Читать книгу In den Streit der Welt … - Kai Horstmann - Страница 7

2 Wachsen ganz im Trend?

Оглавление

Mit der Parole „Wachsen gegen den Trend“ hatte das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ die evangelischen Kirchen nachhaltig aufgerüttelt. Auch in den kritischen Diskussionen, die sich an die Veröffentlichung im Sommer 2006 anschlossen, wurden die lange so erdrückend wirkenden Trends sinkender Mitgliederzahlen und schwindender Finanzkraft durch Demographie, Austritte und die wirtschaftliche Lage im Land allgemein weniger als Gegebenheiten begriffen, auf die man im Rückzug reagieren muss, denn als Herausforderung zu einer Re-Formierung kirchlichen Handelns.29 Ein zentraler Kritikpunkt am Impulspapier „Kirche der Freiheit“ war und ist der weiterhin wirksame ökonomische bzw. ökonomistische Denkansatz. Mag Kirche in organisationeller Hinsicht auch durchaus Züge eines (Non-Profit-)Unternehmens tragen und Kirchenleitung also von ökonomischer Erkenntnis profitieren können,30 so fraglich ist doch, auf quantitatives Wachstum als Problemlösungsstrategie zu setzen und kirchenleitende Entscheidungen nach marketing-strategischen Konzepten auszurichten. Wo kommt die Rede vom Wachstum und seine Überzeugungskraft in der Kirchenreform-Debatte eigentlich her? Wie steht es um die Biblizität der Vorstellung und seine theologische Eignung?

Ausgehend vom genannten Impulspapier „Kirche der Freiheit“, in dem das Bild des Wachsens 70 Mal verwendet wird, hat Thomas Schlag vier Bedeutungsnuancen der Phrase „Wachsen gegen den Trend“ unterschieden, die in der oikodomischen Debatte verwendet werden:31

Der proklamatorischen Verwendung (Wachsen gegen den Trend!) gegenüber merkt Schlag im Blick auf die soziologische Faktenlage in einer geradezu süffisanten Formulierung an, dass „die Hoffnung, dass sich ein gleichsam globales Mitgliederwachstum gegen den demographischen Trend und durch kirchliche Anstrengung erreichen ließe, durchaus trügerisch sein dürfte“ (vgl. 78).

Die abgrenzende Wachstumssemantik (Wir wachsen gegen den Trend) wirft die kritische Frage auf, „wozu und wem die Rede vom Aufbrechen oder Untergehen, Sein oder Nichtsein für die Volkskirche … dienen soll“ (a.a.O.). Und dies nicht nur im Blick auf die Wirkung dieser Rede auf die, „die längst mit erheblichen persönlichen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen für die Kirche aktiv sind“, sondern auch im Blick auf kirchenleitende Entscheidung über synodal in der Regel nicht selbst stimmberechtigt vertretene Einrichtungen und nicht-parochiale Dienste wie Studierendengemeinden, Citykirchenprojekte und Jugendkirchen. Auch an Menschengruppen, die sich in diakonischen Projekte finden, kann hier gedacht werden. Schlag weist zu Recht darauf hin, dass der abgrenzenden Semantik die Tendenz innewohnt, jene Milieus, die nicht in der Kerngemeinde beheimatet sind, als postmodern, egozentrisch oder orientierungslos moralisch abzuwerten (vgl. 79).

Auch das behauptungsstarke Bedeutungsfeld (Wir wachsen gegen den Trend!) erweist sich als problematisch, wo diejenigen, die mit kirchlichen Wachstumspotentialen rechnen, von einer fraglichen Wiederkehr der Religion ausgehen; einer mehr als zweifelhaften Marktanalyse gewissermaßen. Die „Wiederkehr der Religion“ ist theologisch und kulturwissenschaftlich wie sozialwissenschaftlich ein fraglos wichtiges Thema,32 das aber nicht mit großen Zahlen religiöse Bindung suchender Menschen einhergeht. Die Zahl derer, die konvertieren, ist überaus gering.33 Demgegenüber ist die Zahl der Konfessionslosen seit 1970 von 3,9% der Gesamtbevölkerung auf 37% im Jahr 2017 angestiegen.34 Angesichts dieser Zunahme ist es vielmehr angemessen, von einem „verlorenen Himmel“ zu sprechen.35 Religion ist für viele Menschen bedeutungslos geworden, ihnen fehlt jedes Verständnis für Religiosität.36

Womit wir beim von Schlag ausgemachten Problem der zukunftsstrategischen Wachstumssemantik sind: Im „worst case“ könne im Zuge einer betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise der kirchlichen Organisation die reformatorische Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche als unverfügbarer creatura verbi aus dem Blick geraten. Der Kirche „Heiligkeit ist im Himmel, da Christus ist, und nicht in der Welt, vor den Augen, wie ein Kram auf dem Markt“, zitiert Schlag Martin Luther. Und nur wenn man das im Blick behält, könne die proklamatorische Wachstumssemantik als Hoffnungszeichen gewürdigt werden. Insbesondere „wenn die Rede von Führung und qualitativen geistlichem Wachstum durch eine vermeintlich eindeutige pneumatologische Grundierung gleichsam der Reflexion entzogene theologische Sprachspiele überführt wird, droht die Faktizität unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten der evangelischen Botschaft eher unterlaufen als befördert zu werden.“ (90).37

