Читать книгу Fast egal - Kadhira del Torro - Страница 3

1. Kapitel

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Samantha Martin schwamm mit kräftigen Zügen zum Strand zurück. Ihre Zähne begannen heftig aufeinander zu schlagen, als sie das Stück zu ihrem Handtuch lief und es vom Sand befreite. Schnell rubbelte sie sich trocken und wickelte das Handtuch um ihre noch feuchten Haare. Eigentlich war es schon viel zu kühl, um noch im Meer zu baden. Aber sie konnte es einfach nicht lassen. Schon gar nicht, wenn sie allein war und den ganzen Strand für sich hatte. Sie lief zu einer kleinen Buschgruppe, unter der sie ihre Sachen vergraben hatte, und hob das lose Wurzelwerk vorsichtig an. Doch anstatt ihrer ordentlich gefalteten, in einer Tüte verpackten Kleidung fand sie nur einen zerwühlten Haufen Sand. Schnell richtete sie sich auf und sah sich um. Weit und breit konnte sie niemanden entdecken. Sie nahm das Handtuch vom Kopf und legte es sich um die Schultern. Sie würde eine ekelhafte Erkältung bekommen, wenn sie weiter hier stehen blieb und darauf vertraute, dass der Dieb wiederkam und ihre Sachen zurückbrachte. Sorry, Lady, war ein kleiner Scherz. Pah. Jetzt war sie froh, dass sie ihren Schmuck und die Geldbörse bei ihren Badetouren grundsätzlich Zuhause ließ. Sie zog das Handtuch fester um ihre Schultern und ging zum Strand zurück. Doch auch hier war niemand, keiner, der bei ihrem Anblick ins Wasser flüchtete und versuchte, einen neuen Rekord im Luftanhalten aufzustellen. Immerhin blieb sie gut drei Minuten stehen und beobachtete die Wasseroberfläche. Sam war sich nicht ganz sicher, dass es sich hier nicht doch um einen bösen Scherz handelte. Und wenn es so war, würde sie demjenigen den Hals umdrehen, sobald er sich zu erkennen gab.

Sie fluchte leise vor sich hin und lief los. In gleichmäßigem Tempo trabte sie am Strand entlang, bog nach wenigen hundert Metern in einen Trampelpfad ab und folgte ihm bis zu einer schulterhohen Steinmauer. Sie warf das Handtuch oben drauf, wollte so Verletzungen durch die spitzen Steine vermeiden und kletterte darüber hinweg. Ihr Fluchen wurde dabei lauter und entsprach nicht mehr dem Vokabular einer Lady. Gerade dann nicht, als ihre nackten Füße mit einem dumpfen Laut zielsicher in einer Ansammlung von Kiefernnadeln landeten. Sie zog das Handtuch von der Mauer, schüttelte es aus und wischte damit über ihre Fußsohlen. Die langen, spitzen Kiefernnadeln fielen zu Boden, nur vereinzelt musste sie Hand anlegen und sie aus der aufgeweichten Haut ziehen. Auf Zehenspitzen und mit großen Schritten balancierte sie weiter und atmete erst auf, als sie den weichen, sorgsam gepflegten Rasen erreichte. Ihr war nicht mehr ganz so kalt. Die Bewegung und die Wut hatten dafür gesorgt, dass ihr wärmer wurde und ihre Zähne nicht mehr klapperten. Sie lief jetzt schneller, bis sie das große, hell erleuchtete Haus ihrer Familie sehen konnte. Abrupt blieb sie stehen und schlug die Hand vor den Mund. Ein leises Kichern quetschte sich zwischen ihren Fingern durch und zerfaserte in der Luft. Der Geburtstag ihrer Großmutter. Wie hatte sie die Party nur vergessen können? Himmel, das ganze Haus war voller Leute, die Terrasse auch - und der Garten.

Im Schutz der Büsche schlich sie weiter, kam sich plötzlich vor wie ein Einbrecher, der sich irgendwo einschlich, um eine geheime Formel zu klauen. Wie aufregend. Sie umging einige Pärchen, die sich tiefer in den Garten verirrt hatten, und schaffte es tatsächlich bis seitlich an das Haus heran. Es war nicht das erste mal, das sie an dem stabilen Rosengitter in ihr Zimmer kletterte. Aber das letzte mal lag schon einige Jahre zurück – und einige Kilos auch. Sie sah sich noch einmal um und begann vorsichtig daran hoch zu klettern.

„Verraten Sie mir, warum Sie nicht die Treppe benutzen?“

Samantha schrie überrascht auf. Ihre Hand griff ins Leere, sie kam ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht und fiel. Dabei schrie sie gleich noch einmal. Ihre Landung war allerdings weich, fand sie sich doch an der Quelle der Stimme wieder. Genaugenommen befand sich ihr Hinterteil ungefähr in Höhe des Magens des Mannes, der ihr den unfreiwilligen Flug beschert hatte.

„Hoppla, was haben wir denn da?”

„Was ich bin, weiß ich sehr genau, Mister. Aber bei Ihnen ist mir das noch nicht ganz klar. Also lassen Sie mich gefälligst sofort los,” fauchte sie und wehrte sich gegen seinen festen Griff. Sie konnte nicht einmal sehen, wer sie gefangen hielt, weil sie den Kopf nicht soweit drehen konnte. Wegen ihrer Zappelei kam sie langsam ins Rutschen, erkannte die Gunst der Stunde und trat kräftig nach hinten aus. Sie traf etwas, wahrscheinlich das Schienbein, denn prompt hörte sie einen leisen Schmerzensschrei und er ließ sie los. Kaum hatten Sams Füße wieder Bodenkontakt, rannte sie los. Aber sie war nicht schnell genug. Schon nach wenigen Schritten spürte sie eine Hand an ihrem Oberarm, wurde herumgewirbelt und prallte durch ihren eigenen Schwung heftig an die Brust des Unbekannten. Automatisch hatte sie die Hände nach oben genommen. Das Ergebnis war, dass ihre Unterarme jetzt zwischen ihnen eingeklemmt waren. Klasse. Sie hob den Kopf, wollte ihm lautstark ihre Meinung über sein flegelhaftes Benehmen sagen, aber nicht ein Wort drang über ihre Lippen. Sie stand einfach nur da und starrte in die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte. Ihre Hand krallte sich in sein Hemd und zerknitterte es. Aber das merkte sie gar nicht. Und eigentlich war es ihr auch so ziemlich egal. Sie war vollkommen in seine Augen vertieft. Sie spürte seinen Arm, der um ihre Taille lag, seine Hand, die noch immer ihren Oberarm festhielt und die festen Muskeln unter ihren Fingern.

„Wohin denn so eilig?”, fragte er mit tiefer, samtweicher Stimme, lockerte seinen Griff ein wenig und sie konnte etwas von ihm abrücken. Sein Blick senkte sich, wanderte über ihren fast nackten Körper und kehrte zu ihrem Gesicht zurück. In seinen Augen lag ein eigenartiges Funkeln.

Sam wollte etwas sagen, räusperte sich, öffnete den Mund – aber nichts passierte. Nichts. Kein Laut. Sie schluckte, räusperte sich noch einmal, versuchte, ihren Stimmbändern zu befehlen, ihren Job zu tun und versuchte es noch einmal. „Lassen Sie mich sofort los,” flüsterte sie und fragte sich, ob dieses heisere Krächzen ihre Stimme war.

„Warum? Ich habe dich doch gerade erst eingefangen.”

„Ich muss mich umziehen,” antwortete sie leise, ohne den Blick abzuwenden.

„Der Bikini gefällt mir ausgezeichnet.”

Eine tiefe Röte überzog Sams Gesicht. Sie versuchte sich erneut aus seinem Griff zu befreien, strampelte, zerrte - und schaffte es wieder nicht. Er zog sie enger an sich, sodass sie förmlich an ihm klebte. Jetzt musste sie den Kopf in den Nacken legen, wenn sie ihn ansehen wollte. Gleichzeitig spürte sie ein Kribbeln in der Magengegend, das sie ganz nervös machte.

„Wenn du jetzt wieder mit dem Gedanken spielst, mir ans Schienbein zu treten, werde ich dich übers Knie legen und dir das Hinterteil versohlen,” warnte er sie.

Sam warf einen prüfenden Blick in seine Augen, sah, dass es ihm ernst damit war und entschied sich spontan, lieber nichts zu riskieren. „Ich muss mich umziehen,” beharrte sie und senkte den Kopf. Wie konnte man nur solch faszinierende Augen haben? Das war ja fast schon unheimlich. Sams Puls beschleunigte sich, als er sich etwas bequemer hinstellte und dabei ihre Körper leicht aneinander rieben.

„Verrätst du mir, warum du an dem Blumengitter hochklettern wolltest?”

„Ich wollte in mein Zimmer.”

„Und warum nimmst du nicht die Treppe?”

Sam schluckte schwer. Sie erinnerte sich nur ungern daran, dass sie außer dem bisschen Stoff absolut nichts an hatte.

„Ah, ich verstehe. Du wolltest den Gästen nicht die Gelegenheit geben, dich in diesem reizenden Outfit zu sehen.”

„Genau.”

„Einleuchtend. Aber woher weiß ich, dass du zu den Gästen gehörst? Niemand läuft hier so leicht bekleidet rum.” Er tat so, als dachte er angestrengt nach. „Du kannst dich nicht zufällig ausweisen, oder?”

Samanthas Augenbrauen schossen hoch. „Und wo sollte ich Ihrer Meinung nach meinen ...?” Sie brach ab, als sie seinen spöttischen Gesichtsausdruck sah. Sein leises Lachen jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Auch wenn er eine prima Heizung abgab, wurde es langsam Zeit, aus den feuchten Klamotten raus zu kommen. Die Erkältung rückte immer näher. Und da der Verursacher nicht greifbar war, würde sie ihm die Schuld daran geben und ihn umbringen. Ganz einfach. „Kann ich jetzt gehen?” Sie wollte ihn böse ansehen, ihm zeigen, dass sie es ernst meinte. Aber als sie in seine Augen sah, schmolz ihr Zorn dahin, verpuffte regelrecht. Es lag etwas in seinem Blick, dass ihr Herz schneller schlagen und ihre Beine weich wie Butter werden ließen. Ihre Kehle erklärte sich zur Wüste Gobi und wenn sie hier noch weitere zehn Sekunden stand, konnte sie vermutlich auch noch die Kamele riechen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, benetzte sie und fragte sich, wo hier das nächste Wasserloch war.

