Читать книгу Advent, Advent, die Alster brennt - Brigitte Karin Becker, Kai Riedemann - Страница 9
Engel und Weihnachtsmann
ОглавлениеEs sind noch zwei Tage bis Heiligabend. Vor dem kleinen Café im Grindelviertel verabschiede ich mich von Annika. Die Fensterscheiben sind mit Sprühschnee unbeholfen mit Schneeflocken verziert worden, die Weihnachtsdekoration sieht irgendwie unordentlich aus. Das ganze Viertel wirkt schon jetzt sehr leer auf mich.
»Bis zum nächsten Jahr, Katharina«, sagt Annika, als sie mich umarmt. Sie hat ganz leuchtende Augen. Mir war überhaupt nicht klar, dass Weihnachten auch auf Menschen im Alter von über zwanzig Jahren eine Wirkung ausüben kann, die ich sonst nur bei meinen kleinen Cousins beobachten kann. Wenn ich jemals in eine solche Vorfreude verfallen sein sollte, bin ich zumindest im Moment nicht in der Stimmung, mich daran zu erinnern. Trotzdem will ich Annika nicht die Freude verderben. »Frohe Weihnachten«, wünsche ich ihr und sehe ihr nach, wie sie davoneilt.
Ich schrecke auf, als mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippt. »Gesegnete Weihnachten«, sagt eine tiefe Stimme, noch tiefer verstellt.
Ich seufze, verdrehe die Augen und wende mich um. »Hallo, Stefan.«
Er zwinkert mir zu. Stefan hat strahlend blaue Augen und ist niemals richtig rasiert. Er könnte der erklärte Frauenschwarm unseres Jahrganges sein, aber selbst dafür ist er eine Spur zu herablassend. Ich halte mich normalerweise von ihm fern, auch wenn ich ahne, dass wir uns gut verstehen könnten.
»Gar nicht in Weihnachtsstimmung?«, fragt Stefan. »Fährst du nicht heute oder morgen nach Hause?«
»Nein, dieses Jahr nicht«, sage ich einsilbig. »Und du?«
Er schüttelt den Kopf. »Auch nicht.« Jetzt ist er es, der nicht weiterspricht. Die stumme Frage hängt zwischen uns, bis ich mir ein Herz fasse. »Was machst du dann übermorgen Abend?«
Stefan grinst. »Ich spiele den Weihnachtsmann.«
Mein Blick muss ziemlich verdutzt sein. Stefan lacht leise. »Ja. Über die studentische Weihnachtsmannvermittlung. Das macht ziemlich viel Spaß, man sieht an einem einzigen Abend vier oder fünf Weihnachtsbäume und geschmückte Wohnzimmer, man verteilt Geschenke und hört Weihnachtslieder. Es ist ein bisschen so, als würde man viermal Weihnachten feiern.«
So habe ich das noch nie gesehen. Mir haben die verkleideten Männer am Heiligen Abend immer leidgetan, aber im Vergleich zu einem einsamen Weihnachtsabend zu Hause ist es vielleicht gar nicht schlecht, im roten Mantel durch die Stadt zu ziehen. Ich sage nichts, aber Stefan sieht mich aufmerksam von der Seite an.
»Warum kommst du nicht mit?«
»Ich?«, frage ich erschrocken zurück.
»Ja, warum nicht? Als Weihnachtsengel. Wenn du möchtest.«
Stefans Stimme ist ausdruckslos, und er sieht mich nicht direkt an. Ich weiß nicht, ob er sich über mich lustig macht oder es ernst meint, aber ich bin in der Stimmung, das Spiel auf die Spitze zu treiben. »Na dann, gerne«, sage ich. »Was ist mit dem Kostüm?«
»Das wird gestellt.«
»Oh, gut. Ich schätze, gut bezahlt wird es nicht?«, frage ich.
