Читать книгу Fürstenkrone Staffel 14 – Adelsroman - Jutta von Kampen - Страница 9

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»Diabetes.«

Arno Graf von Betigheim starrte seinen Freund und Arzt, Dr. Armin von Stein, fassungslos an. Er hatte ihn zu einem routinemäßigen Check-up aufgesucht, in dessen Verlauf er einige Kleinigkeiten, die ihm aufgefallen waren, zur Sprache bringen wollte. Keine echten Beschwerden, nur lächerliche Bagatellen wie häufiges Kribbeln in Händen und Füßen, übermäßiger Durst und Nachlassen des Sehvermögens. Er hatte wirklich nur nebenbei danach fragen wollen, denn für gewöhnlich sahen sie sich wesentlich häufiger als Freunde beim Schachspiel denn als Arzt und Patient. Mäßiges Essen, mäßiger Sport und einmal im Jahr eine Generaluntersuchung waren eigentlich in seinen Augen ausreichende Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge. Und nun das!

»Tja, mein Lieber, du wirst ab heute wohl etwas sorgfältiger auf dich achten müssen als bisher. Aber keine Panik, der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft auf diesem Gebiet ermöglicht dem Diabetiker ein weitgehend uneingeschränktes Leben.« Es folgte ein ausführlicher Vortrag über das Charakteristikum dieser Erkrankung, dem Graf Arno allerdings nur benommen folgen konnte, da er deren Bedeutung für sein Leben noch nicht in sein Bewußtsein gelassen hatte. Wie denn auch, schließlich hatte er es gerade erst erfahren.

Er war zeit seines Lebens wirklich immer von recht stabiler Gesundheit gewesen. Natürlich war ihm bewußt, daß die meisten Organe um die Lebensmitte die ersten Schwachstellen aufwiesen, aber tief innen war er bis jetzt davon überzeugt, daß das bei ihm anders war.

»Dein Blutzucker muß schon eine ganze Weile munter um die zweihundert getanzt haben. Und dir ist nichts aufgefallen? Wie zum Beispiel Müdigkeit, Abgeschlagenheit, häufiges Trinkbedürfnis?« Er blickte seinen Freund erwartungsvoll an, der aber nur dumpf den Kopf schüttelte.

»Na, wie auch immer, wir werden das schon noch in den Griff bekommen«, meinte er ganz zuversichtlich und sah Arno, dessen abweisender Gesichtsausdruck ihm nicht gefiel, gleichzeitig etwas besorgt an.

Als Arno einige Zeit später die Praxis verließ, ausgestattet mit einem Blutzuckermeßgerät und zahlreichen Verhaltensmaßregeln, an die er sich würde gewöhnen müssen, war er immer noch wie vor den Kopf gestoßen. Armin hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß es sich um eine sehr ernste Erkrankung handelte, die sein Leben zwar nicht beenden, aber doch geringfügig ändern würde. Er hatte ganz plötzlich das sichere Gefühl, als wäre ihm erst jetzt, was seinen Körper betraf, die Unbekümmertheit der Jugend genommen worden.

*

Im roten Salon von Schloß Betigheim verbreitete das Geräusch der Stricknadeln, die Wally klickend aneinander schlug, während sie eine blaue Strickweste mit Zopfmuster der Vollendung zuführte, eine Atmosphäre trauter Häuslichkeit. Gräfin Maja von Betigheim saß mit hochgezogenen Beinen tief in ihren Lieblingssessel gekuschelt und verfolgte aufmerksam eine Reportage über die Urwälder am Amazonas, wobei ihre knochigen Finger unermüdlich den weichen Bauch der graugetigerten Katze kraulten, die sich mit ihr die breite Sitzfläche des Sessels teilte. Das Schnurren der Katze und das Klappern der Stricknadeln schienen zusammenzugehören. Kein Fremder, der diese beiden Frauen so entspannt zusammensitzen sah, hätte sie für Herrin und Bedienstete gehalten. Wally nahm schon so lange aktiv am Leben der gräflichen Familie teil, daß sie den Status einer Angestellten bereits vor Jahren überwunden hatte und zum Familienmitglied avanciert war. Nur die Verteilung der Pflichten ließ die ursprüngliche Rollenverteilung noch heute erkennen, und ebenso eisern hielt Wally an der althergebrachten Anrede fest. Alle anderen Vertrautheiten hatte sie im Laufe der Jahre dankbar zugelassen. Sie gehörte so lange und so unauflöslich zu dieser Gemeinschaft von Mutter und Sohn, daß sie sich inzwischen keinen anderen Platz mehr auf dieser Welt denken konnte, an dem sie hätte leben wollen.

Damals, als sie hierher gekommen war, war das anders gewesen. Ihr Leben schien ihr klar vorgezeichnet zu sein, und sie hatte feste Vorstellungen davon. Sie war mit einem jungen Mann verlobt, einem Kraftfahrzeugmechanik er, der, wenn er seinen Dienst an Volk und Vaterland hinter sich hatte, im Norden eine Reparaturwerkstatt für Automobile eröffnen wollte. Wally hatte vor, bei diesem Unternehmen Haushalt und Buchhaltung zu übernehmen. Sie war gelernte Hauswirtschafterin und fühlte sich dem gewachsen. Außerdem hatte sie immer nach Herausforderungen gesucht. Gerade als sie sich nach einer Übungstätigkeit für die Zeit seines Dienstes bei der Wehrmacht umsah, wurde ihr die Stellung einer Hauswirtschafterin im Haushalt des Grafen von Betigheim angeboten. Es schien ihr die ideale Aufgabe zur Überbrückung bis zur Verwirklichung ihrer eigenen Pläne zu sein. Also nahm sie an und fühlte sich vom ersten Tage an im Schloß wohl.

Das gräfliche Paar war noch nicht lange verheiratet und die junge Maja bereits schwanger. Da die Schwangerschaft sich komplizierter gestaltete und sie sehr mitnahm, war sie froh, viele Verantwortlichkeiten des Haushaltes in Wallys Hände legen zu können, die diese freudig annahm und erfüllte. Aus den ursprünglich von Wally veranschlagten Monaten im gräflichen Haushalt wurden durch die Umstände des Krieges Jahre. Jahre, in denen die junge Gräfin zwei Fehlgeburten und eine Totgeburt erlitt und Wallys Verlobter nichts mehr von sich hören ließ. Später erfuhr sie über seine Mutter, daß er offiziell als ›in den Wirren des Krieges verschollen‹ galt. Sie hoffte noch eine lange Weile, begrub dann ihre Pläne endgültig und war froh, eine so gute Stellung zu haben, mit der sie sich mehr und mehr identifizierte.

Da Maja zäh und entschlossen war, gelang es ihr schließlich doch noch, einen gesunden Sohn und Erben zur Welt zu bringen. Arno. Er blieb ihr einziges Kind. Um Arnos Wohl und Werdegang bemühten sich Maja und Wally in gleichem Maße übertrieben, während der Vater sich aus den Angelegenheiten um das Kind weitgehend heraushielt. Nicht etwa aus Desinteresse, sondern erstens, weil das zu dieser Zeit so üblich war, und zweitens, weil das Wesen, das die beiden Frauen um den kleinen Stammhalter machten, an seinen Nerven zerrte. An Liebe für seinen Sohn mangelte es ihm nicht. Zuerst traten Maja und Wally als Konkurrentinnen an, wobei die Mutter am längeren Hebel saß, aber auch Wally aus ihrer untergeordneten Position zu manch raffiniertem Schachzug fähig war. Später wuchsen sie erstaunlicherweise in ihrer Sorge und Liebe um das Kind zu einem festen, unerschütterlichen Schutzwall zusammen, der für Arno einen sicheren Hort vor der Welt bildete. Einer Welt, die ihm keineswegs feindlich gesinnt war, denn schließlich gehörte er bereits durch seine Geburt einem privilegierten Stand an. Er war ein ruhiges, verständiges Kind, das die Bedeutung, die es im Leben der es umgebenden Personen einnahm, als selbstverständlich hinnahm. Die Zeit seiner Grundschuljahre verbrachte er auf Drängen seiner Mutter mit einem Hauslehrer im Schloß. Für die folgenden Jahre setzte sich jedoch sein Vater durch, und er besuchte ein renommiertes Internat, wo er auch das erste Mal in engen Kontakt mit Gleichaltrigen kam, womit er erstaunlicherweise keine Probleme hatte und was er sehr genoß. Hier schloß er auch Freundschaften, die ein Leben lang halten sollten.

Von dem Tag an, an dem Arno im Internat lebte, war beiden Frauen, Herrin und Bediensteter, der Hauptinhalt ihres Lebens genommen worden. Zumindest was die tägliche Beschäftigung und Sorge betraf. Doch ihre gemeinsame Zuneigung zu Arno hatte sich auch auf die jeweils andere ausgedehnt, und aus dem Arbeitsverhältnis hatte sich im Laufe der Jahre eine feste Freundschaft entwickelt, die auf tiefem Vertrauen wurzelte. Maja konnte sich in allen Belangen ihres Lebens stets auf Wally verlassen, alles mit ihr besprechen und sich auf ihr meist weises Urteil berufen. Wally war praktisch für alle Bereiche des gräflichen Lebens zuständig. Sie war Wirtschafterin, Sekretärin und Vertraute. Sie war der unermüdlich aktive Teil des Hauses, und nur sehr weitreichende, wichtige Entscheidungen wurden vom Graf oder der Gräfin persönlich gefällt. Alles andere lag in Wallys Händen.

Nach Arnos Weggang, von den Ferien abgesehen, begann Maja, sich ins gesellschaftliche Leben zu stürzen. Sehr zur Freude ihres Mannes, der ob der Ausschließlichkeit, mit der sie sich um den einzigen Sohn gekümmert hatte und nichts anderes daneben mehr zuließ, in den vergangenen zehn Jahren immer wieder um das Ansehen des gräflichen Hauses gefürchtet hatte. Denn obwohl er beileibe kein Partylöwe war, sah er doch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Präsenz als Pflicht an, die sie seit der Geburt des Kindes vernachlässigt hatten. Doch nun schien Maja alles nachholen zu wollen, gab Gesellschaften, Lesungen und Feste und fehlte bei keinem Ereignis im Kreis. Allein mit der Organisation all der Anlässe, die im Schloß stattfanden, hatte Wally alle Hände voll zu tun und somit nur selten Zeit, Arno zu vermissen. Als er nach Beendigung der Schulzeit nach Hause zurückkam, waren diese gesellschaftlichen Aktivitäten bereits so eingefahren und Arno genau in dem richtigen Alter, um sich voll hineinzustürzen, daß er schnell zu d e m Partyhit der Saison wurde. Genau diese Zeit brauchte er, um seinen jugendlichen Überschwang auszutoben. Es waren seine Sturm- und Drangjahre, bevor er wieder in ruhigere Bahnen glitt.

Wally führte nur ungern ihre Gedanken aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart, um ihre Konzentration auf das schwierige Zopfmuster ihrer Strickarbeit zu richten. Seit dem Tod ihres Mannes vor einigen Jahren lebte Maja ein sehr viel ruhigeres Leben. Ab und zu eine Einladung zu einem Fest, ein kleines Abendessen unter Freunden und in jedem Herbst der traditionelle Ball im Schloß. Das war das einzige große Ereignis, an dem sie unerschütterlich festhielt. An allen Einladungen Majas nahm Wally aus zweiter Hand teil, das heißt, sie zehrte von Majas Erzählungen, die immer sehr detailliert ausfielen und genau den Blickwinkel wiedergaben, der Wally am meisten interessierte.

»Hallo«, grüßte Arno, als er den Salon betrat und versuchte, sich unauffällig auf dem Sofa niederzulassen, wobei er sich gleichzeitig die Tageszeitung von dem niedrigen Beistelltisch angelte, um sie dann unbeachtet auf seinen Knien liegen zu lassen. Sein Blick blieb gedankenverloren an dem Bildschirm hängen, über den gerade die letzten Bilder der Urwaldreportage flimmerten. Er fuhr sich mit der linken Hand durch das immer noch dichtgelockte, braune Haar, das, obwohl er auf die Fünfzig zuging, erst von wenigen grauen Strähnen durchzogen war. Seine langen, sehnigen Finger griffen dabei so fest in die Naturwellen, als wollten sie sie ausreißen.

»Und was habt ihr heute gemacht?« fragte er in den Raum, als er merkte, daß der Abspann des Films zu Ende war und die Aufmerksamkeit seiner Mutter sich von dem Fernsehbild löste und sie sofort bereit war, seine Frage zu beantworten.

»Nun, ich war heute nachmittag bei den von Holts zum Tee. Bettina hat bei diesem feuchten Wetter wieder schrecklich mit ihrer Gicht zu tun. Es gibt Tage, an denen sie kaum die Finger geradebiegen kann, von den anderen Gliedmaßen erst gar nicht zu reden. Darüber hinaus macht ihr Beatrice arge Sorgen. Das arme Kind ist jetzt Ende dreißig, bereits einmal geschieden und kann immer noch nicht den richtigen von dem falschen Mann unterscheiden. Als hätte sie aus all ihren schlechten Erfahrungen keinen Funken gelernt.

»Kann man das denn jemals lernen?« fragte Arno, als seine Mutter kurz Luft holte.

»Nun ja«, seufzte sie, »wahrscheinlich hast du recht. Die meisten Menschen lernen es nie und greifen ein Leben lang immer in die falsche Kiste.«

»Und Ferdinand?« wollte Wally wissen.

Maja lachte auf. »Der ist für seine Frau noch kein Quell der Freude. Trotz seines Alters setzt er sie immer noch der Peinlichkeit aus, hinter jedem Weiberrock her zu sein. Dem Mann fehlt leider jeder Blick für die Realität. Früher konnte er der einen oder anderen ja durchaus gefährlich werden, aber heute ist er nur noch albern. Ich glaube, er hat seit zwanzig Jahren keinen Blick mehr in den Spiegel geworfen.«

Sie schüttelte den Kopf, und das Mitgefühl für ihre Freundin sprang aus ihrem Blick. »Aber erzähl doch lieber, wie dein Tag war«, wandte sie sich an ihren Sohn, rückte sich im Sessel zurecht und nahm dabei die Beine herunter, um sie auf den Boden zu setzen, was für die Katze Anlaß war, die Gemütlichkeit zu beenden und ihren Platz zu verlassen.

»Ich war bei Arnim«, sagte Arno und setzte hinzu: »In der Praxis.«

»Und? Hattest du irgendeinen Anlaß dazu?«

»Nein, eigentlich nicht. Aber bei der Gelegenheit hat er festgestellt, daß ich Zucker habe.« Sein Ton war fast beiläufig.

»Daß du was hast?« Seine Mutter beugte sich ungläubig nach vorne, und Wally ließ das Strickzeug sinken.

»Diabetes«, wiederholte Arno.

»Das hatte noch nie jemand in unserer Familie«, stellte Maja fest, als würde sich die Diagnose damit als falsch erweisen.

»Und nun?« fragte Wally über die in ihrem Schoß ruhende Arbeit hinweg.

»Nun«, antwortete Arno, »nun werde ich einiges ändern müssen. Ernährung und so weiter. Außerdem hat er mir einen Termin für eine Diabetikerschulung gegeben. Danach weiß ich sicher einiges mehr. Aber keine Angst«, tröstete er die beiden Frauen, als er den erschreckten Ausdruck in ihren Gesichtern wahrnahm, »ich werde vermutlich nicht sofort sterben, und außerdem hat Arnim mir versichert, daß man damit wohl ganz gut leben kann.«

Wally raffte ihr Strickzeug zusammen. Sie war eine praktische Frau, die eher dazu neigte, zu handeln als zu theoretisieren. »Ich werde in der Küche Bescheid sagen und die Köchin mit Literatur versorgen. Wenn das nicht reicht, sollten wir überlegen, ob es nicht besser wäre, eine Diätköchin einzustellen.«

Arno lachte und hielt sie am Arm zurück, als sie an ihm vorbei wollte. Das war typisch für Wally. Sie hatte immer jedes Problem, dessen sie ansichtig wurde, sofort in die Hand genommen.

»Langsam, Wally, langsam. Zuerst informiere ich mich einmal umfassend, und dann kannst du die Sache von mir aus ausbreiten und generalstabsmäßig organisieren. Aber warte bitte erst noch ein bißchen, ja?«

»Warum denn? Wenn etwas feststeht, leitet man Änderungen, die unausweichlich sind, am besten sofort ein«, murrte Wally, während sie sich wieder auf das Sofa setzte und nach ihrem Strickzeug griff.

Maja versuchte unterdessen, ihre aufkeimende Angst zu unterdrücken. Seit ihr Sohn auf dieser Welt war, hatte sie um sein Leben gefürchtet. Wie alle Mütter hatte sie ständig Angst, daß ihm irgend etwas zustoßen könnte, und diese Angst hatte mit den Jahren nur unwesentlich abgenommen. Im Kleinkindalter sah sie ihn von hochfiebrigen Krankheiten hinweggerafft; als er den Führerschein machte, kamen die Gefahren des Straßenverkehrs hinzu, und später sah sie ihn von den allgemeinen Lebensrisiken umzingelt. Was Arnos Leben betraf, konnte sie wohl nie entspannen, und ihr größter Alptraum war, daß er vor ihr sterben könnte.

Aber Arno hatte wahrscheinlich recht. Auch wenn ihr diese Krankheit noch unbekannt war, so kannte sie doch etliche Leute, die zuckerkrank waren und putzmunter vor sich hin lebten. Sie beschloß, die ganze Angelegenheit optimistisch zu betrachten.

*

Der Regen kam in derartigen Sturzbächen vom Himmel, als hätte die Natur die Absicht, die Sintflut zu wiederholen. Die Scheibenwischer des Jeeps versuchten auf höchster Stufe, das Wasser von der Windschutzscheibe zu schaufeln, doch die Sicht blieb mangelhaft. Arno versuchte mit zusammengekniffenen Augen und vorgebeugt ein wenig klare Sicht auf den in Minuten völlig verschlammten Weg vor sich zu bekommen. Ohne den Allradantrieb wäre er schon vor hundert Metern rettungslos stecken geblieben. Er liebte die Natur in nahezu jeder Erscheinungsform, und wenn sie sich, wie jetzt, zu einer Demonstration ihrer Gewalt entschloß, fühlte er sich immer als Mensch in seine Schranken gewiesen, was er gelegentlich als durchaus notwendig empfand. Er brauchte den Kontakt mit der Natur wie die Luft zum Atmen, weshalb er sich auch die meisten Inspektionsgänge durch die Waldungen nicht nehmen ließ und darauf bestand, sie selber durchzuführen.

Diese Marotte hatte zu Beginn ihres Arbeitsverhältnisses zu Auseinandersetzungen mit Hartmann geführt, der sich dadurch in seinen Kompetenzen beschnitten meinte. Werner Hartmann war die erste Personaleinstellung, die Arno nach dem Tod seines Vaters, als er plötzlich in völliger Alleinverantwortung handeln mußte, vorgenommen hatte. Und er war ein absoluter Glücksgriff, bis heute. Er war fachkundig, vertrauenswürdig, zuverlässig und sympathisch. Im Laufe der Jahre war er beinahe ein Freund geworden, und wenn Armin von Stein aus beruflichen Gründen, was in seinem Beruf leider häufig vorkam, beim Schachspiel als Partner ausfiel, ging Arno mehr als einmal mit einer Flasche Wein bewaffnet im Hause des Verwalters vorbei, woraus dann immer ein sehr entspannter Abend wurde. Außerdem streichelten diese Gelegenheiten sein Selbstbewußtsein, denn Hartmann spielte sehr viel schlechter Schach als Arno, was sich von Armin nicht sagen ließ.

Der Regen ließ in seiner Vehemenz nicht nach, im Gegenteil, er schien sich sogar noch zu steigern. Arno dachte mit Sorge an die Furt, die er in einigen Metern überqueren wollte. Der schmale, normalerweise höchstens wadenhohe Bachverlauf, dessen Durchquerung eine enorme Abkürzung bedeutete, würde sich vermutlich in einen reißenden Wildbach verwandelt haben. Da das Wasser sich aber meist ebenso schnell wieder regulierte, wie es hereingebrochen war, beschloß er, daß es klüger wäre abzuwarten, als den enormen Umweg zu fahren. Er stellte den Jeep in einer Einbuchtung ab, die, anders als der Weg, mit grobem Frostschutzkies belegt war und somit den Wagen davor bewahrte, im Schlamm zu versinken. Entspannt legte er die Arme über das Lenkrad, stellte sich innerlich auf Warten ein und gab sich dem trommelnden Stakkato des Regens auf der Motorhaube hin.

Im Moment wie diesem, wenn er sich völlig der Monotonie eines Geräusches hingab, konnte er, auch nach all den Jahren, dazwischen immer noch ihr Lachen hören. Glockenhell, perlend, voll lebensbejahender Fröhlichkeit. Der Schmerz des Verlustes packte ihn so heftig, als wäre es erst gestern geschehen. Ein Schornsteinfegermeister, der auf einer Innungsfeier zu viel getrunken hatte, hatte ihr die Vorfahrt genommen – und ihm seine Liebe, seine Zukunft, sein Leben.

Im Rückblick erschien es ihm manchmal, als hätte er nur in diesen beiden Jahren, in denen Sonja bei ihm war, gelebt. Ein Jahr des Kennenlernens und der Verliebtheit, und nach der Hochzeit ein Jahr der Liebe und des höchsten Glücks waren ihnen vergönnt gewesen. In dieser Zeit hatte für ihn Freude, Hoffnung, Seligkeit im Übermaß stattgefunden, und er hatte nicht geahnt, daß sie für ein ganzes Leben ausreichen mußten. Sie hatten damals beide mit der Selbstverständlichkeit der Jugend geglaubt, das Leben läge noch uneingeschränkt vor ihnen, würde seinen Reichtum ausbreiten, und sie bräuchten nur zuzugreifen. Hatten ihre Träume und Pläne dazugelegt und an ihre Erfüllung geglaubt. Sonja hatte ihre Zukunft in sich getragen, war im dritten Monat schwanger gewesen, als es passierte, als ihrer beider Leben innerhalb einer Sekunde ausgelöscht wurde. Sonjas körperlich, seines seelisch.

Er hatte gelernt, damit umzugehen, es als Schicksal anzunehmen, aber er hatte es nie akzeptiert. Seitdem hatte er funktioniert, seine Pflichten erfüllt, war da gewesen. Im Sinne seiner traditionellen Erziehung hatte er nie versagt, seine Aufgaben angenommen und ausgeführt, aber sein Interesse war erfüllt von einer tiefen Traurigkeit, die ihn mit Sonjas Tod ergriffen und seitdem nicht mehr losgelassen hatte. Die Zeit mit ihr erschien ihm wie ein Rausch, ein Rausch der Sinne, die er dann mit ihr zu Grabe getragen hatte.

Es war so viele Jahre her, und doch war sie ihm immer noch gegenwärtig, war ihm in wichtigen Fragen Ratgeber und Kritiker, und in unwichtigen sah er sie den Kopf schütteln oder nicken. Zehnmal so lange, wie er mit ihr gelebt hatte, lebte sie nun bereits allein in seiner Erinnerung, und es gab Momente, da fühlte er sich trotz der frühen Trennung wie ein altes Ehepaar mit ihr. Er hütete sich, diese Verbundenheit mit einer Toten Dritten gegenüber zu erwähnen, weder bei Armin noch bei seiner Mutter oder Wally, denn er wollte nicht als vergangenheitsgläubig oder auch nur verschroben gelten. Manchmal war er sicher, daß er die vergangenen Jahre ohne diese Stütze nicht überstanden hätte.