Schlag verweist mit Recht auf den ökumenischen, insbesondere anglikanischen und evangelikalen Kontext, dem viele Initiativen und Konzepte des Gemeindewachstums entstammen. Von diesen angeregt und dann befördert hat das von Michael Herbst Ende der 80er Jahre entwickelte Konzept des Missionarischen Gemeindeaufbaus seit der EKD-Synode 1999 mit dem Schwerpunkt-Thema „Reden von Gott in der Welt – Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend" in einem Maß Wirksamkeit entfalten können, das vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war. Missionarisch Volkskirche sein, so die Leitvorstellung der Evangelischen Kirche im Rheinland aus dem Jahr 2010, scheint als Mittel gegen den Mitgliederschwund probat,38 weil das missionale39 Bemühen um neues Wachstum und das organisationstheoretische Bestreben einer Überwindung der Milieuverengung der Kirche übereinzustimmen scheinen. Der Unterschied zwischen dem Missionarischen Gemeindeaufbau und der Theologie kirchlicher Organisation aber ist keineswegs marginal. Dies herauszuarbeiten legt sich, wo es um den Wachstumsgedanken geht, weiterhin die Auseinandersetzung mit Michael Herbsts Dissertation zum Missionarischen Gemeindeaufbau in der Volkskirche nahe.40

Das Buch41 wird getragen von dem heute eben nicht mehr nur in konservativen und besonders auch in evangelikal-freikirchlichen Kreisen verbreiteten abgrenzenden Vorwurf, die Kirche habe die Wahrheitsfrage und damit sich selbst im Interesse größtmöglicher Offenheit aufgegeben.42 So findet sich bei Herbst immer wieder Kritik an einer Identifikation der Masse der Christianisierten mit der Gemeinde Jesu Christi. Evangelisation als die „Sendung der Gemeinde an getaufte Menschen“ ist das zentrale Anliegen Michael Herbsts. Es geht um eine neue Erweckungsbewegung. Oikodomie solle Menschen zu einem persönlichen Glaubenszeugnis führen.43 Die Gegebenheiten der Volkskirche werden nur soweit sie in seinem Sinne erbaulich sind gewürdigt.44

Der Kybernetik der EKD-Mitgliedschaftsstudien gegenüber, welche „die treuen Distanzierten“ würdigen kann,45 führt er die Definition der Kirche als »Gemeinde von Brüdern« an und stellt angesichts der differenzierten und distanzierten Mitgliedschaftsformen fest: „Kirchlichkeit, die von der Ausnahmesituation der Wendepunkte im gesellschaftlichen und familiären Leben lebt, hat keine großen Überlebenschancen. Ihr fehlt der dauerhafte, regelmäßige Sozialbezug, die Einübung und Vertiefung. Der Trend zu einer solchen Kirchlichkeit wird ein Trend zu weiterer Distanzierung sein, bis hin zur Lösung von der Kirche. Man muß es deutlich sagen: Die Überlebenschancen solcher Kirchlichkeit sind gering, weil sie eine defiziente Form sozialer Bindung darstellt“ (131). Aber genau diese Begründung bedarf der Prüfung.

Zunächst gilt es aber den Wachstumsgedanken zu ergründen. Herbst zeichnet ausführlich die neutestamentlichen Referenzstellen zum Gemeindebau nach (vgl. 74ff.). Er zeigt, dass „Gemeindeaufbau im Neuen Testament stets (bedeutet), daß Menschen für Christus gewonnen werden, d.h. als lebendige Steine in den Bau der Gemeinde eingefügt werden (Eph 2, 19f.; 1 Petr. 2, 4–8). Darum kann eben zum Synonym für ευαγγελιζεσθαι werden (Röm 15,20)“ (100). Das zentrale Bild aber ist, insbesondere bei Paulus, der architektonische Bau, nicht das biologische Wachstum. Vom organischen Wachstum ist sehr wohl die Rede, etwa im Bild des wachsenden Leibes (Eph 4, 16). Aber darum geht es: um Wachstum als Zeichen von Lebendigkeit der Gemeinde: „Ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau“, heißt es im 1. Korintherbrief (3,9). Die Bilder gehen ineinander über.

Herbst arbeitet durchaus überzeugend heraus, dass Paulus mal diesen mal jenen Aspekt mit je unterschiedlichen Bildern betone. Es ist also nicht falsch, wenn Herbst seine Exegese zusammenfassend feststellt, dass „Gemeindeaufbau im Neuen Testament stets intensives und extensives Wachstum des begonnenen Baus (ist)“ (100). Dennoch ist das Wachstum im Blick auf die Organisation der Gemeinde mehr (biblisches) Interpretament als selbst eigenständiges (biblisches) Bild. Eine Einsicht, die angesichts der vermeintlich einfach biblischen Selbstverständlichkeit des Wachstumsappells schon von Interesse ist. Plausibilität bekommt Wachstum als Leitvorstellung der Organisation zur Bewältigung der Krise heute von woanders her.46

