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STREIT UM DIE KLEINE FREIHEIT

Melissa Blum war wieder mal nur mäßig angetan von Flos Klavierspiel. »Übung macht den Meister, mein lieber Florian«, gab sie ihm als Ratschlag mit auf den Weg.

Sie hatte »mein lieber Florian« gesagt. Diese Anrede bereitete ihm ein schaurig schönes Kribbeln, da er seine Klavierlehrerin ziemlich nett fand. Sehr nett, um genau zu sein. Und hübsch. Das durfte natürlich nie jemand erfahren, so viel war klar. Überhaupt war sie leider fast doppelt so alt wie er.

Gedankenverloren radelte Flo durch die Straßen. Normalerweise fuhr er am Hafen entlang, durch den kleinen Park und dann am Bahnhof vorbei direkt in die »Schleife«. So hieß der Stadtteil, in dem er wohnte. Aber er war nicht scharf darauf, schon wieder von Heidi und Gianna gehänselt zu werden und die hingen wahrscheinlich immer noch an der Kletterwand, die am Eider-Hafen aufgebaut war.

So radelte er lieber durch die Innenstadt, über den großen Paradeplatz und dann auf den Nord-Ostsee-Kanal zu. Über diesen Kanal fuhren riesige Containerschiffe, um von der Ost- in die Nordsee zu gelangen oder umgekehrt. Doch heute war außer einer kleinen Motorjacht nichts Nennenswertes in Sicht.

Auf einer Bank neben dem Weg saß Robbi und stritt sich wie immer mit einem unsichtbaren Begleiter, den wohl nur er sehen konnte. Jeder in der Stadt kannte Robbi, und Flo gruselte sich jedes Mal, wenn er so merkwürdig vor sich hinplapperte und manchmal auch schrie. Dann kam es ihm so vor, als meine Robbi ihn persönlich.

»Lass mich doch endlich in Ruhe! Ihr wollt mir erzählen, dass das alles echt wäre? Illusion! Guck doch, alles Fassade!«

Flo vermied es, Robbi anzusehen, während er an ihm vorbeifuhr. Er blickte starr auf die stählerne Hochbrücke, über die gerade ein Regionalexpress rumpelte. Die alte Brücke ragte mindestens 40 Meter in die Höhe, damit die Containerschiffe darunter herfahren konnten. Trotzdem sah es manchmal so aus, als würden sie sich ihre Antennen an der Brücke abreißen.

Das Rattern der Züge begleitete Flo schon, seit er sich erinnern konnte. Denn ihr Haus stand unmittelbar unter dieser Brücke. Die Fahrgäste konnten direkt in Flos Garten blicken, als wäre er ein Detail einer Modelleisenbahn. Sein Vater erzählte manchmal von der Zeit, als die Toiletten in den Zügen unten noch offen waren und alles direkt auf oder eben auch durch die Gleise fiel. Flo schauderte bei der Vorstellung. Er hätte garantiert keinen Schritt in den Garten gemacht, todsicher nicht. Zum Glück wurde die Sache mit den offenen Kloabflüssen noch vor seiner Geburt geregelt.

Flo bog in die kurze Einfahrt seines Elternhauses und stellte sein Fahrrad unter den Carport, direkt neben den alten Wagen, der dort seit Ewigkeiten vor sich hin rostete. Er mochte den kantigen Blechkoloss, ein Chevrolet Bell Air aus dem Jahr 1972. Wie oft hatte er schon hinter dem großen Lenkrad gesessen und sich wilde Verfolgungsjagden und Autorennen gegen unsichtbare Gegner geliefert? Hin und wieder unternahm er immer noch kleine Spritztouren darin, auch wenn er streng genommen schon ein bisschen zu alt dafür war.

»Wie wars beim Klavierunterricht?«, erkundigte sich Tanja, seine Mutter, beim Abendessen in der Küche.

»Gut.« Was sollte er sonst schon antworten?

»Ganz so ausführlich wollte ich es gar nicht wissen.«

»Übst du eigentlich genug?«, fragte Johann, sein Vater. »Ich hör dich nie spielen.«

Es konnte schon nerven, solche Fragen gestellt zu bekommen. Meistens kam sein Vater dann noch mit dem Vorwurf, wozu er so viel zahle, wenn sein Sohn offensichtlich nichts dazulerne.

»Na klar, jeden Tag eine halbe Stunde. Mindestens. Da bist du noch arbeiten«, flunkerte Flo.

»Kann einem echt auf die Nerven gehen, das ständige Geklimper«, kommentierte Heidi.

Typisch Heidi. Ständig musste sie an ihm herumnörgeln. Doch diesmal war er ihr dankbar, dass sie ihm mit dieser fiesen Bemerkung beistand.

»Immer noch besser als dein blödes Gedudel aus dem Handy«, konterte Flo.

»Dafür bist du wohl noch ein bisschen zu klein.«

»Kinder, verschont mich mit euren Streitereien! Räumt lieber den Tisch ab«, fuhr Johann dazwischen.

›Oh, oh, Schlechte-Laune-Alarm!‹, dachte Flo. Sein Vater hatte wohl mal wieder zu viel um die Ohren.

»Lief es im Laden heute nicht gut?«, fragte Tanja.

»Es lief so gut wie gar nicht. Vielleicht mal ein Kunde, der drei Schrauben wollte oder einen Handtuchhaken. Das wars dann aber auch schon. Die rennen alle in diesen bescheuerten Baumarkt. Wenn das so weitergeht, kann ich den Laden dicht machen.«

Die Familie Klein besaß mitten in der Innenstadt einen Eisenwarenladen mit dem Namen »Klein und Alt«. Er war tatsächlich nicht sehr groß und ein alteingesessenes Geschäft, in dem es Nägel, Schrauben, Unterlegscheiben, Dübel und alle möglichen anderen Sachen gab. Der Verkaufsraum war so vollgestellt, dass man sich darin kaum noch bewegen konnte. Die meisten Leute fuhren lieber bequem mit dem Auto zu dem neuen, großen Baumarkt. Flo verstand, dass das seinem Vater die Laune verdarb – aber musste er es unbedingt an seiner Familie auslassen?