Der Regen hörte ganz abrupt auf, und der gleichzeitig sich verstärkende Wind kräuselte das Wasser auf den Pfützen, die schon in reicher Anzahl den Weg zierten. Er konnte zusehen, wie die Füllmenge nachließ und im Boden versickerte, der, wie er wußte, in dieser Gegend aus grobem Spaltgestein bestand. In kürzester Zeit würde sicher auch die Furt wieder passierbar sein.

Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Wie weit würde die Krankheit sein Leben verändern? Welche Einschränkungen würde sie von ihm fordern? Er dachte an die Endlichkeit des Lebens und daran, daß er gerne Nachkommen gehabt hätte. Nicht nur des Fortbestands derer von Betigheim wegen, sondern für sich. Ganz egoistisch für sich. Er hatte sich sein Leben immer mit Kindern vorgestellt, früher, möglichst vielen, einer großen Familie eben. Er dachte an das Kind, das nie geboren worden war, das Sonja unter dem Herzen trug, als sie starb. War es ein Junge oder ein Mädchen? Merkwürdig, daß er früher nie darüber nachgedacht hatte. Er hatte Kinder allgemein in seinem Dasein vermißt, aber nicht dieses im Besonderen. Sonja hatte ihm immer gefehlt, aber an dieses Kind hatte er selten gedacht. Nun war er auf dem besten Wege, krank zu werden, nein – er war krank. Eine Krankheit,die er in diesem Leben vermutlich nicht mehr loslassen würde, und er hatte die Jahre damit vertan, den Besitz und die Reichtümer der Familie zu erhalten und zu mehren – und für wen? Da war niemand, der nach ihm kommen würde, noch nicht einmal Nichten oder Neffen, denn auch er war ja ein Einzelkind. Aus ihm waren nur zwei tote Kinder entstanden. Eines, das bereits im Leib der Mutter mit ihr gestorben war, und eines, das als Totgeburt auf die Welt kam.

Er erinnerte sich an diese heftige Affäre mit dem Küchenmädchen in der stürmischen Zeit seines Erwachsenwerdens und an das Entsetzen, das ihn mit der Erkenntnis ihrer Schwangerschaft ergriffen hatte. Sie hatte sie ihm genau zu dem Zeitpunkt eröffnet, als er dabei war, sich von ihr zu lösen und das Verhältnis als beendet zu betrachten. Er war noch sehr jung und fühlte sich mit dem Problem damals völlig überfordert. Er mußte erfahren, daß es sich durch Ignorieren nicht erledigen ließ, sondern aus Pflichtgefühl und Anstand die Ehe anzubieten, hielt Wally, die davon Wind bekommen hatte, ihn in letzter Minute davon ab und übernahm die Betreuung der werdenden Mutter.

Arno spürte noch heute die Erleichterung von damals, und er stand dem Mädchen dann mit Wally gemeinsam zur Seite. Nicht aus Liebe, sondern aus Anstand und Ehrgefühl, und weil er von beinahe noch kindlicher Entschlossenheit erfüllt war, die Verantwortung für dieses Kind zu übernehmen. Dank Wallys geschickter Kleiderregelung war die Schwangerschaft erstaunlicherweise vom übrigen Haushalt unbemerkt verlaufen, und auch das Mädchen hatte sich klug darüber in Schweigen gehüllt, obwohl sie von Monat zu Monat stolzer wurde, dies aber nur durch ihre Körperhaltung ausdrückte. Eines Nachts wurde Arno dann von Wally geweckt, die ihm behutsam mitteilte, daß das Mädchen leider bei der Geburt eines toten Kindes gestorben sei. Das Kind war ein Junge gewesen, was das einzige war, was man Arno darüber mitgeteilt hatte. Gesehen hatte er ihn nicht, konnte sich auch nicht daran erinnern, das damals gewollt zu haben. Sehr wohl erinnern konnte er sich dagegen an ein Gefühl der Trauer, gemischt mit einer gewaltigen Erleichterung, für die er sich sehr geschämt hatte. Danach hatte er diese Episode seines Lebens verdrängt und so gut wie nie mehr daran gedacht, bis heute. Nun stellte er ein leichtes Bedauern bei sich fest, daß er damals nicht wenigstens einen Blick auf den Knaben geworfen hatte. Er hätte ihn sich gern vorgestellt.

Er schüttelte den Kopf, als könnte er die Erinnerung damit wie Regentropfen loswerden, startete den Motor und fuhr los.

*

Die weiten Rasenflächen des Campus’ lagen im hellen Licht der Mittagssonne. Die Studenten, die einzeln, zu zweit oder in Gruppen darauf lagerten, beachteten den jungen Mann, der im Zickzack zwischen ihnen hindurchlief, ab und zu kurze Freudenschreie ausstieß und seinen Lauf durch Sprünge unterbrach, bei denen er beide Beine gestreckt in der Luft wie Scherenklingen aneinanderschlug, gar nicht. Sie konzentrierten sich auf ihr Gespräch, ein Buch oder hielten ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen.

»Hey, Max!« Maximilian Winter stoppte seinen Lauf und drehte sich um.

»Hallo, Johannes«, begrüßte er den Rufer.

»Sag mal, hast du die Zusammenfassung in Histologie schon fertig?«

Maximilian bestätigte durch Nicken.

»Ich verstehe wohl nie, wie du das immer schaffst. Kann ich mir die gleich noch fotokopieren?«

Maximilian nickte wieder und ergänzte scherzend: »Klar, du fauler Sack.«

Sie strebten jetzt Seite an Seite dem flachen, langgestreckten Gebäude der Pathologie zu,von dem nur das oberste Stockwerk sichtbar war, zwei Vollgeschosse waren tief in die Erde gebaut. Zu Beginn ihres Medizinstudiums, wenn die eine oder andere Aufgabe sie in dieses Haus führte, hatte fast jeden von ihnen ein Schauer begleitet, und der ersten Leichenöffnung waren schlaflose Nächte vorausgegangen, wogegen sie heute bereits soweit waren, daß ihnen die wissenschaftliche Arbeit am toten Fleisch zur Gewohnheit geworden war, die ihnen zu wichtigen Erkenntnissen in die Zusammenhänge ihres Studiums verhalf.

Maximilian betrieb sein Studium mit der Begeisterung dessen, der von dem, was er tut, vollständig überzeugt ist. Für ihn war nie ein anderer Studiengang als der der Medizin in Frage gekommen. Erstens war ihm der Beruf des Arztes von Kindesbeinen an vertraut, denn er hatte seinen Vater, der ein engagierter Landarzt gewesen war, oft in seiner Praxis aufgesucht und auf seinen Hausbesuchen begleitet, wobei er eine Menge über die vielfältigen Schicksale der Patienten mitbekommen hatte, und zweitens hatte er, seit er sich mit den ersten kindlichen Gedanken an eine spätere Berufstätigkeit beschäftigt hatte, beinahe so etwas wie eine Berufung in sich gespürt, diese Tätigkeit auszuüben.

Ein anderer Beruf war für ihn nie in Frage gekommen. Mit dieser Gewißheit hatte er bereits während der letzten Jahre seiner Schulzeit daran gearbeitet, daß sein Abidurchschnitt den Anforderungen des Numerus clausus entsprach und er direkt nach Ableistung des Wehrdienstes mit dem Studium beginnen konnte. Sein Vater war gestorben, als er selber vierzehn Jahre alt war, er empfand seinen frühen Tod immer noch als großen Verlust und vermißte ihn als Ratgeber und Stütze bei tausend Gelegenheiten. Da sein Tod viel zu früh und viel zu plötzlich gekommen war, hatte er noch nicht dafür gesorgt, daß seine Frau für diesen Fall abgesichert war. So stand Carla, Max’ Mutter, mit einem Schlag nicht nur ohne Mann, sondern auch ohne Einkommen da. Wovon sollte sie ihren Sohn ernähren?

Sie hielt sie beide mit einigen Gelegenheitsjobs über Wasser, bis sie durch einen Glücksfall den Posten der Gemeindesekretärin bekam, den sie gerne und mit viel Freude und Einsatz ausfüllte. Dennoch hatte sich ihr Leben geändert. Nicht nur, daß sie aus dem großen Landhaus in eine kleine Wohnung gezogen waren, die zwar gemütlich und originell war, die aber besonders von Otto, dem Bernhardiner, als beengend empfunden wurde, sondern sie wohnten nun auch mitten im Zentrum der Kleinstadt, weil sie so auf ein Auto verzichten und sich öffentlicher Verkehrsmittel bedienen konnten. Er hörte seine Mutter des öfteren in dem Korsett der Sparsamkeit stöhnen und sah, daß sie selbst auf alles verzichtete, um ihm die Teilnahme an Klassenfahrten und ähnlichem zu ermöglichen. Obwohl sie dies klaglos und selbstverständlich tat, belastete es ihn, und er begann früh, durch Zeitungsaustragen eine Kleinigkeit zum Einkommen beizusteuern. Als er später erwog, vom Arztberuf Abstand zu nehmen, um so schnell wie möglich Geld zu verdienen, hielt seine Mutter ihn mit aller Autorität davon ab. Auch seinen Einwand, daß Medizin der längste Studiengang von allen war, ließ sie nicht gelten.

»Nein, Max«, lehnte sie immer wieder mit Bestimmtheit ab, »nichts ist so wichtig wie der Umstand, daß dir der Beruf, den du wählst, Freude macht und dich erfüllt. Schließlich willst du ihn vermutlich ein Leben lang ausüben. Wenn wir bis jetzt durchgehalten haben, werden wir die nächsten paar Jahre auch noch schaffen. Außerdem wirst du BAföG bekommen, und das hilft uns auch schon ein ganzes Stück weiter.« Sie ließ sich durch nichts davon abbringen, und Max fügte sich gern, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Aus Interesse und mit dem Gedanken an seine Mutter betrieb er sein Studium vom ersten Semester an sehr zielstrebig und mit großem Eifer, was mit ausgezeichneten Noten honoriert wurde. So sah er auch dem zweiten Staatsexamen, das vor ihm lag, mit Gelassenheit entgegen.

»Sag mal, was hat dich eigentlich gestochen?« fragte Johannes verwundert, nachdem er zum wiederholten Male die übermütigen Hüpfer registriert hatte, die Max an seiner Seite vollführte, diesmal von einem fröhlichen Pfiff unterstrichen. Max holte mit beiden Armen weit aus und schwenkte dabei seine Collegemappe der Sonne entgegen. »Sieh dir das Wetter an! Es könnte besser nicht sein. Es wird Sommer, es ist warm, und wir haben bald Examen.«

»Und du willst mir erzählen, daß dich diese drei Faktoren in eine derartige Hochstimmung versetzen?«

Johannes betrachtete seinen Freund mit einem skeptischen Blick.

»Vielleicht nicht ausschließlich«, räumte dieser ein, »aber zusätzlich.« Er überlegte ganz kurz, ob er eigentlich in diesem frühen Stadium seinem Freund bereits davon erzählen sollte, aber sein Mitteilungsdrang siegte. »Außerdem war ich gestern beim Frühlingsfest des Studentenwerks«, meinte er gedehnt.

»Ich weiß, schließlich waren wir zusammen da. Wo bist du übrigens abgeblieben? Du bist plötzlich verschwunden und den ganzen Abend nicht wieder aufgetaucht. Hast aber auch nicht viel versäumt. Die Musik war voll daneben, zu essen gab’s nur Baguette, und das Bier war um zwölf schon alle. Entsprechend lau war die Stimmung. Also«, hakte Johannes nach, »wohin hast du dich so kommentarlos abgesetzt?«

Max’ Blick ruhte leicht verträumt auf dem langgestreckten Pathologiegebäude. »Ich hab ein Mädchen kennengelernt«, sagte er ohne jegliches Interesse am Verlauf des Abends für seinen Freund, der ihn aufforderte:

»Erzähl.«

Aber Max hatte plötzlich keine Lust mehr, darüber zu reden. Das Erlebnis erschien ihm zu wertvoll, um es unter Freunden breitzutreten. Deshalb sagte er nur kurz: »Ich treffe mich heute abend mit ihr.«

Johannes kannte ihn gut genug, um zu wissen, wann er keine weiteren Ausführlichkeiten von ihm zu erwarten hatte. Außerdem wußte er, daß Frauen bei Maximilian ein eher heikles Thema waren. Nach etlichen Enttäuschungen in Serie hatte er sich eigentlich vorgenommen, sich auf diesem Gebiet vorläufig nicht mehr zu betätigen, und dies auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit kundgetan. So ausführlich, daß keiner, der ihn kannte, in dieser Richtung einen Verkupplungs- oder Annäherungsversuch unternommen hätte. Obwohl er phantastisch aussah und als ausgesprochener Frauentyp galt, war Max nie auf schnelle, flüchtige Erlebnisse, die er massenweise hätte haben können, aus gewesen. Seit seiner Pubertät träumte er von großen Gefühlen und einer lebenslangen Verbindung. Vielleicht hatte auch das mit dem frühen Tod seines Vaters zu tun, denn die Ehe seiner Eltern sah er bis heute aus dem verklärten Blickwinkel der Kindheit, und sie würde ihm wahrscheinlich ein lebenslanges Vorbild bleiben. Obwohl er ein adoptiertes Kind war und sie ihn in dem selbstverständlichen Wissen darum hatten aufwachsen lassen, hatte er immer das Gefühl gehabt, die Krönung ihrer Beziehung zu sein. Ob nun naturgegeben der von anderer Seite geschenkt, ein Geschenk war er für sie in jedem Fall gewesen.

Sie betraten den Seminarraum mit einiger Verspätung,was an Johannes’ Fotokopien gelegen hatte, und suchten sich ihre Plätze in dem abgedunkelten Raum in gebückter Haltung, um nicht in den Lichtstrahl des Projektors zu geraten, der zu den Ausführungen des Dozenten aufschlußreiche Bilder auf die Leinwand warf.

Obwohl ihn das Thema, die schrittweise Veränderung des Lungengewebes eines langjährigen Rauchers, sehr interessierte, schweiften Max’ Gedanken immer wieder zu dem vergangenen Abend ab. Noch bevor sie das eigentliche Fest erreicht hatten, hatte sich Selma an sie geheftet. Selma war klein, drahtig und hatte ein ausgesprochenes Mausgesicht. Diesen Eindruck riefen hauptsächlich die großen auffälligen Vorderzähne und die runden, blitzschnell hin- und herschießenden Augen hervor. Sie war körperlich und geistig immer in Bewegung und textete jeden, dessen sie habhaft wurde, mit der Darlegung medizinischer Probleme zu.

Das war ein weites Feld, das unerschöpflichen Gesprächsstoff bot, aber Max war selten bereit, dieses Feld mit ihr zu beackern.Gerade als es ihm gelungen war, Selmas Interesse erfolgreich auf seinen Freund Johannes umzuleiten, wurde seine Aufmerksamkeit durch schrilles, tonleiterartiges Lachen auf eine Gruppe Mädchen gelenkt, die nicht weit von ihnen entfernt standen. Die Person mit dem aufreizenden Gelächter, in das sie nach jedem gesprochenen Satz auszubrechen schien, entsprach auch optisch ganz ihrer Stimmlage. Da sie nicht durch Körperlänge auffiel, hatte sie sich bemüht, die Blicke des Betrachters durch Haarfarbe und Form zu fesseln, und kaum ein Auge glitt achtlos an dem grell pinkorangefarbenen Storchennest vorüber. Als die nächste Lachsalve an sein Ohr drang, vernahm er hinter dem schrillen, dominierenden Gekicher ein leises, melodisches, leicht gutturales Lachen, das ihn neugierig machte. Er versuchte, die dazugehörige Person auszumachen, was ihm nicht auf Anhieb gelang. Nun machte er sich ein Spiel daraus, jedem der neun Mädchen aus der Gruppe ihr Lachen zuzuordnen. Schließlich blieb nur noch eine übrig, der das in seinen Ohren angenehmste Lachen gehören mußte, und ausgerechnet sie drehte ihm den Rücken zu, so daß er außer ihrer geraden Haltung und dem dichten, honigblonden Haar, das ihr in weichen Wellen über den Rücken floß, nichts sehen konnte.

Johannes kam mit zwei Bier zurück, die zu besorgen er vor Selma geflohen war, und drückte ihm eines davon in die Hand. Mit ihm waren noch andere Semesterkollegen gekommen, und das übliche Begrüßungsgeflachse begann.

Als Maximilian nach einer Weile wieder zu der Gruppe hinübersah, blickte er geradewegs in ein Paar tiefblaue Augen, die ihn voller Interesse musterten und sich keineswegs verschämt abwandten, als sie auf die seinen trafen. Das Gesicht, aus dem sie strahlten, war von einem Ebenmaß, das jeden Künstler entzückt hätte, und fand in ihrem Haar einen sanft welligen Rahmen in einem warmen Honigton. Sie lachte ihn unbekümmert an, und ihre vollen Lippen entblößten dabei zwei Reihen tadellos weißer gleichmäßiger Zähne.

Max schlenderte wie selbstverständlich zu ihr hinüber.

»Hi, ich bin der Max. Eigentlich Maximilian«, stellte er sich vor und hob dabei leicht die rechte Hand, in der er sein Bierglas hielt.

Sie erwiderte lachend: »Ich bin Nane, eigentlich Ariane.« Und so, als würden sie einem seit langem festgelegten Spielplan folgen, waren sie in ein Gespräch vertieft, das jeden anderen ausschloß und erst in den frühen Morgenstunden ein Ende fand.

Als sie sich trennten, wußte er viel über sie, aber in den folgenden Stunden, die er nicht mit Schlaf, sondern mit Träumereien verbrachte, tauchten noch tausend unbeantwortete Fragen für ihn auf. Und Zweifel, Zweifel, ob ihre Empfindungen wohl den seinen glichen, ob er den Abend nicht völlig falsch interpretierte, ob seine Sehnsucht ihm nicht Dinge vorgaukelte, die weit von der Realität entfernt waren. Vielleicht litt er bereits unter Entzug und reagierte deshalb so intensiv auf ihre Begegnung?

Immer wenn seine Zweifel am quälendsten wurden, schob sich ihr Gesicht vor sein inneres Auge, und die Erinnerung an die Art, wie sie ihn ansah und mit ihm sprach, sagte ihm, daß er sich nicht irrte. Sie hatten sich nicht fest verabredet, weil es für beide ganz klar war, daß sie sich wiedersehen würden. Aber er hatte ihre Nummer und sie gleich am Morgen in sein Handy eingegeben. Bis zum Vormittag hatte er es ausgehalten, aber sich dann, kaum daß er den Campus erreichte, ein stilles Eckchen gesucht, um sie anzurufen. Die Tatsache, daß sie gleich beim ersten Klingeln antwortete, ließ ihn hoffen, daß sie genauso ungeduldig war wie er. Sie hatten sich für den Abend in einer Studentenkneipe verabredet, und er wußte nicht, wie er die Zeit bis dahin aushalten sollte. Er versuchte zum wiederholten Mal, sich auf das Thema des Seminars und die Darbietungen des Dozenten zu konzentrieren, was ihm nur mit mäßigem Erfolg gelang. Die Dunkelheit des Raumes und das Gleichmaß des Vortrages trugen dazu bei, daß er wenig später fest eingeschlafen war und einen Teil seines entgangenen Nachtschlafes nachholte.

*

Baron Hajo von Wellenstedt betrachtete das schöne Gesicht seiner ältesten Tochter mit väterlicher Liebe, in die sich ein klein wenig Sorge schlich, als ihm der abwesende Ausdruck darin bewußt wurde. Zu ihr hatte er immer eine ganz besondere Beziehung gehabt, die aus Seelenverwandtschaft, Vertrauen und Verständnis füreinander genährt wurde, ganz anders als zu den anderen Mitgliedern seiner Familie, die außer ihnen beiden noch aus seiner Frau und einer weiteren Tochter bestand. Sein Wunsch nach einem Sohn hatte sich leider nie erfüllt, aber Nane, seine Älteste, entschädigte ihn voll dafür. Das Verhältnis zu Miriam, seiner Frau, hatte sich nach den ersten Jahren heftiger sexueller Anziehung in den Schluchten ihrer charakterlichen Unterschiede verloren. Jeder von ihnen lebte heute sein eigenes Leben. Sie interessierte sich nicht für seines und er sich nur bedingt für das ihre, so daß sie sich selten sahen und nur bei unumgänglichen gesellschaftlichen Ereignissen gemeinsam auftraten.

Zu Bibiane, seiner zweiten Tochter, hatte er vom Tage ihrer Geburt an nie den leisesten Zugang gefunden. Sie war ganz und gar die Tochter ihrer Mutter, sowohl im Aussehen als auch in ihrer Denkweise.

»Bedrückt dich irgend etwas, mein Schatz?« fragte er Ariane, die vor einiger Zeit in dem tabakbraunen Leder des Relaxing-Sessels im Büro seiner Firma versunken war. Das tat sie öfter, wenn sie nach ihrer Vorlesung auf dem Heimweg an der Firma vorbeikam und nur mal kurz in seiner Nähe auftanken oder die eine oder andere Kleinigkeit mit ihm besprechen wollte. Sie schien weit aus den Tiefen ihres Bewußtseins aufzutauchen und strahlte ihn zu seiner grenzenlosen Erleichterung an: »Ganz im Gegenteil, Papa. Ich habe gestern abend einen Jungen kennengelernt, und ich glaube, daß er etwas ganz Besonderes ist.«

»Dann mußt du mir von ihm erzählen«, forderte ihr Vater sie auf und erweckte den Eindruck, als hätte er alle Zeit der Welt.

Die Sekretärin im Vorzimmer hatte grundsätzlich die Order, alles von ihm fernzuhalten, solange seine Tochter in seinem Büro war. Und Nane genoß diese Vorzugsbehandlung uneingeschränkt und häufig, wenn auch nie über Gebühr lange.

Sie schien nur auf diese Aufforderung ihres Vaters gewartet zu haben, denn sie richtete sich sofort bereitwillig in dem Ledersessel auf, um ausführlich von dem Objekt, um das seit dem vergangenen Abend ihre Gedanken unaufhörlich kreisten, zu berichten.

»Also«, sie holte tief Luft und rückte sich zurecht, »zuerst von außen. Er ist groß, hat braune Haare und braune Augen, ganz dunkelbraun mit ganz langen Wimpern. Er studiert Medizin, ist intelligent, sensibel, tolerant, großherzig…«

Baron Hajo von Wollenstedt lauschte mit aufrichtiger Freude den enthusiastischen Ausführungen seiner Tochter. Das Kind schien sich richtig verliebt zu haben. Endlich. Mindestens ebenso wie die Tatsache als solche freute es ihn, daß sie diese ersten Gefühle ihm mitteilte. Hoffentlich entsprach der junge Mann tatsächlich ihren Schilderungen und entpuppte sich nicht als nichtsnutziges Windei.

