Читать книгу Advent, Advent, die Alster brennt - Brigitte Karin Becker, Kai Riedemann - Страница 5
Оглавление1. PREIS
Kai Riedemann
Frag nicht nach Stefan
Er verfolgt mich. Gestern fuhr sein Wagen im Schritttempo an meiner Wohnung vorbei, heute parkt der grüne Toyota an der Ecke Lerchenstraße, wo ich ihn deutlich durchs Schaufenster von Günys Fischimbiss sehen kann. Michael lehnt an der Beifahrertür, den Kragen der Lederjacke hochgeschlagen, einen Pappbecher mit Coffee-to-go in der Hand, um sich bei dem eisigen Dezemberwind zu wärmen. Er macht nicht den geringsten Versuch, sich zu verstecken. Warum auch? Michael will Antworten auf seine Fragen. Aber ich will sie ihm nicht geben. Ich will nicht und ich darf nicht.
Während draußen immer mehr dicke Flocken durch die Luft wirbeln, stochere ich in meiner Forelle herum. Mir ist der Appetit vergangen. Nicht mal die chipsartigen Bratkartoffeln können mich vom Blick aus dem Fenster abhalten. Was soll das, Michael? Irgendwie muss er herausgefunden haben, dass ich hier am Schulterblatt arbeite. Ob er überhaupt ahnt, welche Gefahren er mit dieser Neugier heraufbeschwört? Welche Folgen sein Herumschnüffeln haben kann? Ich hoffe nur, dass Annekatrin nichts davon bemerkt.
Meine Forelle ist längst kalt, der Tee schmeckt schal. Das Gewirr der Stimmen nehme ich kaum wahr, so als hätte mich auch hier drinnen eine dichte Schneedecke eingehüllt. Vor dem Schaufenster stehen jetzt zwei Frauen und betrachten neugierig meinen halb leeren Teller. Mit ihren Pelzmützen, dicken Steppjacken und Geschenketüten versperren sie mir den Blick auf Michael. Ich weiß trotzdem, dass er noch da ist. Also stehe ich auf, lege Güny das Geld für Forelle und Tee auf den Glastresen und trete hinaus in die Kälte.
Durch den unerwarteten Wintereinbruch sieht es sogar in dem sonst so bunten und hektischen Schanzenviertel ein wenig besinnlich aus. Auch ohne die Weihnachtsbeleuchtung der Innenstadtstraßen und die goldüberladenen Fenster der Luxusläden. Ich schließe mich einer türkischen Großfamilie an, um unauffällig in Richtung Rote Flora zu gehen. Ein reines Ablenkungsmanöver. Die Praxis von Dr. Young liegt in entgegengesetzter Richtung. Ich sehe gerade noch, wie Michael den Schnee von seiner Lederjacke klopft, den Coffee-to-go-Becher auf die Eingangsstufen des Telefonshops stellt und mir folgt. Er ist hartnäckig. Lass es endlich sein, mir aufzulauern, Mails zu schicken oder beschwörende Worte auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Stefan lebt nicht mehr. Jedenfalls jener Stefan, den du 20 Jahre lang gekannt hast.
Ein Polizeiwagen rast mit Blaulicht über das holperige Pflaster. Ich nutze die Aufregung, um die Straßenseite zu wechseln und in einem Schuhgeschäft zu verschwinden. Der frische Schnee klebt unter meinen Sohlen und hinterlässt weiße Flecken auf dem Teppichboden. Weihnachtlich klingt die Musik im Laden nicht, aber immerhin flackert auf dem Kassentresen eine Kerze zwischen kümmerlichen Tannenzweigen.
Irgendwie spüre ich, dass Michael hinter mir steht. Im blank polierten Werbeschild auf dem Schuhregal spiegelt sich jetzt auch sein Gesicht. Er lächelt. Sein Haar ist noch etwas spärlicher geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Vor fast zwei Jahren am Strand von St. Peter Ording.
»Hallo, Stefan, was ist los mit dir?«, fragt er. Von diplomatischen Einleitungen hat er noch nie viel gehalten.
»Was soll schon los sein? Alles in Ordnung.« Ich drehe mich nicht um, aber versuche ebenfalls zu lächeln.
»In Ordnung? Du brichst den Kontakt mit sämtlichen Freunden ab, schmeißt Job und Studium hin und dann sagst du, alles ist in Ordnung?«
Seine sonst so tiefe Stimme klingt schrill. Die linke Hand hält etwas umklammert. Ich weiß, dass es ein herzförmiger Stein ist. Michael brauchte das schon immer, um Mut für unangenehme Begegnungen zu sammeln.
»Es gab halt viel zu tun in der letzten Zeit«, sage ich, »viel Arbeit, viel Stress.«
Er schüttelt den Kopf.
»Mensch, Stefan, was hat die Hexe nur mit dir gemacht?«
Er meint natürlich Annekatrin. Ich spare mir eine Antwort. Warum sollten wir die endlosen Gespräche wieder aufwärmen? Er hat mich oft genug gewarnt. Vor ihr. Vor ihren grünen Augen, in denen man ertrinkt. Vor ihrem Klammern, das einem die Luft zum Atmen nimmt. Ich weiß das alles, Michael.