Herbst überträgt das Bild des Glaubenswachstums nach dem Gleichnis vom Sämann auf das des Gemeindebaus. In der Analogie zum Aufkeimen und Wachsen des Glaubens geht es in seinem Leitbild der immer größer werdenden Zahl von Glaubenszeugen in gemeindlicher Gemeinschaft doch weniger um Kirchenleitung – bzw. im Bild gesprochen Bauleitung in der Gemeinde – sondern um Gemeindepflanzungen und deren Wachstum. Kirche gilt ihm dazu als Werkzeug Gottes, der Welt das Evangelium vom angebrochenen Reich zuzurufen (vgl. 175). Es geht um Evangelisation als Sendung an alle Welt im Dienst des missionarischen Gottes, in der Nachfolge Jesu Christi als dem Missionar schlechthin (vgl. 176f.). Herbst nimmt in der Formulierung Veränderungen auf, die das Missionsverständnis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der ökumenischen Bewegung erfahren hat (Missio Dei). Was Herbst aber vor allem von der Missionstheologie des 19. Jahrhunderts unterscheidet, ist der Ansatzpunkt bei der Gemeinde. Im Unterschied zum Wirken eines einzelnen Missionars ist „die Gemeinde-in-Mission […] nicht darauf aus, neue Mitglieder zu rekrutieren: auch weiß sie, daß ohnedies alle Menschen bereits Glieder der neuen Menschheit Gottes sind“, stellt Herbst fest. Um dann doch direkt anzufügen, dass die „Gemeinde-in-Mission“, die missionale Gemeinde, „dennoch erhoffen und erbitten (darf), daß es mitten in ihrem selbstvergessenen Dienst hier oder dort zu Fragen nach dem Glauben an Christus kommt, sogar zu Entscheidungen, diesen Glauben nun auch zu wagen. Es kann – wo immer Gott das für nötig hält – zum Glauben an das Evangelium und zur Gemeinschaft im Namen Jesu kommen“ (183). Wer wollte dem widersprechen? Fraglich wird hier aber doch die „Selbstvergessenheit“ des missionarischen Dienstes, wenn er darauf aus ist, „Gemeinden zu bauen, in denen Fernstehende die unio cum Christo in der communio sanctorum erfahren können“ (378). Denn hier fallen – angesichts der Abwertung des Christseins der kirchlich Distanzierten – das intensive und extensive Wachstum letztlich in eins. Es genügt dem Missionarischen Gemeindeaufbau eben nicht, dass „alle Menschen bereits Glieder der neuen Menschheit Gottes sind“. Sogar Taufe und Kirchenzugehörigkeit ist nicht genug. Eigentlich sollen alle zur „Gemeinde von Brüdern“ gehören.

Mission ist für Herbst letztlich eben doch eine Sache der wahren Kirche zu ihrer Expansion. Es ist schon eigenartig, dass der „Erlanger“47 die reformatorische Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche so wenig beachtet und Glaubens- und Gemeindewachstum als eine Frage der richtigen Praxis begreift. Als Instrument seines Bemühens, die wahre Kirche wirklich werden zu lassen, dient seinem Ansatz das sogenannte Spirituelle Gemeindemanagement.48 Geistliche Zurüstung wird hier mit Fortbildung in Methoden des betriebswirtschaftlichen Managements verbunden, geleitet von der Auffassung von Kirche als Unternehmen auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten. „Was können solche Marketing-Kenntnisse für die Aufgabe des Gemeindeaufbaus bedeuten? Sie bedeuten vor allem einen erheblichen Professionalisierungsschub. Sie verändern zufälliges Handeln in zielgerichtetes Handeln. Sie vermitteln Fertigkeiten zu einem professionellen Management in der Gemeinde, das sich den geistlichen Zielen unterordnet und im Sinne »theonomer Reziprozität« zwar nicht das Wirken des Geistes ersetzt, ihm aber wohl dient. Die machen das Evangelium nicht zur billigen Ware, die irgendwie an den Geschmack von Kunden angepasst werden muss, sondern sorgen dafür, dass das »teure Evangelium« mit den besten verfügbaren Mitteln bekannt gemacht wird.“49

Matthias Rein, der der Herkunft der Formel vom „Wachsen gegen den Trend“ nachgegangen ist, konnte zeigen, dass sie tatsächlich im Zusammenhang der Rede vom Markt der religiösen Orientierungen steht und einen ökonomischen Hintergrund, ein Ausdruck der Ökonomisierung unseres Denkens ist. Noch in den 90er Jahren spielt die Wachstumsidee in kirchlichen Verlautbarungen kaum eine Rolle.50 Ich will mich ausdrücklich nicht prinzipiell dagegen aussprechen, managementtheoretisches Wissen zum Zweck der kirchlichen Organisationsleitung zu berücksichtigen. Der Beitrag den das Gemeindemanagement leistet, auf Hemmnisse aufmerksam zu werden, die die Verwaltung der Institution für eine lebendige Organisationsentwicklung bisweilen bedeuten kann, ist nicht gering zu schätzen.51 Gleichwohl ist die Annahme grundverkehrt, dass sich die Kirche auf einem Markt der Sinnanbieter durchsetzen müsse und es im Wettbewerb der verschiedenen Anbieter einer betriebswirtschaftlich orientierten Managementqualifikation für Pfarrerinnen und Pfarrer bedürfe. Die Pluralisierung von Religion und Religionen ist nicht mit einem Markt gleichzusetzen. Auch in Anführungszeichen gesetzt ist diese Redeweise m.E. nicht wirklich geeignet und wird zurecht satirisch kommentiert.52 Unbedingt richtig ist, dass die religiöse Pluralität gesellschaftlich wie innerkirchlich reflektiert und bei kirchenleitenden Entscheidungen berücksichtigt werden muss.53

