Читать книгу Mami Bestseller Staffel 2 – Familienroman - Jutta von Kampen - Страница 7

Glück in Kinderaugen Für die kleine Heike ist die Welt wieder schön Roman von Reutling, Gisela

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»Du liebst ihn immer noch«, stellte Bruno Meinrad fest. Dabei sah er prüfend in das Gesicht seiner Tochter, das abgespannt wirkte und doch wie von einer inneren Erregung gekennzeichnet war.

»Nein, Vater, wo denkst du hin!« Mit einer nervösen Bewegung strich sich Cornelia über das Haar. »Das ist doch längst aus und vorbei.« Sie wandte sich beiseite, um dem durchdringenden Blick zu entgehen, der auf ihr ruhte.

»Warum regt es dich dann so auf, dass du Dieter Markgraf wiedergesehen hast?«, fragte Bruno Meinrad trocken.

»Es kam so überraschend – plötzlich stand er vor mir«, murmelte Cornelia abgerissen.

»Und was sagte er?«

»Nichts Besonderes«, antwortete Cornelia achselzuckend. »Hallo, wie geht es dir, du siehst gut aus … Ja, er redete, als wären nicht drei Jahre vergangen, sondern als hätten wir uns vorige Woche oder vorigen Monat zuletzt gesehen. Und eher beiläufig teilte er mir mit, dass er sich hier als Internist niederlassen würde.«

»So ist das.« Bruno Meinrad nickte nachdenklich. Das war es wohl, was ihr zu schaffen machte. Wie froh war sie damals gewesen, dass er nach Norddeutschland gegangen war und damit eine beträchtliche Entfernung zwischen ihnen lag. Und sie sollte ihm nicht erzählen, dass es vorbei war. Trotzdem sagte er, wie um sie zu beschwichtigen: »Die Stadt ist groß genug, dass ihr euch nicht dauernd in die Arme laufen müsst, Cornelia.«

»Natürlich.« Cornelia bezwang sich, sie bemühte sich sogar um ein Lächeln. »Es hat mich nur im Moment aus dem Konzept gebracht. Im Grunde geht es mich überhaupt nichts an, wo er arbeitet und was er tut.« Es klang herb, und das schwache Lächeln stieg ihr auch nicht bis in die leicht umschatteten Augen.

»Dann ist es ja gut. – Übrigens … Markus hat angerufen«, lenkte er ab. »Er ist aus Norwegen zurück und wollte heute Abend mit dir ausgehen. Ich habe ihm gesagt, dass du Nachtdienst hast.« Als seine Tochter nur etwas apathisch nickte, trat er auf sie zu und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. »Leg dich jetzt hin, Cornelia, und versuch, etwas vorzuschlafen. Du siehst müde aus.«

»Ich laufe lieber ein Stück, Vater, das tut mir wohler«, meinte sie. »Danach kann ich mich immer noch eine Stunde ausruhen.«

Er stand am Fenster und sah ihr nach, als sie das Haus verließ. Sie hatte feste Schuhe angezogen zu ihrem sportlich-eleganten Kostüm, in dem sie in der Stadt gewesen war. Sonst trug sie oft Hosen, weil es praktischer für sie war. So oder so war sie eine hübsche Erscheinung, schlank und aufrecht, mit ihrem leichten, raschen Gang. Eine junge Frau, die man mit Wohlgefallen sah. Warum hatte sie nur kein Glück?

Kein Glück in der Liebe, schränkte der Vater ein. Beruflich war alles wie erwünscht verlaufen: Studium, Staatsexamen, promovierte Ärztin. Doch das war ihrer Begabung, ihrem Fleiß und ihrer Strebsamkeit zu verdanken. Zu einem erfüllten Frauenleben gehörte mehr.

Indessen lief Cornelia mit ausholenden Schritten zum Fluss, an dem sich die Auen entlangstreckten. Hier war es windiger als zwischen den Häusern, es wehte durch ihr Haar und kühlte ihre Stirn. Das frische junge Grün tat ihren Augen wohl. Allmählich besänftigte sich der unruhige Schlag ihres Herzens.

Du hast anscheinend nichts dazugelernt, hielt sie sich vor. Dieter braucht dich nur anzusehen mit seinen blauen Augen, mit diesem gewissen Lächeln, und schon ist es um dein Gleichgewicht geschehen. Es war wie ein Anprall gewesen …

Ja, gewiss, überlegte sie weiter, nur weil diese Begegnung so völlig unvermutet war, weil sie ihn weit weg wähnte, hatte es sie so getroffen. Sonst wäre sie bestimmt kühl und überlegen geblieben. Sie brauchte doch nur an die letzte schlimme Auseinandersetzung zu denken, die ihr Zusammenleben beendet hatte.

Zwei Jahre waren sie zusammen gewesen. Dieter war der Meinung, dass man zum Glücklichsein keinen Stempel vom Standesamt brauchte. Er wusste seinen Standpunkt so überzeugend zu vertreten, dass sie diesen zu dem ihrigen machte. Man brauchte sich nur umzusehen: Eine Partnerschaft ohne Trauschein war heutzutage nichts so Besonderes mehr. Wenn erst ein Kind kam, würde man sie ohnehin legalisieren. Doch das war vorläufig noch kein Thema für sie beide.

Vorausgegangen war ein schönes, ein wunderbares Jahr. Sie glaubten füreinander bestimmt zu sein. Jede Stunde ihrer knappen Freizeit, die sie gemeinsam verbrachten, wurde ihnen zu einem Fest.

Hätten sie es nur dabei belassen!

Aber welches liebende Paar wünscht sich nicht eines Tages die ständige Nähe des anderen. Besonders sie, Cornelia, war ganz sicher, dass der Alltag ihrer Liebe nichts von ihrem Glanz nehmen könnte. Wenn Dieter auch mehrfach beteuerte, dass er seine Freiheit brauchte – sie nickte nur lächelnd dazu. Sie hatte ja gar nicht die Absicht, ihm Fesseln anzulegen. Er würde schon häuslicher werden, wenn aus seiner geräumigen, mit kühler Sachlichkeit eingerichteten Junggesellenwohnung ein gemütliches Heim wurde.

Es war ein Irrtum. Dieter nutzte die sogenannte Freiheit, die er sich ausbedungen hatte, mehr aus, als ihr lieb sein konnte. Er fuhr allein zu wissenschaftlichen Kongressen, ging allein aus, ließ sich oft genug auch ohne die Partnerin einladen. Dass er dabei natürlich auch andere Frauen kennenlernte, die ihn genauso attraktiv fanden wie sie, blieb nicht aus.

Eine Weile nahm sie es hin, weil er gereizt reagierte, wenn sie den Mund auftat. Aber auf die Dauer war sie nicht bereit, sich ihm bedingungslos unterzuordnen. Es kam zu Auseinandersetzungen, die nur im Anfang in stürmischen Versöhnungen endeten. Doch sie bewirkten nicht viel, weil schließlich doch alles beim Alten blieb.

Es waren Jahre, in denen ihre Liebe allmählich verwelkt, an den Enttäuschungen erstickt war, die sie sich gegenseitig bereiteten.

Auch Dieter war enttäuscht von ihr, weil sie nicht das nachgiebige, still duldende Frauchen war, für das er sie wohl gehalten hatte. Er warf ihr mangelnde Toleranz vor, und mancher Streit hatte mit dem Satz begonnen: »Du hast es doch gewusst, dass ich mich nicht anbinden lasse!« Sie hatte den Verdacht, dass er eine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Dieter stritt es ab. Es fielen böse, erbitterte Worte, mit denen sie sich verletzten. Dies war das Ende.

Es ist wohl besser, wir trennen uns, hatte Dieter mit steinernem Gesicht gesagt und sie hatte ihm tonlos zugestimmt.

Er hatte ein Angebot nach Hamburg angenommen, wollte nun dort seine fachliche Ausbildung zum Herzspezialisten beenden.

Cornelia sagte es sich hundertmal und mehr, dass dieser scharfe Schnitt richtig und unumgänglich gewesen war. Aber die Wunde war da, und sie heilte nur langsam.

Sie war wieder in ihr Elternhaus gezogen. Die Mutter war vor einigen Jahren gestorben, eine nette ältere Frau führte ihrem Vater den Haushalt. Bruno Meinrad war Architekt, er hatte sein Büro im Hause. Aber er überarbeitete sich nicht mehr. Die Verhältnisse erlaubten es dem inzwischen Vierundsechzigjährigen, nur noch gelegentlich einen Auftrag anzunehmen, an den er dann auch mit Freude heranging. Cornelia hatte eine sehr innige Beziehung zu ihm.

Ein Jahr später lernte sie Markus Springer kennen, den Juniorchef des Omnibus-Reisebüros Springer. Dort hatte sie eine Urlaubsreise per Bus und Schiff nach Südnorwegen gebucht. Der Vater hatte sie dazu gedrängt, es würde sie auf andere Gedanken bringen. Die Fjorde, die Gletscherwelt zu sehen, das war ein Erlebnis, wie er aus eigener Erfahrung wusste.

Er sollte recht behalten. Es löste sich wie ein Knoten in ihr, sie lernte wieder zu lachen, heiter zu sein in geselliger Runde. Markus Springer, der größere Reisen selbst begleitete, verstand es ausgezeichnet, die richtige Atmosphäre unter seinen Gästen zu schaffen. Cornelia konnte nicht umhin, zu bewundern, wie vielseitig dieser junge Mann war, wie er jede Situation überlegen und mit wachem Verstand meisterte.

Nach der dreiwöchigen Reise rief er sie später noch einmal an. Ob man sich wiedersehen könnte? Sie war überrascht, aber sie hatte nichts dagegen. Er war weltläufig, wie es sein Beruf mit sich brachte, und man konnte sich interessant mit ihm unterhalten.

Sie trafen sich in einem Restaurant, und er sagte: »Es ist ein ungeschriebenes Gesetz bei uns, keinen Passagier vorzuziehen, deshalb konnte ich Ihnen unterwegs nicht zeigen, wie gut Sie mir gefielen, Frau Dr. Meinrad. Das möchte ich jetzt nachholen.« Dabei lachte er mit blitzenden Zähnen und übermütig funkelnden Augen.

»Sie gefielen mir auch«, bekannte Cornelia freimütig, in heiterem Ton. »Es ist sicher nicht leicht, Menschen verschiedenen Alters und Herkunft in Harmonie zusammenzuhalten.«

»Ja, ja, da könnte ich Ihnen so manche Anekdote erzählen …« Er tat es, und sie amüsierte sich. Es war entspannend, mit Markus Springer beisammen zu sein. Endlich einmal kein Gespräch über Krankheiten, kein Fachsimpeln wie bei gelegentlichen Kollegentreffs.

Das »Frau Doktor« ließ er bald fallen, sie kamen sich näher, und nach einigen Monaten, während derer sie sich manchmal getroffen hatten, schließlich sehr nahe.

Als Cornelias Gedanken bei diesem Punkt angelangt waren, setzte sie sich, schon auf dem Heimweg, auf eine Bank und sah sinnend über den Fluss. War es Liebe, was sie mit Markus verband?

Sie vermochte es weder zu bejahen noch zu verneinen. Es war nicht so, dass sie glaubte, ohne Markus nicht leben zu können, wie es ihr einst bei Dieter geschah. Da war es Liebe gewesen. Sie wollte nicht sagen die große, leidenschaftliche, sondern eben die Liebe, als eine unteilbare Größe. Wie hätte man denken können, dass sie vergehen würde?

Vielleicht war das andere besser, wenn man sich selbst bewahrte, nicht gänzlich im anderen aufging.

Sie nahm sich vor, Markus bald anzurufen und ihm zu sagen, dass sie sich auf ein baldiges Treffen mit ihm freute.

*

»Sie glauben, dass die Patientin simuliert?«, fragte Cornelia. »Aber als ich sie untersuchte, fühlte sich ihr Unterbauch hart und gespannt an, und sie klagte über Schmerzen. Ich habe daraufhin eine Uterographie veranlasst, die allerdings nichts ergab.«

»Nach meiner Ansicht ist die Frau hochgradig neurotisch«, erklärte der Oberarzt, der sich wie gewöhnlich noch mit der Nachtdienst tuenden Ärztin besprach. »Ich habe mit ihrem Hausarzt geredet, er ist derselben Ansicht. Frau Eckner ist seit Jahren bei ihm in Behandlung, wegen ständig wechselnder Beschwerden. Oft genug lässt sie ihn auch nachts zu sich rufen, mal ist es das Herz, mal der Magen, mal die Galle. Dabei sind die Organe gesund. Die Krankheiten, die sie zu haben glaubt, existieren nur in ihrer Einbildung.«

»Das verstehe ich nicht.« Kopfschüttelnd betrachtete Cornelia die Krankenblätter. Da gab es Verdacht auf Magengeschwüre und Gallensteine, ohne dass in einem einzigen wirklich eine Erkrankung nachgewiesen werden konnte. »Man gibt doch nicht vor, Schmerzen zu haben, wenn man keine hat.«

»Sie mag sie ja tatsächlich empfinden«, räumte Dr. Holl ein. »Nur dass deren Ursache nicht im organischen Bereich, sondern in der Seele liegt. – Sie sehen mich so erstaunt an, Frau Kollegin, in Ihrer kurzen Praxis ist ihnen wohl ein solcher Fall noch nicht vorgekommen?«

»Nicht in diesem Umfang, nein«, musste Cornelia zugeben. »Ich weiß natürlich, dass seelische Konflikte einen Körper belasten können. Aber über Jahre hindurch, und noch dazu bei einer verhältnismäßig jungen Frau! Wie alt ist sie genau?«, sie sah nach. »Zweiundvierzig«, stellte sie fest. »Das ist doch kein Alter …«

»Tja, man müsste herausfinden, wo die Wurzel allen Übels liegt.« Dr. Holl rieb sich die Nase, eine Angewohnheit, wenn er nachdachte. »Ich habe mich«, fuhr er fort, »bei Dr. Müller, also dem Hausarzt, auch nach ihren persönlichen Verhältnissen erkundigt. Sie ist verheiratet, der Mann ist Steuerberater, der einzige Sohn ist schon aus dem Haus. Weiter wusste er mir nichts darüber zu sagen, er ist wohl in seiner Praxis ziemlich überlastet.«

Sekundenlang schwiegen sie. Dann sah der Oberarzt seine jüngere Kollegin an. »Wollen Sie nicht mal mit Frau Eckner reden, Frau Meinrad?«, schlug er vor. »Mir ist nämlich schon aufgefallen, dass die Patientinnen Ihnen besonderes Vertrauen entgegenbringen. Wenn ich nur an dieses junge Ding denke, dem wir den Magen auspumpen mussten, weil es eine Überdosis Tabletten geschluckt hatte. Sie haben das Mädchen doch ordentlich wieder aufgebaut, nachdem es sich ihren Liebeskummer von der Seele geredet hatte.«

Cornelia nickte leicht. Es war die Kurzschlusshandlung einer Siebzehnjährigen gewesen. »Der Fall Eckner liegt wohl etwas anders«, zögerte sie.

»Sicher«, stimmte Dr. Holl ihr zu. »Versuchen könnten Sie es immerhin. – Ja, das wär’s dann wohl.«

Aber Cornelia hatte noch eine Frage. »Wie steht es mit Frau Berger auf Zimmer 11? Sie hat in den letzten Nächten kaum Ruhe gefunden.«

»Ich habe Schwester Anni schon gebeten, dass sie heute ein stärkeres Schlafmittel bekommen soll«, gab der Oberarzt zurück. »Wir haben die Biopsie vorgenommen …«, er stockte. Seine Miene verdüsterte sich.

»Und –?«, fragte Cornelia ahnungsvoll.

»Karzinose«, antwortete Dr. Holl kurz.

Cornelia zog scharf den Atem ein. Das bedeutete: Aussaat von Krebszellen im ganzen Körper. »So weit ist es also schon«, murmelte sie mit blassen Lippen. Es war zuerst nur ein Verdacht gewesen. Nun hatte er sich bestätigt.

»Sie hätte viel früher zu uns kommen müssen«, sagte der Arzt etwas schroff. »Wozu gibt es schließlich Vorsorgeuntersuchungen?«

Bedrückt trat Cornelia an diesem Abend ihren Nachtdienst an. Renate Berger hieß die junge Frau, der das Todesurteil gesprochen war. Im gleichen Alter wie sie, Anfang dreißig. Cornelia war noch weit davon entfernt, als Ärztin darüberzustehen. Sie lehnte sich noch ohnmächtig auf bei der Vorstellung, einfach nicht mehr helfen zu können. Sie nahm sich vor, zu ihr zu gehen, sobald anderes Wichtiges getan war.

Renate Berger lag in einem Zweibett-Zimmer am Fenster. Die andere Patientin war eine alte Dame, die ohne Hörgerät halb taub war. Mit einem Nicken erwiderte sie den freundlichen Gruß der eintretenden Ärztin und las weiter in ihrem Taschenbuchroman. Sie brauchte nichts mehr, auch keinen Zuspruch. Sie wurde sowieso in den nächsten Tagen entlassen. Cornelia zog sich einen Stuhl an das andere Bett. Auf dem Nachttisch lag noch das Schlafmittel, das Schwester Anni dahingelegt hatte.

»Ich nehme das nicht«, sagte die Patientin. »Ich will wach bleiben, Frau Doktor. Ich habe so viel zu bedenken, nachts, wenn die anderen schlafen und es ruhig ist auf der Station.«

»Ein paar Stunden Schlaf braucht aber jeder Mensch, Frau Berger«, wandte Cornelia behutsam ein. Dabei betrachtete sie das abgezehrte Gesicht der Kranken. Es musste einmal sehr hübsch gewesen sein, bevor die Krankheit es gezeichnet hatte.

Der blasse Mund verzog sich ein wenig, ihre Augen sahen zur Decke empor. »Ich werde bald genug lange schlafen können«, kam es wie ein Hauch zurück. Cornelia griff nach der schmalen Hand und umfasste sie. Aber bevor sie etwas sagen konnte, richtete sich der Blick der Patientin wieder auf sie. »Oder glauben Sie, ich wüsste nicht, dass ich bald sterben muss?«

»Woher wollen Sie das wissen?«, sprach Cornelia leise. »Über Leben und Sterben entscheiden nicht wir.«

»Ich weiß es«, beharrte die andere. »Ich spüre es in mir. Ich lese es in den Mienen der Ärzte, auch in Ihren Augen, Frau Doktor, und wenn Sie alle hundertmal glauben, sich zu beherrschen und mir mit Worten auszuweichen.«

Cornelia senkte die Lider und streichelte sacht über Renate Bergers Hand. Hier hatte es wohl keinen Sinn mehr, die bittere Wahrheit zu verleugnen.

»Warum sind Sie denn nicht schon früher zum Arzt gegangen, Frau Berger?«, fragte sie mit enger Stimme. »Auch wenn Sie keine Schmerzen hatten, der Gewichtsverlust musste Sie doch aufmerksam werden lassen.«

»Ich hatte Angst«, stieß die Patientin hervor. »Ich wollte nicht krank sein. Mein Kind brauchte mich doch …« Sie tat einen tiefen, zitternden Seufzer.

Eben deshalb hättest du auf dich achten müssen, dachte Cornelia. Aber sie sprach es nicht aus. Was sollten Vorwürfe für einen Sinn haben. »Wie alt ist Ihr Kind?«, erkundigte sie sich.

»Heike ist sechseinhalb. Sie ist voriges Jahr in die Schule gekommen. Ach, ich vermisse sie so … Haben Sie Kinder, Frau Doktor?« Als Cornelia mit einem Kopfschütteln verneinte, fuhr sie fort: »Dann können Sie sich nicht vorstellen, wie es einem fehlt. Seit fünf Tagen, seit man mich hierbehalten hat, habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Aber besucht Sie. Ihr Mann denn nicht mit Ihrem Kind?«

Die Kranke wandte den Kopf ein wenig beiseite. »Ich habe keinen Mann. Heike hat keinen Vater. Wir stehen ganz allein, wir beide.«

»Haben Sie gar keine Angehörigen mehr?«, fragte Cornelia bestürzt.

»Eine Schwester. Aber die ist in Amerika. Ich habe ihr geschrieben, wie es um mich steht. Aber sie wird wohl nicht kommen können. Ihr Mann lässt sie bestimmt nicht fort.«

Sekundenlang schwieg Cornelia. »Wo ist Ihre Heike denn jetzt?«, erkundigte sie sich dann.

»Bei einer Nachbarin, einer alten Frau. Sie geht wegen eines Hüftleidens nur noch selten aus dem Haus, und der Weg hier heraus ist ihr zu umständlich.«

»Gibt es denn nicht eine Freundin, eine Kollegin, die Ihnen Ihr Töchterchen mal bringen könnte? Sie sind doch berufstätig, nehme ich an.«

»Ich habe für ein Übersetzungsbüro zu Hause gearbeitet. So konnte ich mich immer um Heike kümmern. Und eine Freundin hab ich nicht. Die paar Leute, die ich kenne, haben immer alle keine Zeit.« Es klang so niedergeschlagen, dass Cornelia die blasse Hand, die sie immer noch hielt, fester ergriff.

»Morgen Nachmittag bringe ich Ihnen Ihre Heike«, versprach sie spontan. »Sagen Sie mir, wo Sie wohnen, dann hole ich sie und fahre sie auch wieder zurück.«

»Sie – Sie würden das tun, Frau Doktor?«, stammelte die Patientin mit geweiteten Augen.

»Ja, warum nicht«, sagte Cornelia betont leichthin. Ein schwaches Lächeln voller Dankbarkeit huschte um Renate Bergers Mund.

Ihre Stimme war plötzlich fester, als sie die Adresse nannte, den Weg beschrieb. Cornelia nickte und erhob sich. »Gut. Dann werden Sie jetzt aber auch die Tabletten nehmen und schlafen, damit Sie morgen frisch sind, wenn der liebe Besuch kommt. Ich werde später noch einmal nach Ihnen schauen.«

Das Herz war ihr schwer, als sie die Tür von Zimmer 11 hinter sich schloss. Welch eine traurige Geschichte war das.

In der Mitte des Ganges gab es einen offenen Aufenthaltsraum, den man der zahlreichen Grünpflanzen wegen »die Laube« nannte. Einige Patienten hatten sich dort vor dem Fernseher niedergelassen. Cornelia erkannte unter ihnen Frau Eckner. Ihr fiel ein, was Dr. Holl ihr gesagt hatte. Ach ja, dachte sie, muss das heute sein, dass ich sie mir vornehme? Ihr stand der Sinn nicht danach.

