Читать книгу Kapitänleutnant v. Möllers letzte Fahrt - K. E. Selow-Serman - Страница 5
Auf dem Hsikiang
ОглавлениеEin leichtes Knirschen unter dem Schiffsboden . . . einige kurze Stöße . . . ein scharfer Ruck . . . „S. M. S. Tsingtau“ sitzt auf einer Sandbank fest.
„Beide Maschinen Stopp!“
Braunes Wasser quirlt zu beiden Seiten und am Heck auf, ganze Lehm- und Schlickklumpen kommen hoch. Das Schiff ist festgekommen. Bisher war die Reise, seit der Abfahrt von Kongmoon, wo Schießübungen abgehalten wurden, glatt verlaufen.
„Eine verteufelte Geschichte!“ wendet sich der Kommandant, Kapitänleutnant v. Möller, an seinen neben ihm auf der Brücke stehenden Wachtoffizier, Leutnant z. D. v. Wenckstern. „Wenn das Wasser nicht bald steigt, sehe ich schwarz für unsere Ankunft in Wutschau!“
Am Bug, am Heck und an den Seiten sind ein Dutzend Leute damit beschäftigt, mit gemarkten Stangen die Wassertiefe zu messen und festzustellen, wo das Schiff aufsitzt. Vorne weist das Wasser schon wieder zwei Meter Tiefe auf. Die Sandbank, die nach Steuerbordseite abfällt, beginnt in der Höhe der Brücke. Vom Schornstein bis fast zum Heck muss „Tsingtau“ festsitzen: keine 90 Zentimeter Wasser! Während auf der Brücke nach den Peilungen überlegt wird, wie das Schiff loskommen kann, klingt’s von unten in unverfälschtem Hamburger Platt herauf: „Du Koarl, willt wi beid‘ mol öwer Board jumpen unn em losschuwen?“ Prompt kommt die Antwort zurück: „Tja Hein, denn will ick öwer erst min Boadeanzug antrekken!“
Ein leises Schmunzeln oben auf der Brücke.
„Steuerbord 10, beide Maschinen Äußerste!“
Wieder färbt sich der Strom unter dem dunkelbraunen Sand und Schlick, den der Schraubenwirbel vom Grunde hochjagt: keine Bewegung aber kommt in das Schiff. Schwer lastet „Tsingtau“ auf dem Sande, die Landmarken bleiben unverändert.
„Stopp! Beide Maschinen große Fahrt rückwärts!“ Eine halbe, eine ganze Minute peitschen die Schrauben das Wasser.
„Stopp! Beide Maschinen äußerste Kraft voraus!“ Da! Ein leises, kaum merkbares Zittern. Das Schiff neigt sich nach Steuerbord über, knirschend rutscht es von der Sandbank herunter, liegt grade, ist Weg stromaufwärts fortgesetzt.
Das in Südchina stationierte Flusskanonenboot „Tsingtau“ ist am 16. Mai 1914 von Kongmoon in der Mündung des Hsikiang (Westfluss) abgegangen, um von Wutschau aus Erkundungsfahrten in unbekannte Flussgebiete der Provinz Kwangsi vorzunehmen und die deutsche Kriegsflagge dort zu zeigen. Eine für Offiziere und Mannschaften des kleinen Fahrzeugs äußerst interessante, aber keineswegs leichte Ausgabe. Der älteste Mann an Bord ist kaum Mitte der Dreißig, allen wohnt der Drang, der in jedem Deutschen sitzt, inne, Fremdes zu schauen. Neues, Ungewohntes zu erleben. Jeder freut sich der kommenden Tage, die sicherlich Zwischenfälle der mannigfachsten Art bringen werden. Nur wenige größere Städte weist die Karte auf, was dazwischen liegt, ist unbekanntes Land. Die kühnsten Hoffnungen werden an die Fahrt geknüpft: Jagdabenteuer, Fischerei, Zusammentreffen mit Piraten, Erwerb echt chinesischer Raritäten: je nach Liebhaberei.