Wenn es auch vernünftig ist, im Blick auf die Entwicklung und Leitung von Organisationen von der Betriebswirtschaft und aus best practice-Beispielen zu lernen,54 so unangemessen ist es doch, die Frage „Kirche wie eine Behörde verwalten oder wie ein Unternehmen führen" zur Leitfrage der Theologie des Spirituellen Gemeindemanagements zu erklären. Leiten in der Kirche ist eben kein ganz so ungeschriebenes Kapitel der Praktischen Theologie, wie es Hans-Jürgen Abromeit behauptet.55 Es geht vielmehr um die Frage nach der Angemessenheit der Konzepte. So deutlich bei Abromeit die kirchliche Situation und die besondere Herausforderung in Ostdeutschland wird,56 so sehr scheint Abromeit in der Not der ökonomistischen Verheißung zu erliegen, wenn er die Evangeliumsverkündigung organisationstheoretisch optimieren möchte. Und auch wenn es Herbst in seiner Orientierung an Bohrens Modell der theonomen Reziprozität57 um eine Rezeption und Transformation des Marketing-Gedankens geht; die Menschen sind als Kunden im Gegenüber und nicht in der Verbundenheit als lebendige Glieder des eines Leibes im Blick.58 Die Theologie des spirituellen Gemeindeaufbaus steht im Sog der Ökonomisierung, sie ist ein Beispiel für die von Isolde Karle kritisierte Deprofessionalisierung durch Professionalisierung.59

Der betriebswirtschaftliche Denkansatz steht in der Gefahr, die Oikodomik in eine „Ökonomik der Religion“ zu verkehren. Tatsächlich hat sich ein solcher Forschungszweig der Ökonomik in den letzten Jahrzehnten entwickelt.60 „Die Handlungen von Kirchen und deren Funktionären werden hier modelliert als nutzenmaximierende Antwort auf Beschränkungen und Gelegenheiten im religiösen Markt“ von Angebot und Nachfrage.61 Grundlegend und für das „religiöse Consulting“ leitend ist die Annahme, dass auch „Anbietern von religiösen Programmen“ in ökonomischem Sinne rationales Verhalten unterstellt werden kann, das auf die „Maximierung der Zahl der Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft, der Gewinne, der Ressourcen, des Vermögens oder der Regierungsunterstützung“ abziele. Die Anwendung der Theorie der Firma auf die Kirche basiert auf dieser offenbarungstheologisch abwegigen aber anscheinend auch innerkirchlich einleuchtenden Auffassung von Religion als Wahlverhalten, für das die Kirche religiöse Güter und Dienstleistungen anbiete. Alternativ wird die Kirche von der Ökonomik der Religion auch clubtheoretisch rekonstruiert. Nach diesem Modell sind Kirchen „Organisationen zum Nutzen der Mitglieder, in denen die Mitglieder die Produktion der religiösen Clubgüter, also etwa die Gottesdienste, die religiösen Instruktionen, die sozialen Aktivitäten, selbst in die Hand nehmen. Abgesehen von einigen hauptberuflichen Funktionären fungieren die Mitglieder sowohl als Produzenten als auch als Konsumenten“.62 Die Qualität des Clubs hängt dabei nicht zuletzt vom wechselseitigen Einfluss der Clubmitglieder aufeinander ab. „Je mehr sich eine Person religiös engagiert, desto größer wird der Nutzen anderer Mitglieder im Club. Personen, die sich in der Gemeinschaft weniger häufig und weniger intensiv religiös betätigen, man mag sie »easyriders« nennen, reduzieren den religiösen Nutzen der anderen und gefährden die Lebensfähigkeit einer Religionsgemeinschaft.“63 Erinnert diese Theorie nicht frappant an die Überlegungen zur Motivation zum Missionarischen Gemeindeaufbau bei Michael Herbst?

Die ökonomische Theorie aber ist sachlich nicht angemessen. Religiöses Consulting führt kirchenleitend in die Irre und die Forderung nach einer Liberalisierung des religiösen Marktes64 geht an der Sache vorbei. Zumal das „Wachstum“ innerkirchlich betrachtet in aller Regel ein merkantilistisches ist, das als relatives Wachstum zu Lasten anderer Kirchen und Gemeinden geht.65 Die mit vermeintlichem Wachstum auf sich aufmerksam machenden Gemeindegründungsprojekte erweisen sich so betrachtet als Sammlungsbewegungen innerhalb der lebendigen Kirche Jesu Christi. Einen religiösen „Markt“ aber gibt es nicht wirklich; signifikante Zuwendungen zu nicht-christlichen Religionen lassen sich empirisch nicht festmachen66 und Kirchenleitung kann aufgrund des Sozialcharakters der Kirche nicht (unternehmerische) Führung sein, sondern ereignet sich „amtlich“ im Auftrag und innerhalb der Gemeinschaft.