Aber da kam sie schon auf sie zugestürzt, mit wehendem Morgenrock. »Frau Doktor!«, rief sie mit schriller Stimme. »Ich habe einen wahnsinnigen Druck um den Kopf. Also das ist wie ein Ring …« Mit einer theatralischen Gebärde fuhr sie mit allen zehn Fingern in ihr hellblond gefärbtes Lockenhaar. »Mit meinem Blutdruck muss irgendetwas nicht stimmen. Entweder ist er zu hoch, oder zu niedrig. Ich flehe Sie an, untersuchen Sie mich und geben Sie mir ein Medikament, sonst überstehe ich die Nacht nicht.«

»Dann wollen wir mal sehen«, sagte Cornelia. »Kommen Sie mit.«

Es war wieder einmal falscher Alarm, stellte sie fest, während sie den Blutdruck maß, die Augenreflexe prüfte.

»Hoffentlich krieg ich keinen Schlaganfall«, murmelte die Patientin dumpf.

»Davon sind Sie weit entfernt«, sagte Cornelia und nahm das Stethoskop ab, mit dem sie den Körper gewissenhaft abgehorcht hatte. »Sie steigern sich in etwas hinein, Frau Eckner. Das ist Ihre Krankheit.«

Die Angeredete verzog weinerlich das Gesicht. »Und ich dachte, bei Ihnen würde ich Verständnis finden. Sie sind doch auch eine Frau. Die Männer, diese Herrgötter in Weiß, die haben ja überhaupt kein Mitgefühl mit einem, da kann man noch so elend dran sein«, jammerte sie und wischte sich über die Augen.

»Ich fürchte, das sehen Sie falsch«, erwiderte Cornelia ruhig. »Jeder ist bemüht, zu helfen, denn das ist unsere Aufgabe.«

»Mir hat noch niemand helfen können«, sagte Ilse Eckner verbittert, während sie wieder in ihren Hausmantel schlüpfte.

»Darüber wollen wir einmal reden, von Frau zu Frau!« Aufmunternd nickte Cornelia der anderen zu.

»Jetzt gleich?«, fragte diese hoffnungsvoll und fast begierig. Den »Ring um den Kopf« schien sie vergessen zu haben.

»Ja«, sagte Cornelia knapp und führte sie in das neben dem Untersuchungsraum gelegene Sprechzimmer der Ärzte.

Es fiel ihr nicht schwer, das Vertrauen der Patientin zu gewinnen. Reden zu können und eine geduldige Zuhörerin zu haben, das bereitete ihr ein Hochgefühl. Es war ja sonst niemand da, der ihr wirklich zuhörte, wirklich auf sie einging, so betonte sie. Sie war eine sehr einsame Frau, wie sie versicherte. Ihr Sohn war aus dem Haus, und ihr Mann hatte neben dem Beruf seinen Stammtisch, seinen Kegelklub, und am Wochenende fuhr er zu den Fußballspielen seines Vereins. Da blieb nicht viel Zeit für sie übrig.

»War das immer so?«, fragte Cornelia mit einem aufmerksamen Blick, als ihr Gegenüber einmal Luft holte.

»N-nein«, gab Frau Eckner etwas zögernd zu, »eigentlich nicht. Erst seit ein paar Jahren, seit unser Junge sich abgenabelt hat, wie er das nennt, und seit ich eine kranke Frau bin. Mein Mann glaubt ja nicht daran. Er nimmt schon Reißaus, wenn ich nur davon anfange.« Ihre Miene nahm einen tiefgekränkten Ausdruck an.

»Sie sind keine kranke Frau, Frau Eckner«, hielt ihr Cornelia offen und nachdrücklich entgegen. »Organisch sind Sie gesund, dafür sollten Sie dankbar sein. Sie fühlen sich vernachlässigt. Sie haben keine Aufgabe mehr, seit Ihr Sohn selbstständig geworden ist, den Sie wahrscheinlich liebevoll umsorgt haben. Sie flüchten sich in immer neue Leiden und Beschwerden, um Ihren Mann auf sich aufmerksam zu machen. Aber damit erreichen Sie gerade das Gegenteil – er nimmt Reißaus, wie Sie selber sagen. Sie vertreiben ihn und wahrscheinlich auch andere nur mit Ihren vielen Klagen. Sonst wären Sie sicher nicht einsam, und vermutlich käme Ihr Sohn dann auch öfter.«

Die Unterlippe der Frau begann zu beben. »Nun hatte ich so gehofft, bei Ihnen Verständnis zu finden, Frau Doktor, und nun halten auch Sie mich für eine Spinnerin!«

»So ist es nicht«, widersprach Cornelia. »Körperliches und seelisches Befinden hängen zusammen, und bei Ihnen ist die Seele der Auslöser Ihres schlechten Befindens.«

»Die Seele.« Frau Eckner nickte bedeutungsvoll. Das hatte ihr noch niemand gesagt. Es war etwas Neues. Es war interessant. »Gibt es dafür auch etwas?«

»Wenn Sie Pillen meinen: Nein. Aber es gibt Ärzte, die sich ausschließlich damit befassen. Drüben in der Nervenklinik.«

Hier fuhr Frau Eckner auf. »Ich bin doch nicht geistesgestört!«, entrüstete sie sich.

»Davon kann gar keine Rede sein«, beschwichtigte Cornelia. »Sie machen sich eine völlig falsche Vorstellung. Dort sind Psychiater, die sich in ausführlichen, behutsamen Gesprächen mit den Patienten befassen und ihnen sozusagen den Sinn wieder zurechtrücken, wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Darauf sind sie spezialisiert, während wir hier für körperliche Leiden da sind.«

»In Gesprächen«, sagte Frau Eckner nachdenklich. Das gefiel ihr.

»Ja. Deshalb schlage ich vor«, hakte Cornelia nach, »dass wir Sie, im Einverständnis mit Oberarzt Dr. Holl, zur ambulanten Behandlung dorthin überweisen. Vielleicht werden Sie sich schon bald sehr viel wohlerfühlen.«

»Man wird ja sehen«, murmelte die andere skeptisch.

Am nächsten Morgen, bevor sie nach Hause fuhr, erstattete Cornelia Dr. Holl Bericht, da er gerade seinen Dienst antrat.

»Gut gemacht«, schmunzelte er. »Sie wird sich ungeheuer wichtig vorkommen. Der arme Mann kann einem leidtun. Na, vielleicht bringen sie sie da zur Vernunft. Sonst noch etwas?«

»Nein, nichts Besonderes. Frau Berger hat diese Nacht geschlafen, ich habe mehrmals nach ihr gesehen. Sie ist sich über ihren Zustand im Klaren«, fügte sie niedergeschlagen hinzu.

Der Oberarzt nickte ernst. Dann ging er zur Tagesordnung über.

*

Auf Cornelias mehrmaliges Klingeln wurde nicht geöffnet. Erst als jemand das Haus verließ, schlüpfte sie hinein und stieg die Treppen zum 2. Stock empor. Es war ein älteres, vierstöckiges Mietshaus mit jeweils drei Wohnungen auf jeder Etage. Sie fand das Namensschild Berger und ein paar Schritte weiter A. Hoppe.

»Ja …, wer ist da?«, fragte eine eher unwillige Stimme, nachdem Cornelia geläutet hatte.

»Ich bin die Ärztin von Frau Berger«, antwortete Cornelia. »Ist die kleine Heike bei Ihnen?«

Die Tür wurde um einen Spaltbreit geöffnet. Noch stand Misstrauen in den Augen der weißhaarigen Frau, während sie die Fremde musterte. Aber dann trat sie doch beiseite und sagte: »Kommen Sie rein.« Sie war von untersetzter Gestalt und bewegte sich schwerfällig. »Ich mach sonst grundsätzlich nicht auf«, fuhr sie fort, »es passiert doch so viel.«

»Ich hätte Sie vorher anrufen sollen, aber Sie haben kein Telefon«, bemerkte Cornelia in entschuldigendem Ton.

»Ich brauch kein Telefon«, kam es zurück. »Wenn mal was ist, kann ich nebenan bei Frau Berger telefonieren. Wie geht’s ihr denn?«

»Nicht sehr gut. Sie sehnt sich danach, ihr Kind zu sehen. Ich wollte Heike für eine Stunde zu ihr bringen. Sie liegt auf meiner Station. Ich bin Dr. Cornelia Meinrad.«

»Da wird Heike sich ja freuen. Sie fragt dauernd nach ihrer Mama.« Anna Hoppe führte die Besucherin ins Wohnzimmer. Dort saß ein kleines Mädchen auf dem Fußboden vor dem Fernseher, es lief eine Kindersendung. »Heike, hier will jemand zu dir. Du darfst deine Mama besuchen.«

Wie elektrisiert sprang die Kleine auf, sah mit großen fragenden Augen zu der fremden jungen Frau empor.

Was für ein reizendes Kind, musste Cornelia denken.

»Guten Tag, Heike«, sagte sie mit einem netten Lächeln und streckte ihre Hand nach der Kinderhand aus. »Du kannst gleich mit mir kommen, um deine Mutti zu besuchen. Das möchtest du doch gern, nicht?«

»Ja, o ja!«, stieß Heike hervor. »Kommt sie denn bald wieder nach Hause?« Cornelia wurde einer Antwort enthoben, weil Frau Hoppe in diesem Moment sagte: »Ich wär ja auch schon mal mit ihr hingefahren, aber ich komme ja kaum die Treppen hinunter.«

»Und dazu ist es auch noch ein ziemlich weiter Weg«, äußerte Cornelia freundlich. »Es ist schon sehr dankenswert, dass Sie sich Frau Bergers Töchterchen annehmen.«

»Tja, es ist ja sonst niemand da«, seufzte die Frau. Indessen zog Heike sich eilig ihre Schuhe an und ihr T-Shirt zurecht, nahm auf Geheiß von Frau Hoppe ihr Strickjäckchen darüber.

»Kann ich noch schnell meine Spardose aus der Wohnung holen?«, fragte das Kind dann etwas atemlos.

»Wozu brauchst du deine Spardose? Frau Doktor fährt doch mit dem Auto hin.« Unwirsch kam es heraus, aber sie meinte es sicher nicht so.

Heike schlug die Augen nieder. »Ich wollt der Mami doch was mitbringen«, brachte sie mit dünnem Stimmchen hervor.

Cornelia war gerührt. »Wir kaufen für deine Mami an dem Blumenstand vor dem Krankenhaus ein Sträußchen, ja?«, schlug sie vor. »Du brauchst jetzt kein Geld dafür.«

»Aber ich hab was, ich kann’s bezahlen«, wandte das Kind ernsthaft ein.

»Fein. Dann lege ich es dir nur vor, und du gibst es mir später wieder. Machen wir das so?«

Heike lächelte scheu zu ihr auf, und dann gingen sie, mit einem Gruß von Frau Hoppe für die Kranke bedacht. Auf der Treppe griff Heike nach Cornelias Hand, es war wie eine ihr unbewusste Geste, aber irgendwie drückte es ein Vertrauen aus. Lange blieb sie still. Erst als sie schon ein Stück gefahren waren, sagte sie: »Wenn Sie eine Frau Doktor sind, machen Sie dann meine Mama bald wieder gesund?«

Cornelia fühlte ihre Kehle eng werden. »Es liegt nicht allein in meiner Hand, Heike«, gab sie gepresst zurück.

Es war eine ausweichende Antwort. Keine Antwort für ein Kind, dessen Augen flehten. Doch was blieb ihr sonst zu sagen?

Sie war froh, als sie angelangt waren. Am Blumenstand kauften sie einen Strauß von bunten Anemonen. Heike trug ihn vorsichtig, als sie, beklommen um sich schauend, mit Cornelia durch die Gänge ging, an vielen weißen Türen vorbei. Und endlich lagen Mutter und Kind sich in den Armen …

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Dr. Holl erstaunt, als er die Kollegin im Flur am Fenster stehen und in die Anlage hinabsehen sah. »Sie haben doch gar keinen Dienst.«

»Ich habe Frau Berger ihr Töchterchen gebracht«, antwortete Cornelia mit matter Stimme. »Ich fahre die Kleine auch wieder nach Hause.«

»Dafür opfern Sie Ihre Freizeit?«

Cornelia hob kaum merklich die Schultern. »Gemessen an den Umständen, ist das kein Opfer«, meinte sie.

Sie ging dann eine Weile in der Anlage spazieren, trank ein Glas Tee in dem Café, das sich nahe dem Ausgang befand, und als auf diese Weise eine gute Stunde vergangen war, fuhr sie wieder hinauf auf die Station. Sie fand Heike auf dem Bett ihrer Mutter sitzend. Sie waren still, die beiden, hielten sich nur bei den Händen. Die Blicke von Ärztin und Patientin trafen sich.

»Ich bin Ihnen so dankbar, Frau Doktor, dass ich meine Heike mal sehen durfte«, murmelte Renate Berger.

»Sie werden sie noch öfter sehen«, sagte Cornelia. »Übermorgen, am Sonntagnachmittag, wird Heike Sie wieder besuchen.«

Die Verabschiedung ging mit vielen Küsschen zwischen Mutter und Kind vor sich. »Musst doch nicht weinen, Mami«, sagte Heike zärtlich tröstend, als sie merkte, dass deren Gesicht nass war. »Hast doch gehört, ich darf ganz bald wiederkommen.«

»Ich wein ja gar nicht«, behauptete Renate Berger und lächelte unter Tränen.

»Ich hab Mama erzählt, dass ich es gut hab bei Frau Hoppe«, berichtete Heike unterwegs. »Sie kocht ja auch für mich und sorgt dafür, dass ich pünktlich in die Schule komme. Aber ich glaub, sie wäre bald lieber wieder allein, weil sie das so gewöhnt ist, und sie ist ja auch schon sehr alt, nicht?«

Später, als sie Heike zurückgebracht und wieder zu Hause war, sagte Cornelia zu ihrem Vater: »Ich möchte nur wissen, was aus dem Kind mal werden soll, wenn die Mutter nicht mehr ist.«

»Wenn sie noch eine Schwester in Amerika hat, sollte man doch annehmen, dass diese sich um das Kind kümmern wird«, meinte Bruno Meinrad bedächtig.

An diesem Abend, ihrem letzten Nachtdienst für den Monat, sprach Cornelia Frau Berger darauf an. Sie hatten sich vorher über Heike unterhalten, was für ein liebes, verständiges Kind sie doch sei. »Man muss sie einfach gernhaben«, äußerte Cornelia, und, um zum Thema zu kommen: »Kennt Heike ihre Tante in Amerika eigentlich?«

»Ja, aber sie war noch sehr klein, als wir mal dort waren, kaum drei Jahre. Monika hatte mir das Flugticket geschickt. Sie war da gerade ein Jahr verheiratet und wollte mir zeigen, wie sie nun lebte als Luxusfrau …«

»Luxusfrau?«, wiederholte Cornelia fragend.

Renate Berger nickte schwach. »Meine Schwester hat einen sehr reichen Mann geheiratet, der sie auf Händen trägt. Sie hat ihn auf einer Internationalen Messe kennengelernt, wo sie als Hostess arbeitete. Er hat sie dann einfach mitgenommen nach Kalifornien. Es war Liebe auf den ersten Blick, sozusagen.«

»Wenn Ihre Schwester in so guten Verhältnissen lebt, dann müsste es doch leicht für sie sein, hierherzukommen. Geschwister hängen doch im Allgemeinen aneinander, besonders, wenn sie ihre Eltern früh verloren haben.«

»Früher, ja«, sprach die Patientin leise, »aber inzwischen ist das anders geworden. Wir hören nur wenig voneinander. Die Entfernung, wissen Sie, und die ganz verschiedenen Lebensumstände – da wird man sich schon fremd.«

Cornelia vermochte das nicht ganz einzusehen. Sie versuchte, sich ein Bild von dieser Frau in Amerika zu machen. »Hat Ihre Schwester ein Kind?«, erkundigte sie sich.

»Ach nein«, antwortete Renate Berger nur.

»Will sie keine Kinder?«, fragte Cornelia weiter.

»Ich weiß nicht«, zögerte die andere. »Die Monika vielleicht schon … Aber das kann ja noch werden. Sie ist drei Jahre jünger als ich«, fügte sie hinzu.

»Ich kann mir ungefähr denken, worauf Sie hinauswollen, Frau Doktor«, kam es schleppend über ihre Lippen. »Aber meine Heike wäre nicht glücklich dort. Abgesehen davon, dass es sicher auch gar nicht infrage käme. Äußerlich, ja, da ist es ein Paradies, aber drinnen ist es kalt. Wissen Sie …, das ist komisch …, in kleinen Wohnungen kann es wärmer sein als in einer Prunkvilla.«

Sie wandte den Blick ab und starrte gegen die Decke. »Manchmal wünschte ich, ich könnte sie mitnehmen, meine Heike«, flüsterte sie gequält.

Cornelia erschrak.

»Das dürfen Sie nicht denken, Frau Berger. Ein schönes gesundes Kind hat ein Recht auf sein Leben. Es findet sich immer ein Ausweg.«

Worte, dachte sie, als sie das Zimmer verließ, nachdem sie der Schwerkranken ihr Schlafmittel verabreicht hatte. Mehr als Worte konnten es nicht sein, und sie spendeten keinen Trost.

Am Sonntag, nach dem Besuch bei ihrer Mutter am frühen Nachmittag, fuhr Cornelia Heike nicht sofort wieder zu Frau Hoppe, sondern sie nahm sie mit zu sich nach Hause. In der stillen Wohnung bei der betagten Nachbarin war sie noch lange genug.

»Du sollst uns helfen, den Erdbeerkuchen aufzuessen, den unsere Frau Schwendtner heute für uns zum Kaffee gemacht hat«, sagte sie munter.

»Wer ist Frau Schwendtner?«, wollte Heike wissen.

Cornelia erzählte ein bisschen von dem guten Geist im Hause, von ihrem Vater, der Häuser baute und wie sie so lebten.

»Schön ist es hier«, rief Heike aus, als sie ausstiegen, und sie sah sich um, wo es viel Grün gab und hübsche Einfamilienhäuser. »Das ist lieb von dir, dass du mich mitgenommen hast und ich nicht gleich wieder zu Frau Hoppe muss. Oh, Verzeihung!« Sie legte ihr Händchen gegen den Mund, weil sie die Frau Doktor aus Versehen geduzt hatte.

»Bleib ruhig dabei, Heike.« Cornelia lächelte. »Wir kennen uns ja nun schon gut, da brauchst du mich nicht mehr zu siezen. Kannst auch Tante Cornelia zu mir sagen.«

Heike strahlte. »Cornelia, das ist ein schöner Name«, befand sie.

Das Kind wurde freundlich, ja herzlich empfangen, denn nicht nur der Hausherr, auch die Wirtschafterin wusste inzwischen um sein trauriges Schicksal. Zu viert saßen sie um den Tisch und ließen sich den frischen Kuchen munden. Bruno Meinhard fragte die Kleine nach der Schule, Frau Schwendtner erzählte von ihren Enkeln, die sie leider nur selten sah, weil sie weit weg wohnten. So waren sie bemüht, Heike abzulenken und sie Wärme und Zuwendung spüren zu lassen.

»Besuche uns nur einmal wieder«, sagte Cornelias Vater, als er merkte, dass dem Kind nach einer guten Stunde das Fortgehen schwer wurde. Das hübsche Gesichtchen schien förmlich kleiner zu werden. Heike bedankte sich artig und ging an Cornelias Hand davon, um zu Frau Hoppe zurückzukehren. Und die Mami blieb im Krankenhaus, und niemand sagte ihr, wann sie wieder heimkommen würde.

»Du hast ihr erlaubt, dich Tante zu nennen«, sprach Bruno Meinhard später mit ernster Miene zu seiner Tochter. »Wohin soll es führen, wenn sie sich zu sehr an dich anschließt, wie es jetzt schon den Anschein hat?«

Cornelia wusste keine Antwort darauf. »Du hast ja auch gesagt, sie solle wiederkommen«, hielt sie ihm entgegen.

Der Mann nickte gedankenvoll. »Sie ist so ein armes kleines Ding«, murmelte er, als erkläre das alles.

Um neunzehn Uhr war Cornelia mit Markus verabredet. Er hatte einen Tisch in ihrer beider Lieblingsrestaurant reservieren lassen, wo sie essen wollten. Sie hatten sich seit mehr als drei Wochen nicht gesehen, und Cornelia gestand es sich jetzt erst ein, dass sie ihn vermisst hatte. In seiner Gegenwart sah die Welt doch gleich ganz anders aus. Er erzählte von der Norwegenfahrt, bei der er die Reiseleitung hatte. Es war dieselbe Route wie jene, bei der sie sich kennengelernt hatten, und mancher Satz begann mit »Weißt du noch –?« Der Nordfjord, die reißenden Wasserfälle, die in den engen Talkessel stürzten – all das wurde wieder vor Cornelias geistigem Auge lebendig.

»Und übernächste Woche fliege ich nach Griechenland«, sagte Markus, »ich will mir da ein paar neue Hotels ansehen, eventuell für die nächste Saison. Kannst du nicht Urlaub nehmen und mitkommen?«

Cornelia hielt gerade ihr Weinglas in der Hand, darüber hinweg lächelte sie ihm zu. »Schön wär’s. Aber so einfach geht das nicht. Ich bin erst für September eingetragen.«

»Bis dahin ist es noch lang«, seufzte Markus. »Schlimm, dass du so angebunden bist. Du hast dir den falschen Beruf erwählt, Cornelia.« Aber es war eher scherzhaft gemeint, und er ließ sein Glas gegen das ihre klingen. Dieser Abend gehörte ihnen. Nichts sollte ihn trüben.

*

Das Haus war von der Art, wie ein Durchschnittsbürger es höchstens einmal im Film sah oder in einer der abgegriffenen Illustrierten, die zur Ablenkung wartender Patienten in den Praxen der Ärzte und Zahnärzte auslagen. Die Besitzer solcher Häuser, wie sie sich in der näheren und weiteren Umgebung fanden, waren auch keine Durchschnittsbürger. Es waren Filmstars von Weltruf, Industriemagnaten und Erben riesiger Vermögen mit kaum weniger bekannten Namen als jene. Oft standen diese Villen leer, denn zwischen Dreharbeiten, Konferenzen und Reisen gab es nur kurze erholsame Pausen, und für solche existierten noch, je nach Jahreszeit, Chalets in der Schweiz und Luxuswohnungen in Paris oder sonst irgendwo.