Aber eigentlich vertraute er Nane da vollkommen. Sie hatte schon bei Kinderfreundschaften nie daneben gegriffen. und ihr natürlicher Instinkt würde sie auch davor bewahren, ihre Gefühle an den falschen Mann zu vergeuden. Er tat diese Bedenken als überflüssige väterliche Sorge ab und widmete seine Aufmerksamkeit wieder ganz der töchterlichen Erzählung. »… und er freut sich schon unheimlich darauf, Arzt zu sein. Ich glaube, er sieht diesen Beruf wirklich als Berufung, und so sollte es doch auch sein, oder?« Sie sah ihren Vater zustimmungsheischend an, bis dieser nickte.

»Sicher, es ist immer begrüßenswert, wenn jemand voll und ganz hinter dem steht, was er tut.« Und das entsprach völlig seiner innersten Überzeugung und nahm ihn schon jetzt für diesen Wunderknaben ein. Und wie ihr Gesicht strahlte. Es hatte schon immer Momente gegeben, in denen er sie voll väterlichen Stolzes betrachtet hatte und gar nicht glauben konnte, daß er am Zustandekommen von so viel Schönheit maßgeblich beteiligt gewesen sein sollte. Aber die Liebe schien noch zusätzliche Zauberkräfte walten zu lassen, und daß es Liebe, oder erst einmal Verliebtheit war, daran bestand für ihn nicht der leiseste Zweifel.

»… und heute abend treffen wir uns im ›Troubadour‹. Was, meinst du, soll ich anziehen? Was gefällt dir am besten an mir?« Bei aller Außergewöhnlichkeit war sie doch auch eine typische Vertreterin ihres Geschlechts. Daß bei Frauen die Kleiderfrage stets eine so wichtige Rolle spielte, würde er wohl nie verstehen.

»Da kann ich dir wohl nicht bei helfen, mein Schatz. Er ist etwa dreißig Jahre jünger als ich, und unsere optischen Reizpunkte dürften wohl kaum identisch sein. Zieh dir irgendwas an, worin du dich wohlfühlst. Wenn er von dir genauso begeistert ist wie du von ihm, kannst du auch in einem Kartoffelsack auftreten, und er wird davon hingerissen sein. Mach dir also darüber keine Gedanken.« Schon während er ihn aussprach, wußte er, daß dieser letzte Tip ungehört verklingen würde. Sie sprang aus dem tiefen Sessel, raffte ihre Collegemappe und war sichtlich begierig, sich den praktischen Vorbereitungen des Abends zu widmen. »Tschüß, Papa.« Ein Kuß auf die Backe, ein liebevoller, kurzer Blick und weg war sie.

Er spürte das Vibrieren der eilig zugeschlagenen Tür, blieb mit verständisvollem Lächeln und Kopfnicken zurück und versuchte, wieder zu seinen eigenen Arbeitsabläufen zu finden.

*

Als Maximilian die Wohnungstüre aufschloß, erhob sich Otto mühsam von seinem Lager und kam ihm mit alterssteifen Knochen langsam entgegen, wobei sein Schwanz freudig von rechts nach links ausschlug.

»Na, mein Alter, wie hast du denn deinen Vormittag verbracht? Wieder nur gepennt?« Maximilian klopfte ihm kräftig die Schulterblätter und kraulte ihn hinter den Ohren, was Otto besonders liebte und mit einem kehligen Brummen honorierte. Otto hob mit der Schnauze die Leine von dem antiken Dielentisch und ließ sie vor Maximilians Füße plumpsen, eine beibehaltende Gewohnheit aus jüngeren Jahren. Viele andere, wie Springen, schnelles Laufen, Toben hatte er nach und nach aus Altersbeschränkungen aufgeben müssen, aber auf einem kurzen Gang an der frischen Luft ein- bis zweimal am Tag bestand er nach wie vor. Otto, steinalt und seines Zeichens Bernhardiner, war für Max das letzte atmende Bindeglied zu seinem Vater und hätte laut statistischem Mittelwert schon längst nicht mehr leben dürfen. Große Hunde waren erwiesenermaßen bedeutend kurzlebiger als kleine, und Doggen erreichten heute kaum mehr das siebte Lebensjahr. Aber Otto schien auf Statistiken und Mittelwerte zu pfeifen und hielt als Methusalem seiner Artgenossen eisern am Leben fest.

»Dann komm«, kam Max seiner Aufforderung nach und hob die Leine auf, »geh’n wir erst mal pinkeln.«

Die Wohnung lag praktischerweise sehr zentral, aber bis sie das erste Fleckchen Grün erreichten, hatte Max schon mindestens drei Bereitschaftsbekundungen zu einem kleinen Plausch durch einen kurzen Gruß im Keim ersticken müssen. Anonymität war hier nicht angesagt, und an manchen Tagen, wenn er einfach nur in Gedanken versunken mit Otto eine kurze Runde drehen wollte, nervte ihn die Vertraulichkeit der Kleinstadt ein bißchen. Es war unmöglich, hier unerkannt von A nach B zu gelangen, dafür war die Verbrechensrate extrem niedrig.

Er setzte sich auf die niedrige Umrandung eines Stückchens Wiese, während Otto innerhalb derselben die Grashalme zählte und genauestens abwog, welche davon er benetzen sollte. Max kannte das Problem aus dem Krankenhaus- auch ältere Herren hatten oft Schwierigkeiten beim Wasserlassen. Er ließ ihm alle Zeit der Welt und dachte dabei an Nane. Die Begegnung mit ihr erschien ihm manchmal geradezu unwirklich, obwohl ihr Bild sein inneres Auge seit gestern abend nicht verlassen hatte und ihr Lachen immer noch in seinen Ohren klang.

Ihre Augen hatten in der schummerigen Beleuchtung des Abends das tiefe Violettblau von Veilchen gehabt. Ob sie wohl bei Sonnenlicht genauso wirkten? Selbst durch die rauchgeschwängerte Luft hatte er ihren frischen Duft nach Pfirsichen und Sommerwind wahrgenommen. Ob sie wohl immer so roch, oder war es die geniale Komposition eines Parfümeurs in eine Flasche gebannt? Würden eigentlich jemals wieder andere Gedanken als die an sie in seinem Kopf Platz haben?

In ihren Erzählungen und Vorstellungen hatte er Vertrauen, Toleranz und Fairneß erkannt, Bausteine, die er selber als wichtige Bestandteile des menschlichen Miteinanders vermittelt bekommen hatte und die er bis jetzt noch nie bei einer Frau, in die er sich verliebt hatte, versammelt gefunden hatte. Er beugte den Kopf nach hinten und sah den Wolken zu, die trotz der relativen Windstille mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit durch das helle Blau getrieben wurden. Dicke Wattekörper mit ausgefransten Schwänzen, in denen man die merkwürdigsten Tierwesen erkennen konnte. Als kleiner Junge hatte er dieses Spiel überall und ohne Ende spielen können. Beim Einkaufen, an der Hand seiner Mutter, konnte er sie in den Zorn treiben, wenn er nach hinten gelehnt, den Blick nach oben, wie ›Hans guck in die Luft‹ neben ihr über jede Unebenheit stolperte. Am liebsten hatte er es im Sommer, geschützt im ungemähten Gras liegend, gespielt. Ganz für sich allein.

Otto legte auffordernd seinen schweren, breiten Kopf auf seinen Oberschenkel und sah ihn mit seinen leicht tränenden, braunen Augen unter hängenden Lidern unverwandt an.

»Tja, alter Knabe, kannst du dich erinnern, daß du ganz früher mal eine Hundedame getroffen hast, die dich mächtig beeindruckt hat? Genau das ist mir gestern abend passiert. Sie ist einfach toll, und ich muß dauernd an sie denken. Aber du kennst das ja.« Max erhob sich, und Otto stieg bedächtig über die niedrige Einzäunung.

»Ich werde sie dir vorstellen. Wenn alles gut läuft, schon bald, damit du weißt, wovon ich rede. Ich weiß es zwar nicht genau, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie keine Hunde mag.« Bis sie zurück in der Wohnung waren, erzählte Max Otto von Nane, und als Otto sich wieder auf seinem Lager niederließ, tat er dies vollinformiert.

*

Wally schüttelte den Kopf und schnalzte mißbilligend mit der Zunge. So konnte es nicht weitergehen, und sie konnte es schon gar nicht länger tatenlos mitansehen. Neulich erst hatte sie Dr. von Stein abgefangen und ihn praktisch zu einem Gespräch zwingen müssen. Zu Anfang hatte er sich sehr zugeknöpft gegeben, wenn nicht sogar verärgert über den unplanmäßigen Aufenthalt, aber sie hatte die Jahre einfach hinweggewischt und ihn wie den kleinen Jungen behandelt, als den sie ihn kennengelernt hatte. Dieser Taktik hatte er sich ergeben, zumal er selber auch schon mit einer gewissen Besorgnis Veränderungen bei Arno registriert hatte. Aber wie das so war, wenn man sich nur unregelmäßig sah, hatte er seine Wahrnehmungen immer wieder weggewischt und als normales Tagestief oder vorübergehende Schwermut abgetan. Aber nun, da Wally ihn darauf ansprach, mußte er sich ihnen stellen.

Es war nicht zu leugnen, daß Arno sich veränderte. Mit Sonjas Tod hatte sich ein Hauch von Traurigkeit über sein Wesen gelegt,der auch mit dem Ablauf vieler Jahre nicht wieder gewichen war, aber dieses hier war etwas anderes.

»Ich habe den Eindruck, er ist gar nicht mehr richtig bei uns, nimmt kaum noch Anteil und interessiert sich für rein gar nichts mehr. An manchen Tagen will er kaum das Bett verlassen und an anderen rührt er noch nicht einmal seinen Morgentee an. Außerdem redet er kaum noch mit uns, ist einsilbig und in sich gekehrt.« Wally schüttelte immer wieder den Kopf.

»Auch Gräfin Maja ist bereits äußerst besorgt.«

»Hat sie ihn denn einmal gefragt?« erkundigte sich Armin in der Hoffnung, daß es für dieses Verhalten irgendeinen konkreten Grund gebe, der beseitigt werden könnte.

»Natürlich, immer wieder. Aber er antwortet jedesmal dasselbe: es ist nichts, und wir müßten uns keine Sorgen machen.«

Für Armin sah das nach einer handfesten Depression aus, zumindest auf den ersten Blick. Gut, bei ihrem Schachspiel fiel Schweigen nicht sonderlich auf, weil Konzentration auf den nächsten Zug am besten bei Stille möglich war, aber auch da hatte Arno nicht auf die Sache konzentriert gewirkt, sondern einfach nur abwesend. Seine Züge waren zwar routiniert, aber oft wenig durchdacht, und anschließende Gespräche, die beiden immer so wertvoll gewesen waren, hatten schon seit längerem nicht mehr stattgefunden. Armin hatte dieses Verhalten seines Freundes als vorübergehendes Stimmungstief gewertet, aber nun schien es doch von tiefgreifender und dauerhafter Natur zu sein.

Wally sah Dr. von Stein mit der Hoffnung an, als könnte er das Rezept auf ein Medikament ausstellen, dessen Einnahme die umgehende Heilung bewirkte. Leider war es so einfach nicht, aber er klopfte Wally aufmunternd die rundliche Schulter und sagte mit der Absicht, ihr ein wenig von der Sorge zu nehmen: »Wir müssen ihn weiter beobachten und ich werde mir überlegen, was getan werden kann.«

Damit stieg er in sein Auto, fuhr weg, und Wally sah, wenig gestärkt, die Rauchwolken aus seinem Auspuff im trüben Grau des Tages verdampfen. Langsam begab sie sich ins Haus und machte sich in der Küche an die Zubereitung einer Geflügelpastete für das Abendessen. Auch während sie das bereits vorgekochte Huhn entbeinte und sein Fleisch in kleine Stücke schnitt, konnte sie ihre Gedanken nicht von ihrem Hausproblem lösen.

Sie glaubte nicht, daß Arno von der Diagnose seiner Zuckererkrankung so hinuntergezogen wurde, dazu kannte sie ihn zu gut. Es mußte andere Ursachen haben. Seit Tagen zermarterte sie sich deswegen das Gehirn, ohne zu einem für sie verständlichen Schluß zu kommen.

Auf der anderen Seite: waren die Reaktionen der menschlichen Seele oder des Gemütes immer verständlich? Sie kannte zig Fälle, die ihr immer ein Rätsel geblieben waren. Sicher, so eine Krankheit war nicht witzig und machte Umdenken und Umstellungen nötig, aber sie sah darin doch überwiegend praktische Probleme. Konnte über so etwas wirklich die Seele erkranken? Sie war ratlos, und das Gefüge des menschlichen Innenlebens erschien ihr so unübersichtlich vielschichtig, daß sie mit ihrer pragmatischen Art diesen unendlichen Möglichkeiten von Fehlleitungen völlig hilflos gegenüber stand. Alles schien ihr denkbar und nichts.

Gräfin Maja von Betigheim betrachtete ihren Sohn mit dem verstohlen-besorgten Blick, mit dem man Kranke musterte, die nicht wissen, wie schlimm es wirklich um sie steht.

Werner Hartmann war kurz vor dem Abendessen erschienen, um mit Arno ihre Maßnahmen gegen das massive Auftreten des Borkenkäfers in den Wäldern zu besprechen.

Arno, dessen Lebensinhalt seine Wälder und Ländereien waren und der über alles, was sie betraf, detailliert unterrichtet werden wollte, hatte Hartmann angesehen, als hätte dieser ihm vorgeschlagen, in der nächsten Ballettaufführung die Hauptrolle zu übernehmen, hatte die Schultern gezuckt und sich desinteressiert abgewandt.

Hartmann war hilflos im Raum stehengeblieben und konnte mit dieser atypischen, befremdlichen Reaktion seines Arbeitgebers sichtlich überhaupt nichts anfangen. Sein Blick glitt zwischen Wally und der Gräfin hin und her, während er auf eine Erklärung zu warten schien, aber die beiden waren über Arnos Reaktion ebenso konsterniert wie der Verwalter.

Schließlich sagte Maja: »Ach, Herr Hartmann, ich glaube, mein Sohn hat im Moment andere Dinge im Kopf. Ich werde es ihm sagen, sobald er wieder zugänglicher ist, und werden die richtigen Dinge in die Wege leiten. Ich verlasse mich da ganz auf Sie.«

Damit trat Hartmann sichtlich verwirrt den Rückzug an, und die beiden Frauen blieben ebenso verwirrt mit Arno zurück, der abwesend einen Fadenknoten in der Seitentapete betrachtete.

Wally stand auf, entschlossen, sich jetzt den nahrhaften Dingen des Lebens zu widmen und das Abendessen aufzutragen. Weder sie noch die Gräfin hatten ein Wort über den Vorfall verloren, wohl deshalb, weil er ihnen beiden rätselhaft war und keine wußte, was sie davon halten sollte, obwohl es als Steigerung gut in das Bild von Arnos jüngsten Verhaltensweisen paßte.

*

Arno lag in seinem Bett und betrachtete die Zimmerdecke. Das in sorgfältig gerahmten Kassetten gearbeitete Holz war im Laufe vieler Jahrzehnte zu einem dunklen Rotbraun angelaufen und hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf ihn ausgeübt. Er lag bereits längere Zeit wach, war aber unfähig, aufzustehen. Seine Gliedmaßen fühlten sich an, als wären sie mit Blei beschwert, und in seinem Kopf herrschte dieselbe Leere wie seit vielen Tagen. Am Abend hatte er Angst einzuschlafen, weil er diese Leere am folgenden Morgen fürchtete. Nicht nur die Leere in seinem Kopf, sondern die ganze Welt erschien ihm leer. Leer und öde. Nichts war mehr von Bedeutung, nichts mehr wirklich wichtig.

Wozu sollte er also aufstehen? Die Welt drehte sich immer in der gleichen Geschwindigkeit, ob er daran teilnahm oder nicht. Was hatte er in seinem Leben geschaffen? Er hatte lediglich das Erbe seiner Väter bewahrt und erhalten, nichts eigenes zuwege gebracht. Er war nur ein unbedeutendes Zwischenglied in einer langen Kette derer von Betigheims. Noch nicht einmal eigene Nachkommen hatte er zeugen können, in denen er weiterlebte.

Sein Dasein erschien ihm ohne Sinn und höhere Berechtigung. Er hatte noch nicht einmal den natürlichen Anspruch an den Erhalt der eigenen Art erfüllen können. Nur ein letzter Rest von Disziplin und Gewohnheit verlieh ihm die Kraft, sich schließlich doch zu erheben und die üblichen Abläufe des Tages anzugehen, immer mit den sich ständig wiederholenden Fragen im Hinterkopf: Warum? Wozu? Weshalb? Jede Bewegung fiel ihm schwer, und sein Körper erfüllte sie mit unendlicher Langsamkeit.

*

Wally räumte den Trockner aus, und während ihre Hände die Wäschestücke auf der Resopaloberfläche der Maschine glattstrichen und zusammenfalteten, fielen immer wieder Tränen in das aufgeplusterte Frottee der Handtücher. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich derartig hilflos gefühlt. Bisher hatte sie Probleme immer erkannt und sich dann umgehend mit deren Lösung beschäftigt, aber das klappte dieses Mal nicht in dieser bewährten Manier. Im Gegenteil, sie mußte sogar mitansehen, wie das Problem ständig größer wurde, ohne daß sie irgendwie eingreifen konnte. Dieser Zustand machte sie wahnsinnig.

Neue Inhalte, hatte sie überlegt, würden Arno vielleicht neue Sichtweisen verschaffen und ihn aus seiner Lethargie befreien, doch wie sollte sie ihm die beschaffen? Noch nicht einmal eine Mutter hatte noch die Bedeutung im Leben eines Fünfzigjährigen, daß sie ihn gefühlsmäßig derart aufmischen könnte, um ihm aus tiefer Schwermut helfen zu können. Geschweige denn sie, letztendlich eine Hausangestellte. Wally machte sich über ihre Rolle in Arnos Leben keine Illusionen, aber genauso klar sah sie die Rolle, die er in ihrem Leben spielte. Er war ihr Kind, stellvertretend für alle Kinder, die sie gerne gehabt hätte. Und wie hätte sie mitansehen können, wie ihr Kind vor die Hunde ging?

Ja, wenn er seinerseits Kinder gehabt hätte, wäre es sicher nie soweit gekommen, davon war sie überzeugt. Sie stutzte. Plötzlich hatte sie eine Idee. Arno hatte ein Kind, es existierte ein Nachkomme im Hause derer von Betigheim, auch wenn nur sie davon wußte. Sie mußte dieses Kind nur ausfindig machen und Arno von seiner Existenz in Kenntnis setzen. Die Reihenfolge mußte sie noch überdenken.

Sie begann, sich immer mehr für diese Idee zu begeistern, und sah darin schon fast die Lösung all ihrer Probleme. Aber sie würde damit das Leben aller Beteiligten durcheinander bringen. Hatte sie ein Recht dazu? Die vage Aussicht auf die Wiederherstellung von Arnos Seelenzustand rechtfertigte in ihren Augen nahezu alles. Aber wie sollte sie das Unternehmen beginnen? Sie hatte in ihrem bisherigen Leben noch nie die Gelegenheit gehabt, ihre detektivischen Fähigkeiten zu testen. Noch nicht einmal Kriminalromane las sie gerne, und Situationen, in denen ihr Spürsinn gefragt war, hatten sie auch nie entzückt.

Sie ließ ihre Hände auf dem weißen Frottee des Handtuches, das sie gerade zusammenlegte, ruhen und betrachtete grüblerisch die feinen Schlingen. Am besten, sie würde einen Privatdetektiv engagieren. Ob diese Figuren nicht nur in Filmen, sondern auch im Branchenadreßbuch vorkamen? Sie faltete das letzte Wäschestück und beschloß, die Sache sofort in Angriff zu nehmen.

*

Carla Winter schloß die Wohnungstür auf und konnte daran, daß Otto zu ihrem Willkommen nur ein Auge öffnete und die Rute, ohne sich zu erheben, freudig auf den Boden schlug, erkennen, daß Max den Hund bereits gelüftet hatte. Sie beugte sich herab und klopfte dem alten Hund den müffelnden Pelz.

»Na, Otto, bereits alles erledigt? Wo ist denn der Max?«

Otto blickte nun mit beiden Augen aufklärend in Richtung Wohnzimmer, wo sie ihren Sohn im Sessel hängend vorfand, mit Kopfhörern auf beiden Ohren von der Welt abgeschirmt.

»Hallo, Mütterlein.«

Als er sie sah, entledigte er sich der Kopfhörer, sprang elastisch auf die Beine und drückte ihr gutgelaunt einen Kuß auf die Wange. »Hast du eingekauft?« Er sah sich suchend um.

»Die Tüten stehen noch in der Diele«, sagte seine Mutter und wollte sich gerade daranmachen, die Waren in die Küche zu befördern

»Nichts da«, hielt ihr Sohn sie zurück und drückte sie in die Tiefen des Sessels, den er gerade verlassen hatte. »Du ruhst dich jetzt was aus, und ich zaubere uns schnell was zu essen.«

Carla lächelte und fügte sich der Anordnung. Wenn Maximilian in derart einsatzbereiter Stimmung war, wollte sie sich nur darüber freuen und es genießen, ohne mit ihm um die Pflichterfüllung zu wetteifern. Sie lehnte ihren Kopf mit der blonden Kurzhaarfrisur an die Rückenlehne und schloß die Augen. War es nicht wunderbar, einen erwachsenen Sohn zu haben, mit dem sogar das Zusammenleben noch fast reibungslos funktionierte? Sie wußte, daß die Tage der alltäglichen Gemeinsamkeiten gezählt waren und er in ganz absehbarer Zeit naturgemäß das Haus verlassen würde, um dann mit einer Frau zusammenzuleben. Doch noch war noch niemand am Horizont erschienen, um diese Rolle zu übernehmen, und bis es soweit war, wollte sie die Zeit noch genießen.

Der frühe Tod des Vaters, die Aufgabe des großen Hauses und der Umzug in diese kleine Wohnung hatten sie nur noch mehr zusammengeschweißt. Im Laufe der Jahre hatten sie sich wunderbar aufeinander eingespielt, und ihre kleine Gemeinschaft funktionierte sehr harmonisch. Noch nicht einmal Maximilian’s Pubertät hatte größere Störungen verursacht oder länger anhaltende Disharmonien. Sie hatte gelernt, seine Schwankungen mit Gleichmut auszubalancieren, und er hatte seine überschüssigen Energien vernünftigerweise in verstärktem Einsatz für die Schule abgebaut, was ihm sehr zugute kam.

»Welchen Salat soll ich machen? Eisberg oder den Kopfsalat?«

Die Frage aus der Küche riß sie aus ihren Gedanken. »Mach lieber den Kopfsalat, der Eisberg hält sich länger.« Sie fuhr sich mit allen zehn Fingern ihrer gepflegten Hände durch das fransige Haar und ließ sich wieder in den Sessel und in ihre Gedanken zurückfallen.