Langsam gleitet „S. M. S. Tsingtau“ gegen die Strömung an. Vom Lösz, dem chinesischen Lehm gefärbt, wälzen sich die gelben Fluten in schnellem Laufe dem Meere zu. Voraus kommt eine Dschunke in Sicht. Das riesige, gezackte, braune Segel leuchtet im hellen Sonnenschein schon von weitem herüber. Zwei ungeheure Glotzaugen sind in grellen Farben zu beiden Seiten des Bugs aufgemalt. Fast unheimlich ist der Eindruck, als schöbe sich irgendein phantastisches Seeungeheuer herauf. Bis unter das Segel türmt sich die Ladung, die aus Ballen getrockneter Häute besteht. Stumpfsinnig hockt die Mannschaft an Deck herum. Eine unheimliche Gesellschaft, mit der man im Anfang so gar nichts anzufangen weiß, weil sie sich gleichen, wie ein Ei dem andern. Alle scheinen die gleichen starren Gesichter zu haben, auf denen nicht die geringste Regung eines eigenen Innenlebens zu erkennen ist. Alle trugen sie das blaue, billige Nankingzeug. Erst wenn man sie länger kennt, lernt man sie unterscheiden.
Gleichgültig schweifen nüchterne Augen von drüben über das Kriegsschiff hinweg ins Leere. Auf hohem achteren Aufbau steht der Mann am Steuer. Schnell rauscht die Dschunke mit dem Strom vorbei, wie ein Bild aus längst entschwundenen Jahrtausenden anmutend. Kein Laut, keine Bewegung an Bord, als seien es nicht lebende Menschen.
Zu beiden Seiten gleitet das Ufer entlang. Bis zu fünfzehn Metern hebt es sich stellenweise, kommt näher bald, um wieder weiter zurückzutreten. Aus bläulichem Dunste leuchten in der Ferne Bergzüge herüber, von deren Spitzen der kahle Fels im Sonnenglanze schimmert, wie ewiger Schnee. Die Gegend ist ziemlich belebt, reger Verkehr herrscht. Wie eine endlose Flut dehnen sich gelbe Reisfelder bis an den Horizont, wo die Berge ragen. Zwischen schlankem, grünbelaubtem Bambus glänzen helle Mauern einzelner Gehöfte, über denen sich Schilfdächer wölben. Als Ansteuerungsmarken und gleichzeitig als Wahrzeichen der Gegend dienen die eigentümlich geformten Pagoden, die sich auf kleinen Anhöhen erheben. In strahlendem Sonnenschein liegt die Gegend. Auf den Feldern arbeiten Leute, auf den Wegen ziehen ungefüge einräderige Karren langsam dahin.
In einer stillen, schilfumstandenen Bucht sielen sich Wasserbüffel, Bis an den Hals stecken sie in ihrem geliebten Schlamme, nur der wild anmutende zottige Schädel mit den großen gutmütigen Augen sieht aus dem Wasser hervor. Ruhig, gleichmäßig dösen sie, kaum dass der Kopf sich dahin wendet, wo eben das deutsche Schiff vorbeizieht. Oben am Ufer steht ein altes Tier, das erstaunt nach dem schnaubenden Ungetüm herüberäugt. Ein kleiner, kaum vierjähriger Chinesenjunge, der mit Wasser wohl kaum noch während seiner kurzen Erdenlaufbahn Bekanntschaft gemacht hat, so dreckig ist er, sitzt auf seinem Rücken. Auch ihn lässt das Schiff völlig kalt. Eine sture Gesellschaft! Fremd in ihren Ansichten und der Auffassung vom Leben. Viele Jahrzehnte gehören wohl dazu, sie aus ihrer unheimlichen Ruhe aufzustören!
Der Fluss verbreitert sich, die hier niedrigen Ufer treten zurück. Die Strömung wird geringer, die Gefahr des Festkommens steigt durch die Verflachung. Dauernd peilen die Leute von Deck aus die Wassertiefen. Mit geringer Geschwindigkeit, äußerst vorsichtig setzt „Tsingtau“ ihren Weg fort.
Weit voraus sind die Segel zweier Dschunken zu sehen, die quer zum Strom fahren. Auf der oberhalb liegenden flammt ein Blitz, starker Pulverqualm wälzt sich am niedrigen Bug auf, ein schwacher Knall kommt herüber. Eine Kriegsdschunke, die soeben einen Piraten gefasst hat. Dass der Flussräuber selbst an der Arbeit ist, scheint ausgeschlossen, da ihm das herankommende Kriegsschiff, dessen charakteristische Formen ihm wohlbekannt sind, bei der Ausübung seines Handwerks etwas unheimlich sein dürfte.
„Geschütze und Maschinengewehre klar!“ Ein eiliges Hasten an Deck, Munition wird gemannt, die Geschütze werden geladen, Patronengurten in die Maschinengewehre eingezogen.