Plötzlich ließ er sie los. Gerade so, als hätte er einen ansteckenden Hautausschlag an ihr entdeckt. Er trat einen Schritt zurück, räusperte sich, ließ sie aber nicht einen Moment aus den leicht zusammen gekniffenen Augen.

Sams Blick glitt tiefer, musterte seinen Körper und dann musste sie lachen. Sie wies auf seine Hose. Hüfte und Oberschenkel wiesen deutlich dunkle Flecken auf, hatten sich mit der Feuchtigkeit aus ihrem Bikini vollgesogen. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Dann sah er an sich runter und lachte ebenfalls.

Sam nutzte die Gelegenheit, fuhr herum und lief so schnell sie konnte am Haus entlang zum Vordereingang. Sie stoppte gerade rechtzeitig, um nicht mit einem älteren Herrn zusammenzustoßen. Samantha lächelte, grüßte freundlich und ging hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei. Als sie die schnellen Schritte hinter sich hörte, lief sie weiter, riss die Haustür auf und schlüpfte ins Haus. Sie knallte die Tür hinter sich zu und rannte die breite, geschwungene Treppe nach oben.

„Samantha? Wo warst du? Wir haben ...”

Sam war an ihrer Schwester vorbei, bevor die ausgesprochen hatte. Sie warf sich förmlich gegen ihre Tür, knallte sie hinter sich ins Schloss und warf sich schwer atmend auf das Bett.

„Samantha?” Marlene steckte den Kopf ins Zimmer.

„Komm rein.” Sie stand auf und verschwand ins angrenzende Bad, zog ihren Bikini aus, stellte sich unter die Dusche und sah einen kurzen Augenblick lang das Gesicht des Unbekannten vor sich. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so die Gedanken an ihn verbannen. Diese Augen. Sie lächelte, als sich das Kribbeln wieder einstellte und ein wohliger Schauer durch ihren Körper lief. Sie drehte das Wasser ab, rubbelte sich kräftig trocken und kehrte in ein Handtuch gehüllt ins Schlafzimmer zurück.

Marlene saß auf ihrem Bett und sah sie an. „Warst du wieder am Strand?”

„Ja. Und du wirst es kaum glauben, aber jemand hat mir meine Klamotten geklaut.” Samantha öffnete ihren Schrank, stemmte die Hände in die Hüften und starrte nachdenklich auf die Kleider. Eigentlich hatte sie keine Lust auf diese Party, aber sie hatte es ihrer Großmutter versprochen.

„Du hast doch wohl nicht vor, dich mit dieser Erklärung bei Grandma dafür zu entschuldigen, dass du zu spät gekommen bist, oder? Sie wird es vielleicht noch verstehen, aber Dad wird dich umbringen.”

„Ich kann schließlich nichts dafür, wenn...”

„Sam.” Marlene stand auf, trat an den Schrank und zog zielstrebig ein Kleid raus. „Du solltest mal sehen, wer alles auf dieser Party ist. Grandma hat auf ihrer Gästeliste alle jungen Männer stehen, die im heiratsfähigen Alter und ledig sind.” Marlene hielt ihr das Kleid hin und lächelte. „Nimm das hier.”

Sam schob die Unterlippe vor und warf einen kritischen Blick auf das dunkelrote Kleid mit dem tiefen Ausschnitt. Sie hatte es während eines Anfalls von Größenwahn gekauft, aber noch nie getragen. „Ich weiß nicht...,”

„Na los. Wir haben jetzt keine Zeit mehr für lange Diskussionen. Ich suche dir passende Schuhe und den Schmuck raus und du trocknest dir die Haare.” Marlene hängte das Kleid an die Schranktür, drehte Sam an den Schultern herum und schob sie zurück ins Bad.

Samantha ließ es sich gefallen und blieb vor dem Spiegel stehen. Sie betrachtete einen Moment ihr schmales, leicht gebräuntes Gesicht mit den großen, meergrünen Augen im Spiegel. Sie hatte volle, weiche Lippen, die stets ein wenig zu Lächeln schienen. Dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar umrahmte ihr Gesicht und ließ es schmal und zerbrechlich wirken. Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus, griff nach dem Fön und trocknete ihre Haare. Dann bürstete sie sie kräftig durch, so dass sie in weichen Wellen über ihre Schulter fielen. Sie ging ins Schlafzimmer zurück, schlüpfte in das hautenge Kleid und zog die Pumps an, die Marlene dazugestellt hatte. Dann setzte sie sich unter den wachsamen Augen ihrer Schwester an den Schminktisch, legte die langen, goldenen Ohrringe und die dazu passende Kette an und drehte sich zu Marlene um. „Zufrieden?”

„Etwas Make-up könnte nicht schaden.”

„Muss das sein?”

„Ja,” erwiderte Marlene und kam zu ihr. Sie schob ihr das Kästchen mit dem Make-up zu und flocht Sams Haare mit geübten Griffen zu einem langen, französischem Zopf. Währenddessen legte Sam etwas Rouge, Mascara und Lippenstift auf, griff nach dem kleinen Flakon und sprühte vorsichtig etwas von dem süßlich riechenden Parfum an ihren Hals. Auf jeden Fall sah sie jetzt anders aus, als noch vor ein paar Minuten. Vielleicht würde sie der Unbekannte nicht wiedererkennen. Immerhin hatte er sie nur kurz im Dunkeln gesehen und es war fraglich, ob er sie überhaupt erkannt hatte. Sie drehte sich zu ihrer Schwester um und lächelte. „Bist du jetzt zufrieden, große Schwester?”

Marlene musterte sie kritisch, lächelte dann und zog sie vom Stuhl hoch. „Ich bin sehr zufrieden, Kleines. Und jetzt lass uns endlich auf die Party gehen. Steve wartet schon.”

„Der wird dir schon nicht weglaufen.”

„Das sagst du so. Grandma hat nicht nur Männer eingeladen, sondern auch junge, hübsche Frauen. Und diese Küken nehmen keine Rücksicht darauf, ob ein gutaussehender Mann verheiratet ist oder nicht.”

„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?” Sam sah ihre Schwester überrascht an.

„Nein,” lachte Marlene und zog sie mit sich auf den Flur. „Bei Steve brauche ich wirklich keine Angst zu haben.”

„Na also.”

„Aber vielleicht sollte ich auf dich aufpassen.”

„Warum?”

„Ich sagte schon, dass einige Männer hier sind, die das heiratsfähige Alter erreicht haben. Und ich wette, dass du zumindest einem von ihnen nicht die kalte Schulter zeigst.”

„Und da hast du natürlich einen ganz bestimmten Mann im Sinn,” meinte Sam spöttisch, zog das Kleid noch einmal zurecht und trat ins Wohnzimmer.

„Ja, dass habe ich,” antwortete Marlene und lächelte geheimnisvoll. „Du solltest dich allerdings vor ihm in acht nehmen. Sein Ruf als Casanova eilt ihm meilenweit voraus und Grandma hält ihn für den haushohen Favoriten heute Abend.”

„Dann lassen wir uns mal überraschen, was das für ein Prachtexemplar sein soll,” erwiderte Sam und sah sich interessiert um. Marlene und ihre Großmutter versuchten ständig, sie zu verkuppeln und ließen keine Gelegenheit aus. Sam war überzeugt, dass die beiden untereinander gewettet hatten, wer von ihnen den Mann fand, an den sie ihr Herz verlor. Sie war nach der kleinen Episode am Blumengitter allerdings nicht gerade in der Stimmung für kleine Flirts und höfliches Geplänkel. Ihr stand der Sinn mehr nach Blut. Frischem Blut.

Sie hatte noch keine drei Schritte getan, als ihr Vater neben ihr stand. „Samantha, wo bist du gewesen?” Es klang zwar verärgert, aber er zeigte es nicht so deutlich, dass jeder hier auf der Party es sehen konnte.

„Schwimmen.” Ihr Blick glitt über die vielen Gesichter, doch es war nichts Bekanntes dabei.

„Hast du etwa vergessen, dass deine Großmutter ...”

„Nein,” erwiderte Sam mit größtmöglicher Entrüstung. „Ich bin nur spät dran. Wo ist Grandma eigentlich? Ich sehe sie nirgends.”

„Auf der Terrasse. Aber ...”

„Danke.” Sie drückte ihrem Vater einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging auf die Terrasse, bevor er seine Standpauke fertig formuliert hatte. Ihre Großmutter saß an einem Tisch nahe dem Swimmingpool, in dem an die hundert Kerzen schwammen und ein weiches Licht verbreiteten. Jetzt, in der einsetzenden Dämmerung, fand Sam es viel hübscher als bei Tageslicht. Sie ging zu ihrer Großmutter, beugte sich zu ihr runter und drückte ihr ebenfalls einen Kuss auf die Wange.

Rosalie Martin lächelte und musterte Sams Kleid. „Schön, dass du noch gekommen bist. Hat es so lange gedauert, bis Marlene dich in dieses Kleid gesteckt hat?”

„Ich war schwimmen.”

„Das habe ich mir schon gedacht. Obwohl es dafür schon zu kühl ist.”

„Es war auch nicht mehr so schön wie sonst.”

Die alte, aber durchaus noch rüstige Frau erhob sich mit einem bedauernden Lächeln für ihren Tischgenossen, nahm Sams Arm und ließ sich zum Getränkebüfett führen. Sie nahm von dem Angestellten eine Punschbowle entgegen und reichte sie an Sam weiter. Dann nahm sie ein weiteres Glas, wandte sich um und betrachtete die Gäste, als suche sie ein bestimmtes Gesicht in der Menge.

Sam kannte diesen Blick an ihrer Großmutter. In der Regel dauerte es nur noch drei bis fünf Minuten, bis sie zu einem Mann geschleift wurde und die alte Frau fachkundig die Werbetrommel für sie zu rühren begann. Sam nippte an ihrer Bowle und beobachtete eine Gruppe junger Frauen, die aufgeregt miteinander tuschelten. Plötzlich lachten sie laut und schrill auf, die ganze Gruppe, und Sam verzog das Gesicht.

