinguiertem Haus. Einzig diese kleinen nervösen Bewegungen verrieten ihre innere Anspannung. Ansonsten war sie wie immer perfekt kontrolliert, die Frisur saß tadellos trotz der hohen Luftfeuchtigkeit und ihre kühl-ironische Überheblichkeit war wie aus einem Guss.
»Vielleicht«, schlug Flora Mahler verbindlich vor, da um Fairness bemüht, »fragen Sie beim nächsten Mal etwas früher nach einem Termin. Ich werde im Schulsekretariat Bescheid sagen …«
Sophie ließ sie nicht ausreden, natürlich nicht. Das war so ihre bewährt-blasierte Art, ihre Umgebung um ihre hohe gesellschaftliche Bedeutung wissen zu lassen. »Vielleicht gibt es kein nächstes Mal, Frau Mahler.«
O Gott, es geht schon los. Diesmal verliert sie keine Zeit.
Flora Mahler blickte flüchtig aus dem Fenster. Draußen war der Himmel in allen denkbaren Anthrazittönen ergraut, Wolkengewölle hetzten über die Schule, schlich nicht sogar Nebel umher?
»Ich darf Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, Frau Taylor«, bemerkte sie betont gelassen, »dass David schöne Fortschritte macht.« War sie nun diplomatisch oder hatte sie das Konfliktvermeidungsprogramm angeworfen?
»Es geht nicht um David«, konterte Sophie, die sich erst jetzt die Handschuhe aus schwarzem Wildleder auszog. Ganz langsam, als kostete sie die Situation aus. Und die Tatsache, dass sie Handschuhe trug. Sie inszenierte sozusagen einen an sich banalen Vorgang.
»Sondern?« Floras fein geschwungene Brauen rundeten sich. Tatsächlich klopfte ihr Herz rascher. Was sie ihm übel nahm. Herrgott, in dieser Situation war Solidarität angesagt.
»Ich bin hier, um mit Ihnen über meinen Bruder zu sprechen.«
Fehlte nur noch der Tusch. Floras Herz ließ sich nicht länger beschwichtigen, es sprang in einen dreifachen Salto. Und der jungen Frau wurde die Luft knapp. Was sie sich indes nicht anmerken ließ, natürlich nicht. Sie versuchte tapfer, locker zu bleiben.
Und sie wagte ein kühnes Ausweichmanöver. »Ihr Bruder hat hoffentlich nicht vor, noch einmal zur Schule zu gehen. Wie Sie wissen, bin ich Lehrerin, die Klassenlehrerin von David. Meinen Sie nicht, dass wir über Ihren Sohn sprechen sollten?«
»Sie wissen sehr gut, weshalb ich hier bin. Nicht wahr?«
Hat Paul mit ihr gesprochen? Über uns? Aber wir hatten doch vereinbart … Verflixt! »Tut mir leid, aber ich weiß es nicht.«
»Mein Bruder und Sie sehen sich in letzter Zeit recht oft.«
Wie viel weiß sie? »Und wenn es so wäre. Was geht es Sie an?«
Sophies Teint verfärbte sich unter dem perfekten Make-up. Sie schien eine Neigung dazu zu entwickeln, purpurn anzulaufen, wenn etwas nicht so lief, wie sie es sich vorstellte. Was gewisse Auswirkungen auf die Designer-Vielfalt ihrer Garderobe haben würde.
»Frau Mahler, Herr Dr. Tarnow, also mein Bruder, ist verlobt.«
»Ist er das?« Höher konnten Floras Brauen nicht steigen. Jetzt hämmerte ihr Herz so heftig, dass es beunruhigend schmerzte. Von einer Verlobung war nie die Rede gewesen. Hatte Paul sie ihr verschwiegen? Absichtlich? Einmal ein Playboy, immer ein Playboy?
»Nun ja, so gut wie«, räumte Sophie ein. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie heiraten, Emily und mein Bruder. Alles ist schon vorbereitet für die Hochzeit. Für die Traumhochzeit.«
Sie blufft. Flora holte sehr tief Luft. »Weiß Paul davon?«
Sophie setzte sich noch aufrechter hin, so dies möglich war. »Selbstverständlich, Frau Mahler. Er ist ja der Bräutigam. Und er ist glücklich mit Emily. Das heißt, bisher war er es. Bis Sie beschlossen, das Glück der beiden zu torpedieren.«
»Torpedieren?«, wiederholte Flora ungläubig. Befand sie sich im falschen Film? Erlebte sie gerade einen üblen Albtraum?
Sophie holte tief Luft. »Lassen Sie Paul in Ruhe!«, forderte sie gereizt. »Sie passen nicht zu ihm. Und er nicht zu Ihnen.«
»Und das können Sie beurteilen, Frau Taylor?« Von Liebe war bisher nicht die Rede gewesen. Dieser Begriff schien in Sophie Taylors Vokabularium nicht vorzukommen.
Draußen wurde das Wetter immer unangenehmer. Trostlos wirkte der nass glänzende Schulhof. Würde es je wieder hell werden?
Floras Frage wischte Sophie mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. Und die junge Lehrerin schauderte, als sie sich den kleinen David vorstellte, wenn seine Mutter ihn zusammenfaltete.
Sophie erhob sich. Energisch, versteht sich. »Sie müssen mir versprechen, Paul nicht mehr zu treffen. Habe ich Ihr Wort?«
Jetzt schnappte Flora deutlich nach Luft. Diese Frechheit! »Das werde ich Ihnen nicht versprechen. Weil ich es nicht kann!«
»Haben Sie mir nicht mal gepredigt, dass, wenn der Mensch sich etwas vornimmt, ihm mehr möglich ist, als man glaubt?«
Schätzungsweise zwei Drittel der weltweiten Vorräte an Bosheit wurden allein von Sophie Taylor verbraucht, nahm Flora an.
Sophie öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr ein stattliches Geldbündel. »Wenn Sie sich fair verhalten, Frau Mahler, wäre ich bereit, Ihnen eine Art Abschiedsgeschenk in Aussicht zu stellen.«
Ich glaub’s nicht! Innerlich keuchte Flora. Flüchtig überlegte sie, was der Schulleiter sagen würde, wenn er jetzt zufällig käme und sie und Sophie sähe. Mit dem Geldbündel in der Hand.
»Ich warte auf Ihre Zusage, Ihre verbindliche Zusage.« Als Flora schwieg, setzte Sophie schulterzuckend hinzu, überdies eiskalt: »Mich wundert, dass Sie sich Zeit lassen. Hatten Sie es nicht von Anfang an auf unser Geld abgesehen?«
Flora bebte am ganzen Körper. Am liebsten hätte sie Sophie ins Gesicht geschlagen. Diese Demütigung!
»Weiß Paul, pardon, Ihr Bruder von diesem Ihrem Besuch?«
Sophie lächelte geringschätzig. »Ich bitte Sie.«
Flora überlegte, ob die Unterredung anders verlaufen wäre, wenn sie mit Pauls frostklirrender Schwester über ihre Gefühle gesprochen hätte. Andererseits hielt Sophie Gefühle womöglich für eine Folge des Verfalls der Verstandeskräfte.
»Sie wollen mehr Geld? Werden Sie mir als Nächstes mit der Presse drohen und ankündigen, Pauls tadellosen Ruf ruinieren zu wollen? Überschätzen Sie sich nicht, Frau Mahler. Nehmen Sie das Geld und vergessen Sie meinen Bruder. Für immer und ewig!«
Flora ging zur Tür. »Gehen Sie bitte«, sagte sie leise, zutiefst gekränkt und gedemütigt. Eine schauerliche Kombination.
Sophie blieb stehen. »Okay, dann eben nicht«, murmelte sie und stopfte das Geldbündel zurück in die Handtasche.
Gerade als Flora schon aufatmete, verfrüht, wie sich zeigen sollte, fuhr sie fort, womöglich noch gnadenloser als vorher: »Ich habe mich erkundigt«, teilte sie Flora mit ihren kalten Glasmurmelaugen mit. »Sie haben ein Haus am Waldweg gemietet, nicht wahr? Ein Altbau, idyllisch gelegen, ruhig und preiswert.«
Diese Frau ist manisch, dachte Flora schockiert. Sie mischt sich auf unzulässige Weise in mein Leben. Und in Pauls. »Die Miete ist deshalb so niedrig, weil der Reparaturstau …«
»Das Haus gehört mir. Wie übrigens alle Häuser am Waldweg.« Sophie schien sich über Floras Verblüffung zu freuen. Heiter setzte sie hinzu: »Ich habe die Immobilien von meiner Mutter geerbt. Unter anderem.« Sie drehte den Siegelring mit dem mütterlichen Wappen, den sie am kleinen Finger der linken Hand trug.
Flora begann zu zittern. Es war mehr als ein Zittern, es schüttelte sie, ihre Zähne klirrten gegeneinander. Das ist ja wahnsinnig, dachte sie. Sophie redete weiter, aber sie hörte nur ihre Stimme, die von weit her kam, wie von einem anderen Stern.
»Sie hätten das Geld akzeptieren sollen«, bemerkte Sophie höhnisch. »Nun überlege ich mir, ob ich Ihnen nicht das Haus kündigen soll. Mieter wie Sie, unfair und verbohrt, mag ich nicht.«
An Helene dachte Flora und natürlich an ihre Lena, die ihr Erkerzimmer liebte, ihren Ausguck. Und der Professor wurde in einer Wohnung verkümmern, so man denn eine erschwingliche fand.
»Sie sollten darüber nachdenken«, empfahl Sophie. Sie zog sich ihre Handschuhe mit aufreizender Sorgfalt wieder an. »Schade wäre natürlich auch, wenn Herr Hansen von Ihren Ambitionen erführe. Er gehört übrigens zum Freundeskreis der Familie Tarnow-Taylor.«
Herr Knut Hansen war der Schulleiter. Flora wurde noch blasser, richtig durchscheinend. Plötzlich fror sie entsetzlich.
Sophie ging zur Tür und öffnete sie. »Ich habe dieser Schule schon mehrfach großzügige Spenden überwiesen«, teilte sie Flora arrogant mit. »Ein Wort von mir. Und Sie sind Ihren Job los.«
*
Über dem Garten stand der Vollmond, die hell beschienenen Wege luden zu einem späten Spaziergang ein. Aber der jungen Frau, die mit nervösen Bewegungen Ordnung auf der Terrasse machte, stand nicht der Sinn nach einem romantischen Mondscheinspaziergang.