Breitenbach beschreibt Gemeindeleitung als ein partizipativ-prozessuales Geschehen.67 Leitung ereignet sich nicht in einem Gegenüber, sondern als systemische Selbststeuerung. Die Bedeutung des Amtes als Institution und die Leitungsfunktion Einzelner, die durchaus partizipativ gedacht werden kann,68 scheint mir bei Breitenbach durchaus unterbewertet. Aber auch ein Episkopus ist in seiner Funktion eben kein Vorstand, der die Geschäfte managt, sondern steht in Verantwortung der Kirche in der Gesamtheit ihrer Glieder. Bei Breitenbach drückt sich dies in der Betonung des Zusammenspiels der Leitungsformen aus, die er als episkopal, presbyterial und kongretational beschreibt. „Beauftragte Mitarbeiter/innen, gewählte Gremien und freie Basisbeteiligung wirken bei der Leitung der Gemeinde in gemeinsamer Verantwortung und wechselseitiger Abhängigkeit zusammen. Für die Machtverteilung ist das Dreiecksmodell von entscheidender Bedeutung: Die drei Leitungsformen sind einander in gegenseitiger Abhängigkeit zugeordnet. Das nichthierarchische Spannungsverhältnis der Instanzen dient der gegenseitigen Ergänzung und der wechselseitigen Kontrolle in der Wahrnehmung des gemeinsamen und allen Instanzen unverfügbaren Auftrags der Kirche“ (312).

Die Frage nach dem Wie der Leitung beantwortet Breitenbach mit dem Modell des Konzils. Es „bringt die Leitung durch das Amt, die Leitung durch repräsentative Versammlungen und durch die »freie Geistesmacht« miteinander ins Spiel“ (313). Malte Detje kritisiert in seiner Darstellung, es bleibe in der Sache unklar, wie das Konzil „konkret aussieht“.69 Breitenbach aber beschreibt dies durchaus: „Im »concilium« kommen berufene Amtsträger/innen der Kirche, gewählte Repräsentant/innen aller Kirchenglieder und engagierte Vertreter/innen der Basis in möglichst repräsentativer Auswahl zusammen. Sie tun dies aus gegebenen Anlass …. Sie beten miteinander, sie hören das Wort und feiern das Mahl. Sie teilen ihre Erfahrungen, sie lernen voneinander, sie streiten und entscheiden miteinander. Sie tun dies unter dem Vorbehalt der Prüfung an der Schrift, mit dem Anspruch von Verbindlichkeit, aber ohne äußere Machtmittel“ (314). Es gibt keine weiteren Verfahren als das Palaver und den Diskurs, dessen Konkretion sich situativ entwickeln muss. Über grundlegende Regeln und Formen achtsamer Kommunikation und Moderation hinaus gibt es keine methodischen Festlegungen, kein Programm. „Konziliare Prozesse aktualisieren das konziliare Zusammenspiel angesichts einer konkreten Herausforderung für Zeugnis, Dienst und Gemeinschaft der Christen. Sie konzentrieren es auf das Bemühen um zunehmende Deutlichkeit, wachsende Übereinstimmung und größere Verbindlichkeit des Bekennens, Handelns und Zusammenwirkens der Christen an einem benennbaren Punkt“ (314). Nicht technische Verfahren, sondern Prinzipien des kommunikativen Handelns sind bestimmend: Erstens der „Wahrheitsbezug“ im Rekurs auf die geistliche Verbundenheit, das Bekenntnis als Grundkonsens und die konkrete Situation, die aktuelle Hausforderung, deren Bedeutung im „Licht des Evangeliums“ zu verstehen gesucht wird. Zweitens die „Offenheit der Kommunikation“ bzw. deren Prozesscharakter unter Einbeziehung der Person, der Beziehung und der Sache auch im Konflikt. Drittens die „Verbindlichkeit“ des Prozesses durch eine Ertragssicherung und Handlungsorientierung im Bewusstsein der Konsequenzen der Entscheidung im Horizont des erreichten Grad an Konsens und Dissens, sowie viertens die „Rezeption“ als Veröffentlichung der Vereinbarungen und Entscheidungen, nach außen und in der Umsetzung innen, in der theologisch geboten frei bleibender Selbstverantwortung der Akteure.70 Auch das hier betonte synodale Element ist bei Breitenbach unter dem Stichwort des Austauschs in Netzwerken schon im Blick. „Ziele des Austauschs sind die Anregung und Information, die gegenseitige Hilfe, die gemeinsame Nutzung von Ressourcen.“71

Abromeit kritisiert Günter Breitenbachs konziliares Verständnis von Gemeindeleitung mit dem Hinweis, dass „man den Eindruck (hat), dass er stärker von der 68er Bewegung als von theologischer Argumentation bewegt wird" (12).72 So wenig ich diese Kritik an Breitenbachs Konzeption, die er in seiner Dissertation auf Grundlage einer Diskussion der Entwürfe seit Schleiermacher, Seitz und Herbst eingeschlossen, bis Bäumler im Kontext der ökumenischen Bewegung entwickelt hat,73 nachvollziehen kann,74 so sehr scheint mir Abromeit selbst in einem Maß vom „Zeitgeist“ bestimmt zu sein. Ihn leitet die oberflächliche Feststellung, dass Pfarrer und Manager in ihrem Tun und Erleben einander sehr ähnlich seien, weil sie in gewisser Weise allzuständig sind und in dialogischen Netzen arbeiten. Gemeindemanagement sei aus diesem Grund ein notwendiger Aspekt des Berufsbilds der Pfarrerin/des Pfarrers.