Auf eine Antwort wartet er sowieso nicht. Also drehe ich mich jetzt doch um, blicke ihm kurz in die Augen und verlasse dann den Laden. Der Wind ist noch eisiger geworden. Es wird wohl weiße Weihnachten geben.
»Du arbeitest hier in der Schanze?« Er deutet in Richtung Neuer Pferdemarkt. Mein Umweg war also sinnlos. Vermutlich ist er mir oft genug unbemerkt gefolgt und hat die Sache mit Dr. Clarissa Young längst herausgefunden.
»Ich helfe nur aus. Bei einer Psychologin.«
Michael lacht.
»Psychologische Beratung und Coaching. Vermutlich ohne Bezahlung, was?«
Auch darauf antworte ich nicht. Annekatrin braucht ihre Therapie, doch leisten kann sie sich das alles längst nicht mehr. Also helfe ich bei Dr. Young aus. So fing alles an. Mein Wissen als Techniker und Computerspezialist gegen ihre Coachingstunden. Ist doch ein faires Geschäft.
Michael fegt mit der linken Hand die weißen Flocken von der Motorhaube eines VW Käfers. Sie kleben nicht. Zu frisch. Ich will nicht an Annekatrin denken und denke deshalb einfach an den Schnee. Wie er rostige Fahrräder am Straßenrand in kuriose Kunstobjekte verwandelt. Wie er sich schwer auf die Markisen legt und auf die Leuchtreklamen. Wie er dafür sorgt, dass es still wird in der Straße, und ich in all dem Trubel meinen Atem hören kann. Und Michaels Schritte.
»Sieh mich bitte an, wenn ich mit dir rede.« Seine Stimme ist plötzlich leise. »Sie hat dir alles genommen, nicht wahr?«
Ich blicke ihn nicht an, als ich langsam über die Straße zurück zu Günys gehe. Vor dem Fenster steht eine einsame Bank. Sie ist zugeschneit, doch das stört mich nicht. Michael setzt sich ebenfalls, den Herzstein immer noch fest in der linken Hand.
»Damals in St. Peter Ording«, versucht er erneut ein Gespräch, »hast du gesagt: Ich kann bald nicht mehr. Erinnerst du dich?«
Natürlich erinnere ich mich. Aber was verstehst du schon von Annekatrin? Ich kann ohne sie nicht leben. Und sie kann ohne diese Gruppe nicht leben. Dort findet sie endlich den Halt, den sie so lange gesucht hat. Dort findet sie Antworten auf ihre Fragen.
»Stefan, sei ehrlich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Sekte dahintersteckt. Annekatrin hat dich da mit reingezogen. Aber welche Rolle spielt diese Dr. Young? Ist sie es, die euch die Seele geraubt hat?«
Eine Sekte. Ja, wenn du es so nennen willst. Aber es ist besser, wenn du darüber nichts Genaueres erfährst, Michael. Besser für dich.
Inzwischen ist es fast dunkel geworden. Das Licht aus den Schaufenstern lässt den frostigen Boden glitzern. Meine Blicke folgen einem Mann, der auf der anderen Straßenseite mit einem Kaffeebecher aus der Bäckerei tritt. Seine rotschwarze Irokesenfrisur färbt sich schnell weiß bei diesem Wetter. Wann habe ich das letzte Mal so einen Punkschnitt gesehen?
»Starr nicht in die Gegend, verdammt noch mal. Sag endlich was!«
Von einem grauen Müllsack, der am nächsten Halteverbotsschild lehnt, erhebt sich krächzend ein Rabe, als auch ich wieder aufstehe und mir die Flocken von der Hose klopfe. Du wirst nicht hören wollen, was ich jetzt zu sagen habe.
»Akzeptiere einfach, dass es den Stefan von damals nicht mehr gibt, Michael. Lass mich meinen Weg gehen, wohin auch immer er führen mag. Ich kann hier nicht mehr raus. Vielleicht liegst du sogar richtig mit deiner Vermutung, was die Sekte betrifft. Aber du solltest das trotzdem vergessen. Bevor es zu spät ist.«
An einem mit Graffiti besprühten Gemüselaster vorbei gehe ich in Richtung Neuer Pferdemarkt. Wenn er von Dr. Young weiß, brauche ich keine Ablenkungsmanöver mehr. Ich kehre ihm den Rücken zu. Schluss. Aus. Ende. Keine weiteren Fragen mehr.
Ich höre, wie Michael aufsteht und offenbar den Herzstein gegen das Verkehrsschild schleudert. Ich höre seine Schritte im Schnee, dann auf den Pflastersteinen der Straße. Er geht zu seinem Wagen. Gut so.
Im selben Augenblick heult ein Motor auf. Der Aufprall klingt dumpf im dichten Schneetreiben. Reifen quietschen. Schreie. Wieder der aufheulende Motor. Eine ferne Stimme ruft etwas von Fahrerflucht.
Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, was passiert ist. Warum hast du nicht auf meine Warnungen gehört, Michael? An einem Baum auf der anderen Straßenseite lehnt Annekatrin.