»Willst du gar nicht schlafen gehen?«, erkundigte sich Helene Mahler bei ihrer Tochter. »Oder hält der Vollmond dich wach? Ach, der Regen hat dem Garten gutgetan. Wie frisch alles riecht!«
Als Flora sich ihr endlich zuwendete, erschrak die ältere Dame. »Kind, du bist doch hoffentlich nicht krank?«
»Mir geht’s prima, Mutter.«
»Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch.« Helene nahm sich ein Sitzkissen vom Stapel und legte es wieder auf die Bank, die nahe an der noch warmen Hauswand stand. »Was ist los, Flora? Mir kannst du nichts vormachen, ich spüre doch, dass dich etwas beschäftigt. Hat es Ärger in der Schule gegeben?«
»Erzählst du mir denn alles, was dich bedrückt?«
Helena packte das Handgelenk ihrer Tochter, die nach der eher schnippischen, für sie untypischen Bemerkung ins Haus gehen wollte. »Ich warte noch immer auf den Laborbefund«, entgegnete sie. »Dieser Internist, den mir Herr Tarnow empfohlen hat, machte auf mich den besten Eindruck. Ich habe ihm auf Anhieb vertraut.«
»Paul hat dir einen Internisten empfohlen?«
»Nun, ihm fiel auf, dass es mir nicht gut ging. Als ich ihm erzählte, dass unser Hausarzt mit seinem Latein offenbar am Ende sei, rief er spontan seinen alten Schulfreund Tom an.«
Flora stand vor ihr und kämpfte sichtlich mit den Tränen.
»Ach, Kind«, seufzte Helene. »Wie alle Mütter wünsche ich mir von Herzen, dir allen Kummer ersparen oder abnehmen zu können.«
Die junge Frau setzte sich neben sie auf die Bank und legte den Arm um sie. »Ich weiß ja«, sagte sie leise und sehr sanft. »Tut mir leid, dass ich eben so kurz angebunden war.«
»Schon gut. Lena hat sich auch ein bisschen gewundert.«
»Wieso?«
»Sie meinte, du hättest beim Abendbrot streng gekuckt.«
»Du warst bei ihr?«
»Bis eben. Ich habe sie beruhigt. Alles ist gut.«
Flora lehnte sich an Helenes Schulter. »Ich dank dir.«
»War doch klar. Ich glaube, sie schläft jetzt fest.«
Die junge Frau seufzte auf. Ein Seufzer, der sich kreuzunglücklich anhörte. »Ein wunderbarer Abend, oder?«
»Hm. Lass uns noch eine Weile hier draußen bleiben.«
»Sehr oft werden wir keine Gelegenheit mehr dazu haben, fürchte ich.« Wieder seufzte Flora auf.
»Das klingt nicht gut.« Helene war beunruhigt.
»Paul hat damit nichts zu tun.«
»Womit?«, wollte Helene prompt wissen.
»Eigentlich wollte ich alles für mich behalten. Du hast doch momentan genug Stress, Mutter.«
»Worum geht’s denn, Kindchen?«
»Um Paul und mich.«
»Also hat dein Problem doch mit ihm zu tun.«
»Nur ursächlich. Oder peripher, wie man’s nimmt.«
»Für eine Lehrerin drückst du dich recht schleierhaft aus.«
»Davids Mutter war heute in der Schule.«
»Oh«, machte Helene bedeutungsvoll. »Und?«
Flora sah bedrückt aus. Sie rang sichtlich mit sich. Doch schließlich erzählte sie von Sophies gesammelten Zumutungen.
»Nein!« Helene war schockiert. »Ich fasse es nicht. Diese Frau hat eindeutig einen Hau! Was bildet sie sich ein, wer sie ist?«
»Sie muss mich abgrundtief hassen.«
»Oder beneiden. Weiß Paul von dem grauenvollen Besuch?«
»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.«
»Wie bitte?! Das muss er aber wissen. Schonst du ihn?«
»Ich weiß es nicht, Mutter. Seit dieser Unterredung bin ich total konfus. So konfus wie schon lange nicht mehr. Ich würde gern klare und logische Gedanken fassen, aber ich kann’s nicht.«
»Kein Wunder.« Helene regte sich auf. »Ich würde dieses arrogante Frauenzimmer zu gern schütteln, bis ihr die Edelsteine aus der Krone platzen.« Sie schauderte. »Meine arme Flora, das hast du nicht verdient, so darf niemand mit dir umspringen.«
»Sie war die Unverschämtheit in Person. Das stimmt. Aber das Fazit ist und bleibt, dass sie mich in der Hand hat. Sie kann uns jederzeit das Haus kündigen und uns auf die Straße setzen.«
»Es gibt doch diesen Mieterschutzbund.«
»Die gehen womöglich auch vor ihr in die Knie. Knut Hansen scheint ihr jedenfalls tief ergeben zu sein. Du kennst ihn ja, er duckt sich gern weg. Zivilcourage war noch nie sein Ding.«
»Er würde dich, seine beste Lehrerin, opfern, um keinen Trouble mit Sophie Taylor zu bekommen?« Helene wirkte ungläubig.
»Ich habe mich natürlich gefreut, als er mich seine beste Lehrerin nannte«, gab Flora freimütig zu. »Insbesondere deshalb, weil ich nicht verbeamtet bin, sondern nur angestellt. Und jederzeit kündbar. Er ist ein Netter, ich mag ihn ja. Aber wenn es zum Schwur kommt, wenn er sich entscheiden muss zwischen mir und der einflussreichen, vermögenden High-Society-Lady Sophie Taylor …«
»Ich verstehe.« Helenes sonst so gutmütiges Gesicht sah finster aus, als sie an Davids Mutter dachte. »Und wie soll es nun weitergehen? Wieso wendest du dich nicht an Paul?«
»Ich gieße grundsätzlich kein Öl ins Feuer.«
»Sie ist seine Schwester. Er muss doch erfahren, was vorgefallen ist. Wie willst du denn künftig mit ihm kommunizieren?«
Flora blickte in den mondhellen Garten. »Gar nicht mehr«, brachte sie leise hervor, unendlich niedergedrückt. »Es scheint in meinem Leben ein bestimmtes Muster zu geben: Immer wenn ich glücklich bin, denkt sich der Himmel eine Katastrophe aus.«
Ihre Mutter schreckte auf. »Wie bitte?!«
Die junge Frau wirkte plötzlich so verzweifelt, wie sie tatsächlich war. Glänzten nicht sogar Tränen in den braunen Augen?
»Es ist vorbei, Mutter«, brachte sie erstickt hervor. »Weil es vorbei sein muss. Ich lege mich nicht mit einer Frau wie Sophie Taylor an, da ziehe ich ja nur den Kürzeren. Und ich will dir und Lena all die Scherereien ersparen, mit denen wir rechnen müssen, bliebe ich an der Schule – und hier in diesem Haus.«
»Wir sollten uns mal wegen des undichten Dachs an sie wenden. Und wieso lässt sie nicht wenigstens die Fenster erneuern? Du, diese Frau ist nicht nur bösartig, sondern auch geizig.«
Flora senkte den Kopf. »Es war so schön mit Paul. Ein Traum. Wir hatten eine wunderbare Zeit miteinander. Doch ich muss vernünftig sein und einen dicken Schlussstrich ziehen.«
»Flora! Kind!« Helene schwankte zwischen Mitgefühl und Zorn. »So schnell geben wir Mahler-Mädels doch nicht auf.«
Plötzlich schlängelte sich etwas großes Gelbes durch die raschelnden Büsche, der Hund mit der ungewissen Herkunft trottete in Richtung Terrasse und legte seinen Kopf auf Floras Knie.
Helene war gerührt und strich übers taufeuchte Fell. »Sieh mal, die Kreatur versteht dich. Der Professor will dich trösten. Du, ich glaube, der hat mehr Herz als Sophie Taylor!«
Flora schluchzte auf und umschlang den Hund mit beiden Armen. »Dank dir, du Guter«, murmelte sie. »Leider wirst auch du dich demnächst an eine neue Umgebung gewöhnen müssen.«
»Soll ich nicht mal mit Paul reden?«
»Wehe, Mutter!«
»Ich kann mit ihm, Flora. Wir mögen uns. Insofern …«
Flora ließ sie nicht ausreden. »Am liebsten möchte ich mich in aller Stille zurückziehen. Ich habe schon die Fühler nach einer neuen Schule ausgestreckt, nur zu deiner Information. Und es sieht gar nicht so schlecht aus, wie ich heimlich befürchtete.«
Helene war fassungslos. »Du gibst kampflos auf?«
»Ich will so viel Entfernung wie möglich zwischen Sophie T. und mich bringen. Von dieser Frau geht etwas Böses aus.«
»Du überlässt Paul dieser bösen Schwester?«
»Er ist erwachsen. Und wer weiß …«
»Nein, Flora, das darfst du nicht mal denken. Paul ist ein großartiger Mann, etwas sehr Besonderes. Und du liebst ihn.«
»Natürlich liebe ich ihn. Von ganzem Herzen. Und bis in alle Ewigkeit.« Flora lächelte unter Tränen. »Aber wie sollen wir happy enden, wenn seine Schwester mich massiv mobbt?«
»Paul wird es nicht verstehen, wenn du fortgehst, ohne dich von ihm verabschiedet zu haben. Du machst ihn todunglücklich.«
»Er wird darüber hinwegkommen.« Flora gab sich kühl.