Durch die Tatsache, daß sie schwanger geworden war, hatten sie und ihr Mann ihre relativ junge Beziehung einer gründlichen Prüfung unterzogen und für gut befunden. Sie liebten einander und fühlten sich stark genug, gemeinsam ein Kind großzuziehen. Darum hatten sie gleich in den ersten Wochen der Schwangerschaft in kleinem Rahmen und ohne viel Aufhebens geheiratet. Es war damals zwar keine Schande mehr und der Begriff ›Mußehe‹ dabei, aus der Mode zu kommen, aber sie hatte trotzdem nicht mit deutlich gewölbtem Bauch vor den Standesbeamten treten wollen. Sie hatte sich sehr auf das Kind gefreut und fühlten sich schon seit dem Augenblick, seit sie wußten, daß sie ein Baby bekommen würden, als kleine Familie. Dann hatte sie eines Nachts starke Blutungen bekommen und das Kind verloren. Sie waren beide unendlich traurig, aber hatten dadurch auch erfahren, wieviel sie einander bedeuteten. Philipp und sie. Danach hatte sie im Laufe von zwei Jahren noch zwei weitere Fehlgeburten, und bei der dritten mußte sie von dem behandelnden Arzt hören, daß durch das Abtragen eines Myoms die Gebärmutterwand derartig dünn sei, daß die Chancen, jemals ein Kind vollständig auszutragen, verschwindend gering waren. Die Verarbeitung dieser Schicksalsschläge und die Annahme der Erkenntnis, daß sie wohl nie eine Familie sein würden, hatte sie sich aufeinander konzentrieren lassen und zur unauflöslichen Gemeinschaft verwoben. Philipp und Carla – Carla und Philipp.

Nicht lange nach Beendigung seiner Assistenzarztzeit hatte Philipp die Möglichkeit, die Praxis eines alteingesessenen Landarztes zu übernehmen, die er nach kurzer Bedenkzeit und nächtelangen Beratungen mit Carla auch ergriff. Gerade als sie die Mitarbeit in der Praxis und die Teilnahme an Philipps Berufsleben zu ihrem Lebensinhalt gemacht hatte, widerfuhr ihnen dieses unglaubliche Glück. Der Pfarrer des Dorfs, der von ihrem Schicksal wußte, trat an sie heran, als er Pflegeeltern für ein neugeborenes Findelkind suchte. Sie hatten keine Sekunde überlegt und ja gesagt. Wenig später ergab sich dann die Möglichkeit zur Adoption, aber wie genau die legalen Wege liefen, die sie gegangen waren, war Carla heute noch nicht ganz klar. Sie hatte das erste Jahr mit Maximilian, so hatten sie den Knaben genannt, als Zeit des Rausches in Erinnerung. Da waren keine Behördengänge und Formalien, keine Ängste und kein Bangen und keine Ungewißheit. Das alles hatte wohl überwiegend Philipp erledigt, sie konnte sich auf jeden Fall nicht mehr daran erinnern. Für sie war da nur das pure Glück der Mutterschaft. Er war so winzig, als er ihnen gebracht wurde, so unendlich klein und hilflos. Sie konnten ihr Glück so wenig fassen, daß sie ihn die ersten Wochen kaum aus den Augen ließen.

Philipp mußte natürlich arbeiten und konnte die Praxis nicht völlig vernachlässigen, aber als Ersatz für sie wurde eine neue Praxishilfe eingestellt, und so konnte sie die ganze Zeit an seinem Bettchen verbringen, jeden seiner Atemzüge überwachen und keine Sekunde den Blick von ihm lassen. Es wurde wohl kaum je ein Baby so behütet wie Maximilian in seinen ersten Lebensjahren. Er war in jeder seiner frühkindlichen Entwicklungsphasen das höchste Entzücken seiner Eltern. Wenn Carla ihn betrachtete, wie er mit seinen strammen Beinchen in der Sonne strampelte und dabei glucksende Lachtöne ausstieß, sie mit seinen braunen Augen, die die gleiche Farbe wie seine kräftigen Locken hatten, aufmerksam verfolgte, war sie sich absolut sicher, daß nie ein liebreizenderes Baby geboren worden war. Er hatte ihnen nie auch nur den geringsten Kummer gemacht, auch später nicht, als er größer wurde und sie von allen gutgemeinten Mitmenschen die Warnung hörten, daß nicht nur die Kinder größer würden, sondern auch die Probleme mit ihnen.

Maximilian hatte ihnen vom ersten Tag seines Erscheinens in ihrer Gemeinschaft an ausschließlich Freude gemacht. Aus der Tatsache, daß sie ihn adoptiert hatten, hatten sie nie ein Geheimnis gemacht, sondern ihn in dem selbstverständlichen Wissen um diesen Umstand groß werden lassen. Irgendwann in dem Alter zwischen fünfzehn und zwanzig, so hatte sie befürchtet, würde er nach seinen biologischen Wurzeln forschen wollen, würde wissen wollen, von wem er abstammte, aber sogar das war ausgeblieben. Als ihre Angst davor größer wurde, hatte sie mit ihm darüber gesprochen.

Er hatte sie in den Arm genommen und beruhigt: »Also davor, Mami, brauchst du dich nun wirklich nicht zu fürchten. Erstens hatte ich bis jetzt noch nie das Bedürfnis, das herauszufinden, und selbst, wenn ich es eines Tages wissen wollte: ich habe die beste Mutter und hatte den besten Vater der Welt. Für euch wird es nie eine Konkurrenz bei mir geben.« Er drückte sie fest, als wollte er seine Worte damit unterstreichen. »Selbst wenn ich mir meine Eltern hätte backen können, hätte ich meine Zweifel, ob ich sie so perfekt wie euch hinbekommen hätte.«

Sie erinnerte sich, damals sehr erleichtert gewesen zu sein, obwohl sie natürlich wußte, daß dieser Wunsch bei ihm jederzeit aufkeimen konnte. Vielleicht hatte sie den Stein sogar schon ins Rollen gebracht? Aber bis heute war nichts in dieser Richtung geschehen, und inzwischen hatte sie auch keinerlei Angst mehr davor. Was geschehen sollte, geschah. Sie sah ihre Beziehung zu ihrem Sohn als ausgereift und gefestigt an. Sie brauchte wirklich keine Konkurrenz zu fürchten. Sie blätterte in ihrer Erinnerung wie in einem Fotoalbum: das niedliche Baby, das entzückende Kleinkind, der kleine Max und der halbwüchsige, später der von Mädchen umschwärmte Abiturient…»Essen ist fertig!« rief der große Max aus der Küche, und sie riß sich aus ihren Gedanken los, um seiner Aufforderung zu folgen. »Mein Gott, hab ich einen Hunger«, stöhnte sie und rieb sich das Loch in der Magengegend, wobei ihr Blick voller Vorfreude auf den Spaghetti ruhte, die mit Tomatensauce in einer Schüssel dampften, appetitlich mit frischem Basilikum dekoriert.

Später, als sie sich gesättigt zurücklehnte, während Max über seine dritte Portion eine dicke Schicht Parmesan hobelte, betrachtete sie ihn aufmerksam. Irgend etwas war heute anders an ihm, aber sie konnte nicht entdecken, was. Er strahlte etwas aus – aus seinen Augen, aus seiner Mundhaltung konnte sie Glück und Erwartung lesen, aber worüber, worauf? Sie überlegte, daß er wohl entweder besonders erfolgreich war oder verliebt, wobei sie nicht wagte, ernsthaft auf die zweite Möglichkeit zu hoffen. Sie fand schon immer, daß Maximilian, was das andere Geschlecht betraf, sehr zurückhaltend und wählerisch war. Es liefen doch so viele nette Mädchen in dieser Welt herum und besonders an der Uni, warum gefiel ihm nur keine davon auf Dauer? Manche entwickelten ihre Qualitäten erst im Laufe der Zeit. Sicher hatte er schon Beziehungen gehabt, und einige hatte er auch mit nach Hause gebracht, aber der Überschwang an Gefühlen, den sie ihm gewünscht hätte, war nie dabei gewesen. Kaum war ein Mädchen öfter bei ihnen oder hatte gar verschiedentlich bei ihm übernachtet, schien die Beziehung auch schon wieder beendet zu sein. Kein Name wurde von ihm länger als ein paar Wochen erwähnt, dabei waren durchaus einige darunter gewesen, die sie als zu ihm passend empfunden hätte. Sie hätte es ihm so gegönnt, denn sie wußte aus eigener Erfahrung, wie beglückend eine gut funktionierende Partnerschaft sein konnte. Sie wußte, daß sich ihre Gemeinschaft naturgemäß irgendwann ändern würde, und sie war darauf eingestellt: nicht nur das, sondern sie sah eine mögliche feste Freundin ihres Sohnes oder eine Schwiegertochter sogar als Bereicherung an. Dabei ging sie allerdings immer davon aus, daß sie sich mit ihr gut verstehen würde, was, allgemein gesehen, leider nicht die Regel war. Sie hatte auch keine Angst vor dem Alleinsein. Sie war gerne mit sich selber zusammen.

Nach Philipps Tod war das etwas anderes gewesen. Da hatte sie sich verlassen gefühlt, wie amputiert, oder als hätte man ihr lebenswichtige Organe entnommen, und sie hatte schmerzvoll lernen müssen, ohne sie zurechtzukommen. Aber der Weggang eines Sohnes war nicht mit dem Tod eines geliebten Partners zu vergleichen.

»Wie bitte?« Max hatte seine Spaghetti aufgegessen und ihr eine Frage gestellt, die sie glatt überhört hatte.

»Hast du heute noch etwas vor?« wiederholte Max und setzte hinzu: »Ich bin nachher wieder weg.«

»Inge und ich hatten überlegt, ob wir heute abend zusammen ins Kino gehen sollten. Der neue Film von Robert Redford interessiert uns, aber wir haben noch nichts festgemacht. Mal sehen.« Damit wußte Max seine Mutter auf jeden Fall versorgt, was ihn immer beruhigte, denn er haßte den Gedanken, sie könne zu Hause sitzen und sich einsam fühlen. Nicht, daß er sich dadurch hätte abhalten lassen, aber er fühlte sich einfach besser, wenn er wußte, daß es ihr gut ging. Das gehörte zu seiner Verantwortung ihr gegenüber, die er automatisch nach dem Tod seines Vaters übernommen hatte. Carla stand auf und begann, den Tisch abzuräumen, wobei ihr Otto nicht von den Fersen wich, der zu diesem Zeitpunkt immer auf Restzuwendungen in der Küche hoffte.

*

Die Luft in der Kneipe war so undurchsichtig, wie man sich gemeinhin den Londoner Nebel vorstellte. Der Qualm der Zigaretten wurde von der überhitzten Raumluft in langen Schlieren um die niedrighängenden Lampen über den rohen Holztischen drapiert.

Nane, die eine freie Ecke in einem der dichtbelagerten Tische ergattert hatte, nahm einen großen Schluck von ihrem Mineralwasser, das trotz der Eiswürfel viel zu schnell die Raumtemperatur annahm, und sah zum wiederholten Mal auf ihre Armbanduhr. Nur noch drei Minuten bis zur verabredeten Zeit. Ob er überhaupt kommen würde? Vielleicht nahm er ihr Treffen längst nicht so wichtig wie sie und hatte es vergessen? Sie hatte noch zwei Bücher in die Unibibliothek zurückgebracht und da das schneller ging als erwartet, war sie bereits zehn Minuten früher im ›Troubadour‹ eingelaufen. Sie wollte gerne die ständig hin und her schwingende Eingangstür im Auge behalten und schimpfte innerlich über eine Gruppe heftig diskutierender Studentinnen, die ihr den Blick darauf versperrte.

»Rutsch mal ein Stück weiter!« Ein ungepflegter Knabe deutete mit seinem pickligen Kinn in die Richtung, in die er wünschte, daß sie sich auf der Bank bewegte.

»Geht nicht, da ist besetzt. Ich warte noch auf jemanden«, sagte Nane eher unwillig, womit der Picklige sich wortlos zufriedengab.

Wo blieb er denn nur?

»Tut mir leid, aber ich hab ewig keinen Parkplatz gefunden.« Max stieg hinter den Rücken der Sitzenden über die Bank und ließ sich auf den freigehaltenen Platz fallen. Zur Begrüßung drückte er seine kalte Frischluftwange gegen ihre überhitzte, als wären sie schon seit Jahren bekannt. Dieses Gefühl stellte sich auch bei Nane mit seinem Auftauche wieder ein, und bald waren sie bereits in ein intensives Gespräch vertieft, das beide ihre Umgebung völlig vergessen ließ.

Was hat sie für einen wunderschönen Mund, dachte Max, während sie von dem erhöhten Dozentenausfall in diesem Semester berichtete, und er mußte sich zügeln, daß er nicht den zarten blonden, kaum wahrnehmbaren Flaum vor ihrem Ohrläppchen berührte, einem Ohrläppchen, das zu einem perfekt geformten kleinen Ohr gehörte.

Obwohl ihr Kopf voll beim Krankenstand der Dozenten ihrer Uni war, registrierte Nane, daß ihre Finger zu gerne zärtlich der markanten Linie von Max’ Kiefer gefolgt wäre. Seine Zähne waren perfekt, und sein Lachen war einfach einnehmend. Sie konnte sich nicht erinnern, je einem Mann mit einem derart sympathischen Lachen begegnet zu sein. Sie wollte ihn berühren, ihre Nase tief in seinen glänzenden, kastanienbraunen Locken vergraben, ihn spüren und mit allen Sinnen ungehemmt wahrnehmen. Sie legte ihre Hände aufeinander, als müßte sie darin ihre ganze Selbstbeherrschung versammeln.

Max bemerkte irritiert, daß die Intensität, mit der er sein Gegenüber wahrnahm, ihn zunehmend von dem Inhalt ihres Gespräches ablenkte. Sie trug die Haare heute hochgesteckt, und er hätte zu gerne sein Gesicht in ihrer Halsbeuge versenkt um die Weichheit ihrer Haut und ihren Geruch nach Pfirsich und Sommerwind, den er auch heute wieder schwach wahrnahm, in sich aufzunehmen. Um jeder Versuchung zu widerstehen, ließ auch er seine Hände auf der Tischplatte ruhen, wo sie zwischen der Enge der Gläser unweigerlich auf die ihren trafen, und während sich ihre Köpfe weiterhin mit der Situation des Lehrpotentials befaßten, ertasteten sich ihre Fingerspitzen gegenseitig und begannen einen verträumten Reigen. Ein weiteres Pärchen drängte an den Tisch, und da die Bänke von beiden Seiten aufrückten, wurden sie in der Ecke eng aneinander gedrückt, was keinem von ihnen ausgesprochen unangenehm war. Obwohl umgeben von Rauch, Qualm, Stimmengewirr und hundert Leuten, fühlten sie sich wie auf einer winzigen Insel, die nur von ihnen beiden beherrscht war. Ein viertel Quadratmeter Holzbank reichte für diese Illusion, die sie weit über die Enge der Kneipe hinaustrug.

»Sonst noch jemand etwas?« fragte die Bedienung mit aufforderndem Blick, nachdem sie gerade eine umfangreiche Bestellung von dem Pickligen aufgenommen hatte, der sich noch etliche am Tisch anschlossen.

An Nane und Max ging diese Frage vorbei. Ihre jeweils linke und rechte Körperhälften waren eng aneinander gepreßt und sandten unaufhörlich elektrische Impulse aus. Nanes Erzählung geriet ins Stocken, seine Augen schienen in den ihren nach ihrer Seele zu suchen, und auch sie hatte sich in dem tiefen Braun verloren. Langsam, ganz langsam näherten auf dieser Suche sich ihre Gesichter einander, bis ihre Lippen warm und sanft aufeinander trafen. Sie wiederholten diese Treffen einige Male, bis sich die Zartheit der Leidenschaft steigerte und sie dieses Spiel fast erschrocken abbrachen. Plötzlich wurden sie sich ihrer Umgebung bewußt und empfanden die rauchgeschwängerte Luft, den Lärm und die vielen Leute als störend.

»Sollen wir gehen?« fragte Max, und Nane nickte. Beide wählten den kürzesten Weg, ließen sich unter den Tisch gleiten und krabbelten kichernd wie die Kinder zwischen den unzähligen Beinen hindurch der Freiheit entgegen. Am Tresen zahlte Max ihre sparsame Zeche, bevor sie durch die Schwingtür an die frische Luft traten, die sie nach dem wabernden Nikotin drinnen wie ein Gesundheitsschock traf.

»Und nun? Hast du Lust auf Disco?« erkundigte sich Max.

»Warum nicht?« erklärte Nane ihre Zustimmung. »Meine Schwester war neulich am Habsburgerring in so einem Schuppen, von dem sie ganz begeistert war. Sollen wir’s da mal versuchen? Ist doch nur ein paar Straßen von hier.«

Noch bevor Max sein o.k. gegeben hatte, sprintete sie los und wurde von ihm erst in Höhe einer kleinen Parkanlage, die sich durch ein hohes Eisengitter von der Straße abgrenzte, eingeholt. Er fing sie an der Kapuze ihres Dufflecoats ab, und sie ließ sich vertrauensvoll nach hinten gegen seinen Brustkorb fallen.

»Sieh dir das an, das sieht fast aus wie in London. Dort hat auch jeder Stadtteil seinen eigenen kleinen Park. Sollen wir reingehen?« Dabei deutete sie auf das große, schmiedeeiserne Tor, das, mit Blumenranken verziert, leicht schief in seinen rostigen Angeln hing. Max nickte, und gemeinsam drückten sie gegen das betagte Tor, das sich unter quietschendem Protest weigerte, sich weiter als zu einem Drittel zu öffnen. Sie schlüpften hindurch, es war ihnen, als würden sie eine andere Welt betreten. Automatisch flüsterten sie, als hätten sie Angst, die Ruhe zu stören, die über Büschen und Sträuchern lag. Das Rauschen des Verkehrs, das in der Stadt zur ständigen Geräuschkulisse gehörte, wurde hier vollkommen von den uralten Bäumen geschluckt, die in der Höhe ihre Äste beschützend miteinander verwoben.

»Meinst du, es ist verboten, hier drin zu sein?« flüsterte Nane.

»Nein, warum denn? Es war nirgends ein Schild in dieser Richtung.

»Es wirkt nur so.«

Nane streckte schutzsuchend die Hand nach Max aus, bevor sie sich daranmachte, den Rasen zu betreten und den Park zu erkunden. Der zunehmende Mond spendete von einem wolkenlosen Himmel ausreichend Beleuchtung, denn das Licht der Laternen an der großen Straße reichte nicht bis hierher.

Max’ Hand lag warm und sicher um ihre, so daß sie keinerlei Angst verspürte, dieses Geheimnisvolle zu erforschen. Ihre Füße sanken tief in den moosigen Untergrund des Rasens und versuchten nicht den geringsten Laut. Erst als sie einen Weg erreichten, erschraken sie vor dem Knirschen ihrer eigenen Schritte auf dem hellen Kies. Sofort raschelten im Laub des Unterholzes einige Mäuse, die wahrscheinlich noch viel mehr erschrocken waren als sie selber und sich hüteten, gesehen zu werden. Als auch noch eine große Ratte panikartig ihren Weg kreuzte, bevor auch sie unter dem Laub verschwand, gaben Nane und Max sich verstärkt Mühe, die Bewohner nicht unnötig zu stören.

»Hast du eigentlich keine Angst vor Mäusen oder Ratten?« fragte Max, dem diese rätselhafte Furcht bei fast allen Frauen begegnet war.

Doch Nane schüttelte den Kopf. »Nein, wieso auch? Ich mag fast alle Tiere, und Mäuse, finde ich, haben total süße Gesichter. Nur Schlangen brauche ich nicht unbedingt, aber auch die haben ihre Daseinsberechtigung.«

Max gefiel diese Einstellung, die nach Naturbezogenheit und nicht nach Hysterie klang, außerordentlich. »Auch nicht vor einer ganzen Mäuseinvasion?« Max gab den Auftakt zu endlosen Albereien. Sie rannten voreinander weg, nur um sich wieder fangen zu können und mit zahllosen kleinen Küssen zu bedecken, versteckten sich hinter Bäumen, um baldmöglichst gefunden und umarmt zu werden. Sie wurden dieser kindischen Spiele im nächtlichen Park kaum müde, und als Nane sich schließlich doch außer Atem auf eine der Teakholzbänke fallen ließ, deren Oberfläche silbrig im Mondlicht schimmerte, waren sie augenblicklich in Erzählungen vertieft, die sie Raum, Zeit und sämtliche Discovorhaben vergessen ließen. Wie lange würden sie brauchen, bis sie alles voneinander erfahren hatten? Eine Nacht, ein Jahr, ein Leben?

*

Das Klappern und Klirren von Geschirr, Gläsern und Besteck klang gedämpft durch die Tür des angrenzenden Eßzimmers, wo das Mädchen mit dem Eindecken des Tisches beschäftigt war, in den Salon. Miriam Baronin von Wollenstedt griff sich gequält an den Kopf. »Mein Gott, das geht doch auch leise. Hat diesem Geschöpf denn nie jemand beigebracht, daß diese Tätigkeiten in einem gepflegten Haushalt geräuschlos verrichtet werden? Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr.«

»Bibiane, ihre Tochter, die bis dahin in eine Zeitschrift vertieft gewesen war, sprang bereitwillig auf, um nach nebenan zu eilen und das Dienstmädchen zu rüffeln. So etwas übernahm sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit nur zu gerne und empfand dabei eine fast triumphale Freude, weshalb sie bei dem Personal als das bestgehaßte Familienmitglied galt, noch vor ihrer Mutter, der man immerhin die Position der Hausherrin zusprechen mußte.

»Ach, laß es lieber. Sie wird vermutlich gar nicht verstehen, wovon du redest«, hielt Miriam ihre Tochter von übereiltem Eingreifen ab. Sie dachte an die hohe Fluktuation bei ihrem Personal und dem damit verbundenen Ärger. Vermutlich würde das Mädchen auf Bibis berechtigte Korrektur überempfindlich reagieren, die Sachen hinschmeißen und nicht mehr wiederkommen, und sie hätte dann letztendlich wieder den Ärger damit. Sie verabscheute Probleme mit dem Personal. Ihrer Ansicht nach hatten Dienstboten zu funktionieren und sich ansonsten unauffällig zu verhalten, alles andere war ihrem Status völlig unangemessen.

Die Tür öffnete sich, und Baron Hajo von Wollenstedt betrat den Salon. Er begrüßte Frau und Tochter mit einem flüchtigen Kuß, der von Bibiane eher belästigt geduldet wurde. Als er die senkrechte Falte bemerkte, fragte er: »Hattest du irgendwelchen Ärger?«

Doch seine Frau winkte ab. »Ach, nur eine unbedeutende Kleinigkeit mit dem Mädchen.«

Dem Baron waren die abrupten Reaktionen beim Personal, die gelegentlich von dem Verhalten seiner Damen ausgelöst wurden, nicht unbekannt und darüber hinaus sogar fast verständlich. Wer sich heute noch in eine dienende Stellung begab, war nicht mehr von dem gleichen Geist beseelt wie vor hundert Jahren. Sie waren nicht ausschließlich dankbar für ihren Job, sondern selbstbewußt und kannten ihre Rechte. Auch waren sie selten bereit, sich zum Spielball der launenhaften Kritik ihrer Arbeitgeber zu machen, und reagierten auf Ungerechtigkeiten äußerst sensibel. Von beiden, Launenhaftigkeit und Ungerechtigkeit, bekamen sie in seinem Haushalt einiges geboten, wie Hajo befürchtete, wobei er Nane bei den Verursachern natürlich ausnahm.