Dem ist einerseits zuzustimmen. Der Pfarrdienst ist für die Gemeindebildung zentral und das gerade auch im Blick auf die große Zahl Ehrenamtlicher in den Gemeinden und auch der Kirchen- und Gemeindeleitung. Philipp Enger weist also mit Recht darauf hin, dass eine herrschaftsfreie Leitungsstruktur „theologische Mündigkeit“ voraussetzt sowie „kirchen- und verwaltungsrechtliches Wissen, humanwissenschaftliche Erkenntnisse, rhetorische Fähigkeiten, organisatorische Erfahrungen und spirituelle Übung“.75 Pfarrerinnen und Pfarrer haben in ihrem Dienst eine zentrale Rolle in der Vermittlung und Organisation entsprechenden Wissens im Dienst der Gemeindebildung. Analoges gilt für die Aufgabe von Theologinnen und Theologen in kirchenleitenden Gremien. Wenn Abromeit jedoch betont, es reiche nicht aus, die „die Selbsterhaltungskraft einer Gemeinde zu stärken“ (14), so ist schon bemerkenswert, wie der Ansatz des spirituellen Gemeindemanagements darauf aus ist, neue Christen zu machen (vgl. 25.) und Modelle für kirchliche Innovationen zu entwickeln.76 Dieses Wachstumsziel des Gemeindemanagements grenzt Abromeit zwar vom ökonomistischen Paradigma der Gewinnmaximierung ab, aber geht das spirituelle Gemeindemanagement in der Rezeption des Marketings als Ausrichtung „aller auf die potenziellen Märkte ausgerichteten Unternehmensaktivitäten mit dem Zweck einer dauerhaften Befriedigung der Kundenbedürfnisse einerseits und der Erfüllung der Unternehmensziele“77 theologisch nicht an der Sache vorbei? Wird die Betonung des Wirkens des Heiligen Geistes in der Konzeption78 wirklich ernst genommen? Von der ekklesiologisch, aber auch missionstheologisch problematischen Unterscheidung von Unternehmen und Kundschaft abgesehen, scheint es geradezu so, als wirke Marketing das Reich Gottes. Darum ist es wichtig, das Ergebnis der sozialwissenschaftlichen Forschung Wegners wahrzunehmen, nach dem „die Kirche nicht am besten Mitglieder (bindet), indem sie ihren Mitgliedern hinterherläuft und sich bemüht, deren Erwartungen zu befriedigen, schon gar nicht den Distanzierten. Das tut im Übrigen auch kein Unternehmen in der Wirtschaft. Zwar ist es unabdingbar, zu wissen, was die Mitglieder wollen – aber genauso muss auch die Kirche etwas von den Mitgliedern wollen.“79

So sehr die Konziliare Gemeindebildung auch einen Ansatz darstellt, auf die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Milieus und Lebensstile sowie die politischen Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren, so wenig lässt sie ihre „Angebote“ der „Nachfrage“ folgen, sondern entwickelt diese aus sich selbst heraus. Aus seiner kirchensoziologischen Forschung schließt Wegner, „dass sich ein Gewinn von Menschen für Religion und Kirche über die reine Aktivierung von Milieukennzeichen nicht erreichen lässt. Entsprechend sozusagen taktische Nutzungen von Milieukennzeichen laufen notwendigerweise gegen die Wand. Dies ist deswegen der Fall, weil die Menschen sehr genau wissen, womit sie es bei der Kirche zu tun haben, und in dem Fall, in dem sie selbst kein religiöses Interesse haben, lassen sie sich auch nicht durch irgendwelche Milieuaktionen zur Nutzung von Kirche verführen. Die Beteiligung an Kirche ist vor allem durch die Nähe zu ihrem religiösen Auftrag determiniert und erst in zweiter Hinsicht durch die Zugehörigkeit zu Milieus und deren Aufgreifen in der kirchlichen Kommunikation.“80Authentischer Glaube ist in allen Milieus gefragt, das heißt aber, dass simple Zielgruppenorientiertheit oder Marktanpassungen, die lediglich Bestehendes neu formatieren, den missionarischen Impuls nicht voranbringen werden.“81 Diese Erkenntnis impliziert die Ermutigung, dasjenige kirchlich aufzugreifen, was sie in der Welt anspricht und das zum Ausdruck zu bringen, was sie konkret bewegt und sich entsprechend zivilgesellschaftlich einbringt.82 Dass „kirchliche Äußerungen zu politischen Grundsatzfragen von allen nicht zumindest etwas kirchenverbundenen Befragten abgelehnt (werden)“,83 ist schlicht nicht relevant.