»Ach, komm, Kind, das bist doch nicht du, ich kenne dich. Du mit deinem Verantwortungsgefühl lässt niemanden im Stich. Und denk doch nur mal an David, wie traurig er sein wird, wenn er sich von seiner neuen Freundin Lena trennen muss.«
»Es ist alles furchtbar, stimmt schon, Mutter. Aber was soll ich tun?! Ich bin nur eine kleine Lehrerin, die weder Macht hat noch über Einfluss verfügt. Sophie Taylor hingegen …«
»Es muss eine bessere Lösung als Kapitulation geben!«
Flora flüsterte bekümmert: »Momentan schwimmen uns alle Felle davon, oder? Wir beide ziehen nur noch Pechkarten.«
Helene nahm ihre Tochter in den Arm und drückte sie. »Das mag so sein. Aber, weißt du«, sagte sie dann ermunternd, »zwei Unglückliche sind wie zwei schwache Bäumchen, die, sich gegeneinander lehnend, dem Sturm schon kräftigen Widerstand leisten!«
*
Dr. Paul Tarnow stand am großen Panoramafenster seines Büros im fünfzehnten Stockwerk des firmeneigenen Gebäudes, eines durchdesignten Architekturmirakels aus Stahl, Glas und Beton.
Weit unten schoben sich Menschenmassen durch die schicke Innenstadt, denn es war einer jener sonnigen Frühlingsvormittage, die eine einzige Aufforderung waren, etwas zu unternehmen. Zum Beispiel shoppen zu gehen. Oder sich zu verlieben.
Der groß gewachsene, attraktive Unternehmer verschränkte die Arme und blickte versonnen in den wundervoll klaren azurblauen Himmel, an dem keine einzige Wolke hing. Völlig überrascht, ja, erschüttert stellte er fest, dass er null Ehrgeiz in sich verspürte, sich zurück an seinen Schreibtisch zu begeben. Tausend Telefonate mussten erledigt, seine elektronische Post wartete darauf, von ihm gecheckt zu werden, und im großen Konferenzraum wurde alles für eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet.
Und er hatte keine Lust! Das war noch nie vorgekommen, ein solcher Zustand war von ihm nicht mal erwogen worden. Sein Leben lang war er auf der Jagd nach Erfolg gewesen, erfolgreich, versteht sich, immer hatte es ihm nicht schnell genug gehen können. So war er rastlos um den Globus gejettet, hatte heiße und heißkalte Affären mit zauberhaften Frauen gehabt und wurde als Mitglied im weltweiten Nobel-Club der Business-Bosse hochgeschätzt.
Nie hätte er damit gerechnet, dass ihn das alles jemals langweilen könnte. Dass er sich nach einem stillen Glück sehnen könnte. Nach einer Frau mit Herz. Mit Herz und Verstand.
Unerwartet hatte sich sein rasantes Leben total verändert. Was er früher belächelte, kam ihm nun höchst erstrebenswert vor.
So war es mit den Gefühlen: Sie ließen sich nicht designen.
Sein Smartphone meldete sich. Er blickte aufs Display. Seine Schwester Sophie wollte ihn schon wieder sprechen. Herrgott!
Paul stieß einen genervten Seufzer aus, als es jenseits der Tür im Vorzimmer laut wurde. Seine Sekretärin informierte jemanden energisch darüber, dass der Chef nicht gestört werden durfte.
»Ich muss ihn aber sprechen«, rief eine Kinderstimme. »Weil es wichtig ist. Es geht nämlich um Leben oder Tod!«
Die Tür flog auf. Und in sein Büro stürmte unaufhaltsam und blond bezopft Lena Mahler, die Hände zu Fäusten geballt, das Kinn gereckt. Hinter ihr flatterte Frau Heilmeyer mit den Flügeln, pardon Händen und entschuldigte sich kurzatmig für den Überfall.
»Das Mädchen behauptet, Sie zu kennen, Herr Dr. Tarnow …«
»Hallo, Lena«, begrüßte Paul die Neunjährige. »Was führt dich zu mir? Müsstest du jetzt nicht in der Schule sein?«
»Schon«, entgegnete Lena cool. »Aber das hier ist eine Rettungsaktion. Mami weiß übrigens nicht, dass ich hier bin.«
Das wäre seine nächste Frage gewesen. »Frau Heilmeyer, haben wir Limo da? Und vielleicht auch Plätzchen?«
»Selbstverständlich.« Die beste aller Sekretärinnen war wie ausgewechselt. Eben noch Zerberus, jetzt mütterlich-fürsorglich.
»Also?« Paul betrachtete das Mädchen. »Wie geht’s, Lena?«
»Mies. Und meiner Mutter auch.« Lena betrachtete die Aussicht. »Ist ja cool bei Ihnen. War Mami jemals hier oben?«
Paul wirkte ungewöhnlich irritiert. »Nein. Sag mal …«
»Man kann ja die ganze Stadt sehen«, staunte Lena.
Frau Heilmeyer brachte Fruchtsaft und Plätzchen. Lächelnd.
»Super. Danke schön!« Lena knickste wohlerzogen und gewann damit endgültig das Herz der allein lebenden Katzenfreundin.
Als die perfekte Sekretärin die Tür hinter sich schloss, langte Lena in die Glasschale und holte eine Handvoll Plätzchen heraus. Die landeten sofort im Mund. Lena kaute hingebungsvoll.
»Ich hab mein Schulbrot und den Apfel vergessen«, erklärte sie etwas undeutlich. »Wegen der Aufregung.«
»Wieso geht es euch nicht gut, deiner Mutter und dir?«
»Die Omi wirkte heute früh auch ziemlich bedrückt.«
Er breitete die Arme aus und ließ sie wieder fallen. »Was ist passiert?« Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich derart panisch gefühlt. »Kann ich irgendwie helfen?«
»Deshalb bin ich ja hier. Sie müssen unbedingt etwas unternehmen. Bevor es zu spät ist, Herr Dr. Tarnow.«
Mutige Lena! Wäre er mit neun Jahren so couragiert gewesen, die Schule zu schwänzen und in die City zu fahren, zu ihm?
»Warum sagst du nicht einfach Paul?«
»Gute Idee. Geht echt viel schneller.« Sie stopfte noch ein paar Plätzchen in den Mund. »Paul, du musst was unternehmen. Und zwar so schnell wie möglich. Sonst ist es zu spät. Denn wenn Mami einen Entschluss gefasst hat, setzt sie ihn auch durch.« Lena sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. »Sie ist Lehrerin.«
Wenn ihm wohler gewesen wäre, hätte er aufgelacht. »Sie ist bestimmt eine ausgezeichnete Lehrerin«, sagte er ernst.
»Aber keine Beamtin. Und deshalb kann sie gekündigt werden.«
»Wer sollte daran denken?« Paul spürte seinen beschleunigten Herzschlag. Diskret massierte er die linke Brusthälfte.
»Herr Hansen. Unser Schulleiter.«
Er musste sich setzen, seine Kurzatmigkeit zwang ihn dazu. »Woher weißt du das?«, wollte er von Lena wissen.
Sie betrachtete die mit schwarzem Leder bezogenen Sessel. »Der Professor würde die sofort zerkratzen«, stellte sie fest. »Die waren bestimmt furchtbar teuer, oder? Sehen aber klasse aus.«
»Lena, erzähl mir bitte, was bei euch los ist.« Es klang ungefähr so wie: Spann mich bitte nicht auf die Folter.
»Eigentlich soll ich gar nichts wissen. Mami wollte nicht mal der Omi was erzählen. So ist sie, die Mami. Alles macht sie mit sich selbst aus. Omi hat mal gesagt, dass sie ein unsichtbares Schneckenhaus hat, in das sie sich bei Unwetter zurückzieht.«
Paul wartete, bis Lena sich für einen Sessel entschieden hatte. »Und wieso weißt du trotzdem Bescheid?«
»Weil ich gestern nicht schlafen konnte. Vollmond«, erklärte sie lapidar. »Und weil’s nicht abkühlen wollte, stand das Fenster weit offen. Also konnte ich alles hören, was sie unten auf der Terrasse besprochen haben.« Sie trank einen großen Schluck Limo.
»Du hast gelauscht.«
»Stimmt. Aber für einen guten Zweck.« Sie seufzte. »Es war total traurig. Und furchtbar. Und manchmal war ich sehr wütend.«
Sie holte tief Luft. »Eigentlich bin ich immer noch wütend.«
»Auf wen?«
»Auf deine Schwester, Paul. Sie war nämlich bei Mami in der Schule und hat sie fertiggemacht. Und wie!«
Paul zog die Brauen zusammen, bis sie sich fast berührten. Er traute seiner Schwester ziemlich viel zu, wenn nicht sogar alles.
»Inwiefern?«, fragte er angespannt.
»Deine Schwester – sie heißt Sophie, stimmt’s? – weiß, dass du und Mami, also dass du oft bei uns bist und ihr euch lieb habt und so. Du weißt schon. Und das gefällt ihr nicht.« Lena sah ihm in die Augen. »Damit hast du nix zu tun, oder?«
Er rang nach Luft. So musste es sich anfühlen, wenn jemand einem seine Faust in den Magen gerammt hatte.
»Schon okay«, murmelte sie. »Ich wusste es ja.«
»Deine Mami denkt hoffentlich nicht, dass ich irgendwie …«
»Keine Ahnung, aber ich glaub nicht. Sie liebt dich ja. Die Omi hat gesagt, dass sie dich anders liebt als meinen Vater. Nicht weniger, nicht mehr. Eben anders.« Lena hatte offenbar das Gefühl, noch etwas erklären zu müssen: »Also ich fände es super, wenn ihr zusammenbleiben würdet. Für immer und ewig. Und so.«
In Paul breitete sich nach dieser unverhofften Mitteilung ein wundervoller Frieden aus. Er lehnte sich zurück und lächelte. Flora liebte ihn. Wenn Lena es sagte, durfte er es glauben. Und darauf vertrauen, dass alles gut wurde. Trotz seiner Schwester.
»Ich liebe sie auch«, hörte er sich sagen. Die vier wichtigsten Worte seines bisherigen Lebens. Bisher war er locker mit Liebeserklärungen umgegangen, Herrgott, wie vielen Frauen hatte er schon leichtfertig zugeflüstert, verliebt in sie zu sein.
Jetzt war es ihm ernst. Weil er in Flora die Frau gefunden hatte, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte.
»Mami hat sich schon erkundigt, ob es woanders eine freie Stelle gibt«, berichtete Lena, die am letzten Plätzchen nagte. »Sie will weit weg und einen dicken Schlussstrich ziehen. Die Omi hat zu ihr gesagt, dass sie vorher mit dir reden muss. Und dass man mit Menschen, die man liebt, nicht so umgehen darf.«
»Du hast eine großartige Omi, Lena.«
»Ich bin auch stolz darauf, dass ich so heiße wie sie.« Lena strich sich übers kugelrunde Bäuchlein, als sie weitere Einzelheiten der Kontroverse zwischen ihrer Mami und Sophie preisgab.