„Hast du schon mit jemandem gesprochen? Ich habe einige interessante Leute eingeladen, die du kennenlernen solltest.”

„Nein.” Eigentlich doch. Aber ich weiß nicht, mit wem, dachte sie und schmunzelte.

„Komm mit, Sammy. Vielleicht schaffen wir es heute Abend dich zu verkuppeln,” meinte ihre Großmutter vergnügt und zog sie mit sich.

Weit gingen sie allerdings nicht. Samantha hatte die Männer noch nicht bemerkt, die seitlich von ihnen nahe der kleinen Mauer standen und sie bereits ins Visier genommen hatten. Sie schluckte trocken, als sie erkannte, was ihre Großmutter vorhatte und versuchte, sich aus ihrem plötzlich erstaunlich festen Griff zu befreien.

Doch ihre Großmutter hielt sie nur um so fester und marschierte weiter. „Guten Abend, meine Herren.”

Die jungen Männer drehten sich nun endgültig zu ihnen um, grüßten höflich und unterzogen Sam einer weiteren eingehenden, teilweise unverschämt offenen Musterung.

„Darf ich Ihnen meine Enkelin Samantha vorstellen?”

Sam verfluchte ihre Großmutter, lächelte aber höflich und versuchte, die Namen der Männer zu behalten, während sie jedem artig die Hand gab. Rosalie Martin zog es vor, Samantha in dieser begeisterten Runde allein zu lassen und entschuldigte sich vorerst.

Sam hielt ihr Punschglas mit beiden Händen fest, lauschte aufmerksam und lachte, wenn es die Situation erforderte. Aber ganz bei der Sache war sie nicht. Sie hatte das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Ein leichtes Kribbeln hatte sich zwischen ihren Schulterblättern eingenistet und machte es ihr unmöglich, der Unterhaltung aufmerksam zu folgen. Sie wandte sich mehrmals kurz ab und musterte unauffällig die umstehenden Gäste.

Da war er. Er sah sie mit seinem spöttischen Lächeln an und prostete ihr mit einem Glas Champagner zu. Also hatte er sie trotz ihrer äußerlichen Veränderung wiedererkannt. Sam hob ebenfalls das Glas und nippte daran. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie Marlene, die eilig auf sie zukam. Sam senkte den Blick, wandte sich wieder den jungen Männern zu und lauschte der Unterhaltung mit geringem bis gar keinem Interesse.

Marlene hängte sich mit einem Lächeln bei ihr ein. „Sie müssen schon entschuldigen, meine Herren. Aber ich möchte meine kleine Schwester noch jemanden vorstellen.”

Es gab einige Proteste, doch man ließ sie gehen.

„Hast du dich gut amüsiert?”

„Es war so aufregend, dass ich ein Gähnen unterdrücken musste. Wer ist der Mann bei Grandma?” Sie wies mit dem Kopf zu ihrer Großmutter.

„Das ist der Mann, den Grandma für den Favoriten hält. Brendon Richmond. Steinreich, humorvoll, ledig,” betonte sie und lachte. „Und wie ich sehe, hat er ein Auge auf dich geworfen.”

„Mach dich nicht lächerlich,” meinte Sam und runzelte die Stirn. „Hier laufen mindestens zwanzig Frauen rum, die ihm schmachtende Blicke zuwerfen. Also werde ich mich taktvoll aus der Schusslinie halten und einen Bogen um ihn machen.”

„Und warum hast du mich nach ihm gefragt?”

„Weil ich neugierig bin,” gestand Sam und lachte leise. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah genau in seine lächelnden Augen. Er stand noch immer auf der gleichen Stelle, hatte den Kopf leicht zu ihrer Großmutter geneigt und schien ihren Worten zu lauschen. Sam lächelte breit, als Rosalie Martin ihr winkte, dass sie näherkommen sollte. Sie wollte gerade den Kopf schütteln, als Marlene sie mit sich zog und geradewegs auf Brendon Richmond und ihre Großmutter zusteuerte.

„Jetzt wollen wir mal sehen, ob du diesem Mann auch die kalte Schulter zeigst, oder ob sein Ruf recht behält,” raunte Marlene ihr zu und lachte schadenfroh.

„Biest,” war Sams einzige Antwort. Dann stand sie nur gut zwei Schritte von ihm entfernt, spürte wieder diese mächtige Ausstrahlung und ihr Puls galoppierte einfach auf und davon.

„Sammy, darf ich dir Brendon Richmond vorstellen? Sein Vater und ich haben Geschäfte gemacht, bevor dein Vater die Firma übernommen hat,” meinte ihre Großmutter und strahlte mit allem, was das faltenreiche Gesicht hergab. „Brendon, das ist meine Enkelin Samantha Martin. Ein Goldstück. Eiskalt bis in die Herzkranzgefäße und sehr intelligent. Sie war bekannt dafür, deine Geschlechtsgenossen an der Nase herumzuführen.”

Sam reichte ihm artig die Hand und sah ihn an. Es war gerade so, als ob sie das blanke Kabel einer Starkstromleitung berührte. Am liebsten hätte sie die Hand sofort wieder zurückgezogen. Sein fester Händedruck schickte ein irres Prickeln ihren Arm hoch. Es fand den Weg durch ihren Brustkorb zum Magen und kreiste dort wie ein Schwarm aufgeregter Hornissen. Sam schluckte trocken und dankte dem lieben Gott per Eilstoßgebet, als Richmond ihre Hand mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck losließ.

„Was machen Sie in der Firma Ihres Vaters?” Seine tiefe, wohlklingende Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken und ließ sie frösteln.

Falscher Augenblick, falscher Fuß. Es war heute eindeutig nicht ihr Tag. „Ich arbeite nicht mehr.”

„Hat es Ihnen keinen Spaß gemacht, Männer an der Nase herumzuführen?”

„Wer sagt, dass ich das nicht mehr mache?” Sie sah ihn herausfordernd an, ignorierte den amüsierten Gesichtsausdruck ihrer Großmutter und den überraschten Blick ihrer Schwester. Sie wollten einen Flirt und bekamen einen Kampf. So war die Aufregung für die beiden nicht ganz umsonst.

„Touché, Ma’am. Warum haben Sie sich aus dem Geschäft zurückgezogen?”

„Das geht Sie nichts an,” erwiderte Sam unfreundlich.

Sein Blick wanderte über ihren Körper, schien durch den engen Stoff ihres Kleides hindurch zu dringen und kehrte zu ihrem Gesicht zurück. Sam spürte die Hitze auf ihren Wangen. Warum machte sie dieser Blick so wütend? Es machte ihr doch sonst nichts aus, offen gemustert zu werden, manchmal sogar schon auf unverschämt direkte Weise. Aber jetzt? Es war doch nur ein harmloser Blick. Ihr Griff um ihr Punschglas wurde fester und die Knöchel traten weiß hervor. Kampflustig schob sie das Kinn vor und funkelte ihn an. „Hat Ihnen gefallen, was Sie gesehen haben?”

„Es gefällt mir immer noch,” erwiderte er und lachte leise. Das vergnügte Funkeln in seinen Augen ließ Sam noch wütender werden.

„Schön. Dann prägen Sie es sich gut ein. Sie werden mich nämlich nicht wiedersehen.”

„Möchten Sie tanzen?”

„Nein.”

„Kommen Sie.” Er nahm ihr das Glas ab und reichte es mit einem Lächeln an Marlene weiter. Dann griff er nach ihrem Arm und zog sie mit sich zur Tanzfläche, auf der anderen Seite des Pools. Samantha folgte ihm, staunte einfach nur. Mit einer derart unverschämten Reaktion hatte sie wirklich nicht gerechnet. Und nu?

Er zog sie besitzergreifend in seine Arme und sie war ihm plötzlich so nah, dass der leichte Duft seines Aftershaves das einzige war, was noch zwischen sie passte. Und eben dieser Duft und seine körperliche Nähe kämpften darum, ihre Sinne zu benebeln, sie einzuschläfern und zum aufgeben zu bewegen. Aber sie wehrte sich, focht den Kampf, bewegte sich dabei zu den sanften Klängen der Musik und starrte auf den Krawattenknoten vor ihren Augen. Deutlich spürte sie seine Hand auf ihrem nackten Rücken und den festen Griff, mit dem er sie an sich gedrückt hielt.

„Warum bist du so abweisend?”

„Bin ich das?”

„So würde ich es jedenfalls nennen. Bist du mir wegen deines Sprungs vom Blumengitter böse? Ich habe dich immerhin aufgefangen.”

„Wenn Sie mich nicht erschreckt hätten, wäre ich gar nicht erst runtergefallen.”

„Du bist die erste Frau, die mir im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme gefallen ist.”

„Keine Angst,” knurrte sie. „Es wird nicht wieder vorkommen.”

„Schade. Mir hat es gefallen.”

Sam hob den Kopf und sah ihn an. Sein Lächeln war einfach hinreißend. „Dann sollten Sie sich vielleicht eine Leiter ins Schlafzimmer stellen.”

„Was weißt du denn über mein Schlafzimmer?”

„Zum Beispiel habe ich gehört, dass das Bett niemals kalt wird,” erwiderte sie.

Brendon zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Glaubst du alles, was man dir erzählt?”

„Es kommt darauf an, wie zuverlässig die Quelle ist.”

Seine Hand strich aufreizend über ihren Rücken und Sam erschauerte. Sie war versucht, die Augen zu schließen und dieses Gefühl zu genießen, aber sie zwang sich, ihn weiterhin anzusehen.

„Du solltest nichts glauben, was du nicht selbst gesehen hast.”

„Ich bin nicht scharf darauf, in den Kreis Ihrer Gespielinnen aufgenommen zu werden.”

„Nein?”

„Überraschend, nicht wahr? Es gibt tatsächlich jemanden, der nicht mit Ihnen ins Bett will. Ich hoffe, damit verletzte ich Ihr Ego nicht allzu sehr.”

„Überhaupt nicht.”

„Wie kann jemand gleichzeitig ein erfolgreicher Geschäftsmann und ein Schürzenjäger sein?”