Er kannte seine Frau und seine jüngere Tochter gut genug, um zu ahnen, daß er nur ein Bruchteil dessen mitbekam, was tatsächlich ablief. Er seinerseits versuchte, durch Freundlichkeit, Verständnis und weit über Tarif liegende Löhne, die Leute zu Geduld und Toleranz zu bewegen, was nicht immer gelang. Zumindest trugen die guten Gehälter dazu bei, daß sich immer wieder Menschen fanden, die trotz des schlechten Rufes bereit waren, in ihrem Haushalt zu arbeiten.

»Daddy«, schnurrte Bibiane, der plötzlich die Wichtigkeit des Tages eingefallen war, wie ein Kätzchen, das einen Dosenöffner überzeugen will, »Daddy, ich hab heute eine traumhafte Jeansjacke gesehen. Nicht so billig, aber Mami meint auch, sie wäre wie für mich gemacht. Mit Nerz abgefüttert, man kann sie also auch im Winter tragen.« Mit derartig schlagenden Argumenten hatte sie ihren Vater schon fast überzeugt, doch als sie den Preis nannte, ging seine rechte Augenbraue skeptisch in die Höhe, und er hakte nach.

»Verrate mir doch mal, warum ein Mädchen in deinem Alter eine nerzgefütterte Jeansjacke in dieser Preiskategorie braucht.« Als Bibi dazu nicht sehr viel Überzeugendes einfiel, schaltete sich ihre Mutter ein.

»Sie sieht wirklich entzückend aus, Hajo. Du wirst sehr stolz auf sie sein.«

Hajo konnte sich zwar nicht vorstellen, warum er wegen einer überteuerten Jeansjacke stolz auf seine Tochter sein sollte, hatte aber auch keine Lust zu weiteren Diskussionen über dieses Thema. Überhaupt konnte er sich nur an ein einziges Mal erinnern, stolz auf Bibiane gewesen zu sein: anläßlich ihres Auftritts als Engelchen bei einer Weihnachtsaufführung im Kindergarten. Danach nie wieder. Sie hatte ihn weder durch schulische, geistige oder sportliche Leistungen noch durch Charme oder Schönheit zu Gefühlen dieser Art gereizt, und Kommunikation fand zwischen ihnen nur auf der Konsumebene statt. Aber selbst da kam er als Gesprächspartner nur dann in Frage, wenn die Anschaffung eines Teiles über einem gewissen Preislimit lag. Ab einer bestimmten Größenordnung hielt es sogar seine Frau für anständig, sich mit ihm als Geldgeber abzustimmen oder ihn doch zumindest zu informieren.

Seine Tochter orientierte sich diesbezüglich völlig an dem mütterlichen Vorbild, und auch in den meisten anderen Dingen war sie ein Abklatsch der Verhaltensweisen ihrer Mutter. Ihre Hauptthemenkreise waren Mode, gesellschaftliche Ereignisse und natürlich gerne und ausgiebig die Fehler ihrer Mitmenschen. Wenn sie sich ungestört wähnten, drehten sich ihre Gespräche auch häufig um Männer. Männer, die für Bibiane in Frage kommen könnten, und Männer, die Miriam bei irgendeiner Gelegenheit Komplimente gemacht hatten.

Manchmal taugten auch schon vielversprechende Blicke für eine ausführliche Unterhaltung darüber. Was ihn aber, neben der Oberflächlichkeit, am meisten daran störte, war, daß er Bibiane von ihrer Mutter als Negativbeispiel eines Mannes dargestellt wurde. Nicht absichtlich und demonstrativ, sondern selbstverständlich und schleichend in kleinen, nebensächlichen Sätzen oder Betonungen. Bibiane erfuhr auf diese Weise seit Jahren, daß so wie ihr Vater kein richtiger Mann zu sein hat. Weder in Aussehen, noch im Temperament oder Denkweise. Richtige Männer gab es in verschiedenen Varianten, doch keine sollte nach Möglichkeit irgendwelche Ähnlichkeiten mit ihm aufweisen. Tat sie es doch, war das ein schlechtes Indiz für den Typen. Nur als Geldquelle taugte er und hatte als solche am besten unentwegt zu sprudeln.

Hätte es Nane, die aus rätselhaften Gründen so vollkommen anders war als diese beiden und mit der ihn eine erfüllende Vater-Tochter-Beziehung verband, nicht gegeben, wäre er sicher schon längst aus dem Verein ausgetreten. Aber Gott sei Dank gab es diese älteste Tochter, und sie rechtfertigte in seinen Augen für ihn jedes Opfer für die Familie. Familie war in seinen Gefühlen immer nur Ariane gewesen. Schon als sie ihm kurz nach der Geburt winzig und schrumpelig in den Arm gelegt wurde, hatte sie ihn in einem Reflex angelächelt, und so war es geblieben. In diesem Sekundenbruchteil hatte er sein Herz für den Rest seines Lebens an sie verloren.

Bei Bibiane war das Gegenteil abgelaufen. Sie hatte, sobald sie mit ihm in Kontakt kam, optisch oder gar körperlich angefangen zu brüllen, was das Zeug hielt. Irgendwann hatte er es bei soviel Ablehnung aufgegeben, sich um sie zu bemühen, und ihre Antipathie als naturgegeben hingenommen.

Im Laufe der fast zwanzig Jahre, die sie nun auf dieser Welt war und die für ihn angefüllt waren mit ablehnenden Erfahrungen in jeder Phase ihrer Entwicklung, waren ihm beinahe alle Vatergefühle für sie abhanden gekommen, und er betrachtete sie manchmal mit der Distanz eines Fremden. Was er dann sah, gefiel ihm noch nicht einmal besonders. Ihr Wesen empfand er als zänkisch und hart mit einem gelegentlichen Hang zur Bösartigkeit, ihre Urteile als oberflächlich und intolerant, und in ihren Gesichtszügen spiegelte sich ihr Charakter in vollem Umfang wieder. Irgendwie schien alles nicht recht zusammenzupassen. Die äußere Form ihres Gesichts war weich und rund, die Nase hingegen etwas zu lang und spitz, die Augen unter hängenden Lidern kaum zu sehen und der Mund schmallippig und klein. Durch gut angewandte Schminktechnik und teure Produkte brachte sie jedoch allmorgendlich alles in eine nett anzusehende Form. Sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Nane, weder innerlich noch äußerlich, und manchmal fiel es ihm schwer zu glauben, daß die beiden tatsächlich Geschwister waren. Nur die Haare waren von derselben wunderbaren Qualität. Doch während Nanes in einem satt glänzenden, natürlichen Honigblond erstrahlten, mufften Bibis in durchschnittlichem mausgrau vor sich hin, dem sie jedoch mit häufigen Friseurbesuchen und experimenteller Farbgebung zu Hause abhalf.

»Wie ist das denn nun mit der Jacke, Daddy?« quäkte Bibi in bereits leicht ungeduldigem Ton, da sie sein Okay schneller und freudiger erwartet hatte.

»Wenn du meinst, sie ist dein Schlüssel zum Glück und du mußt sie unbedingt haben, von mir aus«, gab er nach, weil er sich mal wieder für seine emotionale Distanz zu ihr schämte, die er als nicht richtig empfand, aber wohl nicht mehr ändern konnte. Also ließ er sich auf die Ebene ein, die sie ihm anbot: Konsum.

*

Wally balancierte das schwere, unhandliche Branchenadreßbuch auf ihren runden Knien und fuhr mit dem Finger die Rubriken ab:… Preßluft… Privatschulen… Wo konnte sie Privatdetektive finden? Sie probierte es unter »D«. Desinfektion… Detekteien. Aha.! Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wieviele Detektive, Ermittler und Beobachter es in ihrer Nähe gab. Großformatige Anzeigen, ganzseitige und bescheiden einzeilige. Alle versprachen Qualifikation und Diskretion. An wen sollte sie sich da um Himmels willen wenden?

Sie las jede Anzeige aufmerksam durch und begann dann, rein nach Sympathie des Wortbildes, auszuwählen.

Ja, Klaus Küster, Ermittlungen aller Art, diskret und zuverlässig, gründlich und preiswert. Damit war doch alles angesprochen, was sie erwartete, und der Name klang in ihren Ohren sympathisch. sie beschloß, anzurufen und die Dinge in die Wege zu leiten.

Tags darauf betrat sie am frühen Mittag ein Büro, das nicht im entferntesten Ähnlichkeit mit den Örtlichkeiten gleichen Zwecks in ihren Vorstellungen hatte. Ihre Vorstellung davon, genährt von zahlreichen Kriminalfilmen, war düster, zweifelhaft und undurchsichtig, die Realität, der sie sich nun gegenüber sah, jedoch hell, modern und lichtdurchflutet. Vor Betrachten des schnörkellosen Neubaus in der Innenstadt hatte sie sich durch einen Blick auf das blank polierte Messingschild vergewissert, daß sie richtig war.

Klaus Küster – Ermittler stand dort in schwarzen Buchstaben auf blinkendem Grund. Das Treppenhaus war mit grauen Marmorplatten ausgekleidet und roch verhalten nach Putzmitteln. Sauberkeit bedeutete bei Wally eindeutig Pluspunkte. Auch der Aufzug war sauber, nicht beschmiert und beförderte sie leise surrend nach oben, wo die sich öffnende Lifttür sie direkt vor den Schreibtisch einer freundlich lächelnden Empfangsdame entließ.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte die gepflegte Dame einsatzbereit und sah Wendy erwartungsvoll an.

»Wally. Wally Schneeberger. Ich habe einen Termin mit Herrn Küster.« Sie streckte ich und hatte die zu ihren Erwartungen so konträren Eindrücke schon fast verkraftet.

»Kommen Sie bitte mit.« Die Dame erhob sich und forderte Wally mit einer einladenden Handbewegung auf, ihr zu folgen. Ein Stück den breiten Flur entlang öffnete sie eine dick gepolsterte Doppeltür und kündigte »Frau Schneeberger« an, worauf ihr ein untersetzter Mann, dessen kugeliger Bauch so rund war wie sein völlig haarloser Kopf, strahlend entgegen kam und ihr die Hand schüttelte, als wären sie gute Bekannte, die sich nach Jahren wiedersehen. Er strahlte so offen und vorbehaltlos in die Welt, daß Wally bereits im ersten Moment beschloß, daß sie zu diesem Menschen Vertrauen haben konnte, was sie sehr erleichterte, denn sie befand sich in dieser Branche ja auf völlig neuem, unbekanntem Territorium.

Nachdem sie in einer einladenden Sitzgruppe Platz genommen hatten, fragte Herr Küster: »Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Schneeberger?« Dabei sah er sie so aufmunternd und unbefangen interessiert an, daß alle Peinlichkeit von Wally abfiel und sie ihm das Problem in aller Ausführlichkeit darlegen konnte. Er hörte ruhig zu, hakte dann und wann einmal nach und notierte sich die wenigen Fakten.

»Nun, ich weiß«, schloß Wally ihre Darlegung und drehte den Zipfel eines Tempotaschentuches zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem festen Kegel, »daß ich Ihnen nicht allzu viele Anhaltspunkte geben kann, aber meinen Sie, Sie könnten damit etwas anfangen?«

Herr Küster nickte. »Sicher. Ich denke schon, daß wir mit Scharfsinn und ein bißchen Glück ihr Problem gelöst bekommen. Ich werde mich ab sofort darum kümmern und schätze, daß wir in ein bis zwei Wochen bereits ein ganzes Stück weiter sind.«

»Ach, wirklich?« meinte Wally, der, je mehr sie sich in letzter Zeit damit beschäftigt hatte, eine Lösung immer aussichtsloser erschienen war. Wo sollte man denn da ansetzen? Das alles war schon so viele Jahre her, daß es ihr unmöglich erschien, heute noch die Entwicklung von damals nachzuvollziehen. »Aber sicher, Frau Schneeberger. Bedenken Sie: das ist unser Job, und wir haben nun schon viele Jahre die Möglichkeit gehabt, Erfahrungen zu sammeln und Mittel und Wege aufzutun, um zu Lösungen zu gelangen. Das wird uns, so hoffe ich zuversichtlich, auch in Ihrem Fall gelingen.« Dabei verbreitete er augenzwinkernd so viel Optimismus, daß Wallys Zweifel augenblicklich verflogen und sie bereit war, an den Erfolg der Ermittlungen zu glauben. Sie erhob sich, schob das während des Gespräches weitgehend zerpflückte Tempotaschentuch in ihre Manteltasche und streckte Herrn Küster die Hand entgegen. »Also, dann auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Frau Schneeberger. Ich werde mich bald bei Ihnen melden.« Er brachte sie zur Tür seines Büros, die er für sie aufhielt, und sah ihr nach, wie sie mit weit ausholenden, bestimmten Schritten, die so gar nicht zu den nervösen Bewegungen ihrer Finger paßten, den Korridor hinunter ging. Die Frau gefällt mir, dachte Klaus Küster. Die Frau gefällt mir gut.

*

Max setzte das Skalpell an und drang mit sicheren, präzisen Schnitten durch das Fettgewebe der weiblichen Brust vor ihm auf dem Seziertisch und hatte schon bald die Drüsenläppchen freigelegt. Keiner der Milchgänge war beschädigt worden. Er hatte Glück gehabt: die Brust, die ihnen zugeteilt worden war, war klein und hatte damit wenig Fettgewebe, in dem man sich mit dem Schneidewerkzeug verlieren konnte. Johannes, mit dem er sich die Brust teilte, hatte ihm den Vortritt gelassen, da er genau wußte, wie die Talente verteilt waren. Er verabscheute die Pathologie und die Arbeit am toten Fleisch, für Maximilian hingegen war es die absolut notwendige, hochinteressante Untermauerung theoretischen Wissens.

»Kollege Winter, Sie sind jetzt mit dem zweiten Examen dran?« Der dichtbehaarte graue Kopf von Professor Findeis hatte sich interessiert über das Seziergut geschoben und nickte anerkennend. Eine seiner Marotten war es, die seiner Studenten, von denen er besonders viel hielt, so verfrüht mit ›Kollege‹ anzusprechen, was allgemein als Auszeichnung verstanden wurde.

»Schon eine Ahnung, wohin Sie tendieren?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, brummte er bereits im Weitergehen. »Chirurgie würde ich vorschlagen, Chirurgie«, und beugte sich über den nächsten Tisch. Johannes und May sahen sich an und grinsten. Der alte Findeis war ein Pathologe, wie er im Buche stand, eigenwillig und schrullig, aber voller Sachverstand und ein As auf seinem Gebiet. Er fand nicht viele ›Kollegen‹ unter seinen Studenten.

»Wann lernen wir sie eigentlich endlich mal kennen?« fragte Johannes, während er sorgfältig einen Hautlappen nach hinten legte und damit Max das Operationsfeld frei hielt. Dieser sah fragend auf. »Wen?«

»Na, deine neue Vorliebe. Ist es eigentlich das Mädchen vom Frühlingsfest?«

Maximilian nickte unwillig. »Und das fällt dir ausgerechnet jetzt ein?«

»Ist doch wohl naheliegend«, unkte Johannes und ließ den Hautlappen los, der auch ohne seine Unterstützung liegenblieb. »Also, wann?« hakte er nach.

»Früh genug, und jetzt konzentrier dich lieber.«

»Wie heißt sie denn eigentlich?«

»Mann, du nervst.«

»Nun sag schon, wie heißt sie?«

»Nane. Also eigentlich Ariane, und jetzt ist Schluß mit dem Thema. Saug lieber mal die Flüssigkeit hier ab.«

Es verging kein Tag, an dem Nane und er sich nicht trafen und mindestens ein paar Stunden miteinander verbrachten, wobei sie nicht nur der Liebe frönten, sondern sich auch gegenseitig mit ihren Studieninhalten vertraut machten. Nane fand die Medizin schaurig schön und Max die fremden Sprachbilder hochinteressant und exotisch. Am liebsten hätten sie sich ganz aufeinander konzentriert, mit absoluter Ausschließlichkeit. Daß Freunde und Familie auch noch Ansprüche an sie hatten, räumten sie nur sehr ungern ein. Vom Kopf war beiden klar, daß sie nun, nachdem sie schon fast wochenlang in der Versenkung der Zweisamkeit verschwunden waren, bald wieder auftauchen mußten, um sich der Welt zu stellen. Sie waren noch so fasziniert voneinander, daß sie dritten keinen Platz einräumen konnten.

Neulich, als sie am frühen Abend aus dem Kino gekommen waren und eng umschlungen vor den Auslagen der Schaufenster herumalberten, waren sie beinahe mit Max’ Mutter zusammengestoßen, die mit ihrer Freundin Inge gerade aus einem Auktionshaus kam. Carla und Inge waren in ein Gespräch vertieft, und Nane und Max in ihre Albernheiten, als sie an der Ecke einer Schaufensterpassage aneinander stießen.

»Hoppla!«

»Oh, Verzeihung!«

»Max!« Carla lachte, als sie ihren Sohn erkannte, nahm ihn in den Arm und blickte fragend auf seine Begleiterin. Max stellte sie einander vor, und Carla schlug vor: »Wir wollten gerade noch etwas trinken gehen. Habt ihr Lust, mitzukommen?«

Nane nickte bejahend, während Max zögerte, aber dann zugestand: »Okay, aber nicht lange.«

Nane war schon häufig mit in ihrer Wohnung gewesen, dort aber noch nie Carla begegnet. Nicht, daß Max ihre Aufenthalte so geregelt hätte, daß sie nicht auf seine Mutter stießen, aber es war ihm doch recht. Irgendwie wollte er Nane noch ganz für sich behalten.

Der Abend wurde dann bedeutend länger als geplant. Die drei Frauen verstanden sich auf Anhieb blendend. Die Gespräche gingen nie aus, ein Thema ergab das nächste, und immer, wenn Max als Mann drohte, sich überflüssig zu fühlen, wurde er von einer der dreien wieder verstärkt mit einbezogen.

Im Anschluß an dieses erste Beisammensein äußerte sich Nane ganz begeistert über seine Mutter, und während er sie zu ihrem Auto brachte, wollte sie von ihm alles über ihr Leben wissen.

Als er eine Stunde später die Wohnung betrat, fand er seine Mutter bei einem abschließenden Glas Rotwein im Wohnzimmer.

»Trinkst du noch ein Glas mit? Und erzähl mir mehr über dieses Mädchen. Es ist entzückend.«

Max lachte laut, während er sein Glas mit der roten Flüssigkeit füllte. »Das muß ja Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Sie hat mir gerade ein Loch über dich in den Bauch gefragt.«

Auch Carla lachte und rückte sich in ihrem Sessel zurecht. »Na, dann hab ich ja fast schon ein Recht darauf, daß du mir alles über sie erzählst.«

Je mehr Max erzählte, um so zufriedener wurde Carlas Gesichtsausdruck, und ihre gelegentlichen Zwischenbemerkungen waren so enthusiastisch, wie sie sich noch nie über eine seiner Freundinnen geäußert hatte. Max wunderte sich, wie sehr doch die Tatsache, daß seine Mutter von Nane ebenso begeistert schien wie er selber, zu seiner Zufriedenheit beitrug.

»Wie sieht’s heute abend aus?« fragte Johannes, der das Thema nicht losließ.

»Was ist heute abend?« Max war konzentrationsmäßig zwischen Nane und seinen Freilegungsarbeiten hin und her gerissen und wollte nicht zusätzlich noch auf seinen Kumpel eingehen. »Heute abend wollen wir zum Bowling. Da könntest du sie doch unauffällig mitbringen.«

»Scherzkeks. Nane fällt überall auf. Aber im Ernst, ich will mal sehen, ob wir dazu Lust haben.« Max hielt sich alle Optionen offen und legte das Sezierbesteck beiseite. »So, jetzt kannst du mal übernehmen, und ich assistiere.«

Johannes tauschte unwillig den Platz.

*

Es war einer der ersten warmen Tage des Frühsommers, der einen Vorgeschmack auf den Sommer bot. Maximilian und Nane hatten sich vorlesungsfrei gegeben und waren am frühen Nachmittag mit den Fahrrädern, beladen mit Picknickmaterial aus der von Wollenstedtschen Küche, zu den Flußauen gefahren. Sie waren der Meinung, daß sie sich diese kleine Freiheit verdient hatten. Max hatte seine schriftlichen Examensarbeiten mit ausgezeichneten Ergebnissen abgeschlossen, nur der mündliche, kleinere Teil stand noch aus, und Nane hatte auch schon die ersten Scheine dieses Semesters mit Bravour erledigt. Beide hatten das Gefühl, daß ihnen ihre Liebe leistungsmäßig Flügel verliehen hatte, wo sie doch vorher immer gehört hatten, wie sehr der Zustand der Verliebtheit von den eigentlichen Aufgaben ablenken würde.

Max hatte den Picknickkorb an einem sorgfältig ausgewählten Ort abgesetzt und Nane breitete die blauweiß karierte Decke aus, um die Köstlichkeiten darauf zu verteilen. Nachdem sie Frikadellen, gebratene Hähnchenschenkel und Kartoffelsalat mit Genuß verzehrt und mit Apfelschorle hinuntergespült hatten, ließ Max sich zufrieden hinunter fallen und zog Nane mit hinab, ihr Gesicht solange mit feurigen Küssen bedeckend, bis sie es an seiner Brust in Sicherheit brachte.

»Wie findest du eigentlich meine Freunde?« fragte Max schon etwas schläfrig.

»Ausnahmslos nett, sehr nett. Aber Sascha ist ja wohl fast durchgedreht vor Freude.« Max nickte und grinste in der Erinnerung. An jenem Abend hatten sie sich vor der Halle zur Bowlingbahn getroffen, und als sie die Kasse passiert hatten, Sascha war der letzte, wurden sie von einem Herrn aufgehalten. Während er Sascha bat, einen Moment zu warten, trat eine Drei-Mann-Blaskapelle aus dem Hintergrund und begann, lautstark einen Gratulationsmarsch zu spielen. Alle sahen sich erstaunt und belustigt an und um, als der Herr, inzwischen flankiert von einer jungen Dame mit Präsentkorb, begann, Sascha überschwenglich zu beglückwünschen: Er war der millionste Besucher des Bowlingcenters und hatte als solcher eine Jahresfreikarte, einen Präsentkorb und ein Wochenende in Paris für zwei Personen gewonnen. Der Bürgermeister, als dieser entpuppte sich der freundliche Herr, und die Geschäftsführerin ehrten Sascha noch ein Weilchen mit lobenden Worten, die Presse machte Aufnahmen von ihm im Kreis seiner Freunde, und die Kapelle spielte zur Unterhaltung der inzwischen zahlreich versammelten Zuschauer noch einige Stücke. Der weitere Abend verlief für sie alle genauso gutgelaunt und aufgekratzt, wie sein Auftakt gewesen war.

Sascha betrachtete immer wieder seine Jahreskarte und den Gutschein für Paris und stammelte fassungslos: »Mann, ich hab bisher noch nie etwas gewonnen, noch nie in meinem Leben.« Der Präsentkorb fiel ihrer aller Hunger kurz nach Mitternacht zum Opfer, wobei sie ihn, bis auf ein paar Dosen Kaviar und Leberpastete, vollständig vernichteten.