Paul schwankte zwischen Entsetzen, Schock und Bestürzung.
»Und ich hab bestimmt nicht übertrieben«, beteuerte Lena.
Er sprang auf, plötzlich voll Tatendrang. »Ich fahr dich zur Schule. Und dann rede ich mit meiner Schwester«, kündigte er an.
»Okay«, rief sie und strahlte. Ihre Mission war erfüllt. Und dann hüpfte sie aus dem Hochglanz-Chefzimmer ins Sekretariat, um sich mit einem dicken Kuss von Frau Heilmeyer zu verabschieden.
»Ich entführe Ihnen kurz den Chef«, sagte sie vertraulich. »Er muss etwas wahnsinnig Wichtiges erledigen. Eine Familiensache.«
*
Sophie betrat die Eingangshalle der schwanenweißen Villa mit dem Säulenportal und stieg sogleich aus den hochhackigen Schuhen. Dann streifte sie die kostbar bestickte Seidenjacke ab und warf sie achtlos auf den Barockstuhl aus dem mütterlichen Erbe.
Der Restaurator hatte Großartiges vollbracht und alle Spuren von Davids letztem Verzweiflungsausbruch beseitigt.
»Frau von Ditzingen?«, rief Sophie in die dunkle Küche. »Sind Sie noch auf?« Sie lauschte kurz und ärgerte sich laut über die Hausdame, die das Licht im Wohnzimmer brennen ließ. »Ich sollte Ihnen die nächste Stromrechnung zeigen. Oder das Gehalt kürzen.«
Eine Männerstimme kam sozusagen aus dem Off: »Bist du nicht ein bisschen kleinlich, Sophie? Überleg nur mal, was das Abendkleid, das du heute trägst, gekostet hat.«
Sophie wirbelte herum, dass die orangefarbene Seide nur so rauschte. »Wie frech von dir, mich so zu erschrecken, Paul! Ich hätte fast einen Herzschlag bekommen.«
»Ein Herzschlag setzt ein Herz voraus, meinst du nicht?«
Sie überging seine Bemerkung und zog stattdessen die Haarnadeln aus der kunstvoll hochgesteckten Frisur. »Was tust du hier so allein? Oder ist die Ditzingen bei dir, um dein eiskaltes Händchen zu halten?« Nervöses Kichern. »Was trinkst du? Nichts? Hast du auf mich gewartet? Das wäre ja mal etwas Neues.«
Paul versuchte, sie sachlich anzusehen und jedes Urteil aus seinem Blick zu verbannen. »Wir müssen reden, Sophie.«
»Ich komme gerade von einer absolut öden Charity-Gala.« Sie produzierte ein übertriebenes Gähnen. »Ich bin todmüde!«
»Setz dich«, ordnete er an. Er stand am Fenster, denn bis zu ihrem Kommen hatte er versonnen den nachtdunklen, völlig unbenutzt wirkenden Park betrachtet. Selbst Vögel schienen das designte Grün mit dem modisch asiatischen Touch zu meiden.
Der Anblick hatte nicht vermocht, seine Stimmung aufzuhellen. »Ich bestehe darauf, denn du bist mir eine Erklärung schuldig.«
»Wie redest du denn mit mir!«, entrüstete sie sich. »Wenn du schlechte Laune hast, lass sie an deiner Sekretärin aus, aber gefälligst nicht an mir. Seit wann bist du hier?«
»Ich habe David eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen.« Einmal hatte er mitbekommen, wie Flora nach einem gemeinsamen Ausflug sofort nach dem Heimkommen in Lenas Zimmer geschaut hatte. Und Sophie? Sie hatte sich noch nicht mal nach David erkundigt.
Paul fügte hinzu, deutlich grimmiger: »Ich finde es nicht gut, dass David allein im Haus ist, wenn du ausgehst.«
»Kinder alleinerziehender Mütter zeichnen sich durch Selbstständigkeit aus. Noch nicht gewusst?«
»Wenn Frau von Ditzingen mal verhindert ist, solltest du dich um einen zuverlässigen Babysitter bemühen.«
»David ist kein Baby mehr. Gestern hat er mir mein Smartphone erklärt.« Sophie ging zur gläsernen Hausbar und öffnete den Kühlschrank. »Trinken wir Champagner? Oder stehst du auf Bourbon?«
»Für mich nichts. Ich hörte, dass du bei Flora warst.«
Sie drehte ihm den Rücken zu, doch er konnte sehen, wie sich ihre Schultern strafften. »Hat Hexe Mahler sich bei dir beschwert?« Dann fuhr sie herum und rief unverhofft heftig, als müsse sie einen Angriff abwehren: »Ich musste mit ihr sprechen, Paul. Das war ich dir und mir und unserer Familie schuldig. Soll ich tatenlos zusehen, wie du von einem höchst raffinierten Frauenzimmer aus ganz einfachen Verhältnissen eingeseift wirst?«
Das war eine volle Breitseite à la Sophie. Die erhoffte Wirkung blieb jedoch aus, denn Paul dachte nicht daran, ihr die vermeintlich verantwortungsbewusste Motivation abzunehmen.
»Habe ich dich nicht mehrfach gebeten, nie wieder verächtlich von Flora zu sprechen?« Er verschränkte die Arme und sah von seiner respektablen Höhe kalt auf sie herab. »Zweitens missfällt mir, dass eben von Einseifen die Rede war. Und Flora Mahler ein höchst raffiniertes Frauenzimmer zu nennen, ist beleidigend!«
»Paul, noch nie hast du dich so bizarr aufgeführt. Diese Frau hat eine Macht über dich, die mir langsam unheimlich ist.«
»Du hast dich außerordentlich schäbig benommen, Sophie, als du bei ihr in der Schule warst. Fremdgeschämt habe ich mich.«
Sie schob die Unterlippe vor und drehte den Siegelring mit dem mütterlichen Wappen am kleinen Finger der linken Hand nun in rasender Hektik. »Als mein Bruder hast du zu mir zu halten, nicht zu einer völlig Fremden«, ohrfeigte sie ihn verbal. Um beschwörend fortzufahren: »Ich will doch nur dein Gutes, Paul, ich wünsche mir so sehr, dass du glücklich bist. Aber sie ist dein Unglück. Weil sie nicht zu dir passt. Und zu uns schon gar nicht.«
»Welche ganz kleinen Verhältnisse meintest du eben?«
Sophie warf den Kopf in den Nacken. »Mama hätte niemals toleriert, dass du unter deinem Niveau heiratest. Die Hexe hat ein Kind, ist aber nicht verheiratet. Und sie ist arm wie eine Kirchenmaus. Was findest du bloß an dieser unmöglichen Frau, die nachweislich eine völlig unfähige Lehrerin ist?!«
»David benimmt sich neuerdings tadellos. Und seine schulischen Leistungen haben sich in erstaunlich kurzer Zeit gebessert.«
»Natürlich ist er ein kluges Kind, er ist mein Sohn!«, trumpfte sie auf. »Dass er jetzt gute Noten nach Haus bringt, beweist doch nur, dass die Mahler ihn früher falsch behandelt und, noch schlimmer für eine Pädagogin, absolut abwegig beurteilt hat.«
Weil er schwieg, sah sie ihn an. Dass Paul gut aussah und auf seine Umgebung eines immense Anziehungskraft ausübte, stand außer Zweifel. Das war schon früher so gewesen, für sie eine sprudelnde Quelle der Eifersucht. Schon als Kind war es ihm mühelos gelungen, alle Menschen für sich einzunehmen. Im Gegensatz zu ihr, die tüchtig ackern musste, um überhaupt beachtet zu werden.
Ihr Bruder sah sogar weitaus mehr als gut aus, nämlich hinreißend. Während sie nach einer langen Nacht Stunden brauchte und neuerdings sündhaft teure Kosmetika, um wieder halbwegs attraktiv zu wirken, sah man ihrem Bruder weder Strapazen noch Stress an. Nach fünfzehnstündigen Flügen stieg er strahlend fit aus dem Flugzeug. Sein Teint litt nicht unter nervenden Sitzungen in der Firma, er sah aus, als schliefe er jede Nacht zehn Stunden und würde Alkohol strikt meiden. Was nicht stimmte, wie sie wusste.
Paul strahlte Erfolg, Gesundheit und Intelligenz aus. Eine seltene Kombination. Wieso, fragte sich Sophie übellaunig, hat er Mamas wunderbare dunkle Haare geerbt und Papas blaue Augen? Paul, das Sonntagskind, der Liebling der Götter, vielmehr Göttinnen.
»Anstatt mir eine Szene zu machen«, teilte sie ihrem jüngeren Bruder gallig mit, »solltest du mir dankbar sein. Schließlich habe ich dich vor einer Riesendummheit bewahrt. Ich habe mir einen Blumenstrauß im Wert eines Brillantcolliers verdient.«
»Du glaubst allen Ernstes, du könntest uns auseinanderbringen, Flora und mich? Von echten Gefühlen, meine Liebe, scheinst du erbärmlich wenig zu verstehen.«
Sie trank das Champagnerglas leer. Und das, obwohl sie sich schon vor dem Ende der Wohltätigkeitsveranstaltung vorgenommen hatte, in nächster Zeit besser auf Champagner zu verzichten.