„Es ist gar nicht so einfach,” gestand er und lachte.

„Sie geben also zu, dass Sie...?”

„Ich bin Geschäftsmann und Gentleman, Sammy. Wenn du mehr wissen willst, wirst du zu mir kommen müssen.”

War das etwa eine Einladung, mit ihm das Bett zu teilen? Samantha spürte die Röte, die ihr ins Gesicht schoss. Sie starrte ihn sprachlos und mit großen Augen an.

„Ins Büro,” erklärte er und grinste breit. „Dort können wir ausführlich reden.“

„Was denn sonst?”, fauchte Sam und senkte den Blick. Sie fühlte sich ertappt wie ein Schulmädchen. Wo, um Himmels Willen, war ihre kühle Gelassenheit? Wo war ihre Schlagfertigkeit? Dieser Mann machte sie nicht nur nervös, sondern sie fühlte sich ihm gegenüber auch hilflos. Und das wiederum macht sie wütend.

„Einen Penny für deine Gedanken,” bot er und sah sie auffordernd an.

„Nicht für eine Million Dollar würde ich sie Ihnen verraten,” erwiderte Sam und funkelte ihn an.

„Bist du wirklich so kalt, wie deine Großmutter sagte?”

„Kälter.”

„Wirklich? Wie passen Schönheit, Intelligenz und Gefühlskälte zusammen?”

„Bestens.”

„Ich glaube eher, dass du eine sehr leidenschaftliche Frau bist.”

Worauf zur Hölle wollte er hinaus?

„Ich habe einiges über dich gehört, Sammy. Zum Beispiel, dass du wirklich gut sein sollst. Um nicht zu sagen, eine der Besten in unserem Geschäft.”

War. Vergangenheit. Jetzt nicht mehr.”

„Warum nicht?”

„Ich habe mich zurückgezogen.”

„Ich möchte wirklich gern wissen, warum.”

Sam musterte ihn eingehend. Er sah interessiert aus. Sein Blick war eher nachdenklich als neugierig. „Ich werde bald heiraten,” erwiderte sie leise. „Aber behalten Sie das für sich, es weiß noch niemand.”

„Und wer ist der Glückliche?”

„Das geht Sie wirklich nichts an.”

„Wann soll die Hochzeit sein?”

„In vier oder fünf Wochen.” Warum erzählte sie ihm das?

„Du trägst keinen Ring. Normalerweise verlobt man sich, bevor man heiratet.”

„Das kommt noch,” meinte Sam und wandte schnell den Blick ab. Sie hatte sehr wohl das Aufblitzen seiner Augen bemerkt.

„Dann brauche ich ja kein schlechtes Gewissen haben,” meinte er und lächelte.

In Samantha schrillten sämtliche Alarmglocken auf einmal los. „Weswegen?”

„Deswegen.” Er senkte den Kopf und ließ seine Lippen zart wie ein Windhauch über ihren Mund streichen. Und noch bevor sie in irgendeiner Form reagieren konnte, zog er sich zurück und lächelte spitzbübisch.

Samantha sah ihn mit großen Augen an. Sie schluckte und musste sich mehrmals räuspern, bevor sie sprechen konnte. „Dafür werde ich Sie ohrfeigen,” meinte sie, tat es aber nicht.

„Ich glaube nicht, dass du das tun wirst,” antwortete er und schüttelte leicht den Kopf.

„Warum nicht?”

„Weil du es genauso wolltest wie ich.”

„Und woher wollen Sie das wissen?” Sam konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Seine Selbstsicherheit war ihr unbegreiflich. „Sprechen Sie etwa aus Erfahrung als Casanova, oder ist es Ihr Ego, das eine Ohrfeige in der Öffentlichkeit verbietet?”

„Deine Augen haben dich verraten. Das hat weder etwas mit meinem Ruf noch mit meinem Ego zu tun. Wenn du dir aber sicher bist, dass du diesen Kuss nicht gewollt hast, darfst du mich gerne hier und jetzt ohrfeigen.”

Samantha musterte ihn kurz, warf einen schnellen Blick in Richtung ihrer Großmutter, die mit Marlene zusammen stand und atmete tief durch. „Ich verzichte auf die Ohrfeige, weil meine Großmutter es bestimmt mehr genossen hat als ich.”

„Versuchst du dich jetzt hinter deiner Großmutter oder deinem Ruf als eiskalte Frau zu verstecken, oder meinst du es wirklich so?”

„Ich meine es genau so, wie ich es gesagt habe, Mister Richmond.”

„Im Allgemeinen werde ich von den Damen, die ich geküsst habe, nicht mehr mit Mister Richmond angesprochen.”

„Sorry, aber diese Dame wollte nicht geküsst werden.” Samantha löste sich aus seiner Umarmung und sah ihn so kühl an, wie es ihr möglich war. „Und diesen Tanz hat sie auch nicht gewollt, falls Sie sich erinnern. Aber ein Nein wird anscheinend nur ungern oder gar nicht von Ihnen akzeptiert, nicht wahr? Einen schönen Abend noch.” Samantha wartete eine Antwort gar nicht erst ab. Sie nahm sich auf dem Weg ins Haus ein Glas Champagner von einem Tablett, nippte kurz daran und nickte einigen Gästen höflich zu. Dann ging sie ins Kaminzimmer, schloss leise die Tür hinter sich und inspizierte die kleine, aber gut bestückte Bar. Sie musterte kritisch die Etiketten auf den Flaschen, zog eine grüne, bauchige hervor und warf Eiswürfel in ein Glas. Dann schenkte sie etwa zwei Fingerbreit des Alkohols dazu, stellte es auf den niedrigen Couchtisch vor einen Sessel und setzte sich gegenüber auf die Couch. Sie hatte sich gerade mit ihrem Champagner zurückgelehnt und die Beine übereinandergeschlagen, als die Tür erneut geöffnet wurde. Ohne sich nach dem Besucher umzudrehen, lachte sie leise. „Ich dachte mir, dass Sie einen anständigen Scotch einem Glas Champagner vorziehen würden. Mit Eis, ohne Wasser.”

„Woher wusstest du, dass ich dir folgen würde?” Brendon Richmond kam um die Couch herum, nahm das Glas und schwenkte es leicht, bevor er einen kleinen Schluck davon trank.

„Ich wusste es einfach.”

„Ich sollte mich vor dir in acht nehmen.”

„Das gleiche hat man mir bei Ihnen empfohlen.”

„Tatsächlich? Wer?”

„Interessiert Sie das wirklich, oder wollen Sie nur reden?”

„Warum bist du so giftig?”

„Ich bin nicht giftig. Ich sage nur, was ich denke.”

„Was hältst du von mir?”

Sam musterte ihn von oben bis unten, lächelte und stellte ihr Glas auf den Tisch. Dann stand sie auf und trat ganz dicht an ihn heran. Sein Atem strich über ihre nackte Schulter und erzeugte einen Schauer. Sie legte eine Hand auf seine Brust und ging langsam um ihn herum, ließ ihre Fingerspitzen über den glatten Stoff seines Anzuges wandern. Als sie wieder vor ihm stand, nahm sie seine Krawatte zwischen die Finger und sah ihn an. „Wenn ich dich früher kennengelernt hätte, wärst du die Herausforderung für mich gewesen. An einem langen, blanken Konferenztisch sitzen, die gespannte Atmosphäre spüren, die Gesichter, die Geräusche... es gibt nichts, was aufregender ist. Und wenn man dann noch einem Gegner gegenübersitzt, von dem man weiß, dass er einem ebenbürtig, oder sogar überlegen ist, dann kribbelt es noch viel mehr, schießt pures Adrenalin durch die Adern.“ Sie fuhr sich über den Oberarm, spürte die Gänsehaut unter den Fingerspitzen. „Wow“, hauchte sie und schüttelte kurz den Kopf, als könnte sie so die Erinnerungen vertreiben. Dann sah sie ihn an, offen und direkt in die Augen. „Man sagt von dir, dass du immer bekommst, was du willst. Und jetzt? Willst du etwas, das du nicht mehr haben kannst? Weil es nicht mehr da ist? Meine Zeit ist vorbei, Casanova“, meinte sie, die Stimme tief und dunkel. „Such dir lieber ein anderes Spielzeug. Es gibt so viele Frauen da draußen, die für ein bisschen Spaß mit dir sterben würden. Und es gibt so viele Firmen, an denen du dich austoben kannst. Dein Spielplatz ist die Welt, nicht dieses Haus – und nicht mein Verstand. Den nutze ich nur noch für private Zwecke“, fügte sie merklich kühler hinzu.

Er sah sie nachdenklich an, schien sogar etwas überrascht. „Du bist wirklich ziemlich direkt,” meinte er, stellte sein Glas ebenfalls ab und nahm ihre Hand in seine. „Was deinen Job angeht, darüber reden wir noch. Außerdem hast du meine Frage nicht beantwortet, auch wenn das, was du sagtest, stimmt. Aber in erster Linie dachte ich daran, wie ich dich in mein Bett kriege.”

Madonna. Samantha schluckte. Dieses Thema lag ihr überhaupt nicht.

Sie wollte sich abwenden, aber er hielt sie fest. „Du bist doch nicht etwa überrascht, weil ich genauso offen bin wie du?”

„Nein. Aber du hast keine Chance, Casanova.”

„Warum nicht?”

„Weil ich in wenigen Wochen verheiratet sein werde. Ich glaube nicht, dass es richtig wäre, jetzt mit dir ins Bett zu gehen.”

„Du bist nicht mal verlobt. Das bedeutet, dass du genauso frei bist wie ich. Was also sollte dich daran hindern? Ich weiß, dass du...”

„Das ich es genauso will wie du?”, unterbrach sie ihn und lachte leise. Sie befreite sich mühelos aus seinem Griff, nahm ihr Glas und nippte daran. Dann stellte sie es zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Brendon beobachtete jede ihrer Bewegungen. Sam erschauerte, als sie an seine Umarmung beim Tanzen dachte, an den leichten, verlockenden Kuss und daran, was sie jetzt am liebsten mit ihm tun würde. Aber sie musste sich zusammenreißen. „Im Geschäft lernt man zuerst die eigenen Interessen zurückzustellen. Das ist manchmal auch im Privatleben nötig.” Ihr Ton klang geschäftsmäßig nüchtern und sie sah ihn kalt an. Na ja, kalt war ein wenig übertrieben. Aber bestimmt nicht mehr so, dass er an das dabei dachte. Oder denken könnte, dass sie daran dachte.

