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Kapitel drei

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„Du solltest deinem Glück auf die Sprünge helfen, Marlene!“

„Wie meinst du das?“ Marlene schaute ihren Bruder herausfordernd an.

Er war 12 Jahre jünger als sie.

Es war also definitiv nicht seine Aufgabe, seiner großen Schwester kluge Ratschläge zu erteilen.

„Na ja – Lotto spielen, neue Leute kennen lernen, auf Partnersuche gehen … Was man eben so macht, wenn man unglücklich und unzufrieden ist. Das Internet ist voll von Angeboten!“

„Du liebes Lieschen – Internet! Was für eine billige Reste-Rampe!“

„Du siehst aus wie ein Gespenst!“

Sie starrte ihren Bruder giftig, beinahe vernichtend an und verwandelte sich vom traurigen Gespenst in eine wilde Bestie.

„Vielleicht will ich ein Gespenst sein! Vielleicht will ich dich und euch alle, alle erschrecken! Euch zeigen, dass es einfach nicht immer möglich ist, auszusehen wie diese perfekten Clowns da draußen und in den Medien. Darf man nicht mal mehr Scheiße aussehen? Dann kommt schon wieder jemand angerannt und meckert und doktert an einem herum?“

„Ich mache mir Sorgen um dich!“

„Mach dir lieber Sorgen um dich selbst …!“

Marlene hörte nicht mehr, was ihr Bruder sagte, denn die Erinnerung an das letzte Gespräch mit ihrem Mann hatte sich plötzlich wieder in ihr Gedächtnis eingeschlichen und machte ihr die Konzentration auf die Außenwelt unmöglich.

„Ich habe mich in eine andere Frau verliebt!“

Sie hatte ihn entsetzt angestarrt.

Und er weinte wie ein Kind.

„Mach‘ doch was dagegen, bitte!“ flehte er.

Sie saßen nebeneinander auf der alten, abgewetzten Leder-Couch und starrten eine gefühlte Ewigkeit in das flackernde Feuer im Kamin.

Marlene wurde abwechselnd heiß und kalt.

„Und was genau soll ich dagegen machen?“

„Zeig mir, dass ich dir wichtig bin. Dass es dir am Herzen liegt, Zeit mit mir zu verbringen. Dass wir wieder gemeinsam lachen und vor allem: lass uns verrückte Pläne schmieden.“

Er erhob sich.

„Wohin gehst du?“

„Ich lass‘ dir Zeit und ziehe erst mal aus!“

„Zu ihr?“

Dass er schwieg, nahm ihr beinahe die Luft zum Atmen.

„Er verlässt dich, er geht zu irgendeiner Anderen, gegen die du nun sowieso keine Chance mehr hast“, war das einzige, was sie noch denken konnte.

„Wann kommst du wieder?“ fragte sie mechanisch, wie immer, wenn er sich morgens verabschiedete, um zur Arbeit zu fahren.

Seine Stimme klang brüchig.

„Ruf mich an, wenn du mich sehen möchtest!“

„Du bist derjenige, der geht. Wieso soll ich dir hinterher rennen?“

„Ich gebe dir Zeit, darüber nachzudenken, wieso du unsere Beziehung mit deinem egoistischen Verhalten mit aller Gewalt torpedierst und so früher oder später ruinieren wirst!“ Er blickte sie traurig an.

„Ich war lange der glücklichste Mensch der Welt an deiner Seite! Es geht uns so gut und was machst du? Du hast nichts Besseres zu tun, als dich den ganzen Tag hinter deiner Arbeit zu vergraben, alles schlecht zu reden und mit allen und jedem Streit anzufangen. So möchte ich nicht weiter leben!“

„Ist es schon zu spät?“

„Ich weiß es, ehrlich gesagt nicht … Hör‘ bitte auf, auch noch das letzte Fünkchen Hoffnung, das ich habe, zu zerstören. Sonst ist es tatsächlich vorbei.“

Marlene zog fröstelnd die Schultern hoch, als sie sich daran erinnerte, wie still es plötzlich war, nachdem ihr Mann leise die Türe hinter sich zugezogen hatte.

Mit Tränen in den Augen sagte sie, während sie wie versteinert auf dem Sofa sitzen blieb, leise und für niemanden hörbar: „Warte, ich komme mit!“

Eine freundliche Polizistin informierte sie wenige Stunden später darüber, dass ihr Mann mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler gefahren und dabei tödlich verunglückt war.

Er war alleine im Auto.

Was war daran falsch, dass sie nach Monaten der gnadenlosen Selbstbeherrschung, am Tod ihres Mannes nicht zu zerbrechen, plötzlich aussah, wie ein Zombie?

Sie wirkte um Jahre gealtert und ihre ungepflegten, grauen Haare hingen in fettigen, dünnen Strähnen über ihre schmalen Schultern.

Ihre sündhaft teuren Klamotten hingen an ihr, wie an einer Vogelscheuche. Von der erfolgreichen, selbstbewussten Unternehmerin war nur noch ein Häufchen Elend übrig geblieben. Sie zerfloss in Selbstmitleid und ihr selbstzerstörerisches Verhalten nahm mittlerweile Ausmaße an, die nicht mehr zu verheimlichen waren.

Sie hatte ihr Leben so lange fest im Griff gehabt, solange sich ihr Umfeld nach ihr gerichtet hatte. Ihre wichtigste Frage, was gewesen wäre, wenn, konnte ihr niemand mehr beantworten.

Ihr Bruder hatte Recht.

Sie sollte irgendetwas tun, um wieder unter Menschen zu kommen. War da nicht bald dieses Klassentreffen? Sie nahm sich fest vor, daran teil zu nehmen, obwohl sie keine Lust dazu hatte.

Und sie hatte tatsächlich Glück: Leopold, ein ehemaliger Schulfreund war Psychotherapeut und organisierte für sie über seinen Freund und Kollegen, Herrn Dr. Mohn, ganz kurzfristig eine mehrwöchige Kur in einer renommierten Privatklinik für Psychosomatik.

Herr Dr. Mohn war half ihr mit seiner Hypnose schnell wieder auf die Beine und Marlene blühte innerhalb kürzester Zeit wieder auf. Sie erzählte niemandem von ihrer Therapie, auch ihrem Bruder nicht. Er vermutete stattdessen, dass sie vielleicht doch endlich auf seinen Rat gehört hätte und frisch verliebt sei. Als sie ihm dann auch noch von einer bevorstehenden Reise nach Südafrika erzählte, war er völlig aus dem Häuschen.

Dass ihre Reise in ein kleines Kaff im südlichsten Zipfel Deutschlands ging, musste sie ja nicht jedem auf die Nase binden.

Marlene hatte Dr. Mohn gerade ausführlich geschildert, was sie ihrer Meinung nach im Leben alles falsch gemacht hätte, als plötzlich eine verrückte Alte die Praxistüre aufriss. Marlene schrie vor Schreck laut auf. Wie eine Tarantel kam diese Furie in den Raum gestürmt und schrie hysterisch ihren wunderbaren Herrn Dr. Mohn an.

Mori Memento

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