»Nein«, antwortet Stefan, neigt dann aber ein wenig den Kopf. »Naja«, sagt er. »Wie man es nimmt.«
Der Nieselregen flimmert in den Lichtkreisen der Straßenlaternen, die längst angesprungen sind. Fast wünschte ich, es wäre schon später und richtig dunkel. Es erinnert mich daran, wie mein Vater mich immer getröstet hat, wenn es am Weihnachtsmorgen Tauwetter gab oder es von vornherein viel zu warm war für Schnee. »Heute Abend ist es sowieso dunkel, und wenn überall Lichter sind, ist es egal, wenn kein Schnee liegt.« Er hatte jedes Jahr wieder recht.
In Harvestehude sind viele Fenster erleuchtet, und hier und dort glänzt eine Lichterkette in einem Balkonkasten, aber der Himmel ist noch von einem stumpfen Blaugrau erfüllt. Auf dem Gehweg liegt am Rand noch Laub, im Regen zu einem braunen Matsch zertreten.
Ich habe ein langes, hellblaues Kleid angezogen, darüber einen schneeweißen Wollpullover, warm genug für einen verregneten Heiligen Abend. Mein Kostüm besteht aus einem weiten weißen Umhang mit langen Schlitzen für die Pappflügel, die ich mit breiten Stoffträgern wie einen Rucksack auf dem Rücken trage. Brünette Engel müssen ein wenig mehr Mühe auf ihre Frisur verwenden als blonde, meine Haare sind geflochten und hochgesteckt.
Stefan dagegen sieht ganz verändert aus und wirklich wie der Weihnachtsmann, ohne dass ich genau sagen könnte, woran es liegt. Natürlich trägt er einen weißen Bart, aber er lässt eigentlich ziemlich viel von seinem Gesicht sehen. An ihm sieht die Mütze gar nicht albern aus, und sein langer roter Mantel ist fast etwas zu dunkelrot. Den großen Jutesack trägt er lässig über der Schulter.
»Und?«, frage ich. »Wo wohnen unsere ersten artigen Kinder?«
Im Treppenhaus des Altbaus ist es ziemlich dunkel, die Treppe ist steil, aber Stefan hat mich zurückgehalten, als ich nach dem Lichtschalter gesucht habe. »Nie das Licht anmachen«, raunt er. »Die Wohnungen sind dunkel am Weihnachtsabend, Licht aus dem Flur stört.«
Vor uns öffnet sich die weiß gestrichene Tür mit dem Buntglaseinsatz.
»Wer da wohl ist?«, höre ich eine Stimme auf der anderen Seite. Eine schlanke Frau in dunkler Bluse und heller Hose steht im Türspalt.
»Fröhliche Weihnachten«, sagt Stefan laut und seltsam feierlich.
»Der Weihnachtsmann«, ruft die Frau gekünstelt über die Schulter zurück, und winkt uns mit einer kurzen, geübten Geste herein.
Halb im Flur steht ein kleiner Junge, wunderschön angezogen, mit einem Hemd in Kindergröße und einer Fliege. Hinter ihm ist das Wohnzimmer golden erleuchtet, und an dem großen Weihnachtsbaum brennen kleine, warme Lichter.
»Ich weiß, du warst brav«, sagt Stefan, als er ein paar Schritte vortritt, und ich kann sein Augenzwinkern sehen. »Hallo, Philipp.«
Philipp sagt nichts, seine Augen sind riesig in seinem Gesicht.
»Philipp hat ein Gedicht gelernt, lieber Weihnachtsmann«, lässt sich seine Mutter hören.
»Das ist aber schön«, sage ich, und fange einen amüsierten Blick von Stefan auf.
»Hast du denn auch Lust, es aufzusagen?«, fragt er, während er neben Philipp in die Hocke geht.
Man sieht Philipp an, dass er jetzt gern irgendwo anders wäre. »D … denk nur, ich habe das Christkind gesehen«, setzt er an, aber dann stockt er auch schon und sieht hilflos auf.
»Oh, das kenne ich«, sagt Stefan behutsam in die Stille hinein. »Es kam aus dem Walde …«, versucht er, Philipp zu helfen.
»Es kam aus dem Walde …«, wiederholt Philipp mit schwankender Stimme und stockt dann wieder.