Abromeit bezieht sich in seiner Begründung des Spirituellen Gemeindemanagements auf Arbeiten Jan Hermelinks. Dessen Forschungsergebnisse84 begründen praktisch-theologisch jedoch die Kritik an der abgrenzenden Wachstumssemantik und liefern – zusammen mit der Milieu-Forschung – die Grundlage für eine praktische Ekklesiologie, die differenzsensibel angesichts der religiösen Bedürfnisse und lebensweltlichen Bedingungen ist, und sich diese in ihrer Vielfalt würdigend den Herausforderungen stellt. Im Blick auf das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ urteilt Hermelink treffend: „Die Stichworte, die den Mentalitätswandel markieren sollen“, allen voran Wachsen gegen den Trend, „sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den ökonomisch-organisatorischen Aspekt („Qualität“, „Innovation“, auch „Leitung“ oder „Leistung“) ganz selbstverständlich mit Begriffen der christlichen Tradition verbinden, die gerade nicht auf gezielt-rational zu planendes Handeln verweisen, sondern die Unverfügbarkeit … religiöser Erfahrung thematisieren. … Die menschliche, Wirkung und Ziel bedenkende Organisation der Kirche kann gewiss nicht ohne Bezug zu der Erfahrung geschehen, dass Gott – durch den Glauben – die Gemeinschaft der Glaubenden wachsen lässt; aber dieser Bezug muss doch theologisch – und sprachlich – präziser bestimmt werden, als das Papier der EKD zu erkennen gibt.“ 85 Es ist allerdings einigermaßen verwunderlich, dass Hermelink etwa auf Herbst keinerlei expliziten Bezug nimmt, stellt Hermelinks Ansatz doch geradezu einen Gegenentwurf zur Konzeption Herbsts und seiner Mitstreiter dar.86 Wo dessen Konzept des Missionarischen Gemeindeaufbaus Bibel und Bekenntnis aufruft, setzt Hermelink Dogmatik und Statistik zueinander in Beziehung und unternimmt einen überaus gelungenen Versuch, die differenzierten und d.h. eben auch distanzierten Formen der Kirchenmitgliedschaft gleichermaßen als Kirchenmitgliedschaft zu verstehen. Damit stellt er Grundthesen Michael Herbsts und damit dessen ganzes Konzept fundamental in Frage.87

Hermelink interpretiert Kirchenmitgliedschaft prinzipiell als Form der Beteiligung, die sich historisch analog zur organisatorischen Entwicklung kirchlicher Arbeitsformen ausdifferenziert hat (vgl. 17). Die große Zahl derer, die nicht Glieder einer Kerngemeinde sind, wird nicht als christianisierte Masse abgetan, sondern in ihren durchaus konfligierenden Interessen an Zugehörigkeit zur Institution wahrgenommen (vgl. 22ff). Das erscheint für eine praktisch-theologische Arbeit methodisch vorzüglich, weil sie eben auch dogmatisch gut begründet ist.88 Diese Würdigung wird auf dem Weg einer Reflexion auf die Doppelstruktur des christlichen Glaubens ermöglicht. Christlicher Glaube ist zugleich fundamental passivisch begründet und Handlungsvollzug. Der Unverfügbarkeit der Entstehung des Glaubens entspricht eine Freiheit in der Gestaltung des Glaubensvollzugs; einschließlich einer kritischen Distanz. Die Kirche als Erzählgemeinschaft und Erfahrungsraum (Hermelink) ist zwar eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung des Glaubens, doch ist damit noch kein bestimmtes Handeln gegenüber der Kirche“ (98) vorgeschrieben. Hermelink begreift die Mitgliedschaft in einem Raum, der nicht institutionell normiert werden darf, weil dies der Freiheit des Glaubens auch der Kirche gegenüber unangemessen wäre, der aber auch nicht allein kritisch auf die Institution Kirche bezogen sein darf, „weil dies die kirchlich-regelhafte Prägung des Glaubens selbst in Abrede stellen würde“ (99). Hermelink kann die „praktische Erfahrung, dass das Verhältnis der Menschen zur kirchlichen Institution von dieser selbst nicht mehr ohne Weiteres zu normieren ist“ theologisch einholen. Denn „auch in dogmatischer Hinsicht stellt die Beziehung zur Kirche ein »dialogisches« Verhältnis dar (Huber), das auf freier Zustimmung der Einzelnen zu den Regeln (Herms) oder den Deutungsangeboten (Gräb) der Kirche beruht. Ob und wie eine solche Beziehung aufgenommen wird, das entscheidet sich im Wesentlichen in der individuellen Lebensführung“ (99).

Damit ist nun nicht gesagt, dass es eine Sache bewusster Willkür oder Beliebigkeit wäre, wie Menschen ihre Kirchenmitgliedschaft wahrnehmen. Denn in der Lebensführung und der dementsprechenden Kirchenbindung spiegeln sich Aspekte des Glaubens wieder, die im erwecklich-evangelikalen Denken allzu leicht unverstanden bleiben, als Erfahrung im Glauben nicht ernst genommen oder gar nicht gesehen werden: der Zweifel, die Anfechtung und weiter noch die Gesetzlichkeit der Glaubenspraxis, auf die Hermelink hinweist. Es geht – nicht zuletzt – um lebensgeschichtliche Entwicklungen, auf die man zwar persönlich einwirken kann (Lebensführung) und die die Kirche mit ihren Angeboten begleitend und deutend begleiten kann (in Seelsorge, Kasualien, Bildungsarbeit), die aber der Verfügungsmacht des Einzelnen prinzipiell entzogen sind. D.h.: Die Kirchenmitglieder können die Zugehörigkeit zur Kirche nur nach Möglichkeit aktivieren, es handelt sich dabei weder um einen vegetativen Prozess, noch um etwas, was zwingend geboten werden könnte. Mit Hermelink verstehe ich die fehlende Allgemeinheit aktiv wahrgenommener Kirchenmitgliedschaft darum nicht als Verfallssymptom (vgl. mit Bezug auf Feige 213), sondern als eine qualitative Veränderung von Kirche in der Geschichte, bzw. in unserer Lebenswelt. Dieser latenten Form von Kirchenmitgliedschaft entspricht – gewissermaßen auf der anderen Seite derselben Medaille – die intensive Form der Wahrnehmung von Kirchenmitgliedschaft, sei es in der parochialen Kerngemeinde oder einer „Fresh X“ mit ihrem Eventcharakter89. Wesentlich ist, dass die Kirchenbindung unbeschadet ihrer Intensität authentisch und also ungezwungen ist (vgl. 223 und 225). In dieser Art und nicht in einer bestimmten Form verdient sie gewürdigt und gefördert zu werden.