Das Haus, von dem hier die Rede ist, mit den riesigen Panoramascheiben der Wohnhalle, die den Blick auf den Pazifischen Ozean freigaben, stand freilich nie leer, denn darin lebten Ronald und Monika Collins, von ihrem Mann nur Mona genannt. Der Hausherr verstand es, seine Geschäfte von seinem Stadtbüro aus zu führen, das mit allen Errungenschaften modernster Technik ausgestattet war. Es blieb ihm genügend Zeit, seine Freizeitanlagen zu genießen, als da waren Swimmingpool, Fitnessraum, Tennis- und Golfplatz.

Genießen – das war sein oberstes Lebensprinzip, besonders seit er vor Jahren die junge, schöne Monika Berger heimgeführt hatte. Seine Mona, die er immer an seiner Seite haben wollte, die nichts weiter zu tun brauchte als wunderbar auszusehen und für ihn da zu sein.

»Warum hast du den Armreif nicht angelegt, den ich dir gestern mitgebracht habe, Mona?«, fragte er sie, als sie an diesem Nachmittag beim Tee saßen, den der Butler ihnen in dem hauchdünnen, chinesischen Porzellan serviert hatte.

»Er ist so schwer«, sagte Mona und lehnte sich im Sessel zurück. Sie trug ein weichfließendes Hausgewand aus leichter, kostbarer Seide. Kostbar, wie alles um sie war. Aber gleich darauf schlug sie die Augen nieder. Das wollte sie ihm doch nicht sagen, dass all diese Schmuckstücke, mit denen er sie überhäufte, ihr manchmal schwer zu tragen waren. »Aber er ist natürlich wunderschön, Ronald«, fügte sie hinzu. »Ich werde ihn heute Abend tragen, wenn ich mich umgezogen habe.« Denn zum Dinner bei Kerzenschein pflegte sie sich immer umzuziehen. Die Schrankwände in ihrem Ankleidezimmer zogen sich lang hin, angefüllt mit den Kreationen bekannter Modeschöpfer, die ihr zugeschickt wurden.

Ronald griff nach ihrer Hand und küsste sie. »Nächste Woche werden wir einen Yachtausflug unternehmen, mein Herz. Ich habe Douglas schon gesagt, dass er das Schiff startklar machen soll.«

Mona hob die Lider und sah ihn mit einem dunklen Blick an. »Willst du nicht mit mir nach Deutschland fliegen, Ronald?«, fragte sie, ohne die Stimme zu heben.

»Was sollten wir denn in Deutschland?«, fragte der Mann in aufrichtigem Erstaunen.

Monas Lider zuckten. Er hatte es vergessen. Er vergaß einfach, was ihm unangenehm war.

»Ich habe dir doch erzählt, dass meine Schwester sehr krank ist, und dass ich zu ihr möchte«, sagte sie.

»Ja, richtig. Verzeih, dass ich nicht mehr daran dachte. Aber so schlimm wird es schon nicht sein. Sie hat sicher ein bisschen übertrieben mit ihrer Krankheit.«

»Das ist nicht ihre Art«, versicherte Mona. »Renate war nie wehleidig. Es muss schon schlimm um sie stehen, sonst wäre sie nicht im Krankenhaus.«

»Da ist sie bestimmt gut aufgehoben«, unterbrach Ronald sie. »Beim Stand der medizinischen Wissenschaft könnten die Ärzte heute viel tun. Sie ist ja auch noch jung. Mach dir nicht zu viel Sorgen um sie.«

»Das tue ich aber«, beharrte Mona. »Sie hat ja auch ein Kind. Ich weiß gar nicht, wo sie das lässt. Meines Wissens ist sie allein. Wirklich, Ronald«, ihr Blick wurde eindringlich, »ich sollte unbedingt nach ihr sehen.«

Ein Ausdruck des Unbehagens flog über Ronald Collins scharf geschnittene Züge. Mit einer nervösen Geste strich er sich über die Schläfen, an denen sein dunkles Haar zu ergrauen begann. »Warum sollte sie allein sein«, wandte er ein. »Sie sah doch recht nett aus. Da wird es schon einen Freund geben, der ihr zur Seite steht. Meinst du nicht, dass sie jemanden hat?«

Mona schwieg sekundenlang. Es war jetzt nicht die Frage, ob Renate einen Freund hatte oder nicht. Sie sagte mit großem Ernst: »Lass mich zu ihr, Ronald, bitte. Ich kann doch allein fliegen. Je nachdem, wie es um Renate steht, werde ich vielleicht schon bald wieder zurück sein.«

»Vielleicht!«, begehrte ihr Mann auf. »Und wenn nicht? Was soll ich denn ohne dich anfangen? Sei doch vernünftig, Monalein.«

»Ich bin es«, sprach sie langsam. »Da ist ein Mensch in Not, und dieser Mensch ist immerhin meine Schwester.«

Ronald erhob sich, als sei er des Themas überdrüssig. Er reckte seine Gestalt, die dank seiner sportlichen Betätigungen immer noch drahtig war, obwohl er gern leiblichen Genüssen zusprach.

»Wir werden morgen noch einmal darüber reden«, warf er hin. »Jetzt möchte ich noch ein paar Runden schwimmen. Komm mit, mein Schatz.«

»Ich komme gleich nach.« Aber sie blieb noch sitzen und sah vor sich auf den Seidenteppich. Morgen würde Ronald dieses Thema ebenso wieder abbiegen wie in allen diesen Tagen. Was sollte sie tun? Renate hatte ihr nicht mitgeteilt, in welcher Klinik sie lag, und es gab deren viele in der großen Stadt. Vielleicht war sie zu aufgeregt gewesen, oder schon nicht mehr fähig, klar zu denken, die fahrige Schrift deutete fast darauf hin. Sonst hätte sie wenigstens anrufen können …

Sie probierte es am nächsten Tag in Renates Wohnung, aber, wie befürchtet, meldete sich dort niemand. Wo mochte sie die kleine Heike wohl untergebracht haben?

Wieder und wieder versuchte sie es, in der Hoffnung, dass vielleicht doch einmal jemand nach der Wohnung sehen würde. Und endlich hatte sie Glück. Eine Frau Hoppe meldete sich. Ja, sie sei die Nachbarin, sie hole gerade ein paar Sachen für Heike aus dem Schrank.

»Demnach ist Heike bei Ihnen? Hier spricht Frau Bergers Schwester Monika Collins.«

»Sind Sie endlich gekommen?«, rief Anna Hoppe aus. »Das ist gut, denn mir wird es allmählich doch zu viel mit dem Kind, und es scheint noch gar keine Aussicht zu bestehen, dass Frau Berger aus der Klinik kommt. Ich bin eine alte Frau, wissen Sie. Wo sind Sie denn jetzt?«

»Ich rufe noch von Kalifornien aus an …« Sie kam nicht weiter.

»O Gott!«, schrie Frau Hoppe auf. Ein Anruf von so weither erschien ihr als eine aufregende Sache. Wie war das nur möglich, dass die Stimme dennoch so nahe klang, als spräche sie unten vom Münzfernsprecher.

»Bitte sagen Sie mir, in welcher Klinik meine Schwester liegt«, fuhr Monika rasch fort. »Ich möchte mich dort näher erkundigen.«

Frau Hoppe nannte ihr den Namen. Die Telefonnummer wusste sie freilich nicht. »Die werde ich schon herausfinden«, sagte Monika. »Haben Sie vielen Dank.«

Als sie die Nummer hatte, rief sie unverzüglich an. Sie wurde mit einem Dr. Holl verbunden, gab erneut einige erklärende Sätze ab.

»Ja, Frau Bergers Zustand ist sehr ernst«, sagte er. »Es wäre wohl geraten, dass Sie bald kämen, Frau Collins. Meines Wissens sind Sie die einzige nähere Verwandte. Ihre Schwester sorgt sich sehr um ihr Kind, verständlicherweise.«

»Ich komme!«, sagte Monika entschlossen. »Richten Sie meiner Schwester bitte einen lieben Gruß aus, und sagen Sie ihr, dass ich kommen werde, und zwar so bald wie irgendmöglich.«

*

Da Cornelia bis neunzehn Uhr Dienst hatte, wollte ihr Vater die kleine Heike nach dem Besuch bei ihrer Mutter abholen und zu Frau Hoppe zurückbringen. Doch bevor es so weit war, fand Cornelia das Kind in einer Nische im Gang stehen, mit dem Gesicht zur Wand, mit zuckenden Schultern.

»Heike, was ist denn?«, fragte sie bestürzt und umfasste sacht die schmale Gestalt.

»Die Mama«, brachte das Kind unter Schluchzen hervor, »macht immer wieder die Augen zu, und sie spricht überhaupt nicht mit mir, oder wenn, kann ich sie gar nicht verstehen.«

»Dann ist sie wohl heute sehr müde, Heike, und du lässt sie besser schlafen«, sagte Cornelia leise. »Komm, ich bringe dich ins Schwesternzimmer, dort kannst du auf Onkel Meinhard warten, er fährt dich dann nach Hause.«

»Bleibst du bei mir, Tante Cornelia?«, fragte Heike flehend und hob ihr tränenüberströmtes Gesichtchen zu ihr empor.

»Im Moment nicht, Heike, denn schau, es sind viele Patienten, die auf Hilfe warten.« Sie nahm Heike bei der Hand und führte sie ins Schwesternzimmer. Die junge Schwester Anja hatte gerade Kaffeepause, sie nahm sich des unglücklichen Kindes an, um dessen Schicksal jeder hier auf der Station wusste.

Als ihr Vater kam, zog Cornelia ihn beiseite.

»Bei Heikes Mutter ist eine Herzschwäche dazugekommen«, erklärte sie ihm. »Das Kind ist todunglücklich. Ich bitte dich, Vati, nimm es mit zu uns. Es kann bei mir schlafen. Frau Hoppe ist ihr kein Halt. Sie hat mir heute sowieso gesagt, dass Heike ihr doch allmählich zur Last wird.«

Bruno Meinhard nickte. »Ich werde mich mit Frau Schwendtner schon um die Kleine kümmern, bis du kommst«, versprach er.

Heike blieb auch in den nächsten Tagen im Hause Meinhard.

Renate Berger war in ein Einzelzimmer verlegt worden. Sie war sehr matt gewesen in diesen Tagen, aber heute schien ihr Lebenswille noch einmal aufzuflammen. »Ich muss mit Ihnen reden, Frau Doktor«, sagte sie.

Cornelia nickte und zog sich einen Stuhl an ihr Bett. Sie ahnte, dass es um Heike gehen würde …

»Ich mache mir schreckliche Sorgen um mein Kind«, sagte die Patientin denn auch. »Dass Sie jetzt bei Ihnen sein darf, dafür kann ich Ihnen nicht genug danken. Aber wohin mit ihr, wenn ich nicht mehr bin? Meine Kräfte schwinden doch mehr und mehr …« Unruhig fuhren ihre Hände über die Bettdecke.

Cornelia legte besänftigend ihre Hand darüber. »Frau Berger«, begann sie, aber die Kranke ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Meine Schwester wollte ja kommen«, sprach sie gehetzt weiter, »aber ihr Mann hat es ihr wohl verboten, er lässt sie nicht fort.«

Cornelia erinnerte sich, dass sie dasselbe schon einmal gesagt hatte. War dieser Mann denn so ein Unmensch?

»Helfen können würde sie mir auch nicht«, fuhr Renate Berger fort. »Ronald würde Heike in ein Waisenhaus stecken. In ein Waisenhaus, Frau Doktor – meine Heike!« Zitternd holte sie Atem.

»Heike wird nicht in ein Waisenhaus kommen, dafür werde ich sorgen«, hielt Cornelia ihr mit fester Stimme entgegen. »Eher bleibt sie bei mir, wenn sie denn woanders keine Geborgenheit finden kann.«

»Bei – Ihnen?«, kam es stockend über die bleichen Lippen. »Sie – würden –?« So überwältigt war sie, dass sie keinen ganzen Satz zustande brachte. Hatte sie sich das nicht im tiefsten Grunde ihres müden Herzens erträumt, seit sie sah, wie liebevoll die Ärztin mit ihrer Heike umging? Aber sie war sicher gewesen, dass das nur ein Traum bleiben konnte.

»Ja«, sagte Cornelia einfach. »Ich habe andeutungsweise schon mit meinem Vater darüber gesprochen. Er hätte nichts dagegen, wenn Heike in unser Haus käme. Und Frau Schwendtner, die unseren Haushalt führt, benimmt sich schon wie eine gute Oma ihr gegenüber.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr: »Aber eines möchte ich doch noch von Ihnen wissen, Frau Berger. Sie sagten einmal, Heike hätte keinen Vater. Jedes Kind hat einen Vater. Lebt er nicht mehr, oder ist er weit weg von hier?«

»Er lebt. Aber er weiß nicht, dass er eine Tochter hat«, antwortete Renate Berger.

»Sollte er es nicht wissen?«, forschte Cornelia weiter. »Vielleicht wäre er stolz auf sein kleines Mädchen.«

»Nein, er sollte es nicht wissen!«, sagte die Kranke mit Heftigkeit. »Er sollte es damals nicht wissen, und so soll es auch bleiben. Ich habe ihn geliebt, aber für ihn war ich nur ein Abenteuer, eine – eine Liebelei eben. Es gab andere, interessantere Frauen für diesen Mann. Als ich es merkte, ging ich in eine andere Stadt. Da wusste ich noch nicht, dass ich schwanger war. Eine Tante stand mir bei – sie war gut und großzügig – aber sie lebt nun auch schon lange nicht mehr.«

»Und soll Heike nie erfahren, wer ihr Vater ist? Eines Tages wird sie danach fragen. Was soll ich ihr antworten?«

»Sie hat schon gefragt. Ich habe ihr gesagt, dass wir uns nicht so lieb hatten, wie es sein muss, wenn man zusammenbleiben will. Das war nicht die Unwahrheit. Zumindest von seiner Seite aus war es ja so. Aber«, ein gequälter Ausdruck huschte über Renate Bergers Gesicht, »wenn sie erwachsen ist, dann sollte sie es vielleicht doch wissen. Was meine Sie, Frau Doktor?«

»Ja, ich meine schon«, gab Cornelia zurück. »Es könnte sie belasten, wenn diese Frage für sie stets offenbleiben muss.«

»Sie sind so gut«, flüsterte die Kranke. »Ich will Ihnen doch mein Geheimnis anvertrauen, das ich immer für mich bewahrt habe.« Wieder holte sie zitternd Atem, und wie mit letzter Kraft sagte sie: »Heikes Vater heißt Dieter Markgraf, Dr. Dieter Markgraf. Er ist Arzt, in Hamburg, glaube ich.« Ihr Kopf sank zur Seite, erschöpft schloss sie die Augen.

Cornelia blieb noch zwei, drei Minuten reglos sitzen, dann erhob sie sich mit blasser Miene und verließ das Zimmer.

*

Es war drei Tage später. Die Uhr über der Pförtnerloge zeigte auf 19.30 Uhr, als Cornelia nach beendetem Dienst dem großen Portal zustrebte. Von dort näherte sich mit raschen Schritten eine junge Frau in einem lässig geschnittenen und trotzdem sehr elegant wirkenden Hosenanzug. Die Fremde wandte sich an den Pförtner, und Cornelia vernahm, dass sie sich nach Frau Berger erkundigte. Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da trat Cornelia auf sie zu.

»Entschuldigung – sind Sie Frau Collins?«

»Ja«, antwortete die andere mit einem erstaunten Blick.

»Dann kommen Sie bitte mit.« Cornelia machte eine entsprechende Geste und ging der jungen Frau voraus. Sie führte sie in ein Wartezimmer, das jetzt, außerhalb der Sprechstundenzeit, leer war.

»Woher kennen Sie mich?«, fragte Monika. »Ich wollte zu meiner Schwester, Renate Berger.«

»Ich weiß, sie hat mir von Ihnen erzählt. Ich bin Dr. Meinhard. Ihre Schwester lag auf meiner Station.«

»Lag –?«, kam es wie ein Hauch über Monikas Lippen. Ihre Augen hatten sich jäh verdunkelt.

»Ihre Schwester ist gestern Abend gestorben, an Herzversagen. Mein Beileid.« Es klang formell, spröde. Von schwesterlicher Liebe konnte bei dieser Frau wohl kaum die Rede sein. Die hätte sich anders geäußert, sich nicht vom Verbot des Ehemannes zurückhalten lassen.

Monika streifte mit einer langsamen, wie mechanischen Bewegung die leichte Kappe ab, unter der eine Fülle rötlichblonden Haares hervorquoll. »Gestern Abend«, flüsterte sie. »Da saß ich noch im Flugzeug. Nun bin ich doch zu spät gekommen.«

Sie ließ den Kopf sinken, auch ihre Schultern sanken herab. Sie machte plötzlich einen wehrlosen, hilflosen Eindruck.

»Setzen Sie sich doch«, sagte Cornelia. Auch sie nahm Platz. Ein tiefes Schweigen stand zwischen ihnen. Cornelia bemerkte, dass eine Träne auf Monika Collins Hand tropfte, die über der Tasche in ihrem Schoß lag. Und noch eine, noch eine, sie fielen seltsam schwer herab. Und sie durchbrachen Cornelias leise innere Abwehr gegen diese Frau.

»Frau Collins«, begann sie mit wärmerer Stimme, »so traurig es ist: Ihre Schwester hätte bei ihrer Krankheit auch noch einen langen qualvollen Leidensweg vor sich haben können. Das ist ihr nun erspart geblieben. Sie hat nichts mehr gespürt.«

Monika nickte schwach. »Warum«, stammelte sie, »warum musste sie nur so krank werden?«

»Nach dem ›Warum‹ fragen viele«, antwortete Cornelia. »Es gibt keine Antwort darauf.«

Mit der Hand wischte sich Monika über die nassen Augen. »Ich wäre schon eher gekommen«, sagte sie gepresst, »aber mein Mann«, sie zögerte, »er wollte die Notwendigkeit nicht einsehen.«

»Ihre Schwester hatte sich das schon gedacht. Sie grollte Ihnen deshalb nicht, Frau Collins. Wir haben manchmal darüber gesprochen.«

Monika hob den Blick, er war voller Trauer. »Dann wissen Sie vielleicht auch, wo Renates Kind ist, Frau Doktor, die Heike?«

»Heike ist bei mir«, gab Cornelia mit ruhiger Stimme zurück. »Sie war zuerst bei einer Nachbarin, aber auf die Dauer ging das nicht. Da habe ich mich ihrer angenommen.«

Monika biss sich auf die Lippen. »Das ist nun meine Pflicht, als ihrer einzigen Blutsverwandten«, brachte sie endlich hervor. »Ich würde sie ja auch gern mitnehmen zu mir, nach Kalifornien, aber mein Mann …«

Wieder dieses ›aber mein Mann‹, und wieder das schamvolle Zögern hinterher. Diesmal vollendete sie den Satz nicht.

»Auch das vermutete Ihre Schwester schon, dass er sie nicht haben wollte«, betonte Cornelia. »Sie meinte, dass Heike unter diesen Umständen nicht glücklich sein würde bei Ihnen.«

»Was soll ich nur tun?« Monika barg ihr Gesicht in den Händen.

»Ich habe Ihrer Schwester versprochen, dass Heike bei mir bleiben kann«, erklärte Cornelia. »Sie wird ein neues Zuhause bei mir finden.«

Monika ließ die Hände sinken und sah die Ärztin an. »Aber Heike ist doch ein fremdes Kind für Sie«, sagte sie fassungslos. »Oder waren Sie schon früher mit Renate befreundet?«

»Nein. Ich kannte sie nur als Patientin. Trotzdem ist Heike mir nicht mehr fremd. Wir haben uns schon recht aneinander angeschlossen.«

Monika schüttelte den Kopf. »Das geht doch nicht«, murmelte sie verwirrt, »sie ist doch das Kind meiner Schwester – meine Schwester – ich werde sie nun nie mehr wiedersehen …«

Cornelia sah, dass die junge Frau ziemlich am Rande ihrer Kräfte war. Es war wohl alles etwas viel für sie.

»Wir wollen morgen weiterreden, Frau Collins«, schlug sie vor. »Wo wohnen Sie, haben Sie überhaupt schon ein Quartier, oder sind Sie direkt vom Flughafen hergekommen?«

»Ja – vom Flughafen. Mein Gepäck befindet sich auch noch dort. Ich wollte doch schnellstens zu Renate …« In ihrem Gesicht zuckte es.

Cornelia stand auf. »Ich werde Ihnen ein Hotelzimmer bestellen. Warten Sie hier auf mich.«.

Schon nach kurzer Zeit kam sie wieder. Sie nannte Frau Collins, die apathisch sitzen geblieben war, den Namen des Hotels. Es war eines der besten und teuersten der Stadt. Sie würde es sich leisten können. »Man wird Ihnen Ihr Gepäck vom Flughafen abholen, das gehört zum Service des Hotels«, sagte Cornelia in sachlichem Ton. »Versuchen Sie, noch etwas zu sich zu nehmen, und legen Sie sich dann bald hin. Kommen Sie jetzt. In der Nähe ist ein Taxistand.«

Willenlos folgte ihr Monika. Draußen gaben sie sich die Hand. »Ich werde Sie morgen gegen neun Uhr anrufen«, versprach Cornelia. Sie sah der jungen Frau nach, wie sie zum Taxistand ging.

*

»Deine Tante Monika ist aus Amerika gekommen«, sagte Cornelia am nächsten Tag zu ihrem Schützling. »Sie besucht uns heute Nachmittag.«

Der dunkle Blick des kleinen Mädchens ging durch sie hindurch. Hatte es ihre Worte überhaupt aufgenommen?

»Du weißt doch von Tante Monika«, fuhr Cornelia behutsam fort. »Sie ist die Schwester von deiner Mama. Ihr seid auch einmal bei ihr gewesen in Amerika. Aber da warst du noch klein, und du erinnerst dich wohl nicht mehr daran, hm?« Heike schüttelte nur unsicher den Kopf. Ihr Gesichtchen wirkte wie eingefroren.

Monika Collins kam später als erwartet. Sie entschuldigte sich dafür. Sie hatte den Tag damit verbracht, all jene traurigen Formalitäten zu erledigen, die mit einem Todesfall verbunden waren.

Als Cornelia Heike brachte, umarmte sie das Kind ungestüm. Heike ließ es mit sich geschehen, doch sie hing wie eine Puppe in den Armen der jungen Frau.