»Ich liebe Flora«, fuhr Paul fort, jetzt innig, denn er konnte nicht anders empfinden, wenn er an die Frau dachte, die er bewunderte und verehrte. »Und keine Macht der Welt könnte mich dazu bringen, zwingen oder verführen, auf sie zu verzichten.«
»Früher hättest du dich kaputtgelacht, wenn dir jemand prophezeit hätte, du würdest dich mal in eine Lehrerin verlieben. Denk einfach mal an Anne St. Simon, oh, wie elegant sie war, wie vornehm. Gegen sie hätte ich nichts einzuwenden gehabt, ich hätte sie stolz und froh in der Familie willkommen geheißen.«
»Vielleicht wünsche ich mir nicht, dass du Flora stolz und froh in der Familie willkommen heißt. Möglicherweise möchte ich Flora vor Schwägerinnen wie dir beschützen.«
Sophie fühlte sich elend. »Ich hasse dich, Paul!«
Er wirkte nicht überrascht. »Endlich ist es heraus. Schon als Kind hast du mich gehasst, stimmt’s? Was wirfst du mir vor? Dass ich Mamas Vertrauter war? Dass Papa lieber mit mir herumzog als mit dir? Glaubst du wirklich, mir wäre entgangen, wie neidisch du auf mich warst? Immer hast du versucht, mich abzudrängen, einen Keil zwischen die Eltern und mich zu treiben.«
»Das stimmt nicht!«, schrie sie. »Du lügst!«
»Immer die süßen Töne, aber im Grunde war alles nur Täuschung, war es nicht so? Dir wäre es lieber gewesen, es hätte mich nie gegeben. Dann hättest du die Eltern ganz allein für dich gehabt.«
Sie atmete schwer, der orangefarbene Busen hob und senkte sich. »Du bist widerlich, Paul!«, brüllte sie ungeniert. »Und ich wünschte, du würdest endlich gehen. Um nie wiederzukommen.«
»Es ist keine fünf Minuten her, da hast du noch behauptet, an meinem Glück interessiert zu sein.« Er schüttelte den Kopf.
Sie war da, die seit Jahren überfällige Auseinandersetzung zwischen den extrem verschiedenen Geschwistern. Unter der exklusiven Hochglanz-Oberfläche hatte immer Frust gebrodelt, Verbitterung und Missgunst, jedenfalls aufseiten Sophies.
Sie schnipste mit den Fingern. »So viel gebe ich für dein Glück. Nichts! Geh doch zu ihr, schwelgt miteinander in Mittelmaß und popliger Langeweile. Aber bilde dir nicht ein, dass ich dir David je wieder lasse. Du übst einen schlechten Einfluss auf ihn aus. Ganz zu schweigen von Hexe Mahler, die ihn ja nur benutzt hat, um an dich heranzukommen. Er diente ihr als Sprungbrett.«
Großer Gott. Plötzlich verrauchte sein aufgestauter Zorn. Müde fühlte er sich, unendlich erschöpft. »Warum bist du so unfair, Sophie? Du hast doch alles, wovon du früher geträumt hast. Wieso gönnst du Flora und mir unser Glück nicht? Bei ihr fühle ich mich wohl, nie setzt sie mich unter Druck. Wieso bist du so entschlossen, alles, was sie betrifft, negativ zu sehen?«
Ihre schwarzen Brauen schnellten in die Stirn.
»Du hast einen wunderbaren Sohn«, setzte er hinzu, einzig in begütigender Absicht, »ein einzigartiges Zuhause und …«
»Einen grandiosen Ehemann?« Sie wirkte nun wie versteinert. »Das mag so sein. Richard ist smart. Dumm ist nur, dass ich ihn schon lange nicht mehr gesehen habe. Er scheint mich zu meiden!«
»Es tut mir leid, Sophie.«
Sie drehte ihm den Rücken zu und redete die Hausbar an. »Meinst du, es sei leicht, ständig so zu tun, als machte es mir nichts aus, dass Richard lieber in New York ist als hier? Ich glaube, David weiß schon nicht mehr, wie sein Dad aussieht!«
Bevor er reagieren konnte, rief sie: »Mir hat man in diesem superedlen Internat beigebracht, Haltung zu bewahren. In jeder Situation, sei sie noch so verkorkst. Haltung sei wichtig, hieß es ständig. Haltung, Sophie, auch wenn alles zu Bruch geht, die Liebe stirbt, wenn sich das Beste verabschiedet und einem nichts bleibt.« Sie suchte seinen Blick im spiegelnden Glas. »Ich mag nicht mehr. Ich kann auch nicht mehr. Ich will die Scheidung.«
»Wie? Ach, komm, Sophie, das kannst du nicht ernst meinen.«
»Richard weiß genau, was er mir mit seiner Abwesenheit antut. Findest du das fair? Alles ist wichtiger als ich, genau das ist seine Message. Und ich habe sie, verdammt noch mal, verstanden!«
Sie schleuderte das leere Glas durchs Zimmer. Als es auf dem hochglänzenden Marmorboden landete, zersplitterte es. »Wie ich die verlogenen Gesichter hasse, wenn die Leute so tun, als wüssten sie nicht, was los ist. Dabei hat sich längst herumgesprochen, dass wir quasi getrennt leben!« Sie warf die Hände vors Gesicht und brachte gepresst hervor: »Was habe ich bloß getan, dass ich so grausam von den Furien abgestraft werde!«
Arme Sophie. Seltsamerweise durchströmte ihn so etwas wie Mitgefühl. »Richard brauchte eine komplementäre und gestählte Frau wie dich … Höhen und Tiefen sind in einer Beziehung völlig normal. Was ihr braucht, ist Zeit für euch. Hör mal, wenn er nicht zu dir kommt, warum fliegst du nicht einfach nach New York?«
Sie entgegnete leise: »Er hat schon wieder abgesagt. Und Emily erwähnte vorhin eine blutjunge Anwältin, die beim Besuch einer Kunstgalerie fotografiert wurde. An Richards Seite.«
»Bestimmt einer dieser dummen Zufälle.«
»Emily wollte mich nicht beunruhigen, sie ist so naiv. Aber sie hat die Wahrheit gesagt, denn ich hörte schon von einer anderen Freundin, dass Richard neuerdings viel ausgeht.«
»Die Leute reden viel, Sophie. Was Emily betrifft …«
»Emily ist Emily. Irgendwie mag ich sie. O Paul, wieso heiratest du sie nicht? Wir würden uns alle so gut verstehen. Sie liebt David und wünscht sich eigene Kinder. Und findest du nicht, dass sie unserer Mutter ein wenig ähnlich sieht?«
Dazu hätte er eine Menge zu sagen gehabt. Doch er stutzte. Hatte er nicht eben gehört, wie die Haustür zugefallen war?
Ach, Unsinn, sagte er sich, außer Sophie und mir sind alle zu Bett gegangen und schlafen fest. Oder irrte er sich?
*
Wie seltsam, dachte David mit einem tiefen, zitternden Durchatmen, dass die Welt nachts total verändert aussieht.
Er fror, denn bei seinem hastigen Aufbruch hatte er vergessen, sich eine Jacke anzuziehen. Immer wieder blickte er sich furchtsam um. Diese Nacht kam ihm besonders dunkel vor. Auch ziemlich unheimlich. Wieso rauschten die Bäume so stark? Wollten sie ihn warnen? Wovor? Er schauderte und zog die Schultern hoch. Ihm war bitterkalt, er spürte die Füße schon nicht mehr. Wie lange würde es noch dauern, bis er vor Lenas Haus stand? Noch nie war er zu Fuß zum Waldweg gegangen, immer hatte Onkel Paul ihn gefahren.
Als der Achtjährige an seinen Onkel dachte, zog sich das noch ungeprägte Kindergesicht mit den feinen Zügen schmerzlich zusammen. Tränen schossen in die blauen Augen mit den langen Wimpern, um die Lena ihn beneidete. Hatte sie ihm mal zugeflüstert.
Wenn sein Onkel nicht Flora heiratete, sondern Emily, die beste Freundin seiner Mutter, dann sah er schwarz. David schluchzte auf und wünschte, er wäre schon am Ziel. Oder tot. Was am besten wäre. Weil sein Vater ihn vergessen hatte. Und seine Mutter wollte die Scheidung. Hatte sie vorhin gesagt, vielmehr geschrien. Ach, an die Zukunft mochte er nicht denken.
Ein wässriger Mond hing zwischen den Straßenbäumen. Fahles Licht sickerte aus tiefgrauem Gewölk. Kein Vergleich mit dem Sternenhimmel, den er mal zusammen mit Onkel Paul betrachtete. Damals hatten die Sterne wie Diamanten gefunkelt. Und es war wunderbar warm in Onkel Pauls Armen gewesen. Wer beschützte ihn nun?
David hörte plötzlich ein leises, aber beharrliches Schnüffeln. Laub raschelte im Hintergrund. Irgendetwas winselte. Er bekam fürchterliche Angst. Wurde er von einem Wolf verfolgt?
Eigentlich hatte er die Straße meiden wollen. Doch nun rannte er, so schnell er konnte, zur großen Kreuzung. Dort war es hell, dort würde er in Sicherheit sein, zumindest vor Wölfen.
Er hörte Gebell. Hundegebell? Es mussten zwei Hunde sein. Zwei, womöglich noch mehr Hunde. Oder ein Wolfsrudel. Wölfe waren bekanntlich immer hungrig. Ihn überrieselten heißkalte Schauer.
Obwohl er sich vorgenommen hatte, nie wieder in die weiße Villa zurückzukehren, egal, was seine Mutter dazu sagen würde, wünschte er sich nun doch, es wäre möglich. Vielleicht hatte sie sein leeres Bett noch nicht entdeckt. Es war wahrscheinlich.
Leider war ihm der Rückweg durch den kleinen Park versperrt, denn dort in der Dunkelheit warteten die wilden Wölfe.
David schluchzte, ihm strömten heiße Tränen aus den Augen und über die Wangen. Nie zuvor hatte er sich so einsam gefühlt. Das Licht der Straßenlaternen verschwamm, nur schimmerndes Helles nahm er wahr. Autos sausten an ihm vorbei, niemand nahm von ihm Notiz. Er fühlte sich schmerzlich verloren in einer unendlichen Dimension. Und weit und breit kein menschliches Wesen.
Sein kummervolles Herz pochte so heftig, dass es weh tat.
Später konnte er nicht mehr sagen, weshalb er auf die Straße gelaufen war. Hatte ihn die Angst alle Vorsicht vergessen lassen?
Er blickte plötzlich in zwei grelle, ihn blendende Scheinwerferkegel, die mit unerhörtem Tempo auf ihn zurasten. Der laute Ton einer Autohupe betäubte seine Ohren. Dann gab es einen gewaltigen Stoß und einen unerträglichen Schmerz.