Ich sehe Stefans auffordernden Blick, aber leider bin ich mir nicht sicher, wie es weitergeht. »… das Mützchen voll Schnee«, ist das, was mir einfällt, aber dann kommt es mir komisch vor, dass das Christkind ein Mützchen tragen soll. Der Moment, in dem ich Philipp noch hätte retten können, verstreicht, und der kleine Junge bricht in stumme Tränen aus.
»Oh, Philipp«, höre ich hinter mir die Mutter zischen, und in diesem Moment ist es mir egal, was die Rolle des Weihnachtsengels am Heiligen Abend ist. Ich beuge mich zu Philipp hinunter. »Es macht überhaupt nichts, wenn man das Gedicht nicht kann«, sage ich entschieden. »Wollen wir vielleicht lieber ein Weihnachtslied singen?«
»Alle zusammen«, sagt Stefan mit feierlicher Stimme, nun bin ich es, die sich ein Lachen verbeißen muss. Wir singen:
»Alle Jahre wieder«, und auch Philipps Mutter singt mit. Zumindest bewegt sie die Lippen.
»Fröhliche Weihnachten!«
Unsere nächsten braven Kinder sind schon ein wenig zu alt für den Weihnachtsmann, aber sie feiern Weihnachten offenbar mit ihren Großeltern und sind mit der gebührenden Geduld dabei. Die Wohnung in dem alten Backsteinbau ist unglaublich dunkel, der Weihnachtsbaum ist sorgfältig geschmückt, aber viel zu klein für das große Wohnzimmer. Es riecht durchdringend nach irgendeinem Braten.
Stefan marschiert fröhlich durch das Wohnzimmer. »Frohe Weihnachten!«
Die beiden Mädchen sind im Teenageralter, ordentlich zurechtgemacht mit der Sorgfalt, die man an den Tag legt, wenn man als Teenager anfängt, sich zu schminken.
»Frohe Weihnachten«, sagen sie höflich und bieten an, etwas zu singen. Als sie mit »Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen« geendet haben, zwinkert Stefan ihnen zu und fragt, ob sie auch »Last Christmas« können. Sie kichern, aber sie singen schön, und beide bekommen sorgfältig verpackte Geschenke.
Der ganze Weihnachtsabend ist etwas beschwingter, als wir uns verabschieden.
Auf der Straße ist es fast schon dunkel. Die Lichtkreise der Laternen zwischen den kahlen Ästen der Bäume sind groß und golden.
»Wohin jetzt?«, frage ich Stefan eifrig, und er lächelt.
»Die nächsten Familien sind alle in den Elbvororten, Nienstedten und so. Mein Auto steht hier um die Ecke.«
Der alte, weiße Mittelklassewagen ist einige Straßen weiter ordentlich geparkt, aber unter dem Scheibenwischer klemmt trotzdem ein Strafzettel. Stefan nimmt ihn, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, faltet ihn achtlos und wirft ihn in die Mittelkonsole. Etwas sorgfältiger zieht er den Weihnachtsmannmantel aus und legt ihn auf den Rücksitz. Er trägt ganz normale Kleider darunter, eine schwarze Stoffhose und einen dunklen Pullover über einem hellgrauen Hemd. Ich komme mir seltsam neben ihm vor in meinem hellblauen Kleid, als ich den Umhang und die Flügel auf den Rücksitz lege und einsteige.
Stefan lässt den Motor an und fährt los, das Autoradio erwacht zum Leben und spielt das Weihnachtsprogramm des Norddeutschen Rundfunks. Jenseits der Windschutzscheibe zieht das stille, weihnachtliche Hamburg vorüber. Wir fahren am Bahnhof Dammtor vorbei, und die Lichter an der Fassade und die großen Sterne in den Rundbogenfenstern, die ich sonst immer kitschig fand, erscheinen mir heute schön. Als wir den Bahnhof passiert haben, recke ich den Hals, um einen Blick auf das Panorama der Innenstadt rund um die Binnenalster zu erhaschen, die erleuchteten Fassaden der Kaufhäuser und den Weihnachtsbaum auf dem Ponton der Alsterfontäne, aber ich bin mir nicht sicher, dass ich wirklich etwas gesehen habe, ehe wir abbiegen. Stefan sieht mich von der Seite an und lächelt.