Monika zwang ihre Enttäuschung nieder. Was konnte sie denn anderes erwarten? »Du kennst mich nicht mehr«, sprach sie leise. »Aber deine Mama hat doch sicher manchmal über mich gesprochen, oder nicht? Wir haben uns doch Grüße geschickt, zu Weihnachten, und zum Geburtstag.«

Sie verstummte. Grüße zu Weihnachten und zum Geburtstag! Mehr nicht? Nein, nicht mehr. Es war wenig genug. Warum nur war das so gewesen? Nun war es zu spät.

»Wenn wir auch nicht viel voneinander gehört haben«, sprach sie mit enger Stimme weiter, »so habe ich deine Mama doch lieb gehabt, Heike, und dich hab ich auch lieb …«

Da geschah etwas Seltsames.

Heike warf sich gegen Cornelia, die schweigend dabeistand, sie schlang ihre Arme um deren Hüften und stammelte: »Ich – ich bleib bei Tante Cornelia!«

Sanft strich ihr Cornelia über das Haar. »Ja, meine Kleine. Es ist ja gut.«

*

Markus Springer war von seiner Reise nach Griechenland zurückgekehrt, die der Besichtigung neuer Hotels gegolten hatte.

»Es war eine einzige Hetze«, erzählte er Cornelia am Telefon. »Ganz gut, dass du nicht mitgekommen bist. Du hättest nichts davon gehabt. Ich war immer nur unterwegs.«

»Konntest du dir denn nicht etwas mehr Zeit dafür lassen?«, fragte Cornelia.

»Wir haben Hochbetrieb, die Saison läuft auf vollen Touren an, und ausgerechnet jetzt ist ein Reiseleiter wegen Krankheit ausgefallen. Aber reden wir nicht davon. – Wann kann ich dich sehen, Cornelia? Bist du heute Abend frei?«

»Ja, ab neunzehn Uhr …«

»Dann hole ich dich ab!«, unterbrach Markus sie lebhaft. »Damit wir endlich mal wieder einen schönen langen Abend für uns haben.«

Cornelia zögerte. »Mir wäre es lieber, wir würden uns erst etwas später treffen, so gegen halb neun? Ich möchte Heike erst zu Bett bringen. Sie schläft besser ein, wenn ich bei ihr bin.«

»Heike?«, wiederholte Markus fragend. »Wer ist denn das?«

»Ich hatte dir schon von ihr erzählt, bevor du wegfuhrst«, erinnerte sie ihn. »Das kleine Mädchen, deren Mutter meine Patientin war.«

»Ach so, ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Aber, Cornelia, ist das Kind denn immer noch bei dir? Ich denke, das war nur so eine vorübergehende Sache.«

»Sie ist noch bei mir«, sagte Cornelia kurz und nickte der Oberschwester zu, die den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Du, entschuldige, ich kann jetzt nicht weiterreden, wir haben gleich Visite. Ich komme zu dir heute Abend. Sei nicht böse, wenn es ein paar Minuten später wird.« Sie legte auf, bevor Markus etwas erwidern konnte.

Der Freund empfing sie am Abend mit einer herzlichen Umarmung in seiner Wohnung im zehnten Stock eines Hochhauses, von dem aus man einen schönen Blick über die Stadt hatte.

Aber es lag doch ein leiser Vorwurf in seiner Stimme, als er sagte: »Musste es denn so spät werden? Ich dachte, wir würden zusammen Essengehen..«

»Es ging leider nicht anders, Markus«, gab sie zurück. »Ich hoffe, du hast auch inzwischen schon gegessen.«

Er hielt sie ein wenig von sich ab und sah ihr ins Gesicht. Sie zeigte nicht die freudige Miene wie sonst, wenn sie sich trafen.

»Du hattest es wohl gar nicht so eilig, mich wiederzusehen? Liebst du mich nicht mehr?«

Sie ging nicht auf seinen leichten, lockeren Ton ein, sie lehnte sich gegen ihn und legte ihren Kopf für einen Moment auf seine Schulter. Manchmal brauchte auch eine starke Frau eine Schulter zum ausruhen. »Gib mir etwas zu trinken«, bat sie.

»Ein Glas Sekt«, nickte Markus bereitwillig, »das weckt die Lebensgeister wieder! Nimm Platz, Cornelia.«

Während er hantierte, dachte Cornelia noch an Heike, die ihre Hand umklammert hatte und sie nicht fortlassen wollte. Sie hatte neuerdings Angst, allein zu bleiben. Frau Schwendtner hatte sich schließlich zu ihr ans Bett gesetzt. Sie entwickelte geradezu großmütterliche Gefühle für das Kind.

»Du siehst so ernst aus«, bemerkte Markus, nachdem sie sich zugeprostet hatten. »Was ist denn los? Hängt das mit dem Kind zusammen? Ich verstehe gar nicht, wieso es immer noch bei dir ist.«

»Weil es nicht weiß, wo es sonst hin soll«, sagte Cornelia und stellte mit einer langsamen Bewegung ihr Glas zurück.

»Aber da gibt es doch Heime, und es soll ja auch eine Menge adoptionswillige Ehepaare geben«, hielt Markus ihr entgegen.

»Du hast doch gerade genug um die Ohren mit deinem Beruf, musst du dich auch noch mit einem fremden Kind abgeben. Ich meine, da geht das Mitgefühl doch zu weit.« Seine Äußerung klang nicht aggressiv, sondern nur verwundert und einigermaßen verständnislos.

»Heike bleibt bei mir«, erklärte Cornelia fest. »Ihre Mutter hat sie mir in ihren letzten Tagen anvertraut. Ich werde das Sorgerecht für sie bekommen.«

Markus seufzte. »Also gut, du edle Samariterin. Reden wir nicht weiter darüber. Man wird ja sehen, wie es weitergeht.«

Seine Züge glätteten sich, während er sie betrachtete. Cornelia lächelte ihm zu, und er lächelte zurück. Da ihre Hände sich immer noch hielten, zog er sie zu sich herüber und küsste sie.

*

Renate Bergers Wohnung war aufgelöst, ein Nachmieter hatte sich schnell gefunden, denn für jede freiwerdende Wohnung stand eine Schlange von Bewerbern bereit.

Einige Sachen von Heike waren in das Haus Meinhard gebracht worden, wo das Kind nun ein Zimmer im oberen Stockwerk neben Cornelia hatte. Für Monika Collins gab es nichts mehr zu tun. Der Tag ihres Abfluges war festgesetzt. Cornelia wollte sie zum Flughafen bringen.

Die beiden Frauen waren sich etwas nähergekommen, schon über der Beratung der Dinge, die Heike mitnehmen sollte, wenn die Annäherung auch mit einer gewissen Distanz blieb. Monika zeigte sich zurückhaltend, fast gehemmt. Es gab kaum ein tiefergehendes persönliches Gespräch. Doch ihre Augen waren feucht, als sie sich von ihrer kleinen Nichte verabschiedete. Heike indessen merkte man kaum eine Gefühlsregung an. Diese Tante aus Amerika sollte nur wieder in ihr leeres Haus dort zurückkehren. Sie, Heike, wollte hierbleiben.

»Sie werden nun auch froh sein, wieder nach Hause zu kommen«, bemerkte Cornelia, die Monika noch durch die Halle begleitete, um ihr die Wartezeit zu verkürzen, denn der Flug war noch nicht aufgerufen.

Die Angeredete nickte vage, sie ging nicht näher darauf ein. Erst nach einer Weile sprach sie verhalten: »Es war auch gut, mal wieder in Deutschland zu sein – wenn nicht gerade das traurige Ereignis der Grund hierfür gewesen wäre.«

Danach schwiegen sie. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Cornelia beschloss gerade, sich zu verabschieden, als eine Stimme neben ihr sagte: »Hallo! Was machst du denn hier?«

Überrascht wandte Cornelia den Kopf. »Oh, guten Tag, Markus. Dasselbe könnte ich dich fragen. Bist du etwa schon wieder auf Achse?« Lächelnd reichte sie ihm die Hand.

»Nein, ich hatte hier nur etwas zu erledigen. Bei uns steht demnächst eine kombinierte Bus- und Flugreise auf dem Programm.«

»Aha. Und ich habe nur diese Dame herbegleitet. Frau Collins, darf ich Ihnen meinen Freund Markus Springer vorstellen?«

Man wechselte einige höfliche, mehr oder weniger oberflächliche Sätze, über das Ziel ihrer Reise, die Wetterprognose. Dann wurde es Zeit für Monika Collins, sich zur Abfertigung zu begeben.

»Lassen Sie mich wissen, wie es mit Heike weitergeht«, sagte sie noch zuletzt in bittendem Ton zu Cornelia.

Markus sah ihr nach, wie sie davonging, selbstsicher und graziös – von Kopf bis zu den schmalen Füßen eine Dame von Welt.

»Sie gefällt dir wohl«, warf Cornelia neckend hin.

»Sie sieht sehr gut aus«, musste Markus zugeben. »Aber mein Typ ist sie nicht. Eine Frau wie aus einem Modejournal. Vermutlich hat sie auch nichts anderes im Kopf.« Er schob seine Hand unter Cornelias Arm. »Hast du etwas Zeit, trinken wir eine Tasse Kaffee zusammen?«

Sie gingen ins Flughafenrestaurant. Als sie dort saßen, kam er doch noch einmal auf diese Frau Collins zurück.

»Was meinte sie mit ihrer letzten Bemerkung über Heike, hat sie denn etwas mit dem Kind zu schaffen?«

Cornelia rührte in ihrer Tasse. »Sie ist ihre Tante, die Schwester der Verstorbenen«, gab sie mit unbewegter Miene zurück.

Markus zog scharf die Luft durch die Nase ein. »Ich denke, das Kind hat niemand mehr!«, platzte er heraus. »Jetzt gibt es da auf einmal eine Tante in Kalifornien? Davon hast du mir nichts gesagt.«

Cornelia nahm einen Schluck Kaffee, setzte dann bedächtig ihre Tasse ab. Die Sache mit Heike schien sich zu einem Reizthema zwischen ihnen zu entwickeln.

»Frau Collins zählt nicht in diesem Fall«, erklärte sie. »Die Schwestern hatten nur noch wenig Kontakt miteinander, und ihr Mann will das Kind nicht in seinem Haus. Sie leben anscheinend ganz für sich. Wie sollte Heike da gedeihen?«

»Aber sie müsste doch wenigstens für sie sorgen, als einzige nahe Verwandte, wenn schon der Vater nicht zur Kasse gebeten werden soll«, entrüstete sich Markus. »So wie sie aussieht, scheint das doch durchaus im Bereich ihrer finanziellen Möglichkeiten zu liegen.«

»Es geht nicht um die finanzielle Seite, Markus«, setzte Cornelia ihm auseinander. »Ich bin imstande, Heike zu ernähren und zu kleiden. Was sie vor allem braucht, ist Wärme und Zuwendung. Sie findet sie bei uns.« Ruhig begegnete sie dem Blick des Freundes.

»Du bist sonst so eine kluge, vernünftige Frau, Cornelia«, sprach er langsam und betont, »aber hierin bist du völlig unsachlich.«

»Das mag sein«, gab Cornelia zu. »Aber bleib du mal sachlich, wenn du in traurige Kinderaugen siehst.«

Markus zuckte die Achseln. Er blickte auf die Uhr. »Es ist deine Angelegenheit«, bemerkte er etwas frostig, und Cornelia sagte nur: »Eben.« Im gleichen Augenblick fuhr er fort: »Ich muss weiter, ich habe noch eine Menge im Büro aufzuarbeiten. – Sehen wir uns am Wochenende, oder hast du Dienst?«

»Dem Dienstplan nach nicht, aber es könnte sein, dass ich für einen Kollegen einspringe, dessen Frau ein Baby erwartet. Er möchte bei der Geburt dabei sein. Ich sag dir noch Bescheid.«

Als sie aufstanden, startete draußen auf dem Flugfeld gerade eine große Maschine. Cornelia sah ihr nach, wie sie sich in den Himmel erhob. Da flog sie dahin, Monika Collins, in ihr sonniges Kalifornien, in ihr Leben in Müßiggang und Luxus. Ob sie glücklich darin war? Cornelia wagte es zu bezweifeln.

*

Ein leeres Haus, so hatte Heike es genannt …

Mit langsamen Schritten ging Monika durch die weiten Räume, in denen nur wenige, auserlesene Möbel standen. Sie sah sich um, als sähe sie dies alles zum ersten Mal. Nichts lag herum, alles sah wie unberührt aus, als hätte ein erstklassiger Innenarchitekt hier eben erst sein Werk vollbracht.

Sie musste an das Haus der Meinhards denken, in dem sie hin und wieder kurz gewesen war, wenn sie ihre Nichte sehen wollte. Kein traumhaftes Anwesen wie dieses hier, sondern nur eines von gutbürgerlichen, mit Bedacht und Geschmack erbauten Häusern. Aber die Atmosphäre darin – wie anheimelnd umfing sie einen! Aus der Küche hatte es nach irgendetwas geduftet, das ferne Kindheitserinnerungen in ihr erweckte.

Gemütlich – ja, das war das richtige Wort, das es vielleicht nicht umsonst nur in ihrer deutschen Sprache gab.

Und war es nicht selbst in Renates bescheidener Wohnung gemütlicher gewesen, mit den einfachen, doch sehr hübschen Blumendrucken an den Wänden, den kuscheligen Kissen und den Puppen und Bilder- und Schulbüchern von Heike?

Ich bin verrückt, dachte Monika, ich bin völlig verdreht. Wieso erscheint mir auf einmal so unpersönlich, was doch vollendet in Linie und Ausstattung ist.

Zu perfekt – gab es das?

Es wurde nun Zeit für sie, sich umzukleiden. Es kam ihr zum Bewusstsein, und auch das war neu, dass sie hier Stunden ihrer Tage damit verbrachte, sich umzukleiden, sich schön zu machen für Ronald. Er würde ja sicher bald kommen. Zum Flughafen hatte er ihr den Cadillac mit Chauffeur geschickt, angeblich, weil eine wichtige Konferenz unaufschiebbar war. Für sie war es ein Zeichen, dass er ihr immer noch grollte, weil sie zum ersten und einzigen Mal in ihrer Ehe gegen seinen Willen gehandelt hatte.

In ihren Räumen hatte Liz, das Mädchen, das ganz allein für die Hausherrin zuständig war, schon alles für sie bereitgelegt.

Nach Ronalds Lieblingsparfüm duftend, mit einem elegant geschnittenen weißseidenen Hausanzug angetan, zu dem sie einen Smaragdschmuck trug, trat Monika ihrem Mann gegenüber.

In seinen Augen blitzte es auf, als sein Blick ihre glanzvolle Erscheinung umfasste. Seine Frau, sein Besitz. Wie hatte sie es wagen können, sich mehr als zwei Wochen von ihm zu entfernen?

Formell küsste er ihr die Hand. »Du hast dir viel Zeit gelassen, Mona. Musste das sein?«

»Ja. Ronald, ich habe dir doch erzählt, was es alles für mich zu erledigen gab. Damit flogen die Tage nur so dahin.«

»Ich nehme an, dass es auch in Deutschland Stellen gibt, die Beerdigungsformalitäten und eine Wohnungsauflösung übernehmen. Warum ließest du das deine Angelegenheit sein.« Damit wandte er sich zur Hausbar, um einen Drink zu mixen.

»Es war meine Angelegenheit«, betonte Monika mit leise aufsteigender Erregung, »das Einzige, was mir noch für meine verstorbene Schwester zu tun übrig blieb.«

»An mich hast du dabei wohl nicht gedacht«, bemerkte Ronald Collins, während er mit Flaschen, Gläsern und Mixbechern hantierte.

Monikas Lider zuckten. »Mein Gott, Ronald, kannst du dir denn nicht im mindesten vorstellen, welche Gefühle mich bewegten? Zunächst einmal, dass ich zu spät gekommen war, weil du mich nicht fliegen lassen wolltest …«

»Willst du mir Vorwürfe machen?«, unterbrach er sie scharf.

»Nein«, gab Monika gedehnt zurück. »Es ging ja auch schneller als gedacht mit Renate zu Ende. Ich habe versucht mich damit zu trösten, dass ihr noch viele Qualen erspart geblieben sind. Trotzdem war es schrecklich für mich.«

»Nun, so innig war eure Beziehung ja nicht«, äußerte er gelassen. »Sicherlich ist es traurig, wenn ein Mensch so früh gehen muss.« Doch kam dies so gleichgültig über seine Lippen, dass es Monika fröstelte. Sie nahm das Glas aus seiner Hand, das er ihr reichte. Er hob ihr das seine entgegen.

»Auf deine Heimkehr, Mona!« Sie nahmen einen Schluck. »Hattest du einen guten Flug?«

»Ja, danke.« Sie hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge, und das kam nicht von dem Drink. Fragte er wirklich mit keinem Wort nach dem Kind, das Renate hatte zurücklassen müssen? Schon bei ihren gelegentlichen Telefonaten hatte er sich uninteressiert gezeigt, und sie war gar nicht dazu gekommen, ihm davon zu erzählen.

»Es interessiert dich wohl überhaupt nicht, was aus der kleinen Heike wird, Renates Töchterchen, meiner Nichte?«

Erstaunt über ihren ungewohnt aggressiven Ton blickte Ronald sie an. »Sie wird doch wohl irgendwo untergebracht sein. Übrigens, wenn du Geld brauchst, um zu ihrem Unterhalt beizutragen – du hast dein Konto, über das du verfügen kannst.«

»Die Menschen, die sich ihrer angenommen haben, wollen auch für sie aufkommen.«

»Umso besser«, nickte Ronald Collins. »Dann brauchst du schon nicht mehr daran zu denken.«

Seine kühle Überlegenheit brachte sie auf. »Ich denke aber daran!«, rief sie aus. »Und ich will dir etwas sagen, Ronald: Geschämt habe ich mich in allen diesen Tagen, dass eine fremde Frau, nämlich Renates Ärztin, Heike an ihr Herz genommen hat.«

»An ihr Herz genommen«, wiederholte der Mann mit einem fast amüsierten Lächeln. »Man merkt, wo du herkommst, Mona. Ihr seid doch gerne sentimental, ihr Deutschen.«

»Nenne es, wie du willst«, sprach Monika erregt weiter. »Mir hat es wehgetan, dass Heike zu mir kaum Zutrauen fand, sondern sich nur an Frau Dr. Meinhard klammerte, die sie Tante Cornelia nennt. Ich kam mir so armselig vor, wie mit leeren Händen. Dabei wäre es an mir gewesen …«

»Sie an dein Herz zu nehmen«, fiel Ronald ihr sarkastisch ins Wort.

Mit flammenden Augen sah sie ihn an. »Was gefällt dir daran nicht? Weil du es anscheinend nicht besitzt, was man gemeinhin so nennt?«

Abrupt wandte sie sich ab, sie biss sich auf die Lippen. Da war sie wohl in ihrer Erregung zu weit gegangen. Wohin sollte das führen?

Ronald setzte mit einer heftigen Bewegung sein Glas beiseite und trat auf sie zu. Mit seiner Hand umfasste er ihren Arm.

»Mona! Was ist denn in dich gefahren? Hatte ich nicht recht, dich nicht von mir lassen zu wollen? Du bist ganz verändert.«

Ich bin nicht verändert, wollte sie sagen. Nur haben mich die Geschehnisse aufgerüttelt, sodass ich nun manches mit anderen Augen ansehen muss. Aber sie brachte es nicht über die Lippen. Sie hatte versucht, ihm zu erklären, wie ihr zumute gewesen war, aber er hatte sie nicht verstanden. Sie schlug die Augen nieder.

Ronald mochte es als eine Regung der Reue nehmen, denn in sanftem Ton sprach er weiter: »Ich liebe dich, Mona. Habe ich es dir nicht immer und immer bewiesen?«

»Du liebst mich«, sagte sie mit zuckenden Lippen, »du betrachtest mich ganz und gar als deinen Besitz. Du gestattest mir kein anderes Denken und Fühlen als um und für dich. So geht es nicht.«

Er lächelte ein wenig, mit schmalem Mund. »Warum nicht? Es ging doch bisher recht gut.« Seine Hand sank herab. »Vergessen wir also dieses Zwischenspiel. Wir werden ein paar Tage auf unserer Yacht verbringen. Der Seewind wird dir die sonderbaren Gedanken verwehen.«

*

Es war Sommer geworden. Seit einem Vierteljahr gehörte Heike nun schon zur Familie Meinhard, behütet und umsorgt von den drei Erwachsenen. Sie war ein stilles Kind, das sich gut allein zu beschäftigen wusste. Brav machte sie ihre Schularbeiten, denn sie lernte gern.

Oft wollte sie Tante Herta zur Hand gehen, wie sie Frau Schwendtner nannte. »Weil du doch jetzt mehr Arbeit hast, wo ich da bin«, sagte sie treuherzig. Und Frau Schwendtner übertrug ihr denn auch leichte Aufgaben, die das kleine Mädchen eifrig und bereitwillig erfüllte. Manchmal nahm der Opi sie bei der Hand und ging mit ihr spazieren, in den Auen und am Fluss entlang. Opi, das kam so zag und rührend aus dem Kindermund, dass es Bruno Meinhard warm ums Herz wurde.

Vor allem jedoch gab es Tante Cornelia, die freilich viel arbeiten musste, aber dann wieder so lieb und zärtlich war, dass der Schmerz um die verlorene Mami jetzt schon manchmal nicht mehr so heiß brannte.

Sie wusste stets, wann sie vom Dienst kam, und auch heute stand sie wieder an der Gartenpforte und wartete auf sie, den Kopf zur Seite geneigt und die Straße entlangspähend. Bis das Winken begann und sie sich endlich wieder fest im Arm hielten.

Von ihrem Schützling erfuhr Cornelia immer sogleich das Neueste vom Tage: In der Schule hatte Heike alles gewusst, was der Lehrer sie gefragt hatte. Post war für Tante Cornelia gekommen, eine schöne bunte Ansichtskarte mit viel Wald drauf. Tante Herta machte einen Kirschenauflauf zum Abendessen, sie, Heike, hatte ihr dabei geholfen, die Kirschen zu entsteinen. »Musst du heute noch mal weg, Tante Cornelia, kommt der Herr Springer dich abholen?«, fragte sie zuletzt.

»Nein, heute nicht. So oft sehen wir uns doch überhaupt nicht«, antwortete Cornelia.

Da nickte Heike zufrieden. Der Herr Springer, der war mal da gewesen, da hatte sie ihn kennengelernt. Aber der hatte mit ihr nicht viel im Sinn, das spürte sie schon. Besser, er blieb weg.