Flog er durch die Luft? Wer stieß diesen markerschütternden Schrei aus? Samtigwarme Finsternis nahm ihn gnädig auf …
*
Die junge Frau erwachte von einem durchdringenden Winseln aus unruhigem Schlaf. Und dann stupste etwas Feuchtes ihren Ellenbogen. Als sie die Augen öffnete, blickte sie zunächst schlaftrunken in die vertraute Dunkelheit ihres Schlafzimmers. Erst allmählich erkannte sie, dass der große Gelbe vor ihrem Bett stand.
Flora zog sich die Ohrstöpsel heraus. »Was ist los, Professor?«, fragte sie irritiert. Denn die Tatsache, dass er sie weckte, ließ auf besondere Umstände schließen.
Sie schnupperte, nahm aber keinen Brandgeruch wahr.
Dann hörte sie das Telefongeklingel und sprang aus dem Bett.
Helene Mahler kam ihrerseits aus ihrem Schlafzimmer gerannt. Mutter und Tochter begegneten sich im Wohnzimmer.
»Wer kann das sein?«, fragte Flora. »Es ist nach Mitternacht.«
»Da hat sich bestimmt jemand verwählt«, vermutete Helene.
Flora griff beherzt zum Telefonhörer, sie meldete sich mit ihrem Namen und hörte zu, was der Anrufer ihr zu sagen hatte.
Helene war beunruhigt. »Was will er denn von uns?«
Flora wirkte bestürzt. »Es hat einen Unfall gegeben?« Dann hörte sie erneut aufmerksam zu. »Und der Kleine war ganz allein unterwegs? Ungewöhnlich. Aber weshalb rufen Sie hier an?«
Im ersten Stockwerk trapsten nackte Füße über die Holzdielen. Lena beugte sich übers Treppengeländer. »Ich hab so bescheuert geträumt, Omi«, klagte sie. »Warum seid ihr auf?«
»Jemand hat angerufen. Geh wieder schlafen, Kleines.«
»Ist es Onkel Paul?« Lena war sofort hellwach. »Er ist bestimmt in New York, da frühstücken sie jetzt. Oder so.«
Flora zog die Brauen zusammen. »Ich habe eine Tochter, keinen Sohn«, teilte sie dem unbekannten Anrufer mit. »Tut mir leid, es muss sich um eine Verwechslung handeln.«
»Aber es stimmt, dass Sie am Waldweg wohnen?«
»Das ist korrekt, Herr Doktor.«
»Als er kurz aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, erwähnte er immer wieder den Namen Lena. Lena Mahler. Und dass er zum Waldweg gehen will. Wir haben leider keine anderen Anhaltspunkte.«
Flora fragte angespannt: »Wissen Sie, wie der Junge heißt?«
»Er erinnerte sich nicht an seinen Namen.«
Flora war schockiert. »Es könnte David sein. Ich komme sofort zu Ihnen. Sagen Sie es ihm bitte. Damit er sich beruhigt.«
»Im Augenblick schläft er.«
Nachdem Flora den Telefonhörer zurückgelegt hatte, stand sie eine Weile regungslos da, die Miene nachdenklich-irritiert.
»Hatte David einen Unfall? Wie konnte es dazu kommen?«
»Das würde ich auch gern wissen.« Flora seufzte auf.
»Ist ja interessant«, meinte Helene vielsagend. »Er hat offenbar nicht nach seiner Mutter gerufen, sondern nach dir.«
»Zu Lena wollte er. Zu Fuß und mitten in der Nacht. Begreifst du das?« Während sich Flora rasch ankleidete, erzählte sie, dass sich David ansonsten an nichts erinnern konnte. Der junge Arzt vermutete eine Teilamnesie, geschuldet dem Unfall.
Helene bot ihr an, sie zu begleiten. »Ich werfe mir nur rasch etwas über. Nichts Besonderes. In der Nacht sind ja alle Katzen grau. Meinst du, David hat einen Fluchtversuch gewagt?«
»Ich komme auch mit«, kündigte Lena an.
»Lieb von euch«, meinte Flora hastig, »aber ich fahr am besten allein ins Krankenhaus. Mutter, bleibst du hier bei Lena?«
»Natürlich. Jemand sollte Frau Taylor anrufen.«
»Erst möchte ich mich davon überzeugen, dass es sich bei dem kleinen Jungen tatsächlich um David handelt.« Flora warf ihrer Mutter einen tiefen Blick zu. »Du weißt ja, was ich von Sophie T. halte. Womöglich dreht sie mir einen Strick daraus, wenn ich ihren Schönheitsschlaf störe. Und dann war’s falscher Alarm.«
*
»Ja, das ist David. David Taylor. Kein Zweifel.« Flora beugte sich über das Kind im Krankenhausbett. »Ist er bewusstlos oder schläft er?«, wollte sie vom Stationsarzt wissen.
Seine Auskunft war beruhigend. »David muss ein Heer von Schutzengeln gehabt haben, denn er hat den Aufprall relativ glimpflich überstanden. Die Hände sehen schlimm aus, auch gibt es hier an der Schläfe eine unschöne Platzwunde. Aber insgesamt ist sein Zustand stabil. Dem Taxifahrer geht’s viel schlimmer.«
»Glück gehabt.« Flora strich über Davids blasse Wangen. »Armer kleiner Kerl. Ich bin übrigens seine Klassenlehrerin. Meine Tochter Lena und David sind seit Kurzem miteinander befreundet.«
»Der Fahrer hat ihn zu spät erkannt«, setzte der sympathische junge Arzt mit den wirren dunklen Locken hinzu. Übernächtigt wirkte er, viel zu schmal war er. »David muss spontan auf die Straße gerannt sein und direkt in das Taxi. Wie von tausend Teufeln verfolgt. Der Mann hat noch eine Vollbremsung versucht, aber er konnte den Unfall nicht vermeiden. Und das wird er sich wohl nie verzeihen.«
»Er hat einen Schock erlitten? Ist er hier in der Klinik?«
Der Arzt nickte zustimmend. »Vor allem war er schwer geschockt, weil er nicht mit dem Jungen gerechnet hat. Tauchte einfach aus der Dunkelheit auf. Und um diese Zeit, meinte der Taxifahrer, ist in dieser Gegend sonst niemand zu Fuß unterwegs.«
»Mir ist ein Rätsel, was David aus dem Haus getrieben hat. Eigentlich müsste sein Verschwinden irgendwie aufgefallen sein.«
»Vielleicht kann es uns seine Mutter erklären.« Der Arzt blickte an Flora vorbei. »Ich glaube, da kommt sie schon.«
Auftritt Sophie Taylor in einem auffallend schicken pistaziengrünen Hosenanzug, um den Hals riesige Südseeperlen.
»Oh.« Flora richtete sich auf und wappnete sich insgeheim. Sie hatte Sophie Taylor angerufen, sobald für sie feststand, dass es sich bei dem verunfallten Kind tatsächlich um David handelte.
Nicht Davids Mutter war am Telefon gewesen, sondern die Hausdame, eine sympathisch verbindliche Frau von Ditzingen.
»Ich darf die gnädige Frau nicht stören, Frau Mahler.«
»Aber es ist sehr wichtig. Es geht um David.«
»Auch er schläft noch.«
»Eben nicht. Nach einem Unfall wurde er ins Krankenhaus gebracht. Bitte, verständigen Sie seine Mutter.«
Daraufhin hatte Frau von Ditzingen Flora versprochen, die Information unverzüglich an die gnädige Frau weiterzugeben. Während des unglaublichen Wirbels, den Sophie daraufhin entfachte, nahm sich Frau von Ditzingen heimlich vor, Davids Onkel Paul anzurufen. Natürlich erst dann, wenn die gnädige Frau fort war.
»Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie bitten würde, mich auf dem Laufenden zu halten?« Frau von Ditzingen hatte Flora fast angefleht. »Ich muss doch wissen, wie es David geht.«
Der Stationsarzt stellte sich Sophie vor. Sie ließ ihn kaum ausreden. Auch hatte sie noch keinen Blick auf das Krankenbett in der Mitte des Zimmers geworfen. Ihr ganzes Interesse fokussierte sich auf Flora. »Was tun Sie denn hier?!«
Sophie funkelte Flora aufgebracht an. »Woher wissen Sie von Davids Unfall? Haben Sie womöglich damit zu tun? Zuzutrauen wär’s Ihnen!« Sie sah den Arzt an, der sie seinerseits entgeistert musterte. »Sorgen Sie dafür, dass diese Frau verschwindet. Aus dem Krankenhaus und bitte endgültig aus Davids Leben.«
Der Arzt wich unwillkürlich zurück, als hätte Sophie nicht Flora attackiert, sondern ihn. Die Mutter seines kleinen Patienten war zwar eine äußerst attraktive Erscheinung, doch ihm missfiel ihre aggressive Art. Normalerweise wollten Mütter zuallererst ihre Kinder sehen. Sophie zog eine Szene vor. Und sie war so rücksichtslos, nicht einmal mit gedämpfter Stimme zu sprechen.
»Ihr Sohn braucht Ruhe.« Der Arzt stellte sich schützend vor das Bett. »Frau Taylor, ich schlage vor, die Unterhaltung in meinem Zimmer fortzusetzen.«
»Ich würde gern heimfahren«, sagte Flora leise zu ihm.
Dafür hatte er Verständnis. »Vielleicht geben Sie vorher Frau Taylor noch Gelegenheit, sich bei Ihnen zu bedanken.«
Noch immer hatte Sophie keinen einzigen Blick auf ihren Sohn geworfen. Sie plusterte sich entrüstet. »Das habe ich nicht vor. Natürlich nicht. Weshalb sollte ich mich bei einer Frau bedanken, die beharrlich versucht, meinen Sohn gegen mich aufzuhetzen?«
»Ich weiß nur, dass Frau Mahler direkt nach meinem Anruf losgefahren und hierhergekommen ist. Mitten in der Nacht. Sie hat sich rührend um David gekümmert«, erzählte der Stationsarzt. »Und er entspannte sich sichtlich, als er ihre Stimme hörte. Dass er jetzt ruhig schläft, verdankt er auch ihr.«
Sophie wich seinem Blick aus und warf den Kopf zurück. »Das hört sich ja fast so an, als machten Sie mir Vorwürfe. Muss ich Ihnen wirklich erzählen, dass ich den Chefarzt kenne? Sogar sehr gut. Ich spiele seit Jahren Golf mit ihm. Rufen Sie ihn an!«
Er wirkte unbeeindruckt. Was Flora enorm imponierte. »Ich sollte mich jetzt verabschieden. Ich werde daheim erwartet.«
Sophie erklärte kalt: »Ich werde dafür sorgen, dass es keine Kontakte mehr zu Ihrer Tochter gibt, Frau Mahler.«
Flora schwieg. Sie war damit beschäftigt, ihr entrüstet klopfendes Herz zu beschwichtigen.