»Nach Paris würde ich auch gerne mal fahren«, murmelte Nane und zwirbelte die drei Haare, die Maxens Brustbehaarung bildeten, bis dieser aufjaulte. »Sag, was hältst du von einer Fahrt nach Paris?«

Max tat, als müßte er lange überlegen und abwägen, bis er lachend fragte: »Und wann?«

»Na, am besten morgen. Oder heute noch?« Nane sah ihn fragend an.

»Okay, fahren wir morgen nach Paris.« Damit war für beide die Sache abgemacht, und ihnen blieb noch genügend Zeit, das Auto vollzutanken.

*

»Sag einmal, mein liebes Kind, findest du es nicht etwas geschmacklos, dich an einen uns völlig unbekannten jungen Mann zu vergeuden?« Miriam von Wollenstedt hatte sehr pikiert reagiert, als ihre älteste Tochter sie über ihre Parispläne informiert hatte.

»Hauptsache, ich kenne ihn, und von ›vergeuden‹ kann nun wirklich nicht die Rede sein. Wir kennen uns schon eine Weile, wir lieben uns und wollen einfach ein paar Tage zusammen wegfahren, mehr nicht. Und außerdem kennt ihn Papa«, log Nane kühn, was sie sonst nie tat.

»Ach!« sagte ihre Mutter nur in einem Ton, der die Stimmung noch mehr in den Keller trieb. Die Salontür flog auf, und Bibi stürmte herein, begrüßte ihre Mutter und Nane jeweils mit einem flüchtigen Kuß auf die Wange und verkündete: »Ich muß gleich wieder in die Stadt. Auf dem Weg von der Schule habe ich ein Paar himmlischer blauer Paillettensandalen gesehen. Die passen optimal zu meinem neuen Cocktailkleid, du weißt doch, Mama. Ich habe sie mir zurücklegen lassen.« Dann bemerkte sie trotz ihrer Begeisterung die Übellaunigkeit ihrer Mutter und fragte: »Was ist denn hier los?«

»Deine Schwester fährt morgen mit der Liebe ihres Lebens nach Paris. Außer ihr kennt ihn kein Mensch.«

»Wie romantisch!« Bibi klatschte in die Hände und freute sich, als hätte Nane das ausschließlich zur Nährung ihrer Jungmädchenträume inszeniert. Bibiane blickte verträumt zur Decke. »Er legt dir bestimmt die ganze Stadt zu Füßen, und du kannst dir von allen Schätzen Paris’ aussuchen, was dir gefällt.«

»Sicher«, entgegnete Nane trocken und lief blitzschnell in die Halle, als sie von dort Geräusche hörte, die ihren Vater vermuten ließen. Sie wollte ihn unbedingt selbst vorwarnen und fiel gleich mit der Tür ins Haus. »Daddy, Max und ich wollen morgen nach Paris fahren, ganz spontan und nur für zwei, drei Tage. Mama regt sich ziemlich darüber auf.«

Hajo von Wollenstedt, der über Nanes Beziehung zu Maximilian immer auf dem Laufenden gehalten wurde, fand die Idee fabelhaft.

»Wunderbar! In eurem Alter muß man so etwas machen. Habt ihr genügend Geld?« Nane über ging die Frage und bekannte: »Außerdem habe ich gelogen. Ich habe Mama gegenüber behauptet, du würdest Max kennen.« Sie blickte schuldbewußt zu Boden.

Ihr Vater räusperte sich. »Nun, ich kenne ihn ja auch. So viel und so ausführlich, wie du mir von ihm erzählt hast – besser kann man einen Menschen ja kaum kennenlernen.« Er lachte, legte Nane den Arm um die Schultern, und sie gingen gemeinsam in den Salon, wo Miriam sofort ihren Mann überfiel: »Hast du schon von dem neusten Vorhaben deiner ältesten Tochter gehört?«

Hajo schmunzelte immer noch. »Daß sie mit Max nach Paris fahren will?« fragte er zurück.

»Du sprichst den Namen dieses Unbekannten aus wie eine Selbstverständlichkeit, dabei fällt er heute zum ersten Mal in diesem Hause.«

»Ich kenne ihn schon ein Weilchen. Es ist absolut nichts gegen ihn einzuwenden. Er heißt Maximilian Winter, studiert Medizin, ist zielstrebig und scheint unsere Tochter glücklich zu machen. Was wollen wir mehr?«

Miriam schnaubte und enthielt sich jeder Antwort.

*

Paris! Nane räkelte sich wohlig in der duftenden, blütenweißen Spitzenbettwäsche, mit der das dunkle Bett aus dem vergangenen Jahrhundert üppig ausgestattet war. Das kleine Hotel war ein Tip von Carla gewesen, die in jungen Jahren mit Philipp ab und zu in Paris war und dieses Hotel in guter Erinnerung hatte.

»Vielleicht existiert es ja noch«, hatte sie gesagt. Sie hatten ohne Voranmeldung gleich ein Zimmer bekommen und waren beide gleichermaßen begeistert davon. Es wirkte genauso pariserisch, wie Nane es sich erträumt hatte. Mitten im Quartier Latin gelegen, umgeben von kleinen Läden, Künstlern und Studenten waren es nur ein paar Schritte hinunter zur Seine, wo schräg gegenüber der Louvre lag.

Das Zimmer, dessen Schlüssel man ihnen in die Hand gedrückt hatte, war riesig und entzückend antik, dem Baujahr des Hauses entsprechend, möbliert, allerdings mit zahlreichen neuzeitlichen Accessoires versehen. Das angrenzende Bad entsprach den Ausmaßen des Zimmers, und Nane konnte kaum an sich halten, nicht sofort in der gigantischen Badewanne, die auf großen Löwenpranken in der Mitte des Raumes stand und einem Nilpferd Platz geboten hätte, ein Vollbad zu nehmen. Durch die hohen, blickdichten Jugendstilfenster aus buntem Glas fiel genügend Licht, um die ganze Pracht in ein zauberhaftes Farbenspiel zu tauchen. Doppelwaschtisch, Bidet, Toilette, Wanne und der elfenbeinfarbene Fliesenboden, alles wurde in die warme Blütenstruktur des Fensters getaucht, durch das die letzten Sonnenstrahlen fielen.

Sie waren am frühen Abend angekommen und nach dem Auspacken des Gepäcks und Testen des Bettes durch die engen Sträßchen und Gassen des Quartier Latin geschlendert. Irgendwo hatten sie in einem winzigen Kellerlokal köstlich zu Abend gegessen und am Ufer der Seine entlang engumschlungen langsam die Richtung zum Hotel eingeschlagen.

An der breiten Ufermauer hatten Künstler und Händler buntgemischt ihre improvisierten Stände aufgeschlagen und hofften trotz der späten Stunde noch auf Abnehmer. Alle boten sie Kunst in darstellender Form an, und die Künstler ließen die Passanten an ihren Staffeleien am Entstehen ihrer Kunst teilhaben. Im Hintergrund summten leise die Generatoren, um die Szenerie der einzelnen Spots zu beleuchten. Es dauerte eine Weile, bis sie die kurze Strecke geschafft hatten, denn mindestens an jedem zweiten Stand löste Nane sich aus der Umarmung, um ausführlich die angebotenen oder gerade entstehenden Werke zu bewundern. Max bewunderte mehr ihr Französisch, das ihr fließend von den Lippen perlte, wenn sie sich in ein Gespräch mit einem Künstler vertiefte und Max davon so gut wie gar nichts verstand.

Nane wandte sich zu Max, der noch schlief, und pustete ihm sanft eine braune Haarsträhne aus der Stirn. Er schlug die Augen auf, lächelte sie zärtlich-verschlafen an und zog sie an seine Brust in der Hoffnung, sie möge noch genauso müde sein wie er. Aber Nane fuhr von unten mit den Lippen über den sprießenden dunklen Bartstoppeln an seinem Kinn und fragte: »Was sollen wir denn heute unternehmen? Ist dir nach Eiffelturm, Louvre oder Notre Dame?«

»Im Augenblick ist mir nur nach dir«, entgegnete er, noch unwillig, sich dem neuen Tag zu öffnen.

»Ich möchte aber wissen, worauf ich mich freuen kann.«

»Dann freu dich erst mal nur auf mich.« Das klang schon viel wacher, aber Nane war weit unternehmungslustiger. Sie richtete sich auf, als ihr plötzlich etwas eingefallen war.

»Oh, ich weiß, wo wir heute spazieren können: auf dem Friedhof Pére-Lachaise. Da liegen ganz viele berühmte Franzosen begraben, zum Beispiel Chopin, Balsac, Sarah Bernard und so weiter. Ich wollte dort schon immer mal hin, und heute ist das Wetter so schön. Hast du Lust?« Sie sah Max fragend an, der eher skeptisch dreinblickte. »Es gefällt dir bestimmt und ist sehr interessant, auch wenn es sich erst mal nicht so anhört«, bekräftigte sie.

Max hatte sich die Decke über den Kopf gezogen, die Nane wieder herunterriß.

»Okay«, willigte er ein, »aber morgen hab ich einen Wunsch frei.« Sie war einverstanden und schlüpfte noch einmal unter das Plumeau.

*

Klaus Küster ging mit schnellen, weit ausholenden Schritten auf das kleine Café in der Innenstadt zu. Durch die breite Fensterfront, die nur von oben bis auf halbe Höhe mit grobmaschigen Stores verdeckt war, meinte er, bereits ihre Silhouette auszumachen. Er hatte zwar noch nicht viel Gelegenheit gehabt, sich mit dem Fall zu beschäftigen, und dementsprechend wenig vorzuweisen, aber er wollte Frau Schneeberger wiedersehen. Als sie bei ihm angerufen hatte, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, hatte er die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und ein Treffen verabredet. Nun mußte er viel Wind um nichts veranstalten, das hieß, Fakten aufbauschen, die er noch gar nicht hatte, und den Fall schwieriger darstellen, als er vermutlich war, um dieses Treffen zu rechtfertigen. Aus irgendeinem Grund war ihm diese Frau nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

*

Als Wally ihren Mantel in den Garderobenschrank hängte und Hut und Handschuhe verstaute, war sie tief in Gedanken. Sie war sich keineswegs mehr sicher, mit Klaus Küster unter allen Privatdetektiven den einzig richtigen erwischt zu haben. Was nützte ihr gegenseitige Sympathie, wenn der Mann unfähig war? Das erste Treffen heute mit ihm war nett gewesen, unterhaltsam und amüsant, und der Kaffee in dem Lokal war gut, aber das alles war nicht der Sinn der Übung, und letztendlich war unterm Strich nichts an Information geblieben. In der Sache war er keinen Schritt weiter gekommen. Sie würde noch eine Woche abwarten und sich dann nach jemand anderen umsehen.

Als sie den Salon betrat, bot sich ihr ein wildes Durcheinander von aufgeschlagenen und gestapelten Fotoalben dar, und halb in ein fast leergeräumtes Regal versenkte sie Gräfin Maja von Betigheim, nach dem letzten Album angelnd.

»Suchen Sie etwas, Maja?« Die Frage schien fast überflüssig. »Kann ich Ihnen helfen?« Wally stand ratlos inmitten der von Beigheimschen Familiengeschichte, die in jüngerer Zeit auf Zelluloid gebannt worden war.

Maja krabbelte aus dem Regal hervor, das grün gebundene Lederalbum fest unter den Arm geklemmt.

»Ich suche ein Foto, ein ganz bestimmtes Foto von Arno. Kannst du dich erinnern? Er war bei der Abschlußfeier seines Jahrgangs besonders gut getroffen, und wir haben es als Porträtaufnahme vergrößern lassen. Ein paar Jahre stand es auf dem Kamin, später brauchte ich den Rahmen für das Hochzeitsfoto von Arno und Sonja. Wo, um Himmels willen, haben wir es dann nur hingetan?«

Wally konnte sich dunkel an das Foto erinnern, nicht aber an dessen Verbleib.

Maja ging aufgeregt zu dem niederen Tisch zwischen Zweisitzer und Sessel und deutete auf die Tageszeitung, die dort aufgeschlagen lag. »Sieh dir das an, und dann sag mir, wen du dort siehst.« Dabei sah sie Wally auffordernd an, die nähertrat und von oben die großbuchstabigen Schlagzeilen überflog.

»Das Bild natürlich«, tadelte Maja und wies auf die Schwarzweißaufnahme einer Gruppe junger Leute, die ein Viertel der Seite einnahm.

Beide Frauen beugten sich nun über das Blatt, bis Wally sagte:

»Das ist Arno.«

Maja triumphierte: »Hab ich auch gesagt: das ist Arno. Aber er kann es natürlich nicht sein. Die Aufnahme ist von heute, und zwischen Arno und diesem jungen Mann liegt eine ganze Generation.« Sie blätterte in den vollgeklebten Fotoseiten, als aus dem hinteren Teil ein postkartengroßes Bild herausfiel.

»Ha! Da ist es ja.« Maja hob die Fotografie auf und legte sie neben das Zeitungsbild.

Beide Frauen starrten auf die zwei jungen Männer gleichen Alters, der eine auf nach Druckerschwärze riechendem Zeitungspapier, der andere auf angegilbter Kartonage, und schwiegen verblüfft. Es war ein Gesicht, aber nicht eine Zeit. Die Bildunterschrift sagte nur aus, daß ein gewisser Sascha F., Bildmitte, als millionster Gast eines Bowlingcenters gefeiert worden war.

»Sieh dir diese Ähnlichkeit an! So etwas gibt es doch gar nicht. Die Augen, die Nase, die Gesichtsform, alles identisch. Ich muß herausbekommen, wer das ist, und den Knaben in natura sehen. Das läßt mir sonst überhaupt keine Ruhe. Aber wie könnten wir das anstellen, Wally?«

Maja wandte sich fragend an die Haushälterin, in deren Kopf die Gedanken Purzelbäume schlugen. Das konnte kein Zufall sein. Sie faßte einen Entschluß.

»Soll ich uns einen Tee machen? Haben wir ein Stündchen Zeit? Ich möchte Ihnen etwas erzählen.«

Maja sah Wally leicht verständnislos an, nickte aber und sagte: »Ich glaube aber, Kaffee wäre besser«, und sie vertiefte sich wieder in die Betrachtung der Bilder vor ihr auf dem Tisch, womit sie immer noch beschäftigt war, als Wally mit dem Tablett zurückkam, das sie einfach auf zwei Fotoalben abstellte. Sie schenkte zwei Becher mit der dampfenden dunklen Flüssigkeit voll, die sie mit Zucker und viel Milch aufhellte, und atmete tief durch, wobei sie sich auf dem Sofa in eine so aufrechte Position begab, als würde gleich ein Startschuß knallen.

»Als Arno ungefähr in diesem Alter war«, begann sie und deutete mit dem Kinn auf die vor ihnen liegende Porträtaufnahme, »arbeitete bei uns in der Küche ein sehr junges Mädchen, ich glaube, sie hieß Gunda. Wenn Arno zu Hause war, und das war er zu dieser Zeit häufig, denn er hatte gerade seinen Abschluß gemacht, hing er oft bei mir in der Küche herum. Vielleicht war er auch so oft wegen Gunda da, auf jeden Fall hatten die beiden einen Draht zueinander und haben sich angefreundet. Sogar ich habe mitbekommen, daß die beiden, wenn Gunda frei hatte, oft was zusammen unternahmen. Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht. Gunda war ein bildhübsches, aufgewecktes und fröhliches Mädchen, und Arno hatte hier zu Hause wenig Leute in seinem Alter für Gemeinsamkeiten. Irgendwie, vielleicht durch die lange Internatszeit, war er für mich immer noch der kleine Junge, der auf Kinderspiele aus war. Bis ich in meiner Begriffsstutzigkeit raus hatte, daß es sich um Verliebtheit handelte, war es zu spät, und Gunda gestand mir, daß sie schwanger war. Erinnern Sie sich an Gunda?«

Maja schüttelte stumm den Kopf, begierig auf den Fortlauf der Geschichte lauschend.

»Nun, wie auch immer, Gunda wechselte nur noch zwischen Tränenausbrüchen und Erbrechen hin und her, und als Arno davon erfuhr, schien die Ernsthaftigkeit des Problems das Gefühl der Verliebtheit schnell zu ersticken. Sie waren beide damit überfordert, was an der Schwangerschaft als solcher nichts änderte, und für einen Abbruch, der für sie gar nicht in Frage kam, war es ohnehin zu spät. Die nächsten paar Wochen, so hatte ich den Eindruck, haben sie sich gar nicht so oft gesehen. Wahrscheinlich mußte jeder auf seine Weise erst einmal den Schock verdauen, denn ein Schock war es. Stellen Sie sich vor: aus dem siebten Himmel der Liebe ungebremst in die Niederungen der Wirklichkeit zu fallen, und das in diesem Alter. Gunda war sehr jung und unerfahren und Arno zumindest sehr unerfahren. Als die Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen war, zumindest in meinen Augen, aber ich wußte ja auch davon, habe ich angefangen, Gunda in viel Stoff zu hüllen, damit es nicht so auffiel, was sie sich Gott sei Dank auch gefallen ließ. Dann kam Arno an und eröffnete mir, daß er das Mädchen heiraten wollte – und Gunda wollte sich heiraten lassen. Sie war nicht berechnend, aber auch nicht dumm, und sie wußte, daß sie sich als alleinstehende Mutter ohne vernünftige Ausbildung sehr schwer tun würde. Als verheiratete Frau an Arnos Seite waren die Aussichten da schon wesentlich bequemer. Ich habe versucht, auf sie einzuwirken, sich so einen weitreichenden Schritt wie eine Eheschließung doch noch einmal zu überlegen, und daß nichteheliche Kinder heute ja nun nicht mehr so ungewöhnlich seien wie noch vor zwanzig Jahren, aber das einzige, was dabei herauskam, war das Zugeständnis, mit der Heirat bis nach der Entbindung zu warten.

Arno schien mir damals sogar fast erleichtert, daß er die Sache noch etwas aufschieben konnte, aber ich kann mich auch irren. Von überbrodelnder Verliebtheit war dann bei den beiden nicht mehr viel zu sehen, aber sie waren nett zueinander. In meinen Augen wäre eine Ehe eine Katastrophe geworden, und ich hoffte inständig, daß sie sich bis zur Geburt noch anders besinnen würden. Gunda war jung und gesund, und die Schwangerschaft verlief ohne jede Komplikation, sogar ihr äußeres Bild veränderte sich kaum. Im Gesicht wurde sie etwas runder, der Busen etwas größer und der Bauch eine kleine Kugel, was aber dank der weiten Mode von niemandem bemerkt wurde. Jeden Tag habe ich gefürchtet, daß irgend jemandem im Haus eine Veränderung an ihr auffallen würde, aber das traf Gott sei Dank nie ein, was den Ablauf der Dinge sehr erleichterte. Nur ich bildete mir ein, alle anderen müßten sehen, was ich wußte, aber nichts. Kurz vor dem ausgerechneten Termin klopfte Gunda eines Nachts an meine Zimmertüre – Kinder pflegen ja mit Vorliebe zu solchen Zeiten zu kommen – und wand sich in bereits in kurzen Abständen eintretenden Wehen. Ich habe sie auf das Bett in meinem Zimmer gelegt und so schnell es ging Dr. Pfitzner gerufen. Es dauerte ewig, bis er kam, zumindest kam es mir so vor, und das arme Ding hatte entsetzliche Schmerzen. Ich konnte rein gar nichts machen, hatte ja auch keinerlei Erfahrung im Kinderkriegen, und ihr nur gut zureden und die Hand halten. Oben auf der Etage war damals noch die kleine Teeküche. Dort konnte ich wenigstens Wasser heiß machen, denn daß man das bei Geburten braucht, hatte sogar ich schon gehört. Als der Arzt dann endlich kam – erinnern Sie sich noch an den alten Dr. Pfitzner, den Vorgänger von Dr. Stein?«

Maja schüttelte stumm den Kopf, korrigierte sich dann aber und nickte.

»Also, als er dann endlich da war, erschien er mir ziemlich konfus, machte uns pausenlos Vorwürfe, weil er nichts von der Schwangerschaft gewußt hatte und das Mädchen nicht bei einer einzigen Vorsorgeuntersuchung gewesen war, dabei gab es doch nun wahrlich Wichtigeres zu tun. Obwohl die Wehen ununterbrochen kamen und gingen und das arme Kind schon völlig von Kräften war, schien es mir nicht recht voran zu gehen. Aber Dr. Pfitzner meinte, so was könne sich lange hinziehen, das wäre nichts Besonderes. Für mich war es damals etwas sehr Besonderes, und ich litt mit, obwohl ich keine Schmerzen hatte. Nach Stunden, es wurde schon fast hell draußen und das Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld, war endlich das Köpfchen zu ahnen, aber Gunda hing leblos in den Kissen und hatte keinerlei Kraft mehr zu pressen, was der Arzt dauernd von ihr verlangte. Sie reagierte überhaupt nicht mehr, auf keine Aufforderung und auf keinen Zuspruch, nichtsmehr. Dr. Pfitzner hatte Angst, daß das Kind ersticken könnte, und versuchte, das Köpfchen zu fassen, um es herauszuziehen, aber das ging unendlich schwer. Es war, als würde es sich mit beiden Händchen im Mutterleib festkrallen. Dann, als gar nichts mehr zu gehen schien, machte es plötzlich Plopp – und das Kind lag vor uns, wie ausgespuckt. Es nahm auch sofort die Atmung auf und fing an zu schreien. Ein Junge, gesund und kräftig, was man von seiner Mutter nicht mehr sagen konnte. Während Dr. Pfitzner sich um Gunda kümmerte, versorgte ich das Neugeborene, so gut es eben ging. Als wir ihr das Baby sauber gewickelt an die Brust legen wollte, atmete sie schon nicht mehr, war, wie es schien, einfach an Erschöpfung gestorben. Dr. Pfitzner nannte es natürlich anders, besonders auf dem Totenschein. Wir haben uns lange besprochen und waren übereingekommen, in Anbetracht der Umstände die Geburt des Kindes nicht zu erwähnen. Gunda hätte es so oder so nicht mehr geholfen, und für alle anderen Beteiligten wurde die Situation dadurch erheblich vereinfacht, noch dazu, daß doch bis dahin niemand etwas von einer Schwangerschaft geahnt hatte. Das Baby habe ich warm verpackt und wohl versorgt dem Pfarrer übergeben, der die Sache in seine Hände nehmen wollte. Er hat sich dafür verbürgt, daß es dem Kind gutgehen würde, es in gute Hände käme und er niemals etwas darüber verlauten ließe. So war es, und er ist drei Jahre später gestorben und hat tatsächlich nie etwas darüber gesagt. Arno haben wir gesagt, daß das Kind bei der Geburt gestorben wäre, wie die Mutter. Ich dachte, das würde ihm die Sache erleichtern und ihn nicht unnötig mit Gewissensbissen, wofür auch immer, belasten. Er war noch so jung, und man weiß ja nie, was für Ideen in jungen Köpfen herumspuken und lebenslangen Ballast bilden. So waren es für ihn klare Tatsachen, die er hinnehmen mußte. Er schien mir auch eine Zeit lang traurig und stiller als sonst, aber das ging vorbei, und danach war es wahrscheinlich nur noch wie ein schlimmer Traum.