»Was würdest du heute Abend tun, wenn du nicht der Weihnachtsengel wärest?«, fragt er.
»Nicht viel«, antworte ich langsam. »Meine Eltern haben sich im Sommer getrennt. Meine Mutter veranstaltet ein großes Weihnachtsfest mit ihrer ganzen Familie, meiner Großmutter und sämtlichen Tanten, und mein Vater feiert mit seiner neuen Freundin. Ich hatte auf beides keine Lust.«
»Ich verstehe«, sagt Stefan ruhig. »Tut mir leid.« Er sagt es ganz gelassen, aber es klingt trotzdem nicht wie eine Floskel.
Ich nicke stumm, aber dann nehme ich mir doch ein Herz. »Und du?«, frage ich.
»Meine Eltern sind schon seit ein paar Jahren tot«, antwortet Stefan und hebt abwehrend die Hand, als ich betroffen aufsehe und etwas sagen will. »Schon gut. Ich könnte mit der Familie von meinem Bruder feiern, aber …« Er lächelt. »Eigentlich gefällt es mir ganz gut, der Weihnachtsmann zu sein, überall ein und aus zu gehen, wie ich es für richtig halte und auch einmal etwas von Weihnachten zu haben.«
Etwas an seinem Tonfall irritiert mich, ich sehe ihn von der Seite an. Bunte Lichter spielen im Seitenfenster des Autos. Wir fahren über die Reeperbahn, die so aussieht wie an einem beliebigen Abend in der Woche, große Leuchtreklamen, hier und dort ein paar Fußgänger.
»Macht dir das wirklich Spaß?«, frage ich unwillkürlich.
Stefan wirft mir einen kurzen Blick zu. »Nicht immer«, sagt er. »Aber meistens schon, besonders hinterher. Und warte ab, bis du Blankenese an Weihnachten siehst.«
Ich hatte nicht gedacht, dass ich die Elbvororte einmal noch stiller und feierlicher finden könnte, als sie es ohnehin schon sind. Stefan ist irgendwo von der Elbchaussee abgebogen und fährt durch stille Straßen, mit vornehmen Häusern und dunklen Gärten. In den Villen sind meist nur die Fenster im Erdgeschoss erleuchtet. Hier und dort ist ein Tannenbaum oder ein Strauch mit Lichtern geschmückt.
An einer kleinen Kreuzung parkt Stefan das Auto am Straßenrand. »Es ist dort vorne«, sagt er und deutet in die Straße hinaus. »Wir sollten laufen, es muss niemand sehen, dass der Weihnachtsmann mit dem Auto und nicht mit dem Rentierschlitten kommt.«
Das Haus ist eine kleine, weiße Villa, alle Fenster sind hell, hinter den Gazegardinen bewegen sich lebhafte Schatten. Es ist Musik zu hören, nicht sehr laut, aber sie passt trotzdem nicht in die stille Straße.
Stefan öffnet ohne Umstände die kleine Gartenpforte. An der Haustür dauert es lange, bis auf unser Klingeln endlich geöffnet wird. Eine Frau steht auf der Schwelle, fast bin ich über ihre Erscheinung erschrocken, trotz des eleganten Kleides. Sie schwankt ein wenig auf ihren hohen Absätzen, ich rieche Alkohol, obwohl ich einen halben Schritt hinter Stefan stehe. In der freien Hand hält sie eine brennende Zigarette.
»Kommen Sie herein«, sagt sie langsam, bei ihren ersten Silben hört man noch, dass sie sich Mühe gibt, die Worte sorgfältig auszusprechen, aber dann ist da schon ein Lallen in ihrer Stimme. »Wir dachten nicht, dass Sie noch kommen.« Es hätte ein Vorwurf sein können, aber so, wie sie es sagt, mühsam artikulierend, klingt es völlig gleichgültig. »Die Kinder sind im Weihnachtszimmer.« Sie tritt zurück und in den Flur hinein. Durch eine offene Tür erhasche ich einen Blick auf ein Wohnzimmer, in dem Erwachsene stehen, trinken und sich unterhalten, aber sie weist zur Seite auf eine angelehnte Tür.