Drüben geht die Jagd weiter. Vergebens versucht der Pirat das Ufer zu erreichen, die schnellere Kriegsdschunke kneift ihm den Weg ab. Einen Augenblick darauf scheint er seine Absicht geändert zu haben, will stromabwärts entkommen. Einen Augenblick nur. Weiß er doch zu genau, dass das ihm entgegenkommende Kriegsschiff ein viel gefährlicherer Gegner ist als der bisherige Verfolger. Wieder blitzt es auf der Kriegsdschunke auf, von der jetzt zwei bunte chinesische Flaggen wehen. Ein Treffer. Die Vollkugel fährt aus dem uralten Vorderlader und reißt einen erheblichen Fetzen aus dem Segel des Räubers, dessen Geschwindigkeit sich mehr und mehr verlangsamt. Rasch nähern sich die beiden Dschunken. Aufgeregt hetzt die Mannschaft an Deck des zuerst herankommenden Piraten herum. Der Mann am Steuer wirft sich mit voller Wucht gegen die Pinne, laute Kommandorufe, Schreien, Fluchen tönt herüber. Weit mehr Leute scheinen an Bord, als zur Bedienung des Fahrzeuges erforderlich sind. Alle in dem blauen Nankinganzug mit nacktem Oberkörper. Geradezu verboten sehen sie aus. Einige versuchen, auf dem achteren kleinen Mast ein Segel zu hissen, andere wieder laufen mit Flinten eines anscheinend uralten Systems nach dem hohen Aufbau und beginnen nach dem Verfolger hinüberzuschießen. der das Feuer sofort, erwidert. Ein wildes Geknalle hebt an. bald hier, bald da ein Schuss, dann wieder eine ganze Salve. Schon jetzt ist zu sehen, dass die Kriegsdschunke überlegen, ein Eingreifen der „Tsingtau“ also unnötig ist.
Wieder saust eine Kugel heran, trifft auf Deck, mitten in den Knäuel der zusammengedrängten Piraten, und schlägt ein halbes Dutzend Leute zu Boden. Vierkant drehen sie auf Land zu, um wenigstens das nackte Leben noch zu retten. Zu spät! Das zerfetzte Segel gibt dem Schiff keine Geschwindigkeit mehr, näher und näher rauscht der Verfolger, ununterbrochen feuernd, heran. In Todesangst — wissen sie doch, was ihrer harrt — springt ein Teil der Leute über Bord. Die Strömung fasst sie. wirbelt sie herum und entführt sie abwärts. Jetzt ist die Kriegsdschunke heran, geht am Piraten längsseit und macht fest. Mit Säbeln und Pistolen springen Soldaten herüber, bereit. jeden Widerstand zu ersticken. Im Handumdrehen ist das Werk getan. Wer noch lebt, wird gefesselt, dass er auch nicht ein Glied rühren kann, und wie ein gefüllter Sack an Bord der Kriegsdschunke geworfen. Die meisten freilich sind vorher schon unter den Kugeln gefallen oder ertrunken. Dann wird das erbeutete Fahrzeug in Schlepp genommen und nach Wutschau zugehalten, wohin auch S. M. S. “Tsingtau“ ihren Weg fortsetzt. Eine riesige, zinnengekrönte Mauer umgibt die Stadt, aus deren Mitte sich eine Anhöhe erhebt. Ein Gewimmel alter, halbverfallener Häuser, schmaler, winkeliger Gassen und Gässchen, aus denen nur selten ansehnlichere Gebäude, die Sitze der Regierungsbehörden, ragen. Besseren Eindruck macht das Geschäftsviertel zwischen der Mauer und dem Fluss. Die Straßen sind reinlicher und breiter, die Häuser ansehnlich. Längs des Ufers ist auf dem gelben Schlick die Kaimauer aufgeführt. Einige Hulks europäischer Firmen, die Anlegeplätze der kleinen Flussdampfer liegen dicht am Ufer vor mehreren Ankern am Bug und Heck. Laufplanken führen an Land.