Ich habe mich oft gefragt, ob das so richtig war, wie wir damals gehandelt haben, und ich habe mir oft den Vorwurf gemacht, daß ich zu wenig an das Kind und immer nur an Arno gedacht habe, aber ich konnte es nicht mehr ändern, und für Arno war ich sicher, das Richtige getan zu haben. Daß es dem Baby gut ging, konnte ich nur hoffen, aber ich habe es oft gehofft.«

Wally saß noch immer aufrecht auf der Sofakante, hatte die Handflächen aneinander gelegt und schwieg. Maja schwieg auch, und so saßen sie eine Weile beieinander, ohne ein Wort zu sagen.

Maja wunderte sich, wieviel in ihrem Hause vor sich gegangen war, wovon sie nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, und noch mehr wunderte sie sich, welch einschneidende Erfahrungen ihr Kind ohne ihr Wissen gemacht hatte. Aber das war Elternschicksal, und es mußte wohl so sein.

Plötzlich ging ihr die Bedeutung von Wallys Erzählung im Zusammenhang mit dem Zeitungsbild auf.

»Ach, und du meinst…?« stammelte sie und deutete fahrig auf die Fotos, die immer noch auf dem Tisch lagen, während ihr die volle Schwere dieses Verdachts aufging.

Wally räusperte sich. »Nun ja, es könnte doch sein…« Dann gestand sie, daß aufgrund der beängstigenden Veränderungen, die mit Arno vorgegangen waren, der Gedanke an dieses Kind sie nicht mehr losgelassen hatte. Vielleicht würde die Tatsache, daß er einen Sohn hatte, auf Arno einwirken. Es war auch nur eine Hoffnung, aber auf jeden Fall hatte sie einen Privatdetektiv mit der Suche nach diesem Kind, das ja inzwischen ein junger Mann sein mußte, beauftragt. Was dann daraus zu machen sei, falls er fündig würde, war ja noch offen. Da waren noch so viele Fragen. Wie würde Arno reagieren? Hatte sie überhaupt das Recht, nach so vielen Jahren das Leben so vieler Beteiligter derartig durcheinander zu bringen?

»Das Recht? Ich denke, du hast die Pflicht dazu.« Langsam kehrte die Lebhaftigkeit in Maja zurück. »Ich möchte dir keine Vorwürfe machen, und es war aus damaliger Sicht des Problems sicher richtig, wie du entschieden hast, aber überlege auch, was du allen Beteiligten vorenthalten hast: Arno seinen Sohn, dem Jungen seinen Vater, sein Zuhause, und mir meinen Enkel. Nein, wir haben die Pflicht, nach ihm zu suchen und die Sache aufzuklären.«

»Und wenn es keiner wissen will?« wandte Wally ein, die unter den wiederaufkeimenden Schuldgefühlen ganz klein zu werden schien.

»Wie, keiner wissen will? Das sind doch Zusammenhänge von elementarer Bedeutung.« Maja schien verständnislos.

»Nun, es könnte doch sein, daß der Junge ein gutes Elternhaus gefunden hat, wo diese alten Geschichten ihn nur verunsichern würden und keiner es mehr wissen will.«

Maja schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht denken. Jeder möchte seine Ursprünge kennen und wissen, woher er kommt. Das braucht man zur Menschwerdung. Was hat dieser Detektiv denn herausgefunden?«

»Noch gar nichts«, gestand Wally. »Daß das Foto in der Zeitung ausgerechnet jetzt erschienen ist, ist reiner Zufall und hat ja auch vielleicht gar nichts damit zu tun. Vielleicht ist diese enorme Ähnlichkeit wirklich nur eine Laune der Natur und Arnos Sohn sieht vollkommen anders aus.«

»Kann sein«, räumte Maja ein, »kann aber auch nicht sein. Es wäre auf jeden Fall ein sehr merkwürdiger Zufall. Dieses Bild da in der Zeitung finde ich wirklich schon Zufall genug. Vielleicht hilft es ja deinem Detektiv etwas auf die Sprünge.«

Das hoffte Wally auch, und ihre Gedanken kreisten darum, wie sie Arno ihre Schuld von damals gestehen sollte. Noch konnte sie diesen beängstigenden Moment hinausschieben, aber sobald sie Beweise in den Händen halten sollte, würde sie sich ihm stellen müssen.

*

Miriam von Wollenstedt stöhnte, als sie von Bibi in die mindestens zwanzigste Boutique gezerrt wurde. Meistens kümmerte sie sich lieber um ihre eigenen Einkäufe, als mit ihrer Tochter eine ähnliche Tour zu unternehmen, die diesbezüglich von einem nicht zu erschöpfenden Durchhaltevermögen war, doch diesmal hatte es sich nicht vermeiden lassen. Warum, wußte sie schon gar nicht mehr.

»Also, danach brauche ich aber unbedingt einen Cappuccino«, sagte sie durch den Vorhang der Umkleidekabine, der ein wenig offen stand und Bibis weiße Spitzenunterwäsche darbot, während sie sich in ein hautenges Oberteil zwängte.

Wenig später saßen sie bei einem kleinen Italiener, Bibi mampfte eine Minipizza und vor Miriam dampfte eine große Tasse Cappuccino, der ihre Lebensgeister allmählich wieder zurückkehren ließ.

»Nane hat angerufen. Sie und dieser Max wollen morgen nachmittag zurück sein, und sie hat angekündigt, daß er dann zum Tee bliebe.«

Miriam lehnte sich zurück und betrachtete ihre Jüngste, die ein großes Stück Pizza abbiß und dabei einen langen Käsefaden zog.

»Au ja«, freute sie sich zwischen den Kaubewegungen, »was glaubst du wohl, wie er aussieht?« Die Frage beantwortete sie gleich selber. »Er ist natürlich groß, gutaussehend und natürlich unendlich reich.« Dabei blickte sie so träumerisch in die flackernde Kerzenflamme auf dem Tisch, daß ihre Mutter förmlich sehen konnte, wie der Märchenprinz durch ihre Vorstellungen ritt.

»Morgen nachmittag muß ich unbedingt zu Hause bleiben, das darf ich auf keinen Fall versäumen.« Mit dieser Feststellung bewältigte sie das letzte Stück ihrer Pizza.

Ihre Mutter gab dem Ober ein Zeichen, daß er die Rechnung bringen sollte, und legte ihre an diesem Tag bereits heiß gelaufene Kreditkarte parat.

»Ich für meinen Teil bin schon froh, wenn er sich nicht wieder als einer von Nanes Sozialfällen entpuppt. Sie kommt langsam in ein Alter, wo sie sich auf akzeptable junge Männer konzentrieren sollte. Ich bin gespannt.«

*

Am nächsten Tag rollte, pünktlich um die Teezeit, Max’ alter VW, der in Paris, der Stadt der großzügigsten Autofahrer der Welt, noch um einige Beulen reicher geworden war, vor das breite Eingangsportal. Kurz hinter ihm stoppte auf leisen Samtpfoten der dunkelgrüne Jaguar, dem Nanes Vater entstieg. Augenblicklich hing Nane an seinem Hals und begrüßte ihn ganz überschwenglich. Er hielt Max bereitwillig die Hand zu einem festen Druck hin.

»Wir kennen uns ja bereits, junger Mann«, sagte er mit grinsenden Mundwinkeln, während Nane den Sachverhalt kurz erklärte. Sie hängte sich mit dem linken Arm, der ihnen willig folgte. Im Salon wurde er von der Baronin von Wollenstedt sehr förmlich und von ihrer jüngeren Tochter kichernd begrüßt. Das Kichern hatte Bibi jedoch schnell wieder unter Kontrolle, es wurde durch übertriebene Arroganz ersetzt, die sich hauptsächlich in ihrem Gesichtsausdruck widerspiegelte. Nane schien daran gewöhnt, denn sie begrüßte beide mit der ihr eigenen Herzlichkeit.

»Wir können sofort zum Tee, ich glaube, er ist bereits serviert.« Damit lud Miriam sie in das gelb-weiß gestylte Frühstückszimmer, das gelegentlich auch für kleine Teegesellschaften herhalten mußte. »Entre nous nehmen wir den Tee gewöhnlich im Salon«, erläuterte sie und machte damit die Distanz klar, die Max als Fremder mit hereinbrachte.

Während das Mädchen die Tassen füllte, erzählten Max und Nane lebhaft von Paris, was Hajo von Wollenstedt aufmerksam verfolgte und durch interessierte Zwischenfragen im Fluß hielt. Seine Frau schien, ihrem leicht gelangweilten Gesichtsausdruck nach zu schließen, nicht allzu sehr davon gefesselt, zumal es sich um überwiegend kulturelle Wahrnehmungen handelte. Bibi hingegen beteiligte sich durchaus an dem Gespräch, wobei sie in ihren Bemerkungen an Max zwischen Hochnäsigkeit und Koketterie schwankte und sich offensichtlich nicht entscheiden konnte, welche Schiene sie nun fahren sollte.

»Und wohin pflegen Sie sonst zu reisen?« schaltete sich Miriam der Höflichkeit halber ein, nachdem sie fast den Boden ihrer Tasse durchgerührt hatte, die aus durchscheinend dünnem chinesischem Porzellan war. Die Frage war an Max gerichtet.

»Oh, meistens habe ich keine Zeit zu verreisen. Medizin ist ein ziemlich langes Studium, und um das in möglichst kurzer Zeit zu schaffen, muß ich mich schon ranhalten. Außerdem lassen uns unsere Profs mit ihren Anforderungen keine freie Minute. Die meisten von uns haben noch nicht einmal die Zeit, nebenher zu arbeiten. Höchstens Nachtdienst im Krankenhaus. Der Job ist sehr beliebt, weil man dabei mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen kann: Erfahrungen sammeln, lernen und Geld verdienen. Man hat also mächtig Glück, wenn man diese Möglichkeit bekommt.«

»Nun ja«, meinte Miriam nur und nahm die Rührbewegungen wieder auf, wobei sie dachte: wie vulgär, er arbeitet. Das läßt ja die besten Rückschlüsse auf sein Elternhaus zu, die wohl noch nicht einmal in der Lage sind, ihrem Sohn das Studium zu finanzieren.

»Und? Hatten Sie dieses Glück?« fragte Baron von Wollenstedt höchst interessiert, was von der Miene seiner Frau ablenkte.

Max schüttelte den Kopf. »Leider nein. Aber vielleicht habe ich im Sommer die Möglichkeit, ab und zu für einen Kommilitonen einzuspringen. Auf der einen Seite möchte ich so schnell wie möglich fertig werden, auf der anderen Seite brauche ich jeden Euro, den ich verdienen kann, um meine Mutter zu entlasten.«

Das wird ja immer besser, dachte Miriam, da arbeitet die Mutter wahrscheinlich auch noch.

»Wenn Sie einen Job suchen: in meiner Firma könnte ich einen medizinisch versierten jungen Mann durchaus gebrauchen. Freie Zeiteinteilung, durchschnittlicher Lohn. Wären Sie möglicherweise interessiert?« Hajo sah den Freund seiner Tochter fragend an.

Dabei fiel Max auf, daß er keine Ahnung hatte, womit Nanes Vater sein Geld verdiente.

»Wir haben eine kleine Firma, die medizinisches Präzisionswerkzeug herstellt. Würde also durchaus in Ihre Richtung schlagen.«

Max war sehr interessiert, und im Nu waren die beiden Herren in ein intensives Gespräch vertieft, das den weiblichen Teil der Tischrunde ausschloß, was dieser allerdings keineswegs übel zu nehmen schien.

Nane alberte mit ihrer Schwester herum, die ihre Jungmädchenphantasien durch weitere Parisberichte nähren wollte, und Miriam saß schweigsam da und sah durch Max wieder eine ihrer Hoffnungen auf einen brauchbaren Jungmann aus ihren Kreisen enttäuscht. Sie betrachtete ihn über den Rand ihrer Teetasse, deren Inhalt nur noch lauwarm war: nett anzusehen war er ja, aber als Kandidat für Nanes Zukunft mußte er wohl abgehakt werden.

Später, als sich die Runde aufgelöst hatte, fragte Bibi ihre Mutter mit vor Begeisterung glänzenden Augen: »Sieht der nicht total süß aus, Mama?« Ihre Mutter sah sie mit deutlichen Zweifeln im Blick an. »Ja, das Aussehen ist durchaus in Ordnung, wenn auch nicht ganz mein Typ, aber den Rest kann man wohl vergessen.«

Bibi schien nicht ganz zu verstehen, weshalb ihre Mutter näher erläuterte: »Du hast doch gehört: er arbeitet. Und noch schlimmer: er scheint das sein Leben lang tun zu wollen. Daraus kann man schließen, mein Kind, daß da keinerlei Hintergrund ist. Kein solider, gewachsener, familiärer Hintergrund, auf Grund dessen man sein Leben leben und seinen Stil pflegen kann. Mit anderen Worten: Es ist Vermögen vorhanden, am besten seit Generationen gewachsen, das einen nicht dazu zwingt, sein Leben mit Arbeit zu verbringen. So einen Mann wünsche ich mir für euch, darauf solltest du bei deiner Wahl achten, mein Kind. Nur wenn ein Mann sein Leben nicht mit dem Erwerb von Geld belasten muß, hat er genügend Zeit, sich um dich und deine Bedürfnisse zu kümmern. Im vorliegenden Fall konnte ich unschwer kombinieren, daß all diese wünschenswerten Voraussetzungen nicht vorliegen und Nane sich wieder so einen Sozialfall von der Uni geangelt hat, egal wie gut er auch aussieht.«

Bibi hatte zugehört und dazugelernt.

*

Carla Winter fuhr ihren PC herunter, lehnte sich nach hinten und reckte die vom langen Sitzen etwas steif gewordenen Glieder. Sie fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das Haar und betrachtete ein auf ihrer Handfläche verbliebenes graues Haar. Sie würde dieses Wochenende mal wieder einen Schönheitstag einschieben: ausgiebiges Wannenbad, Gesichtsmaske, Haartönung, Pediküre, Maniküre, das volle Programm. Ihr inneres und äußeres. Ich hätte das dringend nötig. Sie war im Begriff, Feierabend zu machen und überlegte, ob Max es wohl geschafft hatte, die aufgeschriebenen Einkäufe zu besorgen. Bei dem Gedanken an ihn schlich sich ein zufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht. Seit sie seine neue Freundin kennengelernt hatte, freute sie sich ohne Ende für ihn. Das erste Mal hatte sie das Gefühl, daß es die Richtige sein könnte. Sie boten so ein harmonisches Bild des Gleichklangs und des Einvernehmens, wenn man sie zusammen beobachtete, und waren unendlich verliebt, was sich in jedem Blick und in jeder Geste ausdrückte. Sie auf ihrem Beobachterposten schickte jedes Mal ein Stoßgebet zum Himmel, daß sich so viel Glück möglichst lange halten möge.

*

Klaus Küster saß in dem bewährten kleinen Café in der Innenstadt und wartete auf Wally Schneeberger. Wo blieb sie nur? Er hatte sie bis jetzt als äußerst pünktliche Person kennengelernt. Bereits eine halbe Stunde über die verabredete Zeit! Hoffentlich hatte er sie nicht nachhaltig verärgert. Seine Idee vom letzten Mal, viel Wind um nichts beziehungsweise keine vorzeigbaren Ergebnisse vorzulegen, nur um sie baldmöglichst wiederzusehen, war wohl nicht eine seiner besten gewesen. Sie war eine zu realistische Person, um sich mit Schaumschlägern abzugeben. Der Schuß war nach hinten losgegangen, und der Eindruck den er gemacht hatte, genau gegenteilig von dem, den er hatte machen wollen. Aber für heute hatte er ganze Arbeit geleistet. Nicht nur, daß er den gesuchten Knaben gefunden hatte, relativ leicht sogar, er hatte auch seinen gesamten Lebenslauf belegt. Fast jeden seiner Atemzüge, von der Übergabe beim Pfarrer bis heute, hatte er nachvollziehen können. Sogar Kopien seiner Schulzeugnisse lagen in der dicken orangeroten Mappe auf dem Tisch, die nur auf ihre Übergabe wartete. Ein kalter Luftzug ließ die Flamme der kleinen Kerze vor ihm ins Flackern geraten. Er drehte sich auf seinem Stuhl um und sah Wally Schneeberger auf sich zukommen. Wie adrett sie aussah, genau wie er sich eine anziehende, gefestigte Frau mittleren Alters immer vorgestellt hatte. Obwohl man meinen sollte, daß die Welt voll davon wäre, war ihm bis heute noch nie eine von ihrer Sorte über den Weg gelaufen. Nachdem sie sich ihres Mantels entledigt hatte – zu spät war er aufgesprungen, um ihr dabei behilflich zu sein – setzte sie sich auf den Stuhl, den er ihr zurechtrückte.

»Einen Kaffee bitte«, sagte sie zu dem Mädchen mit der frischen Servierschürze, das an ihren Tisch getreten war. »Und, waren Sie erfolgreich, Herr Küster?«

Er schob ihr die Mappe hin. »Ich hoffe, darin finden Sie jede Ihrer Fragen beantwortet und belegt. Aber darf ich Ihnen vorab einen kleinen mündlichen Abriß geben?« Dabei führte er seine an sich kurze fruchtbare Suche etwas aus, und Wally zeigte sich entsprechend beeindruckt. Dann blätterte sie in den Unterlagen und sah, wie sich das ganze bisherige Leben eines gewissen Maximilian Winter, so hieß er wohl heute, vor ihr ausbreitete. Sie klappte die Mappe wieder zu und beschloß, lieber alles zu Hause in Ruhe durchzugehen. Dazu fragte sie pro forma: »Kann ich das mitnehmen?« Dabei legte sie die Hand bereits besitzergreifend auf die orangerote Pappe.

Herr Küster nickte und wechselte abrupt das Thema. »Darf ich Sie am Sonntag vielleicht zu einem kleinen Spaziergang abholen, Frau Schneeberger?«

Wally stutzte und dann entfuhr es ihr: »Warum denn das?«

Klaus Küsters Gesichtszüge wurden augenblicklich in jungenhafte Röte getaucht. »Einfach ein kleiner Gang durch die Natur. Ich dachte, Sie lieben die Landschaft hier.« Er hätte sich ohrfeigen können. Wie unprofessionell! In seiner ganzen Berufslaufbahn hatte er noch nie mit einer Klientin angebändelt, immer hatte er strikt Berufliches und Privates getrennt.

Während er noch mit sich haderte, sagte Wally: »Warum nicht? Ich könnte aber nur zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr. Danach muß ich wieder im Haushalt zur Verfügung stehen. Wenn Ihnen das also recht ist, können wir diese zwei Stunden gerne irgendwo draußen verbringen.«

Herr Küster strahlte und hatte sich selbst bereits vergeben, und Wally fragte sich auf dem Nachhauseweg, warum sie so merkwürdig fröhlich gestimmt war.

*

Maja von Betigheim saß auf der Chaiselongue in ihrem Schlafzimmer, an deren Fußende Wally hockte. Zwischen ihnen lag jede Menge Papiere, bebildert und unbebildert, ausgebreitet.

»Daß er es tatsächlich ist! Dieser Zufall ist geradezu unglaublich, aber die Fotos lassen keinen Zweifel zu.« Sie strich behutsam über die Bilder, die alle denselben jungen Mann in verschiedenen Situationen zeigten, mal ernst, mal lachend, mal nachdenklich. Wally nickte dazu. Sie saßen hier schon eine geraume Zeit gemeinsam, seit sie Maja die Unterlagen gezeigt hatte. Zuvor hatte sie damit Stunden in ihrem Zimmer zugebracht, hatte jede Zeile in Küsters Bericht genauestens in sich aufgenommen und viele Tränen vergossen. Nicht, weil die Geschichte so traurig gewesen wäre, sondern weil so viele Chancen unwiederbringlich verloren waren und sie nichts mehr rückgängig machen konnte. Was sie tröstete, war die Tatsache, daß der Knabe ein gutes Zuhause gefunden zu haben schien, fürsorgliche Eltern und eine gute Ausbildung. Immer wieder hatte der Tod seinen Weg gekreuzt: der Tod der Mutter bei seiner Geburt, später der Tod des Adoptivvaters und selbst wenn er bei seinem Erzeuger aufgewachsen wäre, hätte er seine Stiefmutter, Sonja, verloren. Sie hoffte, daß er nicht noch weitere Verluste würde einstecken müssen, außer denen, die dem normalen Ablauf des Lebens zuzuordnen waren. Ob und wie sie jemals ihre Schuld an diesem Kind wiedergutmachen konnte, war ihr schleierhaft, und genauso wenig verstand sie heute die Tatsache, daß sie jahrelang gelebt hatte, ohne überhaupt daran zu denken. Aber wenn da Schuld war, kam auch irgendwann die Zeit der Sühne. Von diesem Zusammenhängen war sie schon immer überzeugt gewesen.

Maja, die frei von jeder Schuld war, hatte auf die Ergebnisse der Nachforschungen des Herrn Küster mit uneingeschränkter Neugier und Freude reagiert. Freude über diesen unverhofften Enkel, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie nie mehr damit gerechnet hätte.

»Und du meinst, daß das sicher ist? Keine Verwechslung, kein Irrtum?« Maja sah Wally an, die den Kopf schüttelte.

»Mir ist bei allem nicht die kleinste Ungereimtheit aufgefallen, und außerdem geht diese Suche ja von uns aus. Es ist ja keiner an uns herangetreten und behauptet, Arnos Sohn zu sein.«

Maja nickte. Das klang logisch. »Zudem«, sagte sie und betrachtete erneut die Fotografien, »allein diese unglaubliche Ähnlichkeit zerstreut schon jeden Zweifel. Wie wollen wir es Arno sagen?«

Diese Frage belastete Wally bereits seit Erhalt der Beweisunterlagen. Auch wenn sie es noch hinauszögern konnte, daß er es irgendwann erfahren mußte, stand außer Zweifel. Maja sagte zwar netterweise ›wir‹, aber sie sah diese Aufgabe mehr bei sich selber.

»Ich fürchte, das werde ich machen müssen. Schließlich wissen ja auch nur er und ich, daß es diese Schwangerschaft je gegeben hat. Ich bin sicher, daß er es Ihnen ziemlich schnell erzählen wird, aber ich denke, es ist besser, wenn Sie offiziell erst einmal von gar nichts wissen.«

Maja nickte verständnisvoll.

*

Die Vögel auf dem untersten Ast der großen Weide am Ufer des Flusses zankten sich erbittert und lautstark um ein Büschel Hundehaare mit altem Gras versetzt. Wahrscheinlich benötigte der eine es ebenso dringend zum Nestbau wie der andere, und keiner wollte es dem anderen überlassen. Schließlich zerrten sie so heftig daran herum, daß es in zwei Teile riß, womit eine fast salomonische Lösung erreicht war und jeder mit seiner Beute von dannen flog. Nane und Max lagen im Schatten des Baumes und hatten das Schauspiel amüsiert beobachtet. Eigentlich waren sie zum Lernen hierher gekommen, ließen sich aber in ihrer aufkommenden Müdigkeit nur zu gerne davon ablenken.