Die »schöne bunte Ansichtskarte mit viel Wald drauf« kam zu Cornelias Überraschung von Frau Eckner. Sie musste sich nicht lange besinnen, wer das war, denn der Fall dieser Patientin, die sie schließlich zum Psychotherapeuten überwiesen hatten, war doch etwas ungewöhnlich gewesen. Nun schrieb sie Grüße aus dem Bayerischen Wald, wo sie mit ihrem Mann war. Es geht ihr sehr viel besser, die Therapie habe geholfen, und sie sei der Frau Doktor dankbar, sie darauf hingewiesen zu haben. – Na also, dachte Cornelia lächelnd. Das musste sie dem Oberarzt erzählen!

Später an diesem Abend, als Heike im Bett war und Cornelia nochmals nach ihr sehen wollte, geschah es, dass sie das Kind beten hörte: »… und bitte, lieber Gott, mach, dass meine erste Mama auf mich herabsieht und weiß, dass ich sie immer lieb behalte in meinen Gedanken … Amen.«

Eigenartig berührt, verharrte Cornelia auf der Schwelle. Heike sah sie und streckte die Arme nach ihr aus. Cornelia trat näher, sie beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn. »Ich dachte, du würdest schon schlafen«, sagte sie weich.

»Hmhm.« Heike schüttelte den Kopf. Mit einem dunklen, bedeutungsvollen Blick sahen sie sich an, das Kind und die junge Frau, eine ganze Weile lang, bis Heike leise und stockend sagte: »Ich habe gebetet – für meine erste Mama …«

Cornelia streichelte sie. »Möchtest du lieber Mama zu mir sagen als Tante Cornelia?«

Heike wurde rot. Sie nickte heftig und drückte den Kopf in das Kissen, das nur noch das weiche Haar darüber fiel.

»Ich dachte, es wäre noch zu früh für dich, mir diesen Namen zu geben, Heikekind.«

»Du bist es jetzt doch«, wisperte die Kleine. »Du bist meine zweite Mama.« Sie sah Cornelia wieder an. »Sonst hätte ich doch nach Amerika gemusst, nicht? Oder ich wäre mit anderen Kindern, die keine richtigen Eltern mehr haben, in so ein großes Haus gekommen. Das wär beides ganz schlimm für mich gewesen.« Bangigkeit überschattete die kindlichen Züge.

»Daran brauchst du nie mehr zu denken, Heike. Du wirst immer bei uns bleiben. – Und nun schlaf schön, mein Liebes. Morgen musst du früh in die Schule. Aber bald beginnen die großen Ferien!«

Heike nickte zufrieden, und zum ersten Mal nach dieser langen schweren Zeit stand ein glücklich zu nennendes Lächeln in dem kleinen Gesicht, als sie sagte: »Gute Nacht, Mama!«

*

Cornelia erkannte – wie sollte es anders sein – seine Stimme sofort. Und wieder traf es sie so unvorbereitet, dass es wie ein leichter Stromstoß durch sie hindurchging.

»Ich dachte, wir sollten wieder einmal voneinander hören, Cornelia«, sagte Dieter Markgraf. »Wir leben in einer Stadt, und seit unserer kurzen Begegnung Ende März sind einige Monate vergangen …« Er wartete.

Erst nach Sekunden hatte Cornelia ihre Beherrschung wiedergefunden. »Du hast inzwischen deine Praxis eröffnet, ich habe es in der Zeitung gelesen«, sagte sie. »Läuft sie gut?«

»Na ja, wie es so geht im Anfang. Dazu ist Urlaubszeit. – Warst du schon im Urlaub, Cornelia?«

»Ich bin gerade dabei, meine Koffer zu packen«, antwortete sie.

»Aha. Wohin soll’s denn gehen?«

»An die Ostsee.«

»Fährst du allein?«

»Nein.« Ihre Lider zuckten. War das nötig, dieses sich etwas mühsam dahinschleppende Gespräch? »Was willst du noch, Dieter?«, setzte sie mit spröder Stimme hinzu. »Zwischen uns ist es doch aus und vorbei.« Sie unterdrückte den Impuls, einfach aufzulegen.

»Für mich nicht. Ich würde dich gern wiedersehen, mit dir über viele Dinge reden. Auch über uns, was in unserer Vergangenheit war.«

»Wozu sollten wir das wieder aufwühlen?«, fragte Cornelia. »Lassen wir es doch Vergangenheit bleiben. Es lebt doch nun jeder sein eigenes Leben weiter.«

»Ich wüsste gern, wie dein Leben jetzt aussieht. Ob du glücklich bist … Darf ich das nicht wissen?«

»Es geht mir gut, lass dir das genügen. Lebe wohl, Dieter. Ruf mich bitte nicht mehr an. Es hat doch keinen Sinn.«

»Ja dann – lebe wohl, Cornelia.«

Sie horchte dem Klang seiner Stimme nach, bevor auch sie auflegte. Es hatte rau geklungen, resigniert. Oder bildete sie sich das nur ein? Er war es wohl nicht gewöhnt, der Herr Dr. Dieter Markgraf, dass man ihm eine Abfuhr erteilte. Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. War sie vielleicht doch zu schroff gewesen? Es war nun alles wieder so verwirrend geworden.

Unten von der stillen Straße her vernahm sie Heikes Stimmchen, die mit einem Kind aus der Nachbarschaft Federball spielte. Sie legten Wert darauf, dass sie Umgang mit anderen Kindern hatte. An der See würde sie diesen hoffentlich auch finden. Die Schulferien dauerten hier noch bis Mitte September, ihr eigener Urlaub hatte gerade begonnen, so konnten sie noch zwei Wochen zusammen verbringen. Markus hatte den Kopf geschüttelt, dass sie mit dem Kind verreisen wollte. Er hatte andere Pläne gehabt. Aber Heike ging ihr in diesem Fall vor. Sie war trotz aller guten Pflege ein bisschen zu schmal und blass, hatte niedrigen Blutdruck. Die Luftveränderung würde ihr gut tun.

Jetzt verabschiedete ihr Vater vor der Haustür einen Bekannten, für den er den Umbau eines Hauses plante. Cornelia empfand plötzlich das dringende Bedürfnis, mit ihm zu sprechen, sich ihm anzuvertrauen. Sie ging zu ihm hinunter, als er wieder in seinem Arbeitszimmer saß und die dargelegten Entwürfe zurück in die Mappe schob. »Störe ich dich?«, fragte sie.

Mit einem Lächeln blickte er auf. »Aber nein! – Sind die Koffer denn schon gepackt?«

»Ich bin noch nicht ganz fertig damit. Es ist ein Anruf dazwischen gekommen …« Sie setzte sich und strich sich mit einer nervösen Bewegung über das Haar.

Bruno Meinhards Blick wurde aufmerksam. »Ärger gehabt –?«, fragte er kurz. Cornelia schüttelte den Kopf.

»So kann man es nicht nennen.«

Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Dieter Markgraf hat angerufen. Er möchte mich wiedersehen, mit mir reden. Ich habe es abgelehnt. Aber ich weiß nicht, ob ich mich richtig verhalte.«

»Und da willst du meinen Rat?« Der Vater beugte sich etwas vor. »Was soll ich dir denn dazu sagen, Cornelia? Das musst du ganz allein entscheiden, ob du wieder Verbindung mit ihm aufnehmen willst.«

Cornelia sah beiseite und schwieg.

Nach einer Pause sprach Bruno Meinhard bedächtig weiter: »Du hast diesen Mann geliebt, und er hat dich enttäuscht. Damit bist du innerlich nie ganz fertig geworden. Ich fürchte, er wird sich nicht verändert haben in diesen paar Jahren. Deshalb mag es schon besser sein, wenn du dich von ihm fernhältst, bevor da wieder etwas aufflammt, was jetzt noch unter der Asche glüht.«

»Da glüht nichts mehr«, versicherte Cornelia.

»Wärest du sonst unsicher?«, hielt ihr Vater ihr entgegen. »Würde dich eine flüchtige Begegnung, ein bloßer Anruf von ihm aus der Fassung bringen? Mich kannst du nicht täuschen, meine Tochter.«

Cornelia starrte gegen die Wand.

»Es geht nicht allein um mich«, murmelte sie.

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte der Vater etwas verwundert.

Langsam wandte Cornelia den Kopf und sah ihm gerade in die Augen. »Ich will dir ein Geheimnis offenbaren, Vater. Heike ist das Kind von Dieter Markgraf. Das hat mir Renate Berger noch ganz zuletzt unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut. Aber du darfst es wissen, denn ich weiß, dass du schweigen kannst.«

Bruno Meinrads Züge hatten sich gespannt, sein Blick verdunkelte sich. »Weiß er davon?«

»Nein. Er soll es auch nicht wissen, nur im äußersten Notfall, der hoffentlich nie gegeben sein wird. Das habe ich Frau Berger versprochen, und ich werde es auch halten. Dass mir der Vater ihres Kindes auch einmal sehr nahe gestanden hat, das verschwieg ich ihr freilich.«

»Was für eine seltsame Verkettung der Umstände«, sprach der Mann vor sich hin. Und, nach einer Pause: »Hast du Heike deshalb zu dir genommen, weil es sein Kind ist?«

Cornelia schüttelte den Kopf. »Nein. Es hat damit nichts zu tun. Aber jetzt verstehst du vielleicht, warum die Dinge so schwierig für mich geworden sind. Darf man einem Vater sein Kind vorenthalten? Andererseits bin ich an mein Versprechen gebunden …« Seufzend brach sie ab.

Du bist nicht nur im Zwiespalt, dachte Bruno Meinrad bei sich. Es mag Frauen geben, die nur einmal im Leben wahrhaftig lieben können. Deine Liebe gehörte Dieter Markgraf, der sich ihrer nicht würdig erwiesen hat.

Heike war ins Haus gekommen, sie hörten sie mit Frau Schwendtner reden. Cornelia erhob sich. Aber sie beugte sich noch einmal zu ihrem Vater und schmiegte ihre Wange flüchtig gegen die seine.

»Ich bin froh, dass ich dich habe, Papa«, sagte sie mit großer Wärme. »Allein mit dir reden zu können, macht alles schon ein bisschen leichter.«

Bruno Meinrad legte seine Hand über ihre Hand, die auf seiner Schulter lag.

»Fahre du jetzt erst mal mit Heike in Urlaub und macht euch schöne Tage. Manchmal lösen sich Probleme ganz anders, als man denkt.«

Im Flur stand Heike und wartete auf sie. In Opis Arbeitszimmer wagte sie nicht einfach hineinzugehen, davor hatte sie großen Respekt. Jetzt sagte sie: »Vergisst du auch nicht, die Babsi einzupacken, Mama?« Das Stoffpüppchen aus ihrer ersten Kinderzeit sollte mit auf die Reise gehen, es gehörte zu ihr.

»Die Babsi kommt mit deinem Badezeug in deine rote Tasche«, lächelte Cornelia. »Komm, wir packen den Rest zusammen ein, damit du siehst, dass ich auch nichts vergesse.«

Heike nickte eifrig und sprang ihr voraus die Treppe empor. Diese Reise war eine große Sache für sie, vor allem deshalb, weil sie von morgens bis abends ihre neue Mama für sich haben würde.

Auch anderswo gab es einen Aufbruch, über Länder und Meere entfernt. Dort ging es freilich nicht nur um eine hübsche Urlaubsreise, sondern es wurden die Weichen gestellt für eine tief greifende Veränderung im Leben zweier Menschen, wie sie eine endgültige Trennung mit sich bringt.

Monika Collins wollte ihren Mann verlassen und in ihrer Heimat ganz neu beginnen.

Sie hatte sich ihren Entschluss nicht leicht gemacht. Doch immer leerer erschienen ihr ihre Tage, die Untätigkeit wurde ihr zum Überdruss. Sie war jung und gesund, sie verspürte ungenutzte Kräfte in sich. Die Vorstellung erschien ihr zum Ersticken, immer weiter das in Seide und Chiffon gehüllte und mit Juwelen behängte Geschöpf eines reichen Mannes zu sein. Eines Mannes, der ›andere Seiten aufzog‹, wie er es nannte, seit sie zum ersten Mal von einem Ausbrechen aus ihrem goldenen Käfig sprach.

»Ich habe dich doch aus dem Nichts geholt«, sagte er kalt, »ich habe dir geboten, wovon andere Frauen nur träumen können. Spiele mir jetzt gefälligst nicht die Unverstandene vor. Solche Launen sind mir zuwider. Für eine Midlife-Crisis ist es bei dir noch zu früh.«

»Das ist keine Laune«, verteidigte sie sich. »Und etwas muss ich richtigstellen, Ronald: Ich war nicht gerade ein Bettelkind, als wir uns kennenlernten. Ich hatte meinen Beruf und mein gutes Auskommen, und ich war ganz zufrieden damit.«

»Du scheinst vergessen zu haben, dass du es als märchenhaft empfandest, als ich dir dies alles hier«, er machte eine ausholende Armbewegung, die sein Besitztum umfasste, »zu Füßen legte.«

Sie hatte es nicht vergessen. Es war ein Märchen für sie gewesen. Sie hatte sich zurücksinken lassen in dieses Luxusleben wie in ein warmes Bad und sich davon einlullen lassen. Und sie liebte Ronald, natürlich liebte sie ihn. Oder war es nur ein Echo auf sein stürmisches Begehren gewesen, eine Art Verzauberung, wie ein Griff nach den Sternen? Wer mochte das entscheiden.

Auch Märchen fanden manchmal kein Happy End.

»Lass uns nicht im Bösen auseinandergehen, Ronald«, bat sie. »Ich bin dir dankbar für diese Jahre an deiner Seite. Aber du hast mich in eine Welt gestellt, die nicht die meine ist. Das habe ich jetzt begriffen. Verzeih mir.«

Er verzieh es ihr nicht. Die Herzenskälte, die er im Falle ihrer verstorbenen Schwester und des Kindes gezeigt hatte, kam nun auch ihr gegenüber zum Ausdruck.

»Wenn du gehen willst, dann geh«, sagte er. »Ich halte dich nicht. Ich werde dir eine großzügige Abfindung zahlen, wie ich das auch bei meiner ersten und zweiten Frau tat.«

»Darum geht es mir nicht«, erwiderte sie verletzt, doch Ronald Collins unterbrach sie: »Es geht euch allen nur darum.«

Armer reicher Mann, musste sie denken, wenn er glaubte, nur seines Geldes wegen geheiratet zu werden. Aber dass er sie nun demütigen wollte, machte sie nur fester und entschlossener.

Sie nahm nicht viel mit. In ihrem zukünftigen Leben brauchte sie weder wallende Gewänder noch auffallenden Schmuck. Seinerzeit, als sie noch gut verdiente, hatte sie etwas Geld auf einer deutschen Bank angelegt. Es würde Zinsen gebracht haben. Für den Anfang würde es reichen. Dann hoffte sie bald Arbeit zu finden.

Nie mehr Mona, dachte sie, als sie im Flugzeug saß und alles hinter ihr zurückblieb. Es war ihr, als habe sie eine Haut abgestreift, die ihr zu eng geworden war. Sie machte sich keine Illusionen, aber sie war voller Zuversicht.

In ihrer Heimatstadt mietete Monika sich in einer Pension ein. Die Besitzerin, Lore König, war eine ehemalige Bekannte von ihr. Sie hatten in demselben Haus gewohnt und einander gelegentlich nachbarschaftlich ausgeholfen, bevor Monika geheiratet und Lore König diese nette kleine Pension übernommen hatte.

»Ich denke, du bist inzwischen Amerikanerin geworden«, verwunderte sich die andere.

»Das bin ich nie geworden«, versicherte Monika. »Es ist nicht mein Land. Ich bleibe jetzt hier und suche mir Arbeit.«

Die um einige Jahre Ältere wiegte den Kopf. »Da ist wohl allerhand schiefgegangen«, meinte sie. Monika zuckte die Achseln. »Wie man es nimmt. Man macht seine Erfahrungen.«

Wenig später brachte Lore König ihr die Tageszeitung und machte sie auf eine große Anzeige aufmerksam, mit der für einen bevorstehenden Kongress noch eine Dolmetscherin gesucht wurde. Monika bewarb sich sofort und wurde angenommen. Ihre Erscheinung, ihr gewandtes Auftreten und ihre perfekten Sprachkenntnisse nahm die Leitung für sie ein. Wenn es auch zunächst nur eine Tätigkeit für eine Woche war, so erschien es Monika doch als ein Glück verheißender Anfang, und sie fühlte sich bestärkt.

An einem der drei freien Tage, die ihr bis dahin noch blieben, begab sie sich zu dem Haus der Familie Meinrad. Sie wollte sehen, was Heike machte. Renates Kind sollte ihr doch nicht fremd bleiben.

»Heike ist mit meiner Tochter verreist«, erklärte der Hausherr, der sie hereingebeten hatte. »Ende der Woche kommen sie zurück. Werden Sie länger in Deutschland bleiben, Frau Collins?« Er konnte sich keinen Reim darauf machen, dass sie nach wenigen Monaten schon wieder hier war. Zog es sie so zu der Nichte, schlug ihr das Gewissen? Dafür war es nun zu spät.

»Ich habe mich von meinem Mann getrennt und bleibe nun für immer hier«, sagte Monika. »Sie werden verstehen, Herr Meinrad, dass ich mich gern auch ein bisschen um Heike kümmern würde.«

»Gewiss.« Wenn er erstaunt war über diese überraschende Entwicklung, so ließ es sich Bruno Meinrad doch nicht anmerken. »Am besten setzen Sie sich deswegen mit meiner Tochter in Verbindung«, fügte er freundlich hinzu.

Monika besuchte noch am selben Tag das Grab ihrer Schwester und legte Blumen hin. Wenn du noch lebtest, Renate, würden wir nun wieder zusammenfinden, dachte sie wehmütig. Und plötzlich kam sie sich doch verloren vor. Aber sie ­bezwang diese Anwandlung. Sie musste vorwärts schauen, nicht zurück.

Sie ging durch die Straßen, die ihr von früher vertraut waren, auch wenn sich inzwischen vieles verändert hatte. Als sie im Frühjahr hier gewesen war, hatte sie in ihrer Bedrücktheit auf nichts besonderes geachtet. Jetzt sah sie alles mit anderen Augen an, weil es nun wieder ihre Stadt war.

Irgendwo, mitten in der City, glaubte sie plötzlich ein ihr bekanntes Gesicht zu entdecken.

Doch sie wusste nicht, woher sie den jungen Mann kannte, der bei ihrem Anblick stutzte und unsicher grüßte. Als sie knapp aneinander vorüber waren, wandten sie gleichzeitig den Kopf zurück. Da fiel es Monika wieder ein, dass das doch der Freund von Cornelia Meinrad war, den sie damals zufällig in der Flughalle getroffen und ihr vorgestellt hatte.

Sie nickte ihm nochmals zu, diesmal mit dem leichten Anflug eines Lächelns, zum Zeichen, dass sie ihn erkannt hatte. Mit zwei Schritten war er bei ihr.

»Ich wollte es nicht glauben, dass Sie es sind, Frau Collins«, sagte er in seiner lebhaften Art. »Wir trafen uns, als sie gerade abflogen, und es ist ja nicht gerade ein Katzensprung von Los Angeles nach hier.«

»Sie haben sich sogar meinen Namen gemerkt! Ich habe Ihren leider vergessen, es war ja nur so eine kurze Begegnung.«

»Ich heiße Markus Springer. Wenn Sie den Kopf nach rechts wenden, sehen Sie den Namen an dem Bürogebäude dort drüben.«

Monika tat es. Reisebüro Springer, stand dort in großen Lettern. Sie dachte nach …«

»Ich habe schon einmal für Sie gearbeitet«, sagte sie unvermittelt. »Aber das ist lange her.«

»Gearbeitet – für uns?«, fragte Markus verblüfft.

»Ja! Ich war damals gerade frei, und Sie suchten für eine Gruppenreise ausländischer Touristen eine englisch sprechende Reiseleiterin. Es war ein älterer Herr, der mich dafür engagierte.«

»Das muss mein Vater gewesen sein. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie einmal in unserer Branche gearbeitet haben. Woher denn auch …«

»Ich habe auch jetzt wieder vor, in dieser Branche zu arbeiten.« Sie musste ein wenig lächeln über sein grenzenlos erstauntes Gesicht, und sie fuhr fort: »Ich bin als ausgebildete Hostess mit einigen Jahren praktischer Erfahrung vielseitig einzusetzen, auch wenn ich längere Zeit raus aus dem Geschäft war. Vielleicht haben Sie Verwendung für mich?« Es klang eher scherzhaft, denn so leicht fand sich kein Job. Immerhin, man musste Verbindungen anknüpfen. – Markus sah sie mit unverhohlenem Interesse an. Sie wirkte heute viel weniger mondän, ungeschminkt, im schlichten Kostüm und mit glatt zurückgestrichenem Haar. Doch sie gab ihm Rätsel auf. Da war doch ein Mann in Kalifornien, der das Kind, ihre Nichte, nicht hatte haben wollen, das nun, nicht gerade zu seiner Freude, bei Cornelia war.

»Darüber müsste man reden«, sprach er überlegend. »Wo kann ich Sie erreichen, Frau Collins?«

Sie nannte ihm den Namen ihrer Pension, betonte aber gleichzeitig, dass sie für die Zeit des Kongresses bereits einen Einsatz gefunden hatte und in diesen Tagen schwer erreichbar sein würde. Es klang beinahe stolz, und wiederum staunte Markus. Sie schien es tatsächlich ernst zu meinen. Aber sie kannten sich zu wenig, als dass er indiskrete Fragen hätte stellen können. Sie trennten sich mit dem vagen Versprechen, gelegentlich voneinander zu hören.

Dass er sie auf alle Fälle wiedersehen wollte, gestand Markus sich selber noch nicht recht ein.

*

»Sie ist wieder da«, verwunderte sich auch Cornelia, die sich bald nach ihrer Rückkehr mit Markus traf. »Das ist ja merkwürdig.«

»Ja, und sie ist auf Stellungssuche, das ist noch merkwürdiger. Es hatte doch den Anschein, als lebte sie mit ihrem Mann in glänzenden Verhältnissen. Hast du gewusst, dass sie früher einmal Hostess war?«

Ungewiss hob Cornelia die Schultern. »Ich glaube, ihre Schwester hatte es beiläufig erwähnt. Frau Collins selber hat wenig über persönliche Dinge gesprochen, als wir uns kennenlernten. – Was mag da vorgefallen sein?«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Keine Ahnung. Ich konnte sie ja nicht gut fragen. Aber sie wird sich sicher bald bei dir melden, schon wegen der Heike. Hoffentlich nimmt sie dir das Kind manchmal ab, damit du wieder mehr Zeit für mich hast!«

»Heike lasse ich mir nicht mehr abnehmen«, erwiderte Cornelia gelassen, mit einem flüchtigen Lächeln. Sie hatte oben an der Ostsee eine schöne Zeit verbracht. Wie erhofft, hatte dem Kind die Luftveränderung gutgetan, und das ständige Beisammensein hatte ihre Beziehung womöglich noch inniger vertieft.