Der Arzt sah Sophie an. »Die Kinder sind offenbar befreundet. Und David scheint sehr an Lena Mahler zu hängen. Weshalb sonst hätte er sich mitten in der Nacht aufmachen sollen, um zu ihr zu laufen. Wollen Sie die Freundschaft wirklich beenden?«
»Ich würde gern wissen, wie Lena Mahler meinen Sohn dahin gebracht hat, sich in dieses Abenteuer zu stürzen.«
»O wirklich«, flüsterte Flora schockiert.
»Und ich würde gern wissen, wieso Ihnen entgangen ist, dass Ihr Sohn mitten in der Nacht das Haus verlassen hat.« Der junge Arzt sah Sophie aufmerksam an. »Wir alle haben uns darüber gewundert. Ungewöhnlich auch, dass er nicht nach Ihnen rief.«
»Die Mahlers haben ihn verhext!«, rief Sophie allen Ernstes. »Weil sie ihn mir nehmen wollen. Damit mir nichts bleibt.«
Flora und der Arzt wechselten einen betroffenen Blick.
Plötzlich ging eine fast noch unheimlichere Veränderung mit Sophie vor. Ihre hasserfüllte, starre Miene löste sich, zerfloss, sie wankte und wäre wohl zusammengebrochen, wenn der Arzt nicht geistesgegenwärtig zugegriffen und sie gestützt hätte.
Sophie Taylor, die sich ihr Leben lang ehrgeizig wie eisern diszipliniert hatte, der es gelungen war, eine perfekte Fassade aufzubauen, hinter der sich ihr eigentliches, abgeblühtes Leben abspielte, diese sich von einem vermeintlich ungerechten Schicksal betrogen fühlende Frau brach in hysterisches Schluchzen aus.
Ein Weinkrampf erschütterte sie. »Sie ahnen ja nicht, was man mir alles zumutet und aufbürdet, welchen ungeheuren Belastungen ich ausgesetzt bin«, stieß sie wehleidig hervor. »Alle Welt hält mich für glücklich, sorglos und beneidet mich. Aber ich bin weder glücklich noch sorglos. Tatsächlich bin ich all die mir aufgezwungenen, glänzenden Rollen leid. Ich kündige. Und pfeife auf das Geld meiner Eltern. Weil es nur Unglück gebracht hat …«
Sie sah Flora an, ihr Blick ein Mix aus Aggression und Selbstmitleid: »Sie haben mir Paul genommen. Warum auch noch David!?«
Ein Albtraum. Flora wünschte sich sehr weit weg.
Dann war Sophie nicht mehr imstande, sie erneut anzugreifen. »Sorry«, wimmerte sie kleinlaut. »Ich hätte das nicht sagen dürfen … O Gott, ich bin so durcheinander. Im Augenblick bricht bei mir alles zusammen. Ich kann nicht mehr. Haben Sie eventuell ein starkes Medikament gegen Kopfschmerzen und Übelkeit?«
Der Arzt schaffte es, sie aus dem Krankenzimmer zu geleiten.
Welch eine Szene! Flora schloss die Tür. Ihre Hand zitterte, sie selbst war vor Schreck ganz atemlos. Wie verzweifelt musste Sophie sein, dass sie zuließ, derart das Gesicht zu verlieren, vielmehr die Maske, die ihr zur zweiten Natur geworden war.
Selbstverständlich brachte Flora viel Verständnis für Sophie Taylor auf. Obwohl sie vermutete, auch aus gehabter Erfahrung, dass Pauls Schwester mit dem unberechenbaren Wesen sich selbst mehr Steine in den Weg gelegt hatte als andere Menschen ihr.
Draußen wurde es schon hell, die Morgendämmerung färbte den Himmel rosenfarben, goldgeränderte Wölkchen kündigten einen schönen Tag an. Die Luft hing voll glitzernder Feuchtigkeit, die Flora angenehm kühl ins Gesicht wehte, als sie das Fenster öffnete. Groß war ihr Wunsch nach frischer Luft, ach, wäre sie doch schon wieder zu Haus bei Lena mit ihrem unbeschwerten Lachen und Helene, der gütigsten, großherzigsten Mutter von der ganzen Welt.
Und Paul? Wie lange ließ sich Sehnsucht unterdrücken?
Flora ging zum Bett, in dem David unverändert schlief. Seine dunklen Wimpern beschatteten die Wangen, er wirkte trotz der Hautabschürfungen und dem Pflaster an der Schläfe friedlich.
Der Auftritt seiner Mutter war ihm zum Glück entgangen.
Flora beugte sich über ihn und küsste seine Stirn. »Es wird alles gut«, flüsterte sie, ihren starken Zweifeln zum Trotz.
*
»Gut, dass heute Samstag ist, Flora. Du musst nicht zur Schule fahren und kannst in aller Ruhe frühstücken.«
»Das habe ich auch vor, Mutter.« Die junge Frau schüttete die zuvor beim Bäcker gekauften, noch ofenwarmen Brötchen und Croissants in einen Korb. »Ich werde heute nur faulenzen.«
»Nach allem, was du durchgemacht hast, hast du ein entspanntes Wochenende verdient. Übrigens bin ich eben angerufen worden.«
»O nein«, rief Flora ahnungsvoll. »Doch hoffentlich nicht …«
»Aber nein.« Helene winkte ab. »Ich bin sicher, Madame braucht eine Weile, um sich von ihrem Nervenzusammenbruch zu erholen.«
»Und wer hat dich angerufen?«
»Pauls Schulfreund Tom, der Internist.« Helene strahlte. »Zuerst war ich erschrocken, weil doch Wochenende ist. Aber es gibt tatsächlich noch Ärzte, die sich kümmern. Stell dir vor, der nette Kerl hat nur angerufen, um mich zu beruhigen.«
»Gute Nachrichten?« Flora stieß einen Freudenschrei aus. »Wie wunderbar, Mutter! Wie ich mich freue. Das müssen wir feiern.«
»Es ist alles in bester Ordnung. Hat er beteuert. Und ich dürfe mir keine Gedanken mehr machen. Ist das nicht schön? Also ich bin Paul zu großem Dank verpflichtet. Er war es doch, der mich dazu überredete, zu seinem Freund zu gehen.«
Flora konzentrierte sich auf die Kaffeemaschine.
»Wir haben schon so lange nichts mehr von Paul gehört«, setzte Helene betont beiläufig hinzu. »Meinst du nicht, wir sollten uns mal erkundigen, wie es mit David weitergeht?«
»Das ist gewiss lieb von dir gedacht. Aber ich möchte eigentlich keinen Kontakt mehr haben. Warum siehst du mich so an?«
»Du erinnerst mich an deinen Vater. Der konnte auch stur sein.« Helene wurde eindringlich. »Flora, Liebes, auch ich habe mich nicht mit allen meinen Schwägerinnen verstanden …«
»Mutter, du kannst nicht wollen, dass ich mich erneut und gar freiwillig Sophies Attacken aussetze. Nein, ich bleibe bei meiner Entscheidung, ich werde so viel Entfernung wie irgend möglich zwischen mich und die Familie Taylor bringen.«
»Paul heißt Tarnow. Und ich, pardon, begreife dich nicht.«
Flora stieß einen langen, unglücklichen Seufzer aus. »Lass uns das Thema wechseln, Mutter. Wir werden uns woanders auch wohlfühlen und uns irgendwann eingewurzelt haben.«
Anschließend wurde es still in der Küche. Unnatürlich still.
»Kind, ich glaube, ich habe ein Déja-vu-Erlebnis«, sagte Frau Mahler konsterniert. »Aber es fühlt sich irgendwie gut an.«
»Was hast du?« Flora kam zum Küchenfenster und legte den Arm um ihre Mutter. »Gibt’s da draußen Gespenster?«
Dann sah sie es auch, das elegante schwarze Premiumfahrzeug.
»Weißt du noch, an Lenas Geburtstag? Da standen wir beide auch an diesem Küchenfenster. Paul fuhr vor. Und ich fragte dich, ob du jemanden kennst, der sich eine Luxuslimousine leisten kann.«
Lena kam in die Küche gehüpft. »Onkel Paul und David kommen!«
»Das hat sie damals auch gesagt«, murmelte Helene Mahler. »Und du, Flora, wirst du dich wieder weigern, die Tür zu öffnen?«
Lena strahlte. »Ich glaube, dass Onkel Paul David aus dem Krankenhaus geholt hat. Nett, dass sie uns gleich besuchen.«
Helene Mahler entdeckte den riesigen Sommerblumenstrauß. »Damals waren es bunte Rosen, erinnerst du dich noch?«
Dr. Paul Tarnow kümmerte sich liebevoll um seinen Neffen, der auf den ersten Blick zwar fit wie immer wirkte, auf den zweiten Blick jedoch ein bisschen wacklig auf den Beinen war. Deshalb trug Paul die Blumen, die für Flora bestimmt waren.
»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken«, sagte David artig.
»Die schönen Blumen. Und so viele!« Flora schnupperte an den Blüten. »Sie duften himmlisch. Ich bedanke mich, David.«
Lena betrachtete das Pflaster auf Davids Schläfe. »Tut das weh?«, wollte sie wissen. »Bist du sonst wieder okay?«
»Na klar«, entgegnete er und spielte den Unfall herunter.
Paul suchte Floras Blick. »Davids Mutter beabsichtigt, morgen nach New York zu fliegen. Zu Davids Vater.« Sein Blick verriet mehr: Sophies ehrgeiziger Plan war, ihre schwierige Ehe zu retten. Der abtrünnige Richard sollte wieder eingemeindet werden.