»Fröhliche Weihnachten«, sagt Stefan ernst. Ich werfe einen raschen Blick durch den Flur, auf eine übervolle Garderobe, eine steile Treppe in das Obergeschoss hinauf. Als ich mich wieder zu der Dame umwenden will, ist sie plötzlich verschwunden. Stefan zuckt unmerklich die Schultern und öffnet dann mit großer Geste die Tür. »Fröhliche Weihnachten!«
Vor den bodentiefen Fenstern des Zimmers steht der Weihnachtsbaum, übervoll geschmückt. Auf den beiden großen Sofas und auf dem Parkettboden liegt überall Geschenkpapier herum, geöffnete Spielzeugkartons und Verpackungen. Die Kinder, die dazwischen auf dem Boden sitzen, sehe ich erst auf den zweiten Blick. Es sind drei Jungen und zwei Mädchen, der älteste bestimmt schon zehn, die anderen etwas jünger.
»Der Weihnachtsmann«, jauchzt einer der Jungen und springt auf Stefan zu, die anderen folgen zögerlicher. Stefan beugt sich zu dem Kleinen herunter, als der ihn ziemlich unsanft am Mantel zieht.
»Warum kommst du erst jetzt? Wir haben unsere Geschenke doch schon.«
»Ich habe aber noch mehr.« Stefan beugt sich zu ihm hinunter, und reicht ihm ein kleines Paket aus dem Jutesack. »Eigentlich muss man an Weihnachten ja immer ein Gedicht aufsagen können, aber weil wir zu spät gekommen sind, müssen das dieses Jahr nur die Kinder tun, die auch möchten. Weiß jemand eins?«
Stille breitet sich aus, bis eines der Mädchen zögerlich ein großformatiges Buch vom Boden aufhebt und es mir geöffnet entgegenstreckt.
»Kannst du das vorlesen?«, fragt sie.
Etwas verblüfft nehme ich das Buch entgegen. Es sind altertümliche Weihnachtsgedichte, mit großen Illustrationen.
Stefan wirft einen Blick über meine Schulter und nickt mir gemessen zu, aber seine Augen glänzen. »Der Weihnachtsengel liest euch vor«, sagt er feierlich. »Ich komme gleich zurück.«
Ich sehe ihm erstaunt nach, aber da sind fünf Kinder, die mich neugierig ansehen. Langsam lasse ich mich auf dem Sofa nieder und fange an, ein langes, altmodisches Gedicht vorzulesen. Die Kinder hören gebannt zu, trotzdem kommt es mir wie eine Ewigkeit vor. Ich bin erleichtert, als Stefan lautlos wieder das Weihnachtszimmer betritt. Mit feierlichen Gesten verteilt er bunt eingepackte Geschenke.
»Wir müssen jetzt gehen«, sagt er bedauernd, als ich geendet habe. »Fröhliche Weihnachten!«
Ich reiche dem Mädchen das Buch zurück und folge Stefan in den leeren Flur hinaus. Hinter uns dringt die Musik aus dem Wohnzimmer. Niemand nimmt Notiz von uns, als wir das Haus verlassen. Im Licht der Straßenlaternen funkeln die feinen Regentropfen auf meinem Wollpullover.
Erst in Sichtweite des Autos bleibe ich stehen.
»Was hast du da alleine im Haus gemacht?«, frage ich Stefan und versuche, ihm ins Gesicht zu sehen.
Es ist ein seltsamer Unterton in seiner Stimme, als er antwortet. »Nichts. Ich war auf der Toilette.«
Ich strecke unvermittelt die Hand aus und fasse in die Falten des Jutesackes, kann ihm den groben, braunen Stoff aus der Hand winden. Er macht einen Schritt auf mich zu, als wolle er mir den Sack gewaltsam wieder entreißen, dann besinnt er sich und macht eine beschwichtigende Geste, um danach die Arme zu verschränken und mich herausfordernd anzusehen.