»Ich meine ja nur …« Markus erwiderte den Gruß eines Bekannten, der im Restaurant an ihrem Tisch vorüberging. Dann wandte er seinen Blick wieder Cornelia zu und ließ ihn auf ihr ruhen. Hübsch sah sie aus mit der straffen, leicht gebräunten Haut. Sie schien sich gut erholt zu haben – ohne ihn.

»Dein Urlaub ist noch nicht zu Ende, Cornelia«, fuhr er fort. »Wie wäre es, wenn wir noch eine Woche irgendwo hinfliegen würden? Das könnte ich einrichten. Ich wüsste da ein reizendes Hotel auf Lanzarote, das dir gefallen könnte.«

»Sei mir nicht böse, Markus, aber ich möchte lieber noch ruhige Tage zu Hause verbringen, bevor mein Dienst wieder beginnt«, wehrte Cornelia ab. »Heike muss nun wieder in die Schule, und mein Vater ist nicht da. Er ist nach Berlin gefahren, wo ein junger Kollege, dem er so eine Art väterlicher Freund ist, seinen Rat bei einem ersten größeren Auftrag erbeten hat.«

»Deine familiären Verpflichtungen nehmen allmählich überhand«, entgegnete Markus gereizt. »Mir gefällt das nicht!«

»Ich weiß«, sagte Cornelia mit niedergeschlagenen Augen, und ihre Finger spielten mit einem Bierdeckel, der auf dem Tisch lag. »Du solltest besser eine Freundin haben, die ganz für dich da sein kann.«

»Das will ich ja gar nicht!«, entfuhr es ihm heftig. »Ich suche kein ›Heimchen am Herd‹. Aber etwas mehr Eingehen auf meine Wünsche wäre mir schon lieb.«

»Es tut mir leid«, murmelte Cornelia.

Sie wechselten das Thema, aber es blieb ein mehr oder weniger gezwungenes Gespräch. Als sie in ihrem Wagen nach Hause fuhr, dachte Cornelia, dass sie eines Tages auch Markus verlieren würde. Es war wahrscheinlich der Preis, den sie für ihre gute Tat bezahlte. Aber sie konnte sie dennoch nicht bereuen. Sie würde, noch einmal vor die Frage gestellt, auch heute nicht anders handeln.

Einige Tage später war auch ihr Vater wieder da.

»Opi!«, rief Heike und lief ihm entgegen. »Ich wollte dir so viel erzählen, und du warst fort!« Ganz vorwurfsvoll sahen ihn die braunen Kinderaugen an.

»Dann wirst du mir eben jetzt alles erzählen«, lachte Bruno Meinrad. »Du hast doch bestimmt noch nichts vergessen, oder? Ich wäre ja auch gern zu eurem Empfang da gewesen, aber es ging nun mal nicht anders. War’s denn schön?«

»Ganz toll schön!«, versicherte Heike strahlend. »So, wie wir es dir geschrieben haben, und wie du auf den Karten schon sehen konntest.«

Als sie allein mit ihrem Vater war, kam Cornelia auf Monika Collins zu sprechen. »Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als Markus mir das berichtete«, äußerte sie.

»Sie war auch schon hier«, sagte Bruno Meinrad. »Sie wollte sich nach Heike erkundigen. Von ihrem Mann hätte sie sich getrennt, das erwähnte sie. Es wundert mich, dass sie nicht schon wieder Kontakt mit dir aufgenommen hat.«

Monika Collins meldete sich erst wieder in der übernächste Woche. Da bat sie Cornelia um ein Treffen. Sie verabredeten sich in einem Café. – »Ich wollte zuerst einmal mit Ihnen allein sprechen, Frau Dr. Meinrad«, sagte Monika. »Heike könnte erschrecken, wenn ich plötzlich wieder vor ihr stehe. Sie war mir ja leider nicht sehr zugeneigt.« Es klang traurig.

»Sie hatte Angst, dass Sie sie nach Amerika mitnehmen würden«, versetzte Cornelia rasch. »Das fällt jetzt fort. Sie ist mein Kind, ich habe das Sorgerecht für sie. Sie nennt mich ihre zweite Mama. Das macht sie sicher.«

»Hat sie ihre erste Mama schon vergessen?«, fragte Monika mit einem dunklen Blick. Cornelia schüttelte den Kopf.

»O nein! Sie schließt sie immer in ihr Gebet ein, und ich werde auch dafür sorgen, dass sie ihr Angedenken immer bewahren wird. Aber der große Schmerz hat nachgelassen, und so soll es auch sein.«

»Sie sind sehr gut«, sprach Monika leise. »Ich fühlte mich immer sehr klein neben Ihnen, weil ich nicht das Selbstverständlichste tat, was in diesem Fall hätte getan werden müssen.«

»Ich weiß ja, dass es an Ihrem Mann lag«, schwächte Cornelia die Selbstvorwürfe der anderen ab. »Ihre Schwester hatte es vorausgesehen. Deshalb wollte sie ja Heike lieber bei mir wissen.«

Monika nickte trübe. »Ich habe nun die Konsequenzen gezogen aus seinem Verhalten, in dem sich sein wahrer Charakter offenbart hat. Einen Mann, der über andere hinweggeht und kein Mitgefühl hat, kann ich nicht lieben. Vielleicht war dies das Geheimnis seines Erfolges, der ihn schon in jungen Jahren ganz nach oben trug«, fügte sie leise hinzu und sah vor sich nieder.

»Es wird nicht einfach für Sie sein, Frau Collins, wieder dort anzufangen, wo Sie vor fünf, sechs Jahren aufgehört haben«, meinte Cornelia nach einer kurzen Pause vorsichtig. »Mein Freund, Herr Springer, sagte mir, dass Sie in Ihren Beruf zurückkehren wollten.«

»Ja!« Monikas Gesicht erhellte sich. »Das erste selbst verdiente Geld habe ich schon einstecken können. Sie werden lachen, aber ich habe mich über die Maßen darüber gefreut.«

»Das verstehe ich auch«, versicherte Cornelia. »Aber wird es auch weitergehen?«

»Das hoffe ich doch. Ich war schon bei der Firma, für die meine Schwester gearbeitet hat. Wir hatten ja beide dieselbe Begabung und Neigung für Fremdsprachen. Nur dass ich nicht im Büro arbeiten, sondern lieber mit Menschen umgehen wollte. Man hat mir dort zugesagt, mir gelegentlich Aufträge zukommen zu lassen, wie sie auch Renate ausgeführt hat. Ich habe mir schon eine Schreibmaschine gekauft. Ein Pensionszimmer ist zwar kein idealer Arbeitsplatz, aber es wird schon gehen.«

Cornelia gefiel der Eifer, den Monika Collins an den Tag legte. »Sie werden es sicher schaffen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen«, sagte sie mit einer gewissen Wärme, wie sie diese zuvor nicht für die junge Frau empfunden hatte. »Was die Unterkunft betrifft, so könnte ich Ihnen vielleicht helfen. Ein Kollege von mir hat eine Eigentumswohnung gekauft, ein Einzimmer-Apartment.«

»Eigentumswohnungen sind sehr teuer«, fiel Monika ein, »ich möchte mich nicht vorzeitig verausgaben.«

War es denkbar, dass ein sehr reicher Mann die Gefährtin einiger Jahre mittellos gehen ließ, fuhr es Cornelia durch den Sinn. Zumindest würde sie doch Schmuck haben. Seinerzeit hatte sie einen Armreif getragen, der wohl allein schon ein kleines Vermögen wert war …

Monika hatte den überraschten Blick ihres Gegenübers aufgefangen. »Ich habe nichts mitgenommen«, sprach sie mit leisem Erröten, »und ich will auch keine Abfindung bei der Scheidung haben. Schließlich habe ich mich ins Unrecht gesetzt, indem ich meinem Mann davongelaufen bin.« Damit wurde sie Cornelia immer sympathischer.

»Sie haben mich nicht ausreden lassen«, sagte sie freundlich. »Dieser Kollege will die Wohnung vermieten. Sie ist für ihn nur eine Geldanlage aus einer Erbschaft.«

»Das ist etwas anderes.« Erfreut nickte Monika. »Wenn Sie sich für mich verwenden wollten, wäre ich Ihnen sehr dankbar, Frau Dr. Meinrad!«

»Ich finde, wir sollten die förmliche Anrede jetzt fallen lassen«, lächelte Cornelia. »Durch Heike sind wir doch gewissermaßen verwandt …«

*

Es war Herbst geworden, doch die Pension König konnte sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen. In dieser Stadt gab es immer Tagungen, Ausstellungen, sie war zu jeder Jahreszeit ein beliebtes Touristenziel, da waren erschwingliche Unterkünfte begehrt.

Die Inhaberin hatte gerade einem Gast die Rechnung ausgeschrieben, als das Telefon schon wieder läutete. Es stand heute nicht still.

»Nein, Frau Collins wohnt nicht mehr bei mir«, beantwortete sie die Frage des Anrufers. »Ich kann Ihnen Ihre neue Adresse geben.«

Markus Springer notierte sie. Er fand es einigermaßen erstaunlich, dass Monika Collins bereits eine Wohnung gefunden hatte. Cornelia hatte ihm nichts davon erzählt, sie hatte es wohl nicht der Erwähnung wert gefunden. Sie sahen sich auch nicht häufig. Es war nicht zu übersehen, dass ihre Beziehung sich abgekühlt hatte. Irgendetwas stand zwischen ihnen, und das hing nicht nur mit dem Kind zusammen. Er wusste nicht, was es eigentlich war.

Jetzt rief er Frau Collins an. Sie meldete sich auch sofort. »Sprechen Sie zufällig Russisch?«, fragte er ohne Umschweife.

Monika spitzte die Ohren. »Leider nicht«, bedauerte sie, »nur Englisch, Französisch und Spanisch. Um was geht es denn, Herr Springer?« Sie war hellwach, sprungbereit.

»Wir stehen vor einer großen Russland-Reise, Kiew – Moskau – St. Petersburg, 17 Tage«, gab Markus sachlich Auskunft. »Es ist unsere Saison-Abschlussfahrt. Ich leite sie selbst, aber ich brauche noch eine Betreuerin der Gäste dazu. Unsere Mitarbeiterin, die dafür sonst eingesetzt wird, hat gerade erfahren, dass sie im zweiten Monat schwanger ist. Der Arzt hat ihr die Anstrengung verboten.«

»Kann sie denn Russisch?«, wollte Monika wissen.

»Auch nicht. Wir werden im Land eine zweisprachige Führerin haben.«

»Na also«, sagte Monika keck. »Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung!«

»Sind Sie denn sofort frei?«, fragte Markus.

»Ja«, Monika seufzte ein wenig und blickte über den leeren Schreibtisch, »bisher hat sich noch nichts weiter getan …« Sie hatte mehr als genug Zeit gehabt, sich einigermaßen häuslich in ihrer neuen Wohnung einzurichten. Und sie war mit ihrer kleinen Nichte spazieren gegangen, aber damit war es nun auch nichts mehr, des schlechten Wetters wegen. Der ewig blaue kalifornische Himmel war sehr fern.

»Dann passt es ja. Kommen Sie doch bitte baldmöglichst in unser Büro zur weiteren Besprechung.«

Der Seniorchef, Markus’ Vater, war bei dieser Besprechung dabei. Er hatte die junge Frau sogar wiedererkannt, auch wenn sie damals noch Berger hieß. Man wurde sich bald einig.

»Eine patente Person«, befand Manfred Springer. »Ich glaube, sie wird ihre Sache gut machen.«

Noch am gleichen Tag, gegen Abend, fuhr Monika zu den Meinrads. Es waren jetzt ihre einzigen Vertrauten, denn ihre früheren Bekannten waren in alle Winde zerstreut.

»Sie strahlen ja so«, sagte Bruno Meinrad, der ihr die Tür öffnete. »Haben Sie das große Los gewonnen?«

»Ich habe für drei Wochen Arbeit gefunden, das ist so was Ähnliches für mich«, lachte Monika. Der Hausherr nickte beifällig. Er hatte seinen inneren Vorbehalt gegen Frau Collins aufgegeben. Sie war inzwischen ein öfter und nicht ungern gesehener Gast in seinem Haus. Sie ging hinauf zu Cornelia und erzählte ihr, was sich heute begeben hatte.

»Das habe ich wohl auch deiner Vermittlung zu verdanken, wie du dich schon in der Wohnungsangelegenheit für mich eingesetzt hast«, sagte sie mit einem warmen Blick.

»Nein«, versetzte Cornelia langsam, »darüber habe ich mit Markus gar nicht gesprochen. Er hat sich ganz von sich aus an dich gewandt.«

Heike, die sich nebenan in ihrem Zimmer beschäftigte, kam herbei. »Wenn du schon da bist, dann kannst du ja heute Abend noch bei mir bleiben, Tante Monika«, sagte sie. »Die Mama muss nämlich bald in die Klinik, sie hat Nachtdienst. Wir fangen das Spiel von neulich an, das du mir geschenkt hast. Und wenn es zu lange dauert, dann machen wir es einfach fertig, wenn du wiederkommst.«

»So bald komme ich nicht wieder, Schätzchen. Ich habe in den nächsten Tagen viel zu tun, ich muss Reisevorbereitungen treffen.«

»Gehst du denn nun doch wieder nach Amerika?«, fragte Heike mit großen Augen. Das wäre ihr nun gar nicht so recht, denn die Tante war doch ganz lieb.

»Würdest du mich denn vermissen?«, fragte Monika neckend zurück.

»Das glaube ich aber wohl«, antwortete Heike ernsthaft. Monika legte ihren Arm um die Schultern ihrer kleinen Nichte. »Gut, dann bleibe ich noch bei dir, wenn es deiner Mama recht ist, und ich werde dir erklären, warum ich verreise und wohin meine Reise geht!«

*

In der darauffolgenden Woche hatte Cornelia Tagesdienst. An diesem Mittwoch konnte sie die Klinik pünktlich um neunzehn Uhr verlassen. Es war ein ruhiger Tag ohne besondere Vorkommnisse gewesen. Sie schritt über den Parkplatz zu ihrem Wagen, als ein hochgewachsener blonder Mann aus seinem in der Nähe parkenden Auto ausstieg und auf sie zukam. Cornelia verhielt jäh den Schritt. Sie glaubte, ihr Herzschlag müsse aussetzen.

»Guten Abend, Cornelia«, sagte Dr. Dieter Markgraf. Seine Miene war ernst. »Ich weiß, du willst mich nicht sehen. Aber ich bitte dich, schick mich nicht gleich wieder fort.«

»Guten Abend, Dieter.« Zögernd reichte sie ihm die Hand. »Hattest du hier etwas zu tun?« Irgendjemand aus der Chirurgie hatte sie sagen hören, dass es sich bei einem zu operierenden Notfall um einen Patienten von Dr. Markgraf handele.

»Nein. Ich hatte mich nach deinem Dienstplan erkundigt, und ich habe hier auf dich gewartet. Anders bist du ja für mich nicht mehr zu erreichen. Können wir denn wirklich nicht wie zwei vernünftige erwachsene Menschen miteinander umgehen?«

Um ihre Lippen zuckte es, sie wandte den Kopf beiseite, um seinem durchdringenden Blick zu entgehen.

»Ich würde dir so gerne mal meine Praxis zeigen«, sprach er bittend weiter, als sie schwieg. »Komm doch mit. Es ist eine große Sache für mich, weißt du, dass ich mir diesen Wunsch erfüllen konnte.«

Cornelia gab sich innerlich einen Ruck. »Meinetwegen«, sagte sie. »Aber länger als eine halbe Stunde habe ich nicht Zeit. Ich werde zu Hause erwartet.« Sie trat auf ihren Wagen zu. »Fahr du voraus.«

Es war eine gut eingerichtete, moderne Praxis, in der sie sich dann doch mit Interesse umsah und ihre verwirrenden Gefühle momentan vergaß. Lebhaft unterhielten sie sich über dieses und jenes, Kollegen auf einmal wieder, er mit dem größeren Wissen und Erfahrung. Über ihrem Fachgespräch war eine Stunde wie im Flug vergangen.

»O Gott«, entfuhr es Cornelia, als sie einen Blick auf die Uhr warf, »schon so spät!«

»Es ist noch nicht spät«, sagte Dieter Markgraf mit einem bezwingenden Lächeln. »Aber du wirst Hunger haben. Darf ich dich jetzt noch zum Essen einladen?«

Ihre Blicke begegneten sich, tauchten ineinander. Mein Vater hat recht, dachte Cornelia, es ist immer noch nicht vorbei. Aus den markanten Zügen des Mannes wich das Lächeln.

»Ich hätte dir so vieles zu sagen, Cornelia«, sprach er verhalten.

Sie neigte den Kopf, wie in einer stummen Geste der Ergebung. Dann rief sie kurz zu Hause an, dass man nicht auf sie warten möge.

Sie fuhren zu einem Hotelrestaurant, wo sie eine ruhige Ecke für sich fanden. Während sie ein leichtes Gericht zu sich nahmen, redeten sie nur wenig. Die Spannung, die zwischen ihnen schwang, war nicht zu verkennen. Ja, es war hübsch gewesen an der Ostsee, antwortete Cornelia leichthin auf Dieters Frage, das Wetter hatte ja auch mitgespielt. Er hatte in diesem Jahr keinen Urlaub gemacht, der Umzug, diese ganze Umstellung mit dem Neuanfang hatte ihn völlig in Anspruch genommen. Sie stimmte ihm zu. Das war verständlich.

»Was hast du mir zu sagen«, beendete Cornelia, nachdem der Ober abgeräumt hatte, dieses beiläufige Geplauder. »Wir haben uns damals nicht gerade in Freundschaft getrennt, hast du das vergessen.«

»Nichts habe ich vergessen, Cornelia.« Wieder sah er sie mit großem Ernst an. »Auch nicht, dass wir uns sehr geliebt haben …«

»Wir haben uns geliebt, als wir noch nicht zusammenlebten«, entgegnete Cornelia. »Dem Alltag hielt unsere Liebe nicht stand.«

»Es lag an mir. Später habe ich das eingesehen und bereut. Nur, das sollst du wissen, Cornelia – die Affäre, derer du mich zuletzt beschuldigtest, gab es nicht.«

Cornelia sagte nichts darauf. Sie hob nur mit einem Lächeln die Schultern und ließ sie wieder sinken.

»Mag sein, dass das jetzt uninteressant für dich ist«, sprach Dieter weiter, »aber es trug ja doch zu dem abrupten Abbruch unserer Verbindung bei.«

»Der hatte sich schon lange vorher angebahnt«, erinnerte sie ihn. »Wir haben eben doch nicht zusammengepasst.«

»Oh, Cornelia«, ein schmerzlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht, »sag das nicht. Man kann aus seinen Fehlern lernen. Ich habe daraus gelernt. Ich bin um ein paar Jahre älter und klüger geworden.«

»Drei Jahre und acht Monate«, warf sie ein. »Das ist so lange nicht.«

»Für mich zählten sie doppelt. Ja, für mich war es eine lange Zeit, in der ich mehr und mehr erkannte, dass du mir fehltest.«

Cornelia sah vor sich nieder. Sie verspürte den raschen Schlag ihres Herzens. Kamen seine Worte nicht fast einer Liebeserklärung gleich? »Worauf willst du hinaus, Dieter?«, fragte sie ihn mit enger Stimme, ohne die Lider zu heben.

Er zögerte mit der Antwort. Dann sagte er, mit einer Kopfbewegung und einem Heben seiner Augenbrauen: »Ich versuche dir zu erklären, dass ich mich verändert habe. Ich möchte die Junggesellenallüren, die ich bisher an den Tag legte und unter denen auch du gelitten hast, endgültig ablegen. Ich bin jetzt siebenunddreißig, und ob du es glaubst oder nicht, ich hätte gern eine richtige Familie.«

»Mit Stempel und Siegel und Unterschrift? Das ist wirklich ganz neu«, bemerkte Cornelia ungläubig und fast mit leichtem Spott.

»Es ist mein Ernst«, versicherte Dieter. Grübelnd sah er sie an. »Ich möchte hinter deine Stirn sehen, Cornelia. Vielleicht interessiert dich das alles nicht, was ich dir jetzt sage und bekenne. Du bist abweisend und verschlossen, wolltest mich nicht mehr sehen. Anscheinend hast du mir nicht verziehen. Aber erzählen könntest du mir doch ein bisschen von dir. Du lebst im Haus deines Vaters, wie ich von früheren gemeinsamen Bekannten hörte …«

»Ja«, sagte Cornelia, und weiter nichts.

»Und du hast natürlich einen Freund …«

»Ja.« Flüchtig erwiderte sie seinen Blick. »Du wirst auch nicht allein gewesen sein in diesen Jahren«, fügte sie spröde hinzu.

»Nichts Ernsthaftes«, wehrte Dieter ab. »Dafür habe ich mich viel zu sehr in die Arbeit gekniet.« Er machte eine kurze Pause. »Bei dir ist es ernst? Du liebst ihn? – Hüll dich doch nicht so in Schweigen, Cornelia. Für mich ist das wichtig. Auch wenn du denkst, ich hätte kein Anrecht mehr darauf, über dein Leben Bescheid zu wissen.«

Cornelia legte ihre Hände vor sich auf den Tisch. »Ich bin mit dem Wort ›Liebe‹ vorsichtig geworden, Dieter«, sprach sie langsam. »Aber– ja, wir haben uns immer gut verstanden …«

»Du sprichst in der Vergangenheitsform?«, fiel Dieter rasch ein, mit gespannter Miene.

»Tat ich das? Nein, so war es nicht gemeint. Er ist nur eifersüchtig auf mein Kind, das mir einen Teil der Zeit in Anspruch nimmt, die ich sonst für ihn hätte.«

Dieter legte mit einer ruckartigen Bewegung den Kopf zurück, als schlüge ihm etwas ins Gesicht.

»Dein Kind –?«, stieß er hervor. Einen wahnsinnigen Augenblick lang war er geneigt zu glauben, dass Cornelia noch ein Kind von ihm empfangen hatte. Seine Stirn hatte sich dunkel gefärbt, fassungslos sah er sie an, die wie selbstverständlich diese Worte ausgesprochen hatte.