»Denkst du, dein Vater hat das ernst gemeint?«

»Was?«

»Das mit dem Jobangebot.«

»Ja, sicher. Mit sowas scherzt er nie.«

»Also, du meinst, ich sollte wirklich hingehen? Und deine Mutter? Ich hatte nicht den Eindruck, als ob sie wahnsinnig begeistert von mir war.«

»Ach, das mußt du nicht persönlich nehmen. Erstens habe ich sowieso noch nie erlebt, daß meine Mutter von irgend jemandem begeistert gewesen wäre, es sei denn, er hieße Rothschild oder Onassis, zweitens interessiert sie sich generell nicht für die Firma meines Vaters, und drittens sollte es dir reichen, wenn ich von dir begeistert bin«, sagte sie und biß ihn lachend und zärtlich in die Nasenspitze, was er vehement abwehrte, indem er ihre beiden Arme auf dem Rücken festhielt und ihren Mund mit einem Kuß verschloß.

Die Eindrücke, die er in Nanes Familie gesammelt hatte, hatten ihn lange nicht losgelassen. Sie waren so absolut unterschiedlich: Nane und ihr Vater, und Bibi und ihre Mutter. Zwei Parteien unter einem Dach, die seiner Meinung nach noch nicht einmal dieselbe Sprache sprachen, geschweige denn ähnliche Gedanken dachten. Sie hatten von allen Dingen völlig unterschiedliche Sichtweisen und er hatte oft den Eindruck gehabt, daß die eine Partei gar nicht verstand, wovon die andere überhaupt redete. Sie bildeten eine merkwürdige Familie ohne Gleichklang, ohne verbindende Elemente. Der Vater war ihm ausgesprochen sympathisch, aber Mutter und Schwester brauchte er nicht zu seinem Glück, obwohl natürlich auch sie zu Nane gehörten und sich vermutlich nicht völlig umgehen ließen. Sie wirkten wie von einem anderen Stern, und von ihm aus hätten sie dort auch bleiben können.

Er blickte auf Nane herab, die mit ihrem Kopf in seinem Schoß eingeschlafen war. Wie war sein Leben ohne sie gewesen? Er konnte sich kaum noch daran erinnern, geschweige denn sich vorstellen, je wieder ohne sie zu leben. Ihre Atemzüge gingen ruhig und geschmeidig, und die Wimpern ihrer geschlossenen Augen bildeten einen halbmondförmigen Kranz auf ihren Wangen, die sich im Schlaf leicht gerötet hatten. Er spürte eine große Welle der Zärtlichkeit und das Bedürfnis, sie ein Leben lang festzuhalten.

*

An dem eben noch strahlendblauen Himmel bildeten sich immer mehr Wolken, die von dem aufkommenden Wind in westliche Richtung getrieben wurden. Arno von Betigheim stand an dem Fenster der Bibliothek und betrachtete durch das Viereck der Sprossen den Wolkenauftrieb, wobei seine Gedanken mit gleicher Geschwindigkeit in die Vergangenheit flogen. Gunda hatte sie geheißen, aber er hatte Mühe, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Klein, zierlich und sehr lebendig war sie gewesen, immer in Bewegung und voller Pläne. Langsam gab seine Erinnerung wieder schemenhaft ihre Gesichtszüge frei. Ein junges, ebenmäßiges, sehr hübsches Gesicht mit einer positiven Ausstrahlung, das ihm damals, in der luftleeren Zeit zu Hause nach seinem Abschluß, wie ein Wegweiser ins Paradies erschienen war. Er erinnerte sich an heftige Verliebtheit, nicht zu vergleichen mit der Intensität der Gefühle, die er Jahre später für Sonja empfunden hatte, aber sehr neu, sehr heftig und sehr aufregend.

Mit Bekanntwerden der Schwangerschaft hatten sie ihre Verliebtheit verloren, und auch nach seinem Entschluß, sie zu heiraten, waren ihre Gefühle füreinander nie wieder dieselben geworden. Die Nachricht hatte sie wie ein Schwall kalten Wassers getroffen, wonach ihnen nie mehr richtig warm geworden war. Auf den tragischen Ausgang der heimlichen Geburt, ihren und des Kindes Tod, hatte er mit Betroffenheit reagiert, und es hatte ihn eine Weile sehr bedrückt, auch, weil das Erlöschen so jungen Lebens immer schockiert, ganz besonders junge Menschen, für die der Tod noch keine Wahrheit ist. Aber er erinnerte sich auch, daß er sich sehr geschämt hatte, bei allem auch ein wenig Erleichterung empfunden zu haben, daß damit gleichzeitig die Last einer zu frühen, zwangsmäßigen Bindung und Familienbildung von ihm gefallen war.

Und nun hatte er einen Sohn! Seit Wally ihm ihre Machenschaften von damals gestanden hatte, war seine Welt nicht mehr dieselbe. Weder die äußere, in der irgendwo sein Sohn herumlief, noch die innere, die ihm merkwürdigerweise jetzt wieder mehr im Gleichgewicht schien als vor der alles umwälzenden Nachricht. Unzählige Fragen beschäftigten ihn seitdem, für die es nach und nach Antworten zu finden galt.

Wie sollte er reagieren?

Hatte er ein Recht, so plötzlich im Leben seines Sohnes aufzutauchen?

In seinem Kopf war ein ganzer Fragenkatalog, in dem er unentwegt vor- und zurückblätterte. Natürlich konnte er keine Vaterrolle mehr im Leben seines Sohnes übernehmen, aber ihn vielleicht etwas kennenlernen und ihm irgendwann einmal sagen, daß er gerne sein Vater gewesen wäre. Nach den Unterlagen zu urteilen, hatte es ihm an nichts gemangelt, und er hatte eine glückliche Kindheit und Jugend gehabt, in der einzig der frühe Tod des Vaters als schlimme Erfahrung erkennbar war.

Arno sah zum zigsten Mal das umfangreiche Bildmaterial durch, das Herr Küster geliefert hatte. Er hätte fast in seinen eigenen Fotoalben blättern können, so frappierend war die Ähnlichkeit. Maximilian in allen Lebenslagen.

Er zerbrach sich den Kopf darüber, wie er die Kontaktaufnahme angehen sollte, und entschied sich schließlich dafür, erst einmal einen Brief an die Mutter zu schreiben. Sie kannte Maximilian am besten und vielleicht hatte er ja Glück und sie war eine aufgeschlossene Person, dann würden sie die Vorgehensweise gemeinsam besprechen können. Arno mußte lächeln. Schließlich hatten sie einen Sohn zusammen.

*

Max saß in seinem Zimmer auf dem Rand des Bettes, und die hölzerne Kante des Rahmens grub sich tief in seinen Oberschenkel, was er nicht einmal zu bemerken schien. Er hielt den Brief seines Vaters in den Händen, den Carla ihm überreicht hatte, nachdem sie ihm ihre, nein, seine Geschichte, die Geschichte seines Entstehens, erzählt hatte. Er hatte den Brief unzählige Male gelesen, den Inhalt aufgenommen, der dasselbe beschrieb wie Carlas Erzählungen, und die Schrift studiert. Der warmherzige Ton und die empfindsame, einfühlsame Art machten ihn neugierig auf den Menschen, der dahinter stand. Carla hatte sich wohl schon mit ihm getroffen, aber kein Wort weiter darüber verlauten lassen.

»Ich möchte dich nicht beeinflussen. Du sollst dir deine eigenen Eindrücke schaffen, völlig unvoreingenommen«, hatte sie seine Neugier abgeblockt.

Er fühlte den Wunsch, den Mann, der sein biologischer Vater war, kennenzulernen, von Minute zu Minute drängender werden. All die Jahre hatte er dieses Bedürfnis nie gehabt, und nun meinte er, es kaum abwarten zu können. Seine Mutter, deren Ängste er immer gespürt und auf die er vielleicht instinktiv Rücksicht genommen hatte, schien nichts mehr dagegen zu haben, ja, sie hatte ihn geradezu gedrängt, ein Treffen zu verabreden. Morgen war es endlich soweit. Dieses Ereignis hatte sogar Nane ein kleines bißchen in den Hintergrund seiner Gedanken gedrängt.

*

Arno Graf von Betigheim ging mit weit ausholenden Schritten unter dem dichter werdenden Laubdach der Bäume auf das Denkmal zu und dachte daran, daß er vor einer Woche diesen Weg schon einmal gegangen war, die gleiche Aufregung im Bauch. Auch damals hatte der steinerne Goethe nicht von seinem Buch aufgeblickt, in das er vertieft war, obwohl er meinte, sein Zustand müßte seine Umgebung mindestens im Umkreis von hundert Metern elektrifizieren. Aber nichts war geschehen, nur die Begegnung selber hatte sich als wunderbar erwiesen. Carla Winter hatte ihn sehr beeindruckt, und er hoffte, daß ein wenig von ihrem Wesen im Laufe der Erziehung auf seinen Sohn übergegangen war.

Er hatte es als gutes Omen betrachtet und sich wieder an Goethe gehalten, als er den Treffpunkt vorschlug. Außerdem war es ihm besser erschienen als die räumliche Begrenztheit eines Lokals.

Der junge Mann, der zu Füßen des Dichters auf dem Sockel gesessen hatte, erhob sich, als Arno näherkam, und ging ihm einige Schritte entgegen. Beide blieben in kurzem Abstand voreinander stehen und betrachteten sich. Es war wie der Blick in einen Zeitspiegel: für Arno drehte sich die Zeit um gut zwanzig Jahre zurück, und er blickte in sein eigenes junges Gesicht, während Max sein gealtertes Ich sah, was ihm jedoch nicht bewußt wurde. Er wunderte sich nur über das Gefühl von Vertrautheit, das sich beim Anblick dieses ihm doch eigentlich fremden Menschen seiner bemächtigte. Gleichzeitig gaben sie ihrem Impuls nach und umarmten einander. Von Anfang an war mehr Selbstverständlichkeit als Fremdheit zwischen ihnen und jede Befangenheit schnell verflogen. Erst saßen sie lange gemeinsam zu Füßen des Dichterfürsten und später spazierten sie die endlosen Parkwege entlang, die wie geschaffen waren für Spaziergänger, denen es nur um ihr Gespräch ging. Max saugte alle Informationen, die er in der Vergangenheit nicht bewußt vermißt hatte, gierig auf und versorgte seinerseits seinen Vater mit allem Wissenswerten, das sich in seinem Leben ereignet hatte.

Er konnte es kaum abwarten, seine Großmutter kennenzulernen, das Haus und die Orte, an denen seine Mutter gewesen war, und Wally, die Verursacherin seines Schicksals, gegen die er keinerlei negative Regungen in sich spürte. Warum auch? Er hatte die besten Eltern der Welt gehabt, und die Erfahrung jetzt empfand er als wundersame Komplettierung.

*

»Verdammte Karre!« Max drosselte das Tempo und fuhr an den grasbewachsenen Rand der Landstraße, wo er den Motor abstellte. Unheilverkündender Dampf preßte sich zwischen den Schlitzen der Motorhaube ins Freie. Max liebte sein Auto, aber mit derlei Eskapaden stellte es ihn immer wieder auf eine harte Probe.

»Sei bloß vorsichtig«, rief Nane, die ebenfalls ausgestiegen war, als Max sich daranmachte, die Motorhaube zu öffnen.

»Wieder der Kühlwassertank«, konstatierte Max nach einem versierten Blick in den Motorraum, »dabei dachte ich, ich hätte ihn letzte Woche endgültig abgedichtet. Naja. Ich habe hinten noch einen Kanister Wasser drin, aber wir müssen erst etwas warten, bis er sich abgekühlt hat.« Mit diesen Worten zog er Nane die kurze Böschung hinauf, wo er sich ins Gras fallen ließ und die Ursache ihres Aufenthaltes trüben Blicks betrachtete. Sie waren auf dem Weg nach Schloß Betigheim. Seit seinem ersten Besuch dort, bei dem ihm nur Wohlwollen und Liebe entgegengebracht worden war und er sich sehr wohl gefühlt hatte, fuhr er in kurzen, unregelmäßigen Abständen dort vorbei. Seine Besuche lösten jedesmal Begeisterung aus, und auch Nane, die gern mitkam, war als bereicherndes Element aufgenommen worden. Maja betonte immer wieder, wie gut ihr die Rückkehr jungen Lebens nach Betigheim tat, und bekräftigte diese Aussage durch ein inneres Strahlen, während Wally sie unermüdlich mit Köstlichkeiten aus ihrer Küche verwöhnte.

»Meine Zuneigung kann ich am besten durch Kochen ausdrücken«, hatte sie einmal zu ihm gesagt, nachdem sie mindestens das hundertste Mal mit Worten bei ihm Abbitte geleistet hatte.

Ebenso oft hatte er ihr versichert, wie er die Sache sah, und daß sie in seinen Augen frei von Schuld war, aber sie schien es nicht vollständig annehmen zu können.

»Was ist eigentlich mit deiner Mutter los?« Nane zupfte einen der trockenen Winterhalme zwischen dem frisch sprießenden Gras hervor.

»Warum? Wie meinst du das?«

»Nun, sie ist in letzter Zeit so locker, so fröhlich. Eigentlich war sie das ja schon immer, aber trotzdem ist sie irgendwie anders, ach, ich weiß auch nicht. Außerdem sieht sie von Mal zu Mal besser aus. Hat sie vielleicht eine neue Kosmetikerin?«

»Meine Mutter hat keine Kosmetikerin«, lachte Max, »aber sie trifft sich recht häufig mit meinem Vater. Vielleicht ist das der Grund. Ich glaube, sie ist verliebt.« Damit sprach Max seinen Verdacht das erste Mal laut aus und er merkte, daß es ihn zufrieden machte. Er freute sich für das Glück seiner Mutter und empfand diese Entwicklung mit der Selbstverständlichkeit der Jugend als völlig normal.

»Echt? Das finde ich ja stark. Und nach Lage der Dinge irgendwie auch ganz witzig. Meinst du, da wird was draus?« Nane sah Max voller Anteilnahme für seine Eltern an.

»Kann schon sein«, brummte er und fügte hinzu: »Ich hoffe es für beide.« Dabei stellte er fest, daß er sich wirklich darüber freuen würde und die beiden seiner Meinung nach wunderbar zueinander paßten. Er spürte nicht die kleinste Regung von Eifersucht in sich und war gerne bereit, einen Großteil der Fürsorge und Verantwortung, die er seit frühester Jugend für seine Mutter übernommen hatte, nun an Arno abzutreten. Er wünschte denen, die er liebte, das gleiche Glück, das er selber empfand, wobei er Nane voller Dankbarkeit betrachtete. Ihre Beziehung lief so vertrauensvoll, intensiv und harmonisch, daß er sich keine Steigerung mehr vorstellen konnte. Seine langen, sehnigen Finger fuhren gedankenverloren die Schicksalslinien in der Innenfläche ihrer Hand entlang, als er sich zu seinem eigenen Erstaunen fragen hörte:

»Was hältst du eigentlich von Verlobung?«

»Ist das nicht ein bißchen altmodisch?« Dann begriff Nane plötzlich und strahlte. »Aber nur, wenn du dann auch richtig altmodisch bist und bei meinem Vater um meine Hand anhältst.«

»Sicher, das gehört dazu. Soll das heißen, daß du einverstanden bist?« Nane nickte mit glänzenden Augen, bevor sie in einem langen Kuß versanken.

*

Arno von Betigheim stand in einer langen Schlange wartender Autos, während weit vor ihm auf der einzigen Fahrspur einer ampelgeregelten Baustelle ein Lastkran versuchte, riesige Betonteile punktgenau in der Erde zu versenken. Resigniert stellte er, wie viele in der Reihe, den Motor ab. Das würde dauern. Er verschränkte die Arme über dem Lenkrad und reflektierte die Veränderungen, die sein Leben in den vergangenen Monaten erfahren hatte. Überhaupt nichts erschien ihm mehr wie vorher.

Erst die Diagnose seiner Krankheit, deren Beschränkungen er inzwischen mühelos in seinen Alltag aufgenommen hatte und fast gar nicht mehr wahrnahm, dann das große dunkle Loch, wie er es nannte, in das er gefallen war und das ihm jegliche Perspektive geraubt hatte, und dann Wallys Geständnis und das plötzliche Auftauchen

seines Sohnes. Das wunderbare Verhältnis zu ihm und die Art, wie er sich in Betigheim eingefunden hatte, schien ihnen allen den ganzen Reichtum der Jugend zurückzubringen. Aber die Krönung aller Ereignisse war Carla Winter.

Sie sahen sich inzwischen beinahe täglich. Die Intensität und Häufigkeit ihrer Begegnungen hatte sich ganz allmählich gesteigert. Zu Anfang wollte Arno jedes Detail aus Maximilians Kindheit und Jugend immer und immer wieder hören, bis er schließlich begriffen hatte, daß er Max nur vorschob, um sich mit Carla zu treffen, die sich über ihre Gefühle für Arno sehr viel schneller klargeworden war und sie überrascht und freudig auslebte. Fast alle Dinge jenseits ihrer beruflichen Tätigkeit unternahmen sie gemeinsam: Ausstellungen, Theater, Kino, Einkaufsbummel, Wanderungen und Ausflüge. Ihre Interessen waren ähnlich, und sie waren beide sehr aktiv, um so mehr, als alle Unternehmungen in dieser neu gewonnenen Zweisamkeit doppelt soviel Spaß machten. Sie gingen sehr behutsam miteinander um, und einer war sich des Wertes des anderen bewußt. Sie hatten beide zu viele Jahre ohne einen Partner an ihrer Seite gelebt, um sie jetzt, da ihnen die Partnerschaft zu einem Zeitpunkt geschenkt worden war, zu dem sie beide nicht mehr damit gerechnet hatten, nicht als Wunder zu betrachten. Sie genossen jede Stunde miteinander. Er hatte sich vorgenommen, sie heute zu fragen, ob sie seine Frau werden wollte. Ihre Beziehung war für sie beide ein steter Quell der Kraft und der Freude. Er hatte schon so viel Zeit seines Lebens nutzlos verrinnen lassen und nun das Gefühl, keine Sekunde mehr vergeben zu dürfen. Wenn ihm das Schicksal jetzt noch einmal und unverhofft großzügig die Hand reichte, mußte er sie ohne Zögern ergreifen und er war sich sicher, daß auch Carla das, wie die meisten Dinge, ähnlich wie er sah.

*

»Eine Verlobung! Wie klasse!« Bibi quietschte vor Begeisterung und klatschte in die Hände.

»Da gibt es ja noch jede Menge zu organisieren. Aber Mama und ich machen das schon für euch.« Mutter und Tochter tauschten einen verständnisinnigen Blick voller Tatendrang. Baron Hajo von Wollenstedt hatte den Entschluß seiner Ältesten beim Tee verkündet, nachdem ihn Max zu einem kurzen Gespräch in den Salon gebeten hatte, das in männlicher Direktheit stattfand.

Nane und Max sahen sich kurz an, bevor Nane mit Bestimmtheit sagte:

»Also, die Verlobung wollten wir nur im allerkleinsten Kreis halten. Wenn ihr das Drum und Dran der Hochzeit übernehmen würdet, fände ich das toll. Da lassen wir euch freie Hand und, ihr könnt euch nach Herzenslust austoben und Gott und die Welt einladen, bis das Haus aus allen Nähten platzt. Aber wir wollen erst heiraten, wenn Max seine letzte Staatsprüfung hinter sich hat, in gut einem Jahr. Es bleibt also noch jede Menge Zeit zur Vorbereitung.«

»Aber in Weiß?« Bibi stellte die Frage leicht gedämpft, aber als Nane nickte, kehrte die Begeisterung sofort zurück. Miriam von Wollenstedt blickte ihren zukünftigen Schwiegersohn mit einem gewissen Wohlwollen in den Augen an, was Max, der sich mit seinem Kuchen beschäftigte, jedoch entging. Nachdem Nane ihr die Geschichte seiner Herkunft, der Adoption und der jüngsten Entwicklung erzählt hatte, hatte sie umgehend Nachforschungen über die Grafen von Betigheim anstellen lassen, mit deren Ergebnissen sie höchst zufrieden war. Auf gesellschaftlichen Glanz mußte sie zwar verzichten, die Familie hatte immer sehr zurückgezogen gelebt, war aber dafür von ältestem Adel, und der wirtschaftliche Hintergrund war über Generationen gefestigt, der Ruf insgeheim hochstehend und äußerst angesehen. Auf dieser Basis ließ sich doch mühelos an ein bißchen mehr Glamour arbeiten. Seit dieser Gewißheit konnte sie sich uneingeschränkt an Max’ gutem Aussehen erfreuen und ihn als passende Partie für ihre Tochter betrachten.

»Wie ist das Wappen derer von Betigheim?« Miriam richtete die Frage an Max, der irritiert aufblickte. Sie hatte bereits einen ersten Entwurf für die Einladungskarten vor Augen.

»Ähem,… keine Ahnung. Wir haben kein Familienwappen, ich heiße nur Winter.«

»Nun ja«, lenkte Miriam sofort ein, »bis dahin ist auch noch etwas Zeit, da lassen sich solche Kleinigkeiten ja klären.« Sie merkte, der junge Mann würde noch viel lernen müssen, und sie war bereit, sich als Lehrmeisterin zur Verfügung zu stellen. Nachdem Nane mit ihrem Vater und Max zu einem längeren Spaziergang aufgebrochen war, versanken Bibi und ihre Mutter in einem ausgiebigen Austausch erster Ideen für die Hochzeitsvorbereitungen. Sie waren beide voll davon, und diese Aufgabe würde sie mühelos ein Jahr beschäftigen.

»Sie werden ein traumhaftes Paar sein«, sagte Bibi träumerisch.

»Ich habe immer gewußt, daß bei diesem Aussehen mehr dahintersteckt«, entgegnete ihre Mutter.

*

Wally legte letzte Hand an die Dekoration der Zitronentorte und schob ein paar grüne Melisseblättchen unter die gefächerten Zitronenscheiben, bevor sie ihr Werk zufrieden betrachtete. Durch die weit geöffneten Türen der Terrasse drang lebhaftes Stimmengewirr herein. Anläßlich der Verlobung hatten sie sich zu einer kleinen Feier getroffen, nur die engsten Mitglieder der beteiligten Familien, um sich mit Nane und Max an deren Glück zu freuen. Die weiß-gelb-grüne Farbgebung der Torte ließ Wallys Gedanken zur Hochzeit vorauseilen, die in weitaus größerem Rahmen geplant war und die Möglichkeiten ihrer Küche bei weitem überschreiten würde. Aber das machte nichts, denn sie würden sich bei der stillen Eheschließung von Arno und Carla, deren Pläne sie und Maja schier aus dem Häuschen hatten geraten lassen vor Glück, noch ausreichend betätigen können. Daß Arno noch ein Stück des Himmels bekommen würde, hatten sie nicht zu hoffen gewagt, und daß seinem Sohn nun der Himmel des Lebens offen stand, freute sie unendlich.

Sie blickte hinaus auf die Terrasse. Die Menschen dort draußen hatten über Umwege und Verluste zusammengefunden, aber heute war es ihre Familie.

Arno kam herein, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, und als hätte er ihre Gedanken gelesen, nahm er sie in den Arm, folgte ihrem Blick nach draußen und sagte:

»Siehst du, Wally, ohne dich als Mittlerin des Schicksals hätten diese Menschen dort einander nie gefunden.«

Fürstenkrone Staffel 14 – Adelsroman

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