„Du versteckst dich schon wieder hinter der Fassade der eiskalten Geschäftsfrau,” meinte er leise und kam näher. Er nahm sie an den Schultern und zog sie an sich. Sam dachte überhaupt nicht an Gegenwehr. Sie ließ die Arme einfach baumeln, war neugierig und ein wenig aufgeregt, was passieren würde, wie weit er ging. Sie senkte kurz den Blick, als er seine Hände hinter ihrem Rücken verschränkte, sah sein Lächeln, das wohl beruhigend wirken sollte, sie eher aufwühlte.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, ob du es willst, oder nicht. Unabhängig davon, ob du es tatsächlich zulassen wirst.”

„Ich bin genauso neugierig wie jede andere Frau auf dieser Party, ob das, was über dich gesagt wird, der Wahrheit entspricht. Aber ich werde nicht herausfinden, was an diesem Ruf stimmt und was man großzügig hinzugefügt hat.”

„Schade,” meinte er und sah sie mit funkelnden Augen an. „Ich hätte dir gern gezeigt, was an diesem Ruf stimmt und was nicht.”

Samantha lachte auf. Sie fühlte sich wohl in seiner Umarmung, musste aber das Kribbeln im Magen ignorieren, um konzentriert zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen. Brendon Richmond hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wie gern sie mit ihm oben in ihrem Schlafzimmer verschwinden würde. Aber sie durfte die Hochzeit mit Nicolas Forsyth nicht gefährden. Der würde garantiert keine Freudensprünge machen, wenn er erfuhr, dass sie wenige Wochen vor der Hochzeit mit einem anderen Mann geschlafen hatte. „Du hast keine Chance, Casanova.”

„Wirklich nicht?”

„Nein,” erwiderte sie weit weniger bestimmt, als sie eigentlich sollte. „Ich denke, dass es besser ist, wenn ...“

„Denk mal darüber nach,” unterbrach er sie, legte eine Hand an ihren Hinterkopf und senkte gleichzeitig den Kopf.

Samantha wollte sich abwenden, aber er hielt sie fest. Sein Kuss war so leidenschaftlich, dass sich ihr Verstand auf der Stelle verabschiedete. Schwups. Sie seufzte, öffnete bereitwillig die Lippen, als seine Zunge dagegen drängte und genoss das intensive Gefühl, als das Verlangen in ihr erwachte. Das Ziehen in ihrem Schoß wurde stärker, ihre Haut kribbelte dort, wo er sie streichelte, pflanzte sich fort und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Zum Teufel mit Nicolas Forsyth. Sie stöhnte leise auf, nahm seinen Kopf in beide Hände und bog sich seinen Lippen entgegen, die zu ihrem Brustansatz wanderten. Er liebkoste den Ausschnitt ihres Kleides, streichelte über ihren Rücken und hob sie auf seine Arme, ohne die Lippen von ihrer empfindlichen Haut zu nehmen. Automatisch legte Sam einen Arm auf seine Schultern, hielt sich an ihm fest und bog den Kopf weit zurück. Sie bekam kaum mit, dass er sie auf die Couch legte und sich daneben kniete. Seine Hände glitten über ihre Hüfte, ihren Bauch und zögerten kurz, bevor er eine Hand auf ihre Brust legte und die andere zu ihrer Hüfte zurückkehrte.

Samantha zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn ungewohnt leidenschaftlich, hielt die Augen fest geschlossen, um die intensiven, berauschenden Gefühle zu genießen. Heiße Wellen der Erregung liefen durch ihren Körper, verhinderten jeden klaren Gedanken, wo auch immer er herkommen wollte, und ließen sie vergessen, wo sie sich befand, dass es nicht sein durfte, es Unrecht war. Sie wollte nur noch seine Lippen und Hände spüren, die Lust, die sich immer weiter in ihr ausbreitete, ihn in sich aufnehmen, um mit ihm den Höhepunkt ...

Fluchend ließ er von ihr ab und erhob sich. Sam öffnete die Augen. Sie brauchte einen Moment, bis sie ihn klar erkennen konnte und sah ihn erstaunt an. Es dauerte erneut ein paar wertvolle Sekunden, bis sie begriff, dass sie nicht mehr alleine waren. Brendon fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, sah sie nur kurz und mit einem wahren Rebellenlächeln an und wandte sich dann den Störenfrieden zu.

„Entschuldige, Brendon. Ich wusste nicht...” Marlene brach überrascht ab, als Sam sich aufsetzte und einen Blick über die Lehne warf. Dann lächelte sie und nahm ihren Mann bei der Hand. „Wir gehen am besten wieder auf die Party zurück, Steve. Hier stören wir nur.”

„Ihr könnt ruhig bleiben,” meinte Sam hastig und setzte sich ganz auf. Sie strich sich das Kleid glatt und trank den Rest ihres Champagners aus. Ihre Kehle war plötzlich so trocken, als hätte sie seit hundert Jahren nichts mehr getrunken.

„Nein, nein. Wir wollten nur sehen, wo du steckst. Nick hatte nach dir gefragt. Aber wir werden ihn schon beschäftigen.”

„Danke, nicht nötig,” antwortete Samantha, warf Brendon einen kurzen Blick zu und stand auf. „Sagt Nick bitte, dass ich hier bin.”

„Aber...?” Marlene sah fragend zu Brendon, dann wieder zu Sam.

„Ich kann auch selbst zu ihm gehen.”

„Nein. Ich werde es ihm sagen.” Sie zuckte mit den Schultern und verließ den Raum.

Brendon sah sie belustigt an. „Du hast doch nicht etwa Angst davor, mit mir allein zu sein, nach dem, das passiert ist?”

„Was ist denn passiert?” Sie sah ihn herausfordernd an. „Jedenfalls nichts, was nicht hätte sein dürfen, oder?”

„Das freut mich zu hören. Ich würde nur äußerst ungern auf eine Fortsetzung verzichten.”

„Die werde ich zu verhindern wissen.”

Brendon beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf den Mund, bevor Sam sich abwenden konnte. Im gleichen Augenblick ging die Tür auf und Nicolas Forsyth stand im Raum.

Er musste zwangsläufig gesehen haben, was Brendon getan hatte, aber er ließ sich nichts anmerken. Er kam auf Samantha zu, nahm ihre Hand und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Hallo, Samantha. Guten Abend, Mister Richmond. Wie ich sehe, kennen sie sich bereits.”

Samantha ging zur Bar und sah Steve fragend an. „Was möchtest du?”

„Scotch mit Eis, bitte.”

„Brendon?”

„Das gleiche.” Er brachte ihr sein Glas und sah sie spöttisch an, bevor er sich abwandte.

Samantha füllte beide Gläser mit Eis, goss großzügig Scotch ein und stellte nach kurzem Zögern ein weiteres Glas dazu und füllte es. Mit den drei Gläsern kehrte sie zum Tisch zurück, stellte je eines vor Brendon und Nick auf den Tisch und setzte sich auf die Lehne des Sessels, in dem Nick saß. Er legte ihr einen Arm um die Taille und lächelte ihr kurz zu. Aber seine Augen blickten eher vorwurfsvoll. „Ich wusste gar nicht, dass ihr beiden euch kennt. Ich dachte, du wärst aus deinem Job ausgestiegen, bevor Mister Richmond in die Stadt kam.”

„Wir wurden uns heute Abend vorgestellt,” antwortete Sam und nippte an ihrem Scotch. Sie verzog das Gesicht, schluckte das nach Medizin schmeckende Getränk aber tapfer runter. Igitt, war das widerlich.

„Man muss sich an den Geschmack gewöhnen,” bemerkte Brendon und lächelte.

Sam warf ihm einfach nur einen bösen Blick zu, schwieg aber.

„Hast du schon mit deiner Großmutter gesprochen, Samantha?”

Sie sah Nick überrascht an. „Das hat doch wohl noch Zeit, oder?” Es klang nicht so liebenswürdig, wie es eigentlich sollte.

„Es sind nur noch wenige Wochen.”

„Du brauchst mich nicht daran zu erinnern,” antwortete sie gereizt und stand auf. Warum musste er jetzt davon anfangen, wo Brendon neben ihr saß und sie an dem Aufblitzen seiner Augen erkannt hatte, dass er genau wusste, wen er vor sich hatte? Wenn ihm das nicht schon bei Marlenes Worten klar gewesen war.

„Entschuldigung,” meinte Nick zerknirscht und Samantha hatte nicht übel Lust, ihm dafür einen Tritt ans Schienbein zu geben. Warum musste er nur immer so schnell nachgeben? Konnte er wenigstens nicht mal versuchen, sich bei ihr durchzusetzen? Nick war ein netter Kerl, aber wahrlich keine Kämpfernatur. Wie er eine so große Firma wie die, die er von seinem Vater geerbt hatte, mit dieser Einstellung führen konnte, war ihr schleierhaft. Sie sah die beiden ungleichen Männer an und verglich sie miteinander. Beide waren einen Kopf größer als sie und gut gebaut. Aber Brendon hatte Ausstrahlung, einen starken Willen und die unwiderstehlichsten Augen, die Sam je gesehen hatte. Nick wirkte gegen ihn so aufregend wie ein Röhrchen Schlaftabletten.

„Nick.” Sam setzte sich wieder zu ihm und legte einen Arm auf seine Schultern. Sie widerstand der Versuchung, Brendon einen kurzen Blick zuzuwerfen. Stattdessen lehnte sie sich gegen ihren zukünftigen Mann und küsste ihn sehr zur Überraschung aller, besonders zu ihrer eigenen, auf die Wange. „Ich werde mit Großmutter reden, mit meinem Vater, mit Steve und auch mit den Anwälten. Aber das hat noch ein wenig Zeit. Heute Abend ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür.”

„Du hast natürlich Recht,” stimmt Nick ihr zu und Sam war kurz davor, ihm links und rechts eine runterzuhauen. Warum widersprach er ihr nicht einfach?