»Also, wer räumt den Tisch ab?«, fragte Johann.

»Hab ich gestern. Flo ist dran«, sagte Heidi.

»Nö, nö, nö, ich hab heute schon den Müll rausgebracht!«

»Könnt ihr mal aufhören, euch wie Kleinkinder zu benehmen? Ich zähl doch auch nicht auf, was ich alles für euch mache.«

Besonders viel wäre da auch nicht aufzuzählen gewesen. Denn entweder stand sein Vater in seinem Laden oder saß im Arbeitszimmer über irgendwelchem Bürokram.

Johann stand mit säuerlicher Miene vom Tisch auf und öffnete die Spülmaschine. »Ich krieg die Krise!«, raunzte er und hielt den Griff der Spülmaschine in der Hand.

»Der wackelte schon seit ein paar Wochen«, sagte Heidi.

»Und keiner kommt mal auf die Idee, ihn wieder festzuschrauben?«, schnaufte Johann und stampfte in den Keller, um einen Schraubenzieher zu holen. In ihrem alten Haus gab es ständig etwas, das kaputt ging, und das verbesserte nicht unbedingt Johanns Laune. Doch als er kurz darauf wieder hochkam, war sein Blick noch grimmiger als zuvor.

»Wie oft muss ich noch sagen, dass die Sachen dahin zurück gehören, wo ihr sie herhabt?«

Heidi verdrehte die Augen. Das sagte der Richtige. Meist ließ doch Johann alles und überall liegen.

»In der Kleinen Freiheit müsste noch einer sein, falls den nicht auch schon jemand verlegt hat«, grummelte Johann.

Die Kleine Freiheit! Das Chaos auf der Anlage! Das hatte Flo komplett verdrängt. Sein Vater ging so gut wie nie in sein Eisenbahnzimmer, warum ausgerechnet heute?

»Ich hol ihn, dann brauchst du nicht nach oben«, versuchte er seinen Vater abzuhalten. Doch der stampfte bereits die Treppe hinauf und somit war Flo geliefert. Besser, er verschwand erst mal für eine Weile in seinem Zimmer, doch Tanja drückte ihm einen Wischlappen in die Hand, als auch schon Johann mit hochrotem Kopf von oben zurückkehrte.

»Was ist los? Wieder keinen Schraubenzieher gefunden?«, fragte Tanja.

»Wer hat sich an meiner Modelleisenbahn vergriffen?«, schnaubte Johann.

Flo wischte so heftig auf der Tischplatte herum, als wolle er ein Loch hineinreiben.

»Wieso, was ist denn mit deiner Eisenbahn?«, fragte Tanja.

»Die sieht aus, als hätten sich Godzilla und King Kong den ultimativen Kampf darauf geliefert.«

›Gute Idee eigentlich‹, dachte Flo und überlegte, wo er seine Godzillafigur hingetan hatte.

»Warst du das, Flo?«, fragte Johann.

Heidi grinste Flo von der Seite an.

»Die Anlage kaputt machen? Wieso sollte ich so etwas tun? Ich bin doch kein Kleinkind«, krächzte er.

»Na ja, da kann man geteilter Ansicht sein«, stichelte seine Schwester.

»Wer soll denn sonst da oben gewesen sein? Du etwa, Heidi?«

»Ich spiel doch nicht mit einer Eisenbahn!«, rief sie empört.

»Also, Flo, was hast du dir dabei gedacht?«

»Er hat doch gesagt, dass er es nicht war«, verteidigte Tanja ihren Sohn.

Johann grummelte und nahm eine Tafel Schokolade aus dem Küchenschrank. Das tat er öfter, wie man an seinem beachtlichen Körperumfang gut erkennen konnte. Als wolle er all seinen Unmut an ihr auslassen, brach er die Tafel grob in Stücke und steckte sich einen Riegel in den Mund.

»Ich schätze, es war Pietzke. Vorhin hab ich ihn aus dem Zimmer kommen sehen«, behauptete Heidi.

Flo dankte seiner Schwester innerlich dafür, dass sie ihm mit dieser kleinen Notlüge aus der Patsche half.

»Hat bestimmt mal wieder eine Maus über die Anlage gejagt.«

»So geht das nicht weiter. Ich werde die Anlage abbauen und verkaufen. Endgültig! Bevor der Rest auch noch zu Bruch geht«, brummte Johann.

Flos Magen krampfte sich zusammen, als er das hörte. »Papa, wieso das denn?! Ich dachte, ich würde sie einmal erben!«

»Hm«, war Johanns einzige Reaktion.

»Genau, warum überlässt du sie nicht lieber Flo, bevor sie nur sinnlos herumsteht?«, fragte Tanja.

»Weil sie dann am Ende so zerschrottet ist, dass ich sie auch gleich in die Tonne hauen kann. Es ist eine empfindliche Modellbau-Anlage, keine Carrera-Bahn!«

Flo war sauer und vor allem enttäuscht. Es war immer dasselbe mit seinem Vater und ihm. Er traute ihm einfach nichts zu.

»Wollen wir nicht zusammen was spielen?«, schlug Heidi vor, um die Stimmung zu retten. »Wie wärs mit ’ner Runde Mensch ärgere dich nicht

Die magische Schwelle

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