Sie begriff plötzlich, was in ihm vorging. »Heike ist sieben Jahre alt«, sagte sie. »Sie ist das Töchterchen einer Patientin, die in unserer Klinik starb. Ich habe es an Kindes statt angenommen.«

Dieters Haltung lockerte sich. »So ist das. Eine erstaunliche Geschichte. Ist das denn nicht eine große Belastung für dich?« Cornelia schüttelte den Kopf.

»Nein.« Und die Geschichte ist noch viel erstaunlicher, als du glauben kannst, fügte sie bei sich hinzu.

»Aber dein Partner ist damit nicht einverstanden«, stellte Dieter fest. »Eigentlich verständlich. Es ist ein fremdes Kind für ihn. Welcher Mann findet sich so ohne Weiteres damit ab?«

»Du würdest es auch nicht, oder?«, fragte Cornelia mit einem eigenartig fordernden Blick.

Dieter dachte nach. Nach einer kurzen Pause gab er sinnend zurück: »Wenn mein Gefühl für die Frau stark genug ist, wohl doch. Dann würde ich das Kind mit einschließen, und es bliebe mir nicht fremd. Aber es ist wohl müßig, darüber Überlegungen anzustellen, solange ein anderer Mann bei dir eine Rolle spielt, nicht wahr, Cornelia?«

Cornelia senkte die Lider und schwieg. Sie spürte Dieters Blick auf sich ruhen. Es war wie eine Berührung, als wollte er sie umfangen und zu sich heranziehen.

Schöpfte er Hoffnung aus ihrem Schweigen? Fast schien es so – und sie wollte es! Es hatte keinen Sinn mehr, sich zu wehren, auch wenn es noch unklar war, wohin es führen würde. Konnte ein Mensch sich wirklich ändern, in seinem Charakter, seinen Gewohnheiten, oder glaubte nur er selber daran?

»Kann ich dich trotzdem von Zeit zu Zeit sehen, Cornelia?«, fragte er nun auch drängend, nachdem wohl ein, zwei Minuten im Schweigen vergangen waren.

»Ja!« Sie sah ihn voll dabei an.

»Ich werde dich gelegentlich mal anrufen.«

»Ist das ein Versprechen?«, fragte er und berührte leicht ihre Hand.

»Das ist es, Dieter.« Dabei nickte sie ihm mit einem halben, ernsten Lächeln zu. Kurz darauf brachen sie auf.

Ihr Vater saß noch in seinem Zimmer unter der Lampe, als sie nach Hause kam. Sie ging zu ihm.

»Du Ärmste«, bedauerte er sie, »bist du so lange in der Klinik aufgehalten worden?«

»Nein. Im Gegenteil, da war es heute ziemlich ruhig. Ich war mit Dieter Markgraf zusammen, Papa. Er stand unten auf dem Parkplatz, als ich vom Dienst kam, und wartete auf mich.«

»Ach«, machte Bruno Meinrad nur und rückte an der vor ihm liegenden neuesten Fachzeitschrift für Architektur.

»Zuerst zeigte er mir seine Praxis, dann waren wir noch in einem Restaurant. Dieter behauptet, ich hätte ihm sehr gefehlt. Er bereut seine Fehler, die er damals gemacht hat.« Sie sprach etwas hastig, ihre Stimme war um eine Nuance heller als sonst.

»Du glaubst ihm das, weil du es glauben möchtest«, sagte ihr Vater.

»Ich weiß nicht – er war so ernst dabei, und es klang ehrlich«, versicherte Cornelia und zog die Unterlippe zwischen die Zähne.

Bruno Meinrads Ausdruck blieb skeptisch. »Dann kann ja alles wieder von vorn beginnen«, äußerte er, wie zu sich selbst. »Jetzt ist da ja auch noch das Kind. Kannst du dir Dieter Markgraf als Familienvater vorstellen?«, fragte er, aufblickend, spöttisch. Aber dies entsprang nur seiner Besorgnis.

»Vielleicht doch. Dieter wünscht es sich sogar, eine Familie zu haben. Er ist reifer geworden, das ist sicher.«

»Ich hoffe es für dich, denn du bist doch nie ganz von ihm losgekommen.« Diesmal widersprach Cornelia ihm nicht. Ihr Vater lenkte ab: »Vielleicht siehst du jetzt mal nach Heike. Sie war so unruhig heute Abend, sie wollte auf dich warten. Frau Schwendtner hatte Mühe, sie zu Bett zu bringen.«

Doch als Cornelia auf leisen Sohlen in ihr Zimmer trat, schlief Heike fest. Eine Weile verharrte sie still an ihrem Bett. Wie schön wäre es, dachte sie, wenn du deinen Vater bekämst! Es lag nun in ihrer Hand. Aber sie sollte glückliche, in Harmonie lebende Eltern haben. Würde sie glücklich sein mit Dieter? Sie hatte einmal so fest daran geglaubt, und es war anders gekommen.

Gib mir noch Zeit, Heike, damit ich mich und ihn prüfen kann, bat sie stumm, bevor sie sich abwandte, um sich endlich auch zur Ruhe zu begeben.

*

Noch ganz erfüllt von allen Erlebnissen, verabschiedeten sich die Teilnehmer von Markus Springer, der die Russland-Reise in aller Perfektion durchgeführt hatte, und von seiner charmanten Begleiterin Monika Collins. Beide hatten mit Schwung und guter Laune für die rechte Stimmung unter den Gästen gesorgt und waren stets bemüht gewesen, auch auf spezielle Wünsche einzugehen.

»Und Sie kommen bestimmt, Monika«, vergewisserte sich Charlotte Höllerich, während sie die Hand der jungen Frau drückte. »Wir werden Ihnen eine Einladung zu unserem Hauskonzert am Ende des Monats schicken.« Ihr Gatte, silberhaarig, mit klugen Augen hinter der randlosen Brille, nickte zustimmend dazu.

»Vielen Dank, ich komme sehr gern«, sagte Monika höflich zu der zierlichen älteren Dame.

»Da werden Sie zwei Stunden klassische Musik über sich ergehen lassen müssen«, meinte Markus etwas später, als sie auf dem Weg ins Büro waren. »Die Höllerichs fördern gern junge Künstler, sie haben die Mittel dafür. Ihr Unternehmen für medizinische Geräte ist seit Generationen in der Familie.«

»Ich werd’s ertragen«, sagte Monika heiter, die allerdings leichte Musik bevorzugte. »Frau Höllerich möchte sich eben erkenntlich zeigen, weil ich ihr in Moskau das Geschenk für ihre Tochter besorgt habe, als sie unpässlich war und den Tag im Hotel verbringen musste.«

Es war noch einiges abzuwickeln, bevor der Schlusspunkt gesetzt werden konnte. Der Senior, dem vom Verlauf der Reise ausführlich berichtet wurde, zeigte sich sehr zufrieden. Dass er sich auf seinen Sohn verlassen konnte, wusste er. Aber ein Lob hatte auch Frau Collins verdient, die sozusagen von heute auf morgen eingesprungen war und ihre Aufgabe souverän gemeistert hatte.

»Mit Gerti Kamenz wird in Zukunft nicht mehr als vollwertige Kraft zu rechnen sein«, erzählte er den Heimgekehrten. »Augenblicklich ist sie krankgeschrieben. Ihre Schwangerschaft verläuft nicht problemlos, sie muss viel liegen.«

»Das ist sehr bedauerlich«, sagte Markus rasch. »Aber Frau Collins ist ja frei. Sie wird uns sicher aushelfen.« Er wechselte einen raschen Blick mit Monika, die vor Freude leise errötet war.

Manfred Springer, ein Mann rascher Entschlüsse, gab sein Einverständnis dazu. Es war die einfachste Lösung. Und sein Sohn, mit dem sie hauptsächlich zu tun haben würde, schien ja recht gut mit ihr auszukommen. Er legte nämlich wert auf reibungslose Zusammenarbeit in seinem Büro.

»Ich freue mich«, bekannte Markus, als sie nach Durchsicht der Unterlagen für heute Schluss machten, denn eine kurze Erholungspause hatten sie nach der langen Reise verdient. »Wir sehen uns also morgen wieder.« Dabei blickte er ihr in die Augen.

»Ich freue mich auch, dass ich nicht unbeschäftigt bleibe«, sagte Monika. Aber das war es nicht allein. Sie empfand große Sympathie für Markus Springer, sie waren sich in vielem gleich. Das hatte sich in allen diesen vergangenen Tagen erwiesen, da sie ständig zusammen waren und Hand in Hand arbeiteten.

Ja, eine sehr gute Kameradschaft war es gewesen – und manchmal schon eine Spur mehr … Da war etwas aufgeblitzt zwischen ihnen, für eine Sekunde nur, in einem Lächeln, einem kurzen Blick. Aber dieses ›Mehr‹ verbot sich von selbst, weil Markus Springer mit Cornelia Meinrad liiert war. Sie, Monika, würde jedes andere sich regende Gefühl zu unterdrücken wissen und für Markus immer nur nichts weiter als eine nette Kollegin sein.

*

Die Gesellschaft, die sich zum Hauskonzert in der Villa Höllerich versammelt hatte, umfasste etwa zwanzig Personen. Als Monika ­eintrat, im schmalgeschnittenen schwarzen Kleid, das einen aparten Kontrast zu ihrem rötlich-blonden Haar ergab, standen die geladenen Gäste im Vorzimmer noch plaudernd herum. Die Flügeltüren zum angrenzenden Musiksalon waren geöffnet, dort stand das Klavier, um das sich einige Stuhlreihen gruppierten.

Sie wurde von den Gastgebern begrüßt und einigen der Anwesenden vorgestellt. Hier war sie selbstverständlich Frau Collins, nicht Monika, wie sie sich der Einfachheit halber als Reisebegleiterin hatte nennen lassen. Die meisten kannten sich untereinander. Nur ein hochgewachsener blonder Mann namens Dr. Markgraf schien wie sie neu in diesem Kreis zu sein.

»Ja, ich bin auch zum ersten Mal hier«, bestätigte er, als sich ein leichtes Gespräch zwischen ihm und Monika ergab. »Ich habe einige Apparate von der Firma Höllerich für meine Praxis bezogen, dadurch ergab sich eine Bekanntschaft mit dem Hausherrn.«

»Sie sind Arzt?«, fragte Monika.

»Ja.« Er lächelte auf sie hinab. Er war, wie bekannt, nicht unempfänglich für Frauenschönheit. »Wenn Sie einmal einen brauchen sollten, empfehle ich mich Ihnen. Aber ich wünsche es Ihnen natürlich nicht!«

In Monika hatte eine Glocke angeschlagen, wie von fern. Ihr war, als hätte sie den Namen im Zusammenhang mit seinem Beruf schon einmal gehört. Sie suchte in ihrem Gedächtnis, aber sie kam nicht darauf. Es musste vor langer Zeit gewesen sein.

Man versammelte sich im Musikzimmer und lauschte der Darbietung zweier junger Künstler, Studenten der Musikhochschule im letzten Semester. Sie spielten eine Sonate für Klavier und Geige. Monika hörte nur mit halbem Ohr hin. Verstohlen schweifte ihr Blick zu diesem Dr. Markgraf, der unweit von ihr saß. Nein, sie hatte ihn bestimmt noch nie gesehen, und doch – und doch – irgendetwas war da!

In der Pause, während derer Getränke herumgereicht wurden, fanden sie sich wieder. Doch sie kamen kaum dazu, ein paar Sätze zu wechseln, denn Herr Dr. Dieter Markgraf wurde am Telefon verlangt.

Schlagartig kam für Monika die Erleuchtung!

Er heißt Dieter, Dieter Markgraf – blond und groß ist er, und er hat blaue Augen, von Beruf ist er Arzt …

Mein Gott, wie lange war es her, dass ihre Schwester ihr das anvertraut hatte, und doch glaubte sie plötzlich wieder Renates Stimme zu hören, verliebt und glücklich. Eine kurze, heftige Liebesgeschichte war es gewesen, Liebe zumindest von Renate aus, bei dem Mann konnte man wohl nicht davon reden, sonst hätte er sie nicht fallen gelassen.

Das Kind hatte sie trotzdem haben wollen. Nur den Namen wollte sie nicht mehr erwähnt wissen. Nie mehr.

Monika brauchte ihre ganze Beherrschung, um an der Unterhaltung teilzunehmen, in die Frau Höllerich sie mit einigen anderen Gästen einbezog. Forschend sah die Dame des Hauses Dr. Markgraf entgegen, als er sich mit ruhiger Miene zu ihnen gesellte.

»Ich befürchtete schon, Sie würden abgerufen«, äußerte sie. »Ein Arzt ist doch immer im Dienst.«

»Nein, nein, ich hatte nur hinterlassen, wo ich zu erreichen bin, für den Fall, dass sich bei einem Patienten sein Zustand verschlechterte. Aber eben teilte mir seine Frau mit, dass eine wesentliche Besserung eingetreten ist. Sie ist so froh, dass sie damit nicht zurückhalten konnte. Nun, und ich bin auch beruhigt.«

Du wirst nicht mehr lange ruhig bleiben, dachte Monika und sah mit einem Blick voller Erbitterung auf den Mann. Du sollst erfahren, welche Folgen es hatte, was für dich nur ein Abenteuer gewesen ist. Heute noch, oder morgen, die Gelegenheit wird sich finden.

Die Gelegenheit war da, als nach beendetem Konzert, das mit Lobes- und Dankesworten bedacht wurde, die Frage des Heimkommens sich stellte. Die Villa lag außerhalb, war mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur umständlich zu erreichen und schon gar am späteren Abend. Monika hatte erwähnt, dass sie ohne Auto war und sich deshalb ein Taxi bestellen wollte.

»Aber ich kann Sie doch mitnehmen«, sagte Dr. Markgraf. »Es macht mir wirklich nichts aus, einen Umweg zu fahren. Und Sie brauchen ebenfalls nicht zu Fuß heimzugehen, Herr Professor, auch wenn Sie meinen, dass ein nächtlicher Spaziergang Ihrer Gesundheit nur förderlich ist.«

Der etwas zerstreut wirkende alte Herr, Musikkritiker an einer Tageszeitung, nahm, wie Monika, das Angebot an. Er wohnte im gleichen Stadtteil und konnte schon nach kurzer Fahrt abgesetzt werden.

Entschlossen begann Monika, als sie nun allein mit Dieter Markgraf war: »Sagt Ihnen der Name Renate Berger etwas?«

»Nein«, antwortete er, etwas erstaunt über die unerwartete Frage. »Wissen Sie, mir kommen so viele Namen unter, dass man sich an einzelne nicht mehr erinnert.«

»Sie haben sie aber einmal sehr gut gekannt«, betonte Monika. »Denken Sie nur zurück, acht Jahre etwa und wohl noch etwas mehr.«

»Da verlangen Sie allerhand von mir«, versuchte Dieter die Sache ins Scherzhafte abzubiegen. »Ist es denn so wichtig?«

»Ja! Sie werden sich wundern, wie wichtig es für Sie ist, Herr Dr. Markgraf.«

Er wunderte sich allerdings, doch sein Verwundern galt ihrem aggressiven Ton. »Renate Berger, sagten Sie«, sprach er überlegend.

Und, nach einer kurzen Pause: »Richtig, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich hatte einmal eine kleine Freundin dieses Namens. Aber wir haben uns bald wieder aus den Augen verloren.«

»Weil Renate für Sie eben nur eine ›kleine Freundin‹ war, die man nebenbei nahm, nicht wahr«, hielt sie ihm hitzig entgegen. »Der brauchte man nicht treu zu sein …«

»Ich hatte ihr nie etwas versprochen«, gab Dieter kühl zurück. Seine Miene war abweisend geworden. Seine Hände lagen lose auf dem Steuerrad, während er eine schnurgerade Allee entlangfuhr. Eine merkwürdige Person war das neben ihm. Man kannte sich kaum, und sie redete geradezu dramatisch daher. Grub längst vergessene Geschichten aus. Was sollte daran für ihn noch wichtig sein. »Was wollen Sie eigentlich von mir, Frau Collins? Sagen Sie mir lieber, wie ich fahren soll, denn ich kenne die Straße nicht, die Sie mir genannt haben.«

»Vorne an der Kreuzung nach links«, erklärte sie kurz. Dieter befolgte es, und sie gab ihm weitere Anweisungen. Dann hielten sie vor dem Haus, es lag in einer stillen Nebenstraße.

»Bitte sehr«, sagte er, sich ihr zuwendend. Monika löste den Gurt, aber sie machte keine Anstalten, auszusteigen. Im Gegenteil, sie heftete einen brennenden Blick auf ihn, sekundenlang. Der Mann empfand ein leichtes Unbehagen dabei.

»Was ich von Ihnen will«, kam sie endlich auf seine Frage zurück. »Renate war meine Schwester. Sie starb in diesem Frühjahr an Krebs und …«

»Das ist sehr traurig.« Er war nun doch betroffen. »Aber Sie werden mir nicht aus ihrem allzu frühen Tod einen Vorwurf machen wollen.«

»Nein. Aber Sie sollen wissen, dass Renate ein Kind von Ihnen hatte.« Monikas Stimme klang klar und kalt. »Für Sie war es nur eine Affäre, Herr Dr. Markgraf. Aber für Renate waren Sie der einzige Mann, den sie geliebt hat. Die Begegnung mit Ihnen hatte ihr weiteres Leben bestimmt – dieses kurze Leben.«

Sie ließ ihm Zeit, mit der bestürzenden Eröffnung fertig zu werden.

»Warum hat Ihre Schwester mir nie davon Mitteilung gemacht?«, fragte er.

»Sie war zu stolz«, antwortete Monika. »Sie hat auch den Namen des Vaters nicht angegeben. Mit keinem Menschen darüber gesprochen. Dieses Thema war für sie tabu. Nur mir gegenüber hatte sie ihn einmal erwähnt, ganz früher, im Anfang der Beziehung, als sie sich noch im siebten Himmel glaubte. Heute Abend fiel er mir wieder ein. Ich wusste plötzlich, dass Sie es sind.«

»Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte Dieter Markgraf, wiederum nach einem längeren Schweigen.

»Ein Mädchen. Es heißt Heike.«

»Heike«, wiederholte Dieter langsam. Wo hatte er erst kürzlich von einem Kind Heike gehört. Richtig, von Cornelia. »Und wo ist Heike jetzt?« Fragend wandte er sich seiner Begleiterin zu.

»Sie hat ein warmes Plätzchen bei guten Menschen gefunden. Außer mir gab es keine Verwandten, die sich ihrer hätten annehmen können.«

»Sie konnten es nicht? Entschuldigung, ich kenne natürlich Ihre Verhältnisse nicht. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, ist das Kind bei fremden Leuten, und es ist doch das Kind Ihrer Schwester.«

»Das ist wiederum eine ganze andere Geschichte. Ich habe bis vor Kurzem in Amerika gelebt, baue mir hier erst wieder eine Existenz auf. Renate hatte Heike der Ärztin anvertraut, die sie bis zu ihrer letzten Stunde in der Klinik begleitet hat.«

Dieter zuckte merklich zusammen. Eine ungeheuerliche Ahnung überkam ihn. Cornelia hatte doch gesagt, dass die Mutter ihres angenommenen Kindes ihre Patientin gewesen war.

Monika öffnete indessen ihre Handtasche, darin sich ein Merkbüchlein befand. »Ich werde Ihnen die Adresse aufschreiben«, sagte sie und zückte den kleinen Stift.

»Ist es Frau Dr. Cornelia Meinrad«, kam es rau über die Lippen des Mannes. Verblüfft ließ Monika die Hand sinken.

»Ja, kennen Sie sie?« Als Dieter Markgraf ihr darauf die Antwort schuldig blieb und nur geistesabwesend, mit einem rätselhaften Ausdruck vor sich auf die Straße sah, klappte sie ihre Tasche wieder zu. »Dann brauche ich Ihnen ja nicht die Adresse zu geben. Danke fürs heimbringen. Gute Nacht.« Sie stieg aus.

»Gute Nacht«, sagte Dieter tonlos, und er startete den Motor.

*

An diesem Sonntagvormittag kehrte Bruno Meinrad welke Blätter in seinem Vorgarten zusammen, als der Wagen vor seinem Haus hielt, und Dieter Markgraf ausstieg. Mit einiger Zurückhaltung begrüßte der Hausherr den Mann, den er vor Jahren gewissermaßen als seinen Schwiegersohn betrachten musste, wenn auch die Verbindung nicht legalisiert gewesen war. Zum Glück, wie er sich später sagte, denn so war seiner Tochter die Pein einer Scheidung erspart geblieben.

»Nein, Cornelia ist gerade nicht da«, beantwortete er dessen Frage. »Sie ist mit Heike spazieren gegangen. Wenn du warten willst? Sie ist schon seit fast einer Stunde fort und wird wohl bald wieder da sein.«

»Hast du eine Ahnung, welchen Weg sie genommen haben?«, wollte Dieter wissen.

»Wohl den üblichen, am Fluss entlang«, meinte Bruno Meinrad und griff wieder zum Besen.

»Dann werde ich ihnen entgegengehen.«

Mit gemischten Gefühlen sah der Ältere ihm nach. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Es war nun nicht mehr aufzuhalten.

In der blassen Novembersonne schritt Dieter dahin. Er hatte nur wenig Schlaf gefunden in der letzten Nacht. Schon bald entdeckte Dieter die schlanke Frauengestalt und das Kind. Als er auf sie zukam, errötete Cornelia. Hatte er es doch nicht erwarten können, sie wiederzusehen? Sie wechselten ein paar Worte, ja, der Vater hätte ihm gesagt, wo er sie zu finden wüsste. Während er noch Cornelias Hand in der seinen hielt, heftete sich sein Blick auf das kleine Mädchen, das mit kindlicher Neugier zu ihm aufsah. Es war ihm wie ein Schlag aufs Herz! Zwischen einem weichen, lieblichen Kindergesicht, und dem eines Mannes, dessen Züge das Leben geprägt und gezeichnet hatte, gab es nur wenig Ähnlichkeit. Aber auf der Kommode seiner Mutter stand ein Bild von ihm, da war er etwa fünf Jahre, und er hätte ein Zwillingsbruder dieses kleinen Mädchens sein können, auch wenn seine Augen blau waren und nicht braun.

»Und das ist Heike«, sagte Cornelia mit enger Stimme.

»Guten Tag, mein Kind«, murmelte Dieter bewegt und legte seine Hand auf Heikes Kopf, strich leicht darüber. Sie hatte ein paar große, leuchtend bunte Blätter aufgesammelt und zeigte sie ihm.