„Wollen wir jetzt auf die Party gehen? Ich möchte gerne mit dir tanzen. Oder hast du noch etwas wichtiges mit Mister Richmond zu besprechen?”

Mein Gott, bist du so naiv, oder kapierst du es einfach nicht? Sam wandte den Kopf ab und verdrehte die Augen. Sie verstand einfach nicht, was in Nicks Kopf vor sich ging. Wie sollte sie es mit einem Mann aushalten, der sie nicht im mindesten reizte? Weder körperlich, noch geistig. Sie sah Brendons amüsiertes Grinsen und beschloss, ihn in seine Schranken zu verweisen. „Geh schon mal vor, Nick. Ich komme gleich nach. Es dauert nicht mehr lange.”

Nicolas Forsyth erhob sich mit dem verständnisvollsten Lächeln, dass es auf diesem Kontinent gab, nickte Brendon zu und legte Samantha die Hand auf die Schulter. „Ich warte auf dich.” Dann verließ er den Raum und schloss sachte die Tür hinter sich.

Sam atmete erst einmal tief durch. Dann ging sie zur Bar und zog aus einem Fach unterhalb des Tresens eine Holzkiste von der Größe eines Schuhkartons hervor. Sie stellte eine kleinere, etwa halb so große Kiste oben drauf und kehrte damit zum Tisch zurück. Sie stellte sie ab, öffnete die kleinere der beiden Kisten und nahm eine Zigarette raus. Brendon war sichtlich überrascht, vergaß jedoch nicht seine gute Erziehung und gab ihr Feuer. Samantha inhalierte den Rauch tief und lehnte sich entspannt zurück.

„Ich wusste nicht, dass du rauchst.”

„Woher auch? Du kennst mich nicht. In der anderen Kiste sind Zigarren. Bedien dich.”

„Danke.” Er nahm sich eine, hielt sie an sein Ohr und rollte sie zwischen den Fingern. Dann entfernte er einen Teil mit einem Knipser und zündete sie gekonnt an. Sam beobachtete ihn dabei. Die gleiche Prozedur kannte sie von ihrem Vater und ihrem Schwager. Sie liebte den schweren, intensiven Duft dieser teuren Zigarren, die ihr Vater sich von einem Freund aus Südamerika schicken ließ.

Auch Brendon lehnte sich zurück. Und wieder war da dieses spöttische Grinsen in seinem Gesicht. „Das ist also dein zukünftiger Ehemann.”

„Ja.”

„Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein.”

„Warum?”

„Nach dem zweiten Blick hättest du dir deine Entscheidung sicher noch mal überlegt.”

„Er ist ein netter Mann.”

„Das will ich nicht leugnen. Er ist dir mindestens so treu ergeben wie ein Schoßhündchen.”

„Er ist kein Schoßhündchen.“

„Nein? Er vermeidet alles, was dich gegen ihn aufbringen könnte. Er gibt dir also weder die Möglichkeit noch einen Anlass, um ihn zu verstoßen.“

„Das musst du gerade sagen,” fuhr Samantha ihn an. „Was würdest du alles tun, um mich in dein Bett zu bekommen?”

Brendon lachte laut auf und funkelte sie vergnügt an. „Ich würde dich einfach die Treppe rauftragen und in das nächste Bett legen, das ich finden kann.”

„Du scheinst dir ja verdammt sicher zu sein, dass ich da mitspiele,” fauchte sie.

„Wie wir beide festgestellt haben, fällt es mir nicht sonderlich schwer, dich zu überzeugen,” konterte er.

Samantha sah ihn wütend an. Ihr fiel absolut nichts ein, was sie dazu sagen sollte.

„Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?”

Plötzlich musste Samantha lachen und ihr Zorn verpuffte. Sie lachte so herzhaft, dass Brendon mit einfiel. „Das ist verrückt. Ich schicke meinen zukünftigen Ehemann raus und sitze hier mit einem Mann, der beinahe mein Liebhaber geworden wäre.”

„Was nicht ist, kann noch werden,” meinte er und ihr Lachen erstarb.

„Nein.” Sie sah ihn nicht an, sondern hielt den Blick gesenkt.

„Es ist nur eine Frage der Zeit, Sammy. Ich weiß, dass es passieren wird. Und du weißt es auch.”

„Ich will davon nichts mehr hören, kapiert?” Sie sprang auf, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich ab.

„Warum heiratest du Nicolas Forsyth? Du liebst ihn nicht.”

„Wie kommst du darauf?” Sie drückte mit einer wütenden Geste ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Etwas heftiger und sie brach den Glasascher in zwei Teile.

„Ich bin nicht blind, meine Liebe. Du bist aber auch kein Mensch, der Forsyth aus Mitleid heiratet, weil er keine andere findet. Du magst viel für deine Freunde tun, wenn er denn tatsächlich ein Freund von dir ist. Aber eine Ehe ginge eindeutig zu weit. Es muss also einen anderen Grund für diese Hochzeit geben.”

„Unsinn,” widersprach sie heftig.

„Du sagtest, du hättest deinen Job wegen der Hochzeit aufgegeben. Ich gehe also davon aus, dass du ihn aus geschäftlichen Gründen heiratest.”

„Könnten wir bitte das Thema wechseln?”, fragte sie und sah ihn wieder an.

„Warum? Komme ich der Wahrheit zu nahe?”

„Du bist weit davon entfernt,” log sie.

„Das glaube ich nicht. Ich weiß, dass dein Vater momentan ziemliche Schwierigkeiten mit seiner Firma hat. Deswegen wundert es mich, dass er dich noch nicht zurückgeholt hat. Gerade jetzt würde er dich nämlich am dringendsten brauchen.”

„Ich habe bereits vor einigen Monaten aufgehört. Dad hat diese Schwierigkeiten aber erst in den letzten Wochen.”

„Ein Grund mehr für dich, wieder in der Firma zu arbeiten. Außer, du versprichst dir etwas von der Hochzeit mit Nicolas Forsyth.” Er winkte ab, als sie etwas sagen wollte und sah sie nachdenklich an. „Dein Vater braucht Geld und neue Kapazitäten, um seine Firma über den Berg zu kriegen. Forsyth kommt da natürlich gerade Recht. Durch eine Heirat könntest du die Hälfte seiner Firma beanspruchen, wenn ihr das nicht vorher per Ehevertrag ausklammert. Aber genau das dürfte doch der Grund sein, weswegen du Forsyth überhaupt heiratest, oder? Das Dumme an der Geschichte ist eben nur, dass du dich für die Firma deines Vaters opferst. Und das gleich doppelt, weil du deinen Job nicht mehr machst, was ein echter Verlust ist, und weil du Forsyth an der Backe hast, was wirklich schlimm ist. Aber glaub mir, wenn er sich weiterhin so benimmt, rechtfertig er damit jeden Mord. Dein Anwalt kann auf Notwehr plädieren und du wirst mildernde Umstände kriegen.”

„Du glaubst doch wohl nicht, dass ich etwas dazu sage, oder?”

„Das brauchst du nicht. Ich weiß, dass ich recht habe.” Er zog genüsslich an seiner Zigarre.

Samantha setzte sich wieder auf die Couch und brütete einen Moment über das, was er gesagt hatte. Ihrer vagen Erinnerung nach hatte ihre Großmutter von einer Firma gesprochen, die er von seinem Vater übernommen hatte. Welche? Richmond war bestimmt kein häufiger Name in dieser Gegend. Aber sie kannte nur eine Firma, die diesen Namen trug. Obwohl sie noch nie selbst die Säbel mit ihr gekreuzt hatte, handelte es sich dabei um den größten und gefährlichsten Konkurrenten, den sie kannte. Man hatte sich gegenseitig in Ruhe gelassen, gerade wie ein stillschweigendes Übereinkommen. Was bei einer alten Freundschaft zwischen seinem Vater und ihrer Großmutter vielleicht noch zu erklären wäre. Allerdings blieb es ein Rätsel, oder war es gerade dann, woher Brendon von den firmeninternen Problemen ihres Vaters wusste. „Woher weißt du von den Schwierigkeiten, die mein Vater hat?”

Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. „Ich habe meine Informationen aus bester und zuverlässigster Quelle.”

„Ach ja?”

„Ja. Außer Forsyth und mir weiß eigentlich niemand davon. Wenn es bekannt wird, würden eure Aktien rapide in den Keller fallen und ihr würdet weit mehr verlieren als nur eure Firma.”

„Und du hast nicht zufällig die Absicht, mit dieser Information hausieren zu gehen oder sie an das meistbietende Käseblatt zu verkaufen?”

„Nein.” Er lachte leise und lehnte sich wieder zurück. „Ich werde einen Teufel tun, um das an die Öffentlichkeit zu bringen. Ich bin viel zu neugierig, wie sich dein Vater aus dieser kleinen Misere befreit.”

„Was hast du damit zu tun?” Ihr Misstrauen war geweckt.

„Ich bin der Grund für seine Kopfschmerzen.”

„Was?” Sam sah ihn erstaunt an. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie kannte die Einzelheiten nicht und auch nicht, wie ihr Vater in diese Schwierigkeiten hineingeraten war. Sie hatte sich schon lange nicht mehr um die Interessen der Firma gekümmert. Aber jetzt verfluchte sie sich dafür. „Kannst du mir das erklären?”

„Ich wundere mich doch etwas, dass du es nicht weißt,” meinte er, immer noch mit einem breiten Grinsen im Gesicht. In seine Augen trat ein erwartungsvolles Funkeln. „Ich werde mich mit deinem Vater in den nächsten Tagen an den Verhandlungstisch setzen. Dein Vater hat sich bislang tapfer geschlagen, aber jetzt geht es deutlich dem Ende zu. Er hat seine Grenzen erreicht.”

„Und warum sollte meine Großmutter dich einladen, wenn du dabei bist, die Firma meines Vaters zu ruinieren?” Samantha verstand das alles nicht. Irgendetwas in ihr behauptete, dass das noch längst nicht alles war. Da fehlte noch ein Puzzlestück.