»Und Frau von Ditzingen«, ergänzte David, »muss sich wieder um ihre kranke Mutter kümmern. Das kann sich ziehen.«
Helene murmelte: »David allein zu Haus.«
Lena hatte eine Idee. »Und wenn er hier wohnt, bei uns? O bitte, liebe Mami, sag ja. Wir sind auch total lieb. Oder, David?«
David lächelte und konnte gar nicht mehr damit aufhören.
Lena hielt offenbar viel davon, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. »Du wirst uns überhaupt nicht sehen, Mami. Ich werde auch jeden Tag fleißig Klavier üben. Ehrenwort.«
Helene feuerte ihre Enkelin mit Blicken an, weiterzumachen.
»Wir kümmern uns um den Professor, David und ich«, setzte Lena eifrig hinzu. »Und wir werden echt nie zu lange fernsehen.«
»Natürlich kann er hier wohnen«, erlaubte Flora mit gepresster Stimme. »David ist uns immer willkommen. Aber seine Mutter muss damit einverstanden sein. Darauf bestehe ich sogar.«
»Momentan hat meine Schwester den Kopf sehr voll. Doch sie wäre fraglos sehr erleichtert, wenn sie sicher sein könnte, dass David während ihrer Abwesenheit gut untergebracht ist.«
»Davids Mutter weiß demnach nicht, dass er hier ist?«
Paul sah Flora an, sah sie fast flehentlich an. »Könnte ich dich bitte unter vier Augen sprechen?«
O Gott, dachte Flora, es ist ja viel schlimmer als befürchtet.
»Geht nur in den Garten«, rief Helene munter. »Ich werde mit dem Frühstück schon allein fertig. Und falls ich Hilfe brauchen sollte, können mir ja die beiden Kinder helfen.«
»Oder der Professor«, warf David ein.
Helene fuhr ihm durchs dunkle Haar. »Na, dir scheint es ja schon wieder fein zu gehen, mein junger Sportsfreund.«
Flora verließ die Küche. Paul folgte ihr ins Wohnzimmer.
Er räusperte sich, brachte aber keinen Ton hervor.
»Nimm doch Platz«, sagte sie, leise, weil sie nicht anders konnte. Ein Wunder, dass sie überhaupt einen Ton hervorbrachte.
Er blieb stehen. »Ich habe von Sophie gehört, was sich im Krankenhaus abgespielt hat. Es muss schrecklich gewesen sein.«
»Viele Mütter drehen durch, wenn ihre Kinder krank sind.«
»Nach allem, was sie dir angetan hat, entlastest du sie? Sehr nobel, Flora.« Er suchte ihren Blick. »Sophie hat mich gebeten, dir zu sagen, wie sehr sie alles bedauert. Sie meint es wirklich so, sie ist aufrichtig zerknirscht. Für ihre Verhältnisse.«
Flora senkte den Blick. Ihr Herz pochte hämmernd. Tatsächlich war ihr Sophies wundersame Metamorphose ziemlich gleichgültig.
Wenn es ihr doch nur gelänge, wieder zu Atem zu kommen!
»Für David wäre es natürlich ein Traum, wenn er hier wohnen dürfte. Er braucht jetzt eine stabile Umgebung und Menschen, auf die er sich verlassen kann … Aber wird es dir nicht zu viel?«
»Nein. Ich mag ihn ja.« Sie wich seinem Blick aus. Am liebsten wäre sie Paul um den Hals gefallen. Vor lauter Sehnsucht. Was völlig ausgeschlossen war. Hatte sie sich nicht geschworen, im Namen der Vernunft ihm die kalte Schulter zu zeigen?
»Sophie wollte David mitnehmen. Doch ich hab’s ihr ausreden können. Erstens ist New York nichts für kleine Kinder, zweitens ist meine Schwester momentan hochnervös. Du weißt schon.«
Flora nickte, während sie so aufmerksam das Klavier betrachtete, als sähe sie es zum ersten Mal. Müsste Helenes Beethoven-Büste nicht mal wieder abgestaubt werden?
»David könnte natürlich auch bei mir wohnen«, sagte Paul, »in meiner Stadtwohnung. Sie ist groß genug für uns beide.«
Die junge Frau schlug spielerisch einige Klaviertasten an.
»Er will aber nicht«, setzte Paul hinzu. »Er wollte hierher.«
Sie sah ihn erstaunt an. »Deshalb seid ihr gekommen?«
»Ich habe Sophie vorgeschlagen, mich während ihrer Abwesenheit um David zu kümmern. Damit war sie einverstanden. Aber er wollte unbedingt, dass wir zu euch fahren. Das war ja auch vor dem Unfall sein Ziel … Sophie und ich hatten eine ziemlich laute Unterredung. Davon hat er wohl einiges mitbekommen, fürchte ich.«
»David kann bleiben, so lange er mag.« Flora holte tief Luft und schloss das Klavier. »Leider habe ich wenig Zeit …«
»Ich bin nicht nur wegen des Jungen gekommen.«
»Sondern?«
»Während der Fahrt habe ich einen brisanten Anruf erhalten. Von meinem Anwalt. Willst du wissen, was er herausgefunden hat?«
»Wie ich dir neulich erzählte, werden wir ausziehen und …«
»Dieses Haus gehört nicht meiner Schwester.«
Flora sah ihn völlig verblüfft an. Disziplin und Vernunft machten Pause. »Nicht?«
Er lächelte. Sein unwiderstehlich entspanntes Paul-Lächeln. »Es gehört mir. Sophie hat sich entweder vertan oder sie hat geblufft. Die Immobilien, die sie erwähnte, vererbte unsere Mutter mir, nicht ihr. Also kann ich bestimmen, wer in diesem Haus wohnt oder nicht. Und ich bitte dich, hierzubleiben.«
Wankte der Boden unter ihren Füßen? War nicht die ganze Welt ins Taumeln geraten? Flora hätte sich gern irgendwo festgehalten. Oder wäre sie noch lieber von jemandem festgehalten worden?
»So lange du willst, Flora. Und mit Knut Hansen habe ich gestern Abend telefoniert. Ziemlich lange sogar.«
Er hatte mit ihrem Chef telefoniert, dem Schulleiter? Flora sagte sich, um ihre berühmte Haltung ringend: Das ist ein Traum.
»Wir haben uns bestens verstanden«, fuhr Paul zwinkernd fort. »Man könnte schon von einer Männerfreundschaft sprechen.«
»Weshalb habt ihr miteinander telefoniert?«
»Ich möchte die neuen Instrumente für das Schulorchester finanzieren.« Er kam Flora ein bisschen näher. »Ist doch klar, kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Und mir war sehr wichtig, von ihm zu hören, dass du deinen Job behältst.«
Flora errötete zart. Vor Freude, aber ja. Flüchtig, zum Glück sehr flüchtig, dachte sie daran, ihm vorzuwerfen, sich unzulässigerweise in ihr Leben zu mischen. »Paul, du kannst unmöglich wissen, dass ich befürchtete, meinen Job zu verlieren.«
Diesen Einwand überging er geflissentlich, denn Flora sollte nie erfahren, dass Lena ihn in seinem Büro besucht hatte. »Meine Schwester hat sich fürchterlich aufgespielt. Ihre Beziehungen zu Knut Hansen sind überschaubar. Und er ist ein Schulmeister von altem Schrot und Korn, nie hätte er sich von Sophie unter Druck setzen lassen. Bestechung und Nötigung findet er gruselig!«
Viel stürmte auf sie ein. Flora musste tief durchatmen und konnte es endlich wieder. Aber nicht deshalb strahlte sie.
»Alles bleibt also, wie es ist. Und so wünschen es sich auch deine Schüler und alle Eltern. Betonte Knut Hansen, der selbstverständlich große Stücke auf dich hält. Alles klar?«
Nichts war klar. Flora war völlig durcheinander. Und überwältigt sowieso. Aber war sie das nicht immer in Pauls Nähe?
»Dieses Haus muss dringend renoviert werden«, meinte Paul, der sich kritisch umsah, während er noch einen Schritt näher trat. So nahe, dass er sich einbildete, ihr Herz klopfen zu hören. »Ich schlage deshalb vor, dass ihr eine Weile zu mir zieht. Die Wohnung ist, wie gesagt, groß genug. Mit dem Professor müssen wir dann halt öfter mal in den Stadtpark gehen.«
Lieber Gott, mach, dass es kein Traum ist. »Wir?«
»Bleiben wir denn nicht zusammen? Wenn die Handwerker hier fertig sind, können wir wieder einziehen. Oder wir bauen uns ein neues Haus. Ganz nach deinen Wünschen, Flora. Du musst nur zustimmen. Sag ja, mein Liebstes. Und unser Glück beginnt.«
Flora stand mit ihrer träumerischen Miene still da. Ihr rotblondes Haar schimmerte im Morgenlicht, auf dem Grund ihrer braunen Augen glänzte Gold. Plötzlich war alles ganz einfach. Einfach himmlisch. Paul war zu ihr gekommen. Weil er sie liebte. Wie hatte sie je daran zweifeln können?
»Ja«, hauchte sie.
Paul verharrte einen Moment lang regungslos, unfähig, seine Gedanken zu ordnen. Ihr gehauchtes Ja hatte in seinem Herzen ein Geläut von Silberglocken in Gang gesetzt, ein Jubeln und Jauchzen bei der Aussicht auf ein Glück mit Flora.
Im Hintergrund wurde getuschelt. Lena und David kicherten. Bis Helene Mahler die Kinder energisch in die verlockend nach frischem Kaffee duftende Küche zurückbeorderte.
Paul und Flora bekamen nichts davon mit. Sie hielten sich eng umschlungen, einer in den Anblick des anderen versunken.
»Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich so leicht loswerden?«, wollte er zärtlich von ihr wissen.
»Wenn du wüsstest, wie lieb ich dich habe, Paul.«
»Meine Flora.« Er zog sie an sich und küsste sie innig. »Alles ist anders gekommen, als ich dachte. Aber alles ist wunderbar.«
Er wollte ihr eine einzigartige Liebeserklärung machen, die romantischste, unvergesslichste und aufrichtigste seines Lebens. Als sie ihn küsste, fiel ihm nichts mehr ein. Seligkeit pur.