»Die stell ich nachher bei uns in eine Vase«, verkündete sie. Dieter nickte nur stumm dazu.

»Dort liegen noch einige schöne« Cornelia wies auf einen Seitenweg, »hol sie dir noch dazu.« Heike nickte freudig und sprang davon.

»Es ist wirklich mein Kind«, sagte Dieter. »Ich weiß es seit gestern Abend, dass du mein Kind hast. Ich werde dir alles erklären.«

Fassungslos sah Cornelia ihn an.

»Wieso – woher weißt du es …«‚ stammelte sie.

»Von Heikes Tante, Frau Collins!«

»Monika –?«, entfuhr es Cornelia. »Aber mir gegenüber hat sie nie ein Wort davon erwähnt, dass sie den Vater kennt, und ich habe ihr auch nichts gesagt!« Ihre Worte überstürzten sich fast.

Dieters Blick wurde starr. »Hast du es denn gewusst?«, stieß er hervor.

Cornelia nickte. »Ja, Dieter, ich habe es gewusst.«

Ihre Blicke hingen ineinander, beide waren sie tief erregt und atmeten rasch. Da rief Heike, die herbeigelaufen kam, »guck mal, Mama, jetzt ist es ein richtiger Strauß!«

»Sehr schön, Schätzchen«, lobte Cornelia. »Dann wollen wir jetzt nach Hause gehen. Komm«, wandte sie sich an Dieter, »wir werden über alles reden.«

Heike musste dem Opi ihren Strauß zeigen, und der sagte: »Bleib jetzt bei mir, und leiste mir Gesellschaft.«

Cornelia hatte kaum die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich geschlossen, als Dieter ungestüm ihre Hände ergriff und sie zu sich zog. »Cornelia! Warum hast du es mir nicht gleich gesagt, wie konntest du es für dich behalten?«

»Du hättest es schon noch erfahren, Dieter. Aber zunächst fühlte ich mich noch an ein Versprechen gebunden, das ich Heikes Mutter gab. Komm, setzen wir uns …«

Widerstrebend ließ Dieter sie los und nahm ihr gegenüber Platz. »Ich war deshalb auch innerlich zerrissen, das kannst du mir glauben«, fuhr Cornelia fort. »Darf man ein Kind von seinem Vater fernhalten, fragte ich mich, der so nahe ist, in derselben Stadt wohnt?«

»Was war das denn für ein Versprechen, das du ihrer Mutter ge­geben hast?«, fragte Dieter verwirrt.

Cornelia erzählte es ihm. Mit gesenktem Kopf hörte der Mann ihr zu. »Wie muss sie mich gehasst haben«, sprach er vor sich hin.

Cornelia unterbrach ihn: »Das glaube ich nicht, dass Renate Berger eines solchen Gefühls überhaupt fähig war. Sie hat gelitten, als du sie verließest, aber sie nahm es hin. Und das Kind war dann ihr Lebensinhalt geworden, ihr ganzes und einziges Glück.«

»Als ich sie verließ …«, wiederholte Dieter gedehnt. »Ganz so war es nicht. Im Grunde war es Renate, die fortging. Sie hatte einen Minderwertigkeitskomplex, glaubte mir nicht genügen zu können. ›Es gibt doch ganz andere Frauen für dich, was kann ich dir denn schon sein‹, so etwas sagte sie des Öfteren, und das war schon frustrierend. Ein halbes Jahr später lernte ich dich dann kennen …«

Für eine kurze Weile schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach. Bis Dieter mit einem ernsten Blick sagte: »Ich liebe dich immer noch, Cornelia. Du wirst es gespürt haben, auch wenn ich es noch nicht mit den gleichen Worten zu äußern wagte. Ich möchte erneut um deine Liebe werben, dich wieder für mich gewinnen. Wenn mir das gelänge, könnten wir heiraten und eine glückliche Familie sein.«

Seine Stimme klang warm und bewegt. Er wartete, versuchte den Ausdruck in Cornelias Gesicht zu deuten.

»Ich weiß wohl, dass da ein anderer ist«, sprach er weiter. »Aber er hat nichts mit Heike zu schaffen, er lehnt sie sogar ab, wenn ich dich richtig verstanden habe. Ich bin ihr Vater, bedenke das. Gib mir eine Chance, Cornelia!«

Sie nickte. »Ich habe dich ja auch nicht vergessen können, Dieter«, bekannte sie endlich, »auch wenn ich es wollte und mir einredete. Zuerst, ja, da überwog die Enttäuschung. Aber es blieb doch auch noch etwas anderes zurück. Mein Vater – du weißt, wie sehr ich mit ihm verbunden bin – hat es immer gewusst.« Sie lächelte ein wenig. »Weißt du, wie er es einmal ausgedrückt hat? Da glüht noch etwas unter der Asche. Du kennst ihn, es ist sonst nicht seine Art, solche Worte zu finden. Aber unrecht hatte er nicht.«

Schon bei ihren ersten Worten, mit denen sie ihm ihre wahren Gefühle bekannte, war die Spannung aus Dieters Zügen gewichen, hell, immer heller waren sie geworden, und sehr froh. Er stand auf und trat zu ihr, und nun wehrte Cornelia ihm nicht, als er seine Arme nach ihr ausstreckte, sie zu sich emporzog.

»Lass es wieder zur Flamme werden«, knüpfte er an den Ausspruch ihres Vaters an. Cornelias Lächeln wurde tief, sie ließ sich gegen ihn sinken. Als sie sich küssten, gab es nichts anderes mehr für sie als das Bewusstsein, dass sie sich wiedergefunden hatten und nicht mehr loslassen wollten.

Heike war ihrem Opi entschlüpft, sie ›müsste mal‹, hatte sie gesagt. Dann war sie hinaufgehuscht, neugierig, was ihre Mama so lang da oben tat. War der Mann noch bei ihr, der sie vorhin so komisch angesehen und seine Hand auf ihren Kopf gelegt hatte?

Er war noch bei ihr! Heikes Mund öffnete sich vor Staunen, als sie sah, dass er die Mami umarmt hielt, und sie hatte den Kopf gegen seine breite Schulter gelegt, und ganz still waren sie …

»Mami«, piepste sie beinahe ängstlich, weil sie sich das überhaupt nicht erklären konnte. Als diese jetzt den Kopf hob und sich ihr zuwandte, wunderte sie sich noch mehr. Sie sah so – so anders aus, und wie ihre Augen leuchteten!

»Komm, mein Liebling«, sagte die Mami weich, und der fremde Mann sagte: »Ja, sie soll es wissen.«

Was sollte sie wissen? Zögernd, mit kleinen Schritten, näherte sie sich. In ihrer Verwirrung brachte sie hervor: »Tante Herta sagt, das Mittagessen wär bald fertig.« Aber es hörte wohl keiner darauf.

»Heike, du wirst jetzt etwas ganz Wichtiges erfahren«, begann Cornelia. »Du brauchst nicht so ängstlich zu gucken, es ist etwas sehr Schönes. Dies hier ist nämlich dein Vater.« Die Worte standen groß im Raum. War es ein Wunder, dass das Kind nicht gleich begriff.

»Den kenn ich doch überhaupt nicht«, sagte Heike. Aber sie ließ es zu, dass er sich aus seiner Höhe zu ihr neigte und sie zart bei den Schultern fasste, obwohl sie sich sonst nicht so gern von Fremden anfassen ließ.

»Nein, Heike, wir kennen uns noch nicht.« Dieters Stimme klang tief und bewegt. »Aber wir werden uns kennenlernen, und ich hoffe, dass du mich ein bisschen lieb haben wirst. Ich bin nämlich glücklich, eine kleine Tochter wie dich zu haben.«

»Du – du bist wirklich mein Papi?«, stammelte Heike, mit geweiteten Augen zu ihm aufschauend. »Warum bist du dann erst jetzt gekommen?« Es war eine ganz logische Frage, die Dieter mit der Antwort zögern ließ.

»Er hat bisher nichts von dir gewusst, Heike«, erklärte Cornelia statt seiner gepresst. »Deine – deine erste Mama hatte es ihm verschwiegen, dass es dich gibt.«

»Warum hat sie das getan?«, fragte Heike verständnislos.

Jetzt war es Dieter, der ihr nach einem kurzen Räuspern zurückgab: »Sie wollte dich für sich allein haben, mit keinem Menschen teilen müssen …«

»Ja, so war es wohl«, fiel Cornelia rasch ein.

»Ja, sie hat mich sehr lieb gehabt, und ich sie«, sagte Heike, und ihr Stimmchen bebte. »Sie hat auch mal gesagt, dass es so besser wäre, mit uns beiden allein.« Sie sah Cornelia an. »Wir sind ja auch allein, du und ich, – außer Opi und Tante Monika«, schränkte sie ein. Markus zählte für sie nicht. Der war zwar manchmal mit ihrer zweiten Mami zusammen, aber für sie, Heike, blieb er eine Randerscheinung.

»Das wird aber nicht so bleiben, Liebes.« Cornelia lächelte ihr zu. »Dein Vater und ich, wir werden heiraten. Wir kennen uns nämlich schon von früher her und haben uns jetzt wiedergefunden.« Als Heikes Mündchen wiederum offen stehen blieb, fügte sie hinzu: »Das ist doch eigentlich nur natürlich, nicht, wo er dein Papa ist und ich deine zweite Mami bin. Dann wollen wir doch eine richtige Familie sein.«

»Das ist ein bisschen viel auf einmal«, bemerkte Dieter mitfühlend und streichelte das Kind. »Das muss man erst mal richtig begreifen, das alles, gelt, Heike.«

Jemand schlug unten den Gong an, zum Zeichen, dass das Mittagessen bereit war. »Du bleibst doch, Dieter«, sagte Cornelia rasch. »Ich werde Frau Schwendtner sagen, dass sie noch ein Gedeck auflegt.«

So saßen sie denn zusammen um den Tisch im Speisezimmer. Es bedurfte für Bruno Meinrad keiner Erklärung mehr, um zu wissen, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Die kleine Heike sah den Gast öfter verstohlen prüfend an. Auf alle Fälle war er viel netter als der Markus. Und er war ihr Vater! Ihr Papa. Wie das nur war, plötzlich einen Papa zu haben. An diesen Gedanken musste sie sich erst gewöhnen!

*

Bereits am nächsten Tag rief Cornelia den Freund an. Es durfte nun keine Unklarheiten mehr geben. »Ich möchte mit dir reden, Markus. Kann ich heute Abend mal zu dir kommen?«

»Ja, gern«, antwortete er etwas überrascht. »Gibt es was Besonderes?«

»Ja. Bis dann, Markus!«

Als er sie begrüßte, lag eine geheime Spannung in seinen Zügen. Sie war schon seit einiger Zeit nicht mehr bei ihm gewesen, sie hatten sich eher hier oder dort in einem Restaurant getroffen.

»Ich wollte nicht, dass fremde Menschen um uns sind«, erklärte sie, als er ihr den Mantel abnahm. »Was ich dir zu sagen habe, geht nur uns beide etwas an.«

»Das klingt so gewichtig!« Markus lächelte etwas bemüht. »Komm herein.« Er rückte ihr den Sessel zurecht, setzte sich ihr gegenüber. Mit einem großen, offenen Blick sah Cornelia ihn an.

»Markus, ich möchte, dass wir in Freundschaft auseinandergehen«, begann sie ohne Umschweife. »Du warst mir viel, ich war oft froh und glücklich mit dir. Aber in letzter Zeit haben wir uns doch voneinander entfernt. Vielleicht lag es an mir, weil ich weniger Zeit für dich hatte.«

»Das war es nicht allein«, sagte Markus. »Seit ein paar Monaten steht noch etwas anderes zwischen uns. Irgendetwas beschäftigt dich. Was ist es, Cornelia, das so stark ist, dass du nun den Schlussstrich ziehen willst?«

Sie war erleichtert, dass er es so ruhig nahm, ohne Vorwurf, ohne Aufbegehren. »Ich kehre zu dem Mann zurück, der vor dir war, Markus«, gestand sie ihm ein. »Ich weiß das aber erst seit gestern. Vorher war immer noch eine große Unsicherheit in mir, ein innerer Zweifel – eben in diesen Monaten, seit er wieder in dieser Stadt ist. Er ist Heikes Vater!«

»Ach ja?« Nur Verwunderung zeigte sich in seinem Gesicht. »Das trifft sich ja gut, wo du so an dem Kind hängst«, meinte er gelassen.

Die weiteren Zusammenhänge schienen ihn nicht besonders zu interessieren. Aber er hatte ja dieser ganzen Geschichte um das Kind von Anfang an eher ablehnend gegenübergestanden, darauf besann sich Cornelia jetzt.

»Ich bin froh, dass du mir nicht böse bist«, sprach sie leise.

»Hattest du das erwartet?« Markus lächelte erstaunt. »Wie sollte ich dir darum böse sein. Ich habe dich immer noch sehr gern, Cornelia, und deshalb wünsche ich dir, dass du das Rechte tust und glücklich wirst. Natürlich können wir Freunde bleiben, warum denn nicht.«

Spontan und herzlich reichte Cornelia ihm ihre Hand. »Danke. Vielleicht findest du auch bald eine Frau fürs Leben. Ich hoffe es für dich.« Mit einem etwas rätselhaften Ausdruck sah Markus an ihr vorbei. »Vielleicht«, murmelte er.

Cornelia war bereits an der Tür, als es ihr einfiel: »Monika Collins hat sich seit eurer Reise gar nicht mehr bei uns blicken lassen. Heike hat schon nach ihrer Tante gefragt. Sie rief nur mal an und sagte, dass sie jetzt bei euch im Büro tätig sei. Nehmt ihr sie so sehr in Anspruch?«

»So arg ist es nicht. Sie wird sich schon wieder bei euch melden.«

»Ist es nicht merkwürdig«, sprach Cornelia weiter, »dass sie es war, die Heikes Vater die Wahrheit entdeckt und damit die Entscheidung herbeigeführt hat?«

»Wieso?«, fragte Markus plötzlich sehr aufmerksam. Cornelia berichtete ihm mit kurzen Worten, was sie inzwischen von Dieter wusste: Wie sie sich bei einem Hauskonzert bei gemeinsamen Bekannten getroffen und Monika ihn erkannt hatte.

»Von dem Konzert habe ich gewusst«, bemerkte Markus nachdenklich. »Die Einladung wurde in meiner Gegenwart ausgesprochen. Das Ehepaar Höllerich war bei der Russland-Reise dabei, und es war sehr angetan von Frau Collins.« Er lächelte ein wenig, auf eine eigenartige Weise. »Wer weiß, Cornelia, am Ende sollte das alles so sein.«

*

Sie trug den Ring nicht mehr, den sie bis dahin immer noch getragen, obwohl er seinen Sinn verloren hatte. Markus fiel es sofort auf.

»Hoffentlich haben Sie ihn nicht verloren, er war doch sehr wertvoll«, ließ er eher beiläufig fallen, während er ein Schriftstück neben sie auf den Schreibtisch legte.

»Nein, nein, ich habe ihn in einem Kästchen aufbewahrt.« Monika blickte in seine fragenden Augen. »Ich bin jetzt geschieden. Heute Morgen bekam ich es schriftlich.«

»Das ging ja schnell«, sagte Markus. Monika zuckte leicht die Schultern. »Mein Ex-Mann hat die Möglichkeiten, so etwas rasch über die Bühne zu bringen.«

Sie errötete, als Markus ihre nun ringlose Hand aufnahm, mit seiner Rechte leicht darüber strich. »Dann kann ich dir ja jetzt eingestehen, dass ich mich in dich verliebt habe, Monika.«

Das kam so unvermittelt, dass sie ihm heftiger, als sie es wollte, ihre Hand entzog. »Das können Sie nicht, Markus! Sie gehören zu Cornelia. Ihr wehzutun, das wäre das Letzte für mich.«

»Es wird ihr nicht wehtun«, beteuerte Markus. »Cornelia kehrt zu ihrer einzigen großen Liebe zurück, und die gehört zufällig Heikes Vater. Wie findest du das, Monika?« Er weidete sich an ihrer Verblüffung. Dann beugte er sich lächelnd über sie. »Wir brauchen das nicht länger zu verbergen, dass mehr als Kameradschaft und Kollegialität zwischen uns sein könnte. Oder willst du das leugnen, hm?« Sacht strich er ihr über die Wange.

Unwillkürlich, noch wie benommen, schüttelte Monika den Kopf. »Bist du denn nicht – ich meine, ihr wart doch ziemlich lange zusammen«, stammelte sie.

»Nein, ich bin nicht unglücklich darüber, wenn du das meinst«, erwiderte Markus, ernst werdend. »Das Band zwischen Cornelia und mir hatte sich schon gelockert, und heiraten wollte sie mich sowieso auch vorher schon nicht. Wie wäre es denn mit uns beiden?«

Nun war wieder das Blitzen in seinen Augen, das sie so gern mochte. Sie lachte auf, hell und befreit. »Du bist verrückt«, sagte sie. »So schnell geht das nicht. Meinst du, ich würde mich gleich wieder in eine neue Ehe stürzen?«

»Man wird ja sehen«, meinte er. »So abwegig erscheint mir das gar nicht …« Und ehe Monika sich’s versah, hatte er – sie waren gerade allein im Büro – ihr einen Kuss geraubt.

»Mir eigentlich auch nicht«, das war alles, was Monika danach mit einem glücklichen Lächeln sagte.

*

Cornelia schenkte Tee in die dünnen Tassen, stellte Monika, die sie noch am späteren Abend aufgesucht hatte, griffbereit Zucker und Sahne dazu hin. »Du hast es also nicht gleich gewusst, dass er es war«, bemerkte sie.

»Nein, das ist es ja.« Eifrig beugte sich Monika etwas vor. »Kannst du dir vorstellen – plötzlich zerriss es wie ein Schleier vor meinen Augen. Ich habe es ihm dann knallhart gesagt. Zuletzt fiel ich aus allen Wolken, als ich ihm deine Adresse geben wollte und er deinen Namen schon wusste. – Markus hat mir erzählt, wie ihr zueinander steht. Das ist doch ein Wunder, wie sich das gefügt hat, Cornelia.«

Cornelia nickte stumm vor sich hin. Dann fragte sie: »Arbeitest du gut mit Markus zusammen?«

Monika zögerte einen Moment, bevor sie antwortete: »Es wird mehr als auf gute Zusammenarbeit hinauslaufen.« Als Cornelia daraufhin überrascht und fragend lächelte, gestand sie, dass es schon während des tagtäglichen Beisammenseins auf der Reise einen besonderen Gleichklang zwischen ihnen gegeben hatte. Da stimmte einfach alles, beruflich wie menschlich. »Aber ich hätte mich nie zwischen euch gedrängt, Cornelia«, versicherte sie. »Das wäre mir nicht im Traum eingefallen. Ich war nur froh, dass ich Arbeit bei Springer fand.«

Cornelia sah Monika aus hellen Augen an. »Ich finde das sehr schön, ihr passt doch gut zueinander.« Sie lachte ein wenig. »Komisch, ich habe Markus damals auch auf einer Reise kennengelernt, nur unter anderen Umständen. – Ja, Heike, ich denke, du schläfst?« Da war nämlich plötzlich Heike im Türrahmen aufgetaucht, ins Licht blinzelnd.

»Ich hab euch gehört«, sagte Heike und zog ihre Schlafanzughose höher. Vorwurfsvoll wandte sie sich an die Besucherin. »Tante Monika, jetzt bist du mal da, und dann bin ich im Bett.«

»Ich hatte wenig Zeit, Schatz. Komm, lass dir ein Küsschen geben!«

Heike hielt ihrer Tante die Wange hin, dann lehnte sie sich gegen sie. »Weißt du es schon? Ich habe jetzt meinen Papa!«

»Hmhm. Ist er nett?«

Nachdrücklich nickte das Kind. »Super! Wir heiraten bald. Dann muss Mama auch nicht mehr so viele Überstunden in der Klinik machen. Sie hilft ihm dann in seiner Praxis. Und das ist eine ganz tolle Praxis!« Sie hatte mitkommen dürfen, als er Cornelia ein neues Gerät zeigte. Es hatte ihr mächtig imponiert.

»Wir ziehen dann hier weg«, plauderte das Kind weiter. »Das ist ein bisschen schade. Aber Opi hat gesagt, dass ich ihn ja oft besuchen könnte, und Tante Herta backt mir dann Plätzchen. Hat sie schon gesagt, Mami!« Bekräftigend nickte sie Cornelia zu.

»Na, das ist ja ganz wichtig«, lachte diese. »Aber jetzt gehst du schön wieder ins Bett. Tante Monika kommt bald einmal wieder.«

Es wurde dann auch wirklich alles so, wie Heike das ausgemalt hatte. Die Hochzeit fand statt, als sich in der Natur das erste zarte Frühlingsahnen zu regen begann. Wie glücklich sah die Braut aus, die da neben dem sehr ernst wirkenden hochgewachsenen Mann zum Altar schritt! Heike saß mucksmäuschenstill neben ihrem Opi. Sie achtete nicht der umsitzenden beiderseitigen Verwandten, die teilweise von weit hergekommen waren. Sie hatte nur Augen für ihre Eltern. Auch Bruno Meinrads Miene war ernst und gesammelt. Nicht mehr besorgt, nein. Dieter Markgraf hatte ihn von seiner Wandlung überzeugt. Er würde frühere Fehler nicht wiederholen.

Hell klang Cornelias »Ja!«, als der Pfarrer die Schicksalsfrage an sie stellte, tiefer und besonnener das des Mannes. Doch ihre Herzen schlugen den gleichen Takt. Dass in knapp anderthalb Jahren in derselben Kirche ein Bübchen über das Taufbecken gehalten würde, ahnte sie in dieser Stunde noch nicht. Nur den Wunsch kannten sie schon.

Monika und Markus wohnten ebenfalls der Zeremonie bei, waren geladen zur anschließenden Hochzeitsfeier. Nicht mehr lange, und sie würden auch vereint sein, denn aus Gleichklang und Verliebtheit war Liebe geworden.

»Jetzt sind wir eine richtige Familie!«, sagte Heike stolz und glücklich, als sie mit den Frischvermählten zum blumengeschmückten Wagen ging, dem ersten in der Kolonne.

»Ja, Heike, das sind wir«, bestätigten Cornelia und Dieter wie aus einem Munde, und beide sahen mit einem Lächeln voller Zärtlichkeit auf ihr Töchterchen hinab.

Mami Bestseller Staffel 2 – Familienroman

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