„Die Einladung ist rein privater Natur. Deine Großmutter ist der Meinung, dass man sehr wohl geschäftliches von privatem trennen kann. Sie kann es jedenfalls. Und ich auch. Dein Vater ist allerdings weniger glücklich darüber, mich heute Abend hier zu sehen. Ich kann ihn sogar verstehen. Ich würde auch nicht gerade den Mann einladen, der mich an den Rand der Verzweiflung gebracht hat.”

Nein, Grandma hat dich nicht eingeladen, weil sie deine Eltern und dich kennt, sondern weil sie hofft, dass du mir zuliebe die Firma meines Vaters in Ruhe lässt. Es würde ihr zweifellos besser gefallen, wenn ich dich und nicht Nicolas Forsyth heirate. Samantha lächelte bei diesem Gedanken amüsiert. Grandma, dass war nicht dumm. Aber deine Möglichkeiten beschränkten sich darauf, uns miteinander bekannt zu machen. Alles andere liegt nicht mehr in deiner Hand. „Was gewinnst du, wenn du die Firma meines Vaters ruinierst?”

„Ich beabsichtige eine Übernahme. Somit bekomme ich seinen Marktanteil und habe einen Konkurrenten weniger.”

„Und die Börsenaufsicht?“

„Hat ihren Segen gegeben, wenn wir kein allzu großes Theater daraus machen.“

„Aber genau das wird es geben, ein riesengroßes Theater. Die Medien werden sich überschlagen. Entschuldige, aber weder die Firma meines Vaters noch Richmonds Enterprises kann Geschäfte von diesem Format abwickeln, ohne dass es jemand mitbekommt. Gut, ihr seid noch weit größer als wir, aber dafür sind wir bekannter – und beliebter. Wer uns schlucken will, braucht also für die Öffentlichkeit ein besseres Argument, als bloßes Konkurrenzdenken.“

„Uns?“ Klar, dass dieses eine Wort den ganzen Spott dieser Welt ausdrückte. Genau wie sein Gesicht.

„Lass den Kinderkram. Du weißt, was ich meine“, knurrte sie. „Du hättest dir eine andere, größere und bedeutendere Firma aussuchen können, als unsere.”

„Hätte ich. Aber der Reiz liegt allein bei euch.”

„Warum? Steht unser Bürohaus auf einer Goldmine?”

„Nein.“

„War mein Vater ein böser Junge und ist dir auf die Zehen getreten?“

Da lachte er. „Nein.“

„Haben wir einen Auftrag bekommen, den du gern gehabt hättest? Und deswegen versucht du auf diese miese Tour, doch noch ranzukommen?“

Kopfschütteln. Er wirkte nicht im mindesten gelangweilt. Im Gegenteil. Ihm schien dieses Ratespiel sogar richtig Spaß zu machen.

Samantha hatte allerdings so gar keine Lust mehr, war richtiggehend wütend. „Verflucht noch mal. Was hat unsere Firma, was andere nicht haben?“

„Dich.” Kurz. Trocken. Aussagekräftig. Ekelhaft.

Sams Augenbrauen schossen hoch. Ach so? Okay, sie hätte nicht fragen sollen. Zweifellos nahm diese Unterhaltung eine Richtung, die ihr ganz und gar nicht gefiel. Sie ahnte bereits, dass schon seine nächsten Worte der Grund für ihre plötzliche Gänsehaut sein würden.

„Ich will dich am Verhandlungstisch haben. Ganz oben.”

Siehste. „Oh nein,” wehrte sie ab. „Ich bin nicht mehr im Spiel.”

„Dann bist du es ab jetzt wieder. Dein Vater verliert jeden Tag eine Menge Geld, weil ich ihn daran hindere, welches zu verdienen. Wie lange kann er das noch, bis er völlig pleite ist?”

Sam presste die Kiefer so fest zusammen, dass es schmerzte. Dann schloss sie einen Moment die Augen und rief sich zur Ordnung, entspannte sich. Locker bleiben. Dad sagte doch, dass das der richtige Weg ist. Und ich konnte ihm immer vertrauen. Aber was wäre sie ohne die weibliche Neugier? „Wie lange?”

„Du hast wirklich keine Ahnung, was gerade läuft, oder?”

„Ich sagte doch schon, dass ich nichts mehr mit der Firma zu tun habe.”

„Na schön. Dann erkläre ich es dir.” Er beugte sich vor und brachte ihr das vergnügte Funkeln seiner Augen näher. „In den letzten Wochen habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, deinem Vater alle Aufträge vor der Nase wegzuschnappen, an denen er interessiert war. Das heißt, er bekam nichts mehr dazu und konnte die Lücken, die durch Erledigung bei ihm auftraten, nicht schließen. Das ist seine erste Verlustreihe. Die zweite besteht darin, dass er laufende Aufträge verliert, weil er nicht mehr rechtzeitig liefern kann. Die Auftraggeber springen bei ihm ab und direkt in meine Auftragsbücher. Es ist für mich nur noch die halbe Arbeit. Aber immerhin. Die wohl ärgerlichsten Verluste erleidet er, weil er zwar Material bezahlt hat, aber nicht geliefert bekommt. Nicht oder nur mit Verspätung. Du kennst die Kette, die sich dann in Gang setzt. Sein Warenlager wird leer, er kann keine Aufträge mehr ausführen, verbraucht sofort, was geliefert wird, bla, bla, bla. Ergo: Er befindet sich momentan in einem ziemlich großen Rohr, das so rund wie die Erde ist. Kein Ende abzusehen. Außer vielleicht, man hilft ihm, indem man ein Loch hineinschneidet, aus dem er klettern kann.“

„Und du bist wahrscheinlich der einzige, der das passende Messer hat.“

„Ich bin der einzige, der genug Kapital hat, um sich so ein Messer leisten zu können.“

„Um mal bei diesem Beispiel zu bleiben. Warum kauft sich mein Vater das Messer nicht selbst?“

„Weil ihm inzwischen das nötige Kapital fehlt. Er braucht alles Geld, um bei Fremdfirmen Material zu kaufen. Material, dass sehr viel teurer als bei seinen bisherigen Lieferanten ist.“

„Höhere Kosten, höhere Verluste. Deswegen brauchst du jetzt einfach nur zusehen, wie er langsam den Bach runter geht.“ Schwang da etwa ein Hauch von Bitterkeit in ihrer Stimme mit? „Und das macht dir Spaß?“

„Noch nicht richtig, nein. Es ist nicht das, was ich wollte.“

„Oh, wie schön. Waren das jetzt die guten Nachrichten?“

„Nein. Die gute Nachricht lautet, dass du die einzige bist, der ich das besagte Messer kostenlos überlassen würde. Für eine Woche.“

„Ich würde es dir in den Rücken rammen, sobald du dich umdrehst.“

„Nein, wirst du nicht. Du wirst es nehmen und deinem Vater helfen.“

„Aber das Messer ist kein Geschenk, oder?“

„Wären wir beide jetzt hier, wenn ich Geschenke machen würde?“

Sie kniff die Augen etwas zusammen, musterte ihn. „Vielleicht.“

„Vielleicht?“

„Dein Vater und meine Großmutter wären schon mal zwei Argumente, die...“

„Vergiss die beiden“, unterbrach er sie. „Mein Vater hat sich endgültig aus dem Geschäft zurückgezogen. Er weiß, was hier läuft. Aber er kennt mich und er kennt deinen Vater. Aber noch wichtiger, er kennt dich. Und er ist ehrlich gesagt einfach nur neugierig, was du aus dieser Situation machst. Und deine Großmutter? Ich glaube nicht, dass dein Vater ihr etwas erzählt hat. Er ist ein anständiger und fleißiger Mann, ja. Ich respektiere ihn. Aber deine Großmutter würde ihn von seinem Sessel schubsen, noch bevor er ausgesprochen hat. Sie hält immer noch die Mehrheit an der Firma. Und sie hätte dich schon lange wieder an deinen Platz gesetzt. Ich glaube nicht, dass sie zugelassen hätte, dass du...“

„Ach halt die Klappe“, würgte sie ihn ab und stand auf. Sie konnte es nicht leiden, wenn man so über ihren Vater sprach. Sie liebte ihn. Er tat sein bestes. Und sie hatte ihm versprochen, die Füße still zu halten und Forsyth zu heiraten. Klar hatte sie gewusst, dass er eine Menge Schwierigkeiten haben musste. Wieso sonst machte er so ein Geheimnis daraus? Selbst ihrer Großmutter hatte sie vorspielen sollen, dass sie sich in Nick verliebt hatte. Okay, die glaubte ihr sowieso nicht, wie ihr Spielchen heute Abend bewies. Warum sonst sollte sie sie mit Richmond bekannt machen? Und trotzdem. Brendon hatte einfach nicht das Recht, so über ihren Vater zu reden. „Hast du es meiner Großmutter schon erzählt? Oder wolltest du dir das für den Fall aufheben, dass ich mich weigere, meinen Job wieder zu tun?“

„Weder noch. Ich bin überzeugt, dass wir beide uns ganz alleine einig werden.“

„Na klar doch. Einigen wir uns darauf, dass du meinen Vater und mich in Ruhe lässt und dir einen anderen Zeitvertreib suchst.“

Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte ein bisschen den Kopf. Sein Grinsen war einfach widerlich, kaum auszuhalten. „Einigen wir uns darauf, dass du an deinen Platz gehst und ich dir eine Woche Zeit gebe, um dir eine anständige Basis zu schaffen.“

„Streich alles bis auf die eine Woche. Die werde ich nutzen, um weit genug von hier weg zu kommen.“

„Was du in dieser Woche machst, ist mir so ziemlich egal. Aber wenn du dich absetzt, wird das nicht unbedingt deinem Vater helfen. Was meinst du? Wie wird er den Verlust deiner Großmutter erklären?“

„Schuft.“

„War ja nur eine Frage.“

Sam marschierte auf und ab, lief einen Streifen Farbe aus dem Teppich, kaute auf ihrer Unterlippe und war mit der ganzen Situation ganz und gar nicht zufrieden. Auf den ersten Blick sah es gar nicht so gut für sie aus. Aber genauer hinschauen lohnte sich allemal. So oder so. Sie blieb vor ihm stehen und starrte ihn finster an. „Was willst du genau?“