Nicht eine Form der kirchlichen Bindung ist im Vergleich mit einer anderen problematisch, sondern der Kontaktverlust kirchlicher Formen zu bzw. der Verlust kirchlichen Kontakts mit der Breite der Lebenswelten der Gegenwart, die eine Wahrnehmung von Christinnen und Christen außerhalb der sogenannten Kerngemeinde ermöglicht bzw. andersherum Kontakt von Christinnen und Christen mit ihrer Kirche. In seinem Aufsatz „Die Freiheit des Glaubens und die kirchliche Organisation. Praktisch-theologische Bemerkungen zum Impulspapier des Rates der EKD »Kirche der Freiheit«“, hebt Hermelink Diakonie, Seelsorge und öffentliche, kulturelle Aktivitäten als Zugänge zum Glauben entsprechend hervor und kritisiert die verbreitete Konzentration auf die liturgischen Kernvollzüge und eine geistlich-liturgische Profilierung des Pfarramtes zulasten von Seelsorge, Diakonie und dezidiert politischem Engagement. Das gilt unbeschadet der faszinierenden Erkenntnis von Hermelinks, dass gerade auch für die distanzierte Form Kirchenmitgliedschaft der Gottesdienst zentral und grundlegend ist. „Daß Gottesdienst immer schon öffentlich veranstaltet wird, bevor sich die Mitglieder zu ihm verhalten, das konstituiert für die Einzelnen […] die Möglichkeit, sich in sehr vielfältiger Weise zu ihm in Beziehung zu setzen: vom gelegentlichen Besuch des Weihnachtsgottesdienstes bis zur regelmäßigen Mitverantwortung für seinen Ablauf, von der äußerlichen Präsenz bis zur intensiven inneren Beteiligung.“90 Und „weil der Ritus selbst keine inneren oder äußeren Teilnahmebedingungen aufstellt, kann die Beteiligung am liturgischen Handeln ganz nach Maßgabe der eigenen sozialen und biographischen Situation erfolgen“ (346). Im Rahmen dieser Offenheit ist der Gottesdienst der Einheitspunkt der kirchlichen Gemeinschaft. Hermelinks These lautet also: „Praktisch-theologisch ist Kirchenmitgliedschaft im Kern zu verstehen als die vielschichtige Beteiligung der Einzelnen an der symbolischen Darstellung der Gottesbeziehung, wie sie von der Kirche organisiert wird. Diese Beziehungen werden dadurch zum Gegenstand praktisch-theologischer Verantwortung, dass ihre dogmatischen, rechtlichen und sozialen Strukturen sich reformulieren lassen als Strukturen der Teilnahme am liturgischen Handeln“ (350). Damit ist eben eine Warnung und eine Empfehlung begründet: „Die praktisch-theologische, am tatsächlichen Handeln der Kirche orientierte Wahrnehmung der Mitgliedschaft wird darum in die Irre gehen, wenn sie eine bestimmte kirchliche Zugangslogik normativ hervorhebt“ (351). Stattdessen solle die Kirche als Bildungsinstanz darauf hinwirken, auf dem Weg öffentlicher Präsenz „vielfältige Zugänge für die Mitglieder zu eröffnen“ und Kirchenmitgliedschaft „zu einem lebensgeschichtlichen Datum zu machen“ (340).91

Schlags Würdigung der Wachstumssemantik in ihrer nicht-abgrenzenden Verwendung entspricht somit dem Befund Hermelinks: „Zwar dürfte es stimmen, dass kirchliche Offenheit allein auf Dauer Menschen kaum beeindruckend finden werden. Gegen ein konzentrisches Gemeindeaufbaumodell, das grenzorientiert »Abstände definiert«, sind … die unterschiedlichen Beziehungsmöglichkeiten innerhalb der congregatio sanctorum als gleichermaßen legitime Qualitäten der realen Gemeindewirklichkeit stark zu machen. Vielfältige Milieuhintergründe und erst recht fließende Übergänge »hin zu Zweifel und Glauben« sind nicht als Schwäche, sondern gerade als Schatz und Stärke der Volkskirche anzuerkennen.“92 Thomas Schlag gewinnt der zukunftsstrategischen Wachstumssemantik darum dort etwas Positives ab, wo diese sich in der Kritik eines „organisationszentrierten »Domestizierung« pastoralen Handelns“ niederschlägt; also gerade in einer Gegenbewegung zu ihrer Quelle. Schlag baut auf demgegenüber auf die beteiligungsorientierte und nicht lenkbare, wildwachsende Strukturen Kirchenreform gerade nicht strategisch, sondern sich unkontrolliert entwickelnd. Mit hier und da verdichteten Beziehungen innerhalb der communicatio sanctorum, mit wahrnehmbaren Knotenpunkten, die zur Beteiligung einladen oder der Identifikation des eigenen Engagements als christlich motiviertes Tun geht es nicht um Wachstum, sondern um die Lebendigkeit von Kirche und die Lebensnähe des Glaubens.93

In den Streit der Welt …

Подняться наверх