Eine Stunde nach dem Kampf der Kriegsdschunke mit den Piraten rasselt der Anker des Kanonenbootes in den Grund. Kaum liegt „Tsingtau“, die in Wutschau wohlbekannt ist, ruhig, als auch schon vom Ufer kleine chinesische Zampans abstoßen. Geschäftstüchtige Schiffshändler kommen längsseit. In fließendstem Pidgeon-Englisch preist der Bumboatsman Wong-sa Eier und Hühner für einen lächerlich billigen Preis an, der aber trotzdem den richtigen Marktpreis noch immer um ein Vielfaches übersteigt. Einige der neu an Bord gekommenen Leute wollen sich das gute Geschäft, ein Dutzend Eier für fünfundzwanzig Cents erwerben zu können, nicht entgehen lassen, werden aber schleunigst von den alten, erfahrenen Tsingtau-Leuten belehrt, dass sie die Preise nicht verderben dürfen. Tatsächlich sehen sie sofort, dass Wong-sa. in schneller Erkenntnis, dass es hier keinen übermäßigen Profit gibt, sich grinsend ob der deutschen Geschäftstüchtigkeit mit zehn Pfennig für das Dutzend begnügt.
Gegen Abend meldet sich der chinesische Lotse Ah Koo mit seinen beiden Gehilfen an Bord, eine für die Weiterfahrt sehr wichtige Persönlichkeit, da es jetzt in unbekannte Flussgebiete geht, deren dauernde Veränderung durch Hochwasser, Strömung usw. in Karten und Büchern nicht festgelegt werden kann. Nur jahrelangen, ständigen Befahrern offenbart der Fluss seine Geheimnisse und lässt sie aus Strömungen und Wirbeln die richtige Fahrstraße erkennen.
Bei Tagesanbruch geht die Fahrt stromaufwärts los. Das Bett wird enger, die Strömung reißender; höher, bis zu zweihundert Meter hebt sich das Ufer, steiles, kahles Gestein schiebt sich heran, das in jäher Wand zum Wasser abfällt. Die Durchbruchsstelle des Flusses durch den Fels, von dem noch Riffe und Klippen im Bette selbst, um die das Wasser in schäumenden Wirbeln hinwegschießt, zeugen: Die Kau-Wei-Hau-tan-schnelle, die sich fast zwei Kilometer weit dahinzieht und wegen ihrer Gefährlichkeit berüchtigt ist. Jetzt heißt es aufpassen. Ruder- und Maschinenkommandos jagen einander. Ununterbrochen wirbelt der Rudergänger das Rad bald nach rechts, bald nach links herum; bald stoppt die eine Maschine, während die andere mit äußerster Kraft voraus arbeitet, dünn wieder geht die eine zurück, um die Rudermanöver zu unterstützen. Haarscharf geht es an Wirbeln vorbei. Jetzt liegt „Tsingtau“ quer zum Strom, im nächsten Augenblick wirbelt sie herum und jagt mit äußerster Kraft voraus. Langsam, unendlich langsam nur verstreichen die Minuten, deren jede das Ende bringen, das deutsche Schiff auf die Klippen werfen kann. Mit unheimlicher Wucht presst sich das Wasser durch das enge Felsentor, die Luft ist erfüllt von dem Brausen und Singen der dahinschießenden Massen.
Ah-Koo trabt von einem Ende der Brücke zum anderen. Er ist Südchinese, viel temperamentvoller als seine Landsleute aus dem Norden des Reiches. Trotzdem bleibt er einigermaßen ruhig, führt das Schiff sicher durch das gefährliche Fahrwasser. Wenige Minuten noch, dann treten die drohenden Felsen weiter zurück, das Bett wird breiter und flacher. Die Schnellen sind überwunden, gleichmäßig, ohne Wirbel fließt der Strom wieder dahin.
Dicht unter Land quält sich eine Dschunke durch die Schnellen. Vom Oberteil des Mastes führen Leinen an Land, an denen ungefähr sechzig Kerle, mühevoll auf schmalen Steigen kletternd, das Schiff vorwärts treideln. Stundenlang arbeiten sie, um durch die Schnellen zu kommen, die „Tsingtau“ soeben passierte. Plötzlich dringt ein wildes Rufen und Schreien herüber: Die Hauptschleppleine ist gebrochen! In wirrem Knäuel stürzen die Treidelmannschaften über- und durcheinander. Einen Augenblick später schlägt die Dschunke quer zum Strom, die Treidelmannschaften lassen die übrigen Leinen, die sie noch krampfhaft umklammerten, los. Das Schiff ist nicht mehr zu halten. Sekunden später stößt es auf eine Klippe auf, wird wie Papier herumgedreht. Ein dröhnendes Krachen, wildes Geschrei . . . . Die Dschunke kentert, verschwindet. Menschen und Schiffstrümmer treiben talabwärts. Jeder Rettungsversuch ist ausgeschlossen. Weit unterhalb erst gibt der Strudel die Leichen von sich.