„Du bist also dabei?“

„Ich will zuerst die ganze Geschichte kennen. Nicht nur deine Version. Also, raus mit der Sprache. Was hast du dir feines ausgedacht?“

„Ein völlig neues und aufregendes Spiel. Ich denke, das trockene Geschäftsleben hat für uns beide nicht mehr den Reiz, den es früher hatte.“

„Ich fand es aufregend.“

„Ich verspreche dir, dass du noch nie in deinem Leben soviel Adrenalin in dir hattest, wie dir in der nächsten Zeit bevorsteht. Du wirst aufpassen müssen, dass es dich nicht aus deinen süßen Pumps haut.“

„Keine Angst. In denen stehe ich ziemlich sicher.“

„Okay. Erste Bedingung: Du verhandelst mit mir. Kein anderer. Zweitens: Vergiss die Hochzeit mit Nicolas Forsyth. In dem Moment, in dem du seinen Ring am Finger trägst, werde ich eure Firma platt machen. Und drittens ...“ Er lehnte sich zurück, steckte sein Lächeln wieder ein und sah im Ganzen ziemlich ernst aus. „Und drittens: Ich will dich.“

Samantha hob die Augenbrauen und schob ihre Unterlippe etwas vor. Ihr Gesicht verlor gerade in diesem Augenblick an Farbe und ihre Hände zitterten leicht. Sie griff nach ihrem Scotch, nippte daran und verzog erneut das Gesicht. Es schmeckte noch genauso widerlich wie der letzte Schluck. Dann sah sie Brendon Richmond an. Er war der erste Mann, der sie vor ein Problem stellte, zu dem ihr innerhalb weniger Minuten keine Lösung einfiel. Na ja, keine stimmte nicht ganz. Sie konnte immer noch von der Brücke springen und ihm so eine lange Nase drehen. Aber irgendwie fehlte diesem Plan die attraktive Hintertür, durch die sie notfalls noch schlüpfen konnte. Fakt war, dass sie ihrem Vater ein Versprechen gegeben hatte. Wenn Brendon früher aufgetaucht wäre, hätte sie vielleicht noch was machen können. Aber jetzt? Sie hatte zwar keine Mühe gehabt, Nick davon zu überzeugen, dass er sie heiraten wollte, aber trotzdem konnte sie jetzt nicht einfach zu ihm gehen und sagen By, Darling. Ich habe einen anderen Weg gefunden. Bei jedem anderen vielleicht. Aber Nick würde augenblicklich ihren Platz auf der Brücke einnehmen. Kurz: sie würde dem kleinen Mann das Herz brechen. Allerdings hätte sie kein Problem damit, wenn sie ihn so wenigstens einmal auf die Palme bringen könnte. Aber er würde wahrscheinlich nur nicken, sein kleines Gemüt einpacken und wortlos aufs Geländer klettern. Schwups. Nein, das war nicht fair. Und zu guter Letzt blieb noch die Frage, wie sie ihr erneutes Engagement für die Firma ihrer Großmutter erklärte. Die war nicht auf den Kopf gefallen und roch den Braten garantiert. Und dann waren Antworten fällig, die weder sie noch ihr Vater geben wollten. Genau das war auch die ausschlaggebende Antwort auf all die Fragen, die sie sich noch nicht gestellt hatte. Und nun auch nicht mehr stellen würde. Ihre Entscheidung stand fest. Mehr oder weniger jedenfalls. Sie presste die Lippen aufeinander, suchte sich wieder einen Platz auf der Couch und faltete sorgfältig die Hände auf ihrem Schoß. Erst dann hob sie den Kopf und sah Brendon an. „Ich werde meine Pläne nicht ändern. Ich werde weder mit dir verhandeln noch auf diese Hochzeit verzichten. Und du wirst dir für dein Bett ein anderes Spielzeug suchen müssen. Aber das dürfte ja dein geringstes Problem sein,” frotzelte sie dann doch noch.

„Hm“, machte er und wirkte gleich ein wenig konzentrierter. „An welcher Bedingung ist deine positive Einstellung gescheitert?“

„Ehrlich gesagt, habe ich nicht mal über die erste nachgedacht.“

„Warum nicht?“

„Das brauchte ich nicht. Die Umstände sprechen schlichtweg gegen meine Einmischung.“

„Glaubst du, dass dein Vater sich noch selbst aus dem Sumpf ziehen kann?“

„Wenn nicht er, wer sonst?“

„Du?“

„Alles, was ich kann, habe ich von ihm gelernt. Und hier wird der Schüler garantiert nicht zum Lehrer.“

„Mag sein, dass du die Grundlagen bei ihm gelernt hast. Trotzdem bist du ganz anders als er.“

„Wie kannst ausgerechnet du das beurteilen? Wir haben uns noch nie am Verhandlungstisch gegenüber gesessen.“

Noch nicht. Ich habe aber schon viel von dir und deiner Arbeitsweise gehört. Du liebst den spektakulären Weg. Nicht den Einfachsten, aber den Erfolgversprechendsten. Und du lässt dir immer einen Ausweg, falls was schief geht.“

„Es ist noch nie etwas schief gegangen.“

„Und warum sollte das jetzt anders sein?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Du sagst selbst, dass du der Garant für das Gelingen bist. Warum hilfst du deinem Vater nicht einfach? Nur so, um es mir zu beweisen.“

„Ich brauche dir nichts zu beweisen. Und Garantien habe ich für meine Strategien nie gegeben.“

„Doch. Weil du immer viel riskiert hast. Das würdest du nicht tun, wenn der Sieg dir nicht sicher gewesen wäre.“

„Manchmal kann man einfach nicht verlieren.“

„Manchmal? Das Risiko gehörte zu deinem Tagesgeschäft.“

„Neidisch?“

„Überhaupt nicht. Eher neugierig.“

„Worauf? Wie ich meinem Vater helfen würde? Ich könnte ihm einfach sagen, was er tun soll.“

„Hältst du mich für so dumm? Ich würde deine Handschrift sofort erkennen und Gegenmaßnahmen ergreifen. Und dann...“ Was dann passieren würde überließ er ihrer Fantasie und lächelte nur.

„Vielleicht wäre es dann für Gegenmaßnahmen schon zu spät.“

„So wie du immer deinen Weg findest, finde ich meinen.“

„Nur diesmal nicht.“

„Wer sagt das?“

„Es gibt kein Weg, um mich wieder in die Firma zu holen. Die Tür ist und bleibt zu.“

„Wegen deiner Großmutter?“

Sie runzelte die Stirn und sah ihn an. Nein, der Junge war nicht dumm. Zumindest hatte er seine Hausaufgaben sehr gründlich gemacht. Oder er konnte einfach nur Gedanken lesen. „Was meinst du damit?“

„Hey, wenn du und dein Vater euch vor einer Erklärung drücken wollt, dann übernehme ich das gerne. Und keine Angst. Ich werde mir etwas Plausibles einfallen lassen.“

„Das befürchte ich“, murmelte sie. „Nein, danke. Das ist nicht nötig.“

„Was hast du ihr eigentlich erzählt, warum du aussteigst? Wegen der Hochzeit? Hat sie Nicolas Forsyth tatsächlich als den Grund anerkannt, ihr bestes Rennpferd zu verlieren?“

„Ich bin kein Rennpferd“, meinte sie und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Und meine Großmutter hat Nicolas als das akzeptiert, was er ist. Als meinen zukünftigen Ehemann.“

„Wahrscheinlich für eine Zukunft, die sie selbst nicht mehr erlebt. Und was ist der Preis, den du dafür zahlen musst? Hat sie dich aus ihrem Testament gestrichen?“

„Blödsinn.“

„Na schön. Wie lange kannst du zusehen, wie die Firma den Bach runter geht? Zwei Tage? Eine Woche? In spätestens vier bis fünf Wochen ist alles vorbei. Wie lange, Sammy?”

Samantha atmete tief durch, durfte gar nicht darüber nachdenken. Sie sah sie ihn mit großen, traurigen Augen an. Es tat weh, ganz tief in ihr drin. Eigentlich würde sie jetzt liebend gern ihr Versprechen wieder zurücknehmen und ihren Vater und Nicolas zum Teufel jagen. Und dann würde sie in ihr Büro marschieren, an ihren Schreibtisch und würde sich mindestens eine Stunde lang den Kopf darüber zerbrechen, was sie noch tun konnte. Zumindest einen Anhaltspunkt würde sie brauchen, wonach sie in den Unterlagen suchen musste. Sie müsste die Börsennachrichten der letzten Wochen durchforsten, die finanzielle Lage kennen, sowohl die wirkliche, als auch die, die andere Geschäftspartner momentan noch sahen. Das konnten durchaus zwei Paar Schuhe sein. Je besser sie bei den Partnern noch aussah, desto eher konnte sie sich durch Verträge und Lieferzeiten mogeln. Außerdem braucht sie einen Krisenstab, der sich ausschließlich mit der Auswertung der Nachrichten befasste. Innerhalb weniger Stunden konnten, nein mussten, sie das Top-Thema sein, damit wieder Geld in die Kassen kam und die Auftraggeber zurückkehrten. Und ganz nebenbei würde sie ... Gar nichts würde sie. Sie seufzte. Was würde sie darum geben, noch ein einziges mal an der Spitze zu stehen. Lieber Gott. Nur noch ein einziges mal. Noch ein Seufzer, von ganz tief unten. Nein, der Ofen war aus. Diesmal hieß es für sie stillhalten und schweigen. „Ich habe nichts mehr damit zu tun. Meinen Platz in der Firma hat Marlenes Mann Steve eingenommen. Wende dich an ihn.”

„Du solltest es dir noch mal überlegen, Samantha Martin. Sprich mit deinem Vater und mit sonst wem. Aber wenn ich dich bei der Verhandlung nicht am Kopfende des Tisches sehe, kannst du dich von eurer Firma verabschieden.”

Samantha lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie stand auf, sah ihn noch einmal kurz an und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Was sollte sie auch noch dazu sagen? Sie kehrte nicht auf die Party zurück, sondern ging in ihr Schlafzimmer, warf sich auf das Bett und starrte in den fast schwarzen Nachthimmel mit den unzähligen, funkelnden Sternen.

Fast egal

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