Ich würdige ihn keines Blickes, als ich die Öffnung des Sackes auseinanderschlage. In den Falten des braunen Stoffes liegen oben noch einige von den bunt eingepackten Geschenken, aber auf den ersten Blick wird ersichtlich, dass der Weihnachtsmann noch wertvollere Dinge mit sich herumträgt. Unter den Paketen liegen Geldscheine, Fünfziger, Zwanziger, auch ein grüner Hunderteuroschein. Als ich die Falten des Sackes hin- und herschüttele, sind da auch noch andere Dinge, eine große Herrenarmbanduhr, die sehr teuer aussieht, und ein kleines Schmuckdöschen ohne Deckel, in dem ein Ring steckt.
Für einen Moment bin ich ganz starr, obwohl ich geahnt habe, dass etwas nicht stimmt. Wortlos fasse ich den braunen Stoff an der Öffnung des Sackes fest zusammen und wende mich zu Stefan um.
»Das darf nicht wahr sein«, sage ich fassungslos. »Du bestiehlst die Familien, die du als Weihnachtsmann besuchst?«
Stefan erwidert meinen Blick, ohne zu antworten.
»Gib’ mir die Autoschlüssel«, fordere ich heiser.
Er greift unter seinen Mantel und wirft mir den Autoschlüssel zu. Es gelingt mir, ihn zu fangen, auch wenn ich bestimmt keine elegante Figur dabei abgebe, im Kleid und mit dem Jutesack in der Hand. Entschlossen gehe ich auf das Auto zu und will auf der Fahrerseite einsteigen. Ich habe die Flügel vergessen, die Pappe bleibt an der Türöffnung hängen. Mit zusammengebissenen Zähnen streife ich Flügel und Mantel ab und steige dann ein, den Jutesack im Fußraum unter meinen Sitz stopfend.
Stefan hat längst seinen roten Mantel ausgezogen und ist auf der Beifahrerseite eingestiegen. »Und nun?«, fragt er.
Ich schweige. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Wir könnten teilen, weißt du«, schlägt Stefan vor.
Ich gehe nicht darauf ein. »Warum tust du das?«, frage ich dann.
Stefan zuckt die Schultern. »Es ist leicht, und es macht Spaß. Niemand ist aufmerksam am Heiligen Abend, und überall liegen Geschenke herum, meist auch irgendwo Bargeld.« Er macht eine kurze Kopfbewegung nach hinten. »Du hast gesehen, wer diese Leute sind, die einen Weihnachtsmann bestellen und bereit sind, dafür zu bezahlen. Sie merken es nicht einmal, wenn am nächsten Morgen etwas fehlt.«
»Woher willst du das wissen?«, frage ich müde.
»Ich mache das schon ein paar Jahre. Es hat sich noch nie jemand bei der Weihnachtsmannvermittlung beschwert oder auch nur gemeldet«, antwortet er nüchtern. »Man darf es eben nicht übertreiben, nie das ganze Geld nehmen, wenn irgendwo ein Umschlag herumliegt.« Er neigt den Kopf. »Ich sehe nicht ein, warum ausgerechnet der Weihnachtsmann am Heiligen Abend leer ausgehen sollte.«
Ich weiß nicht, was ich denken soll. »Warum wolltest du mich dabeihaben?«, frage ich, geradeaus starrend.
»Ich weiß es auch nicht«, sagt Stefan ehrlich. »Ich glaube, ich dachte, dass es dir genauso geht wie mir, dass du den Abend so etwas netter verbringen könntest als allein zu Hause. Wahrscheinlich wollte ich dir auch ein Geschenk machen.«
Ich bin für einen Moment sprachlos.
»Du warst großartig darin, sie abzulenken«, sagt Stefan auf mein Schweigen hin. »Zwei Familien haben wir noch. Wir sollten zusammenarbeiten.«
»Ich fürchte, daraus wird nichts«, sage ich knapp. »Steig’ aus.«
»Was?«, fragt Stefan verdutzt zurück, ehe er wieder in seinen ruhigen Tonfall verfällt. »Was willst du machen? Du kannst nicht zur Polizei gehen. Dann bekommst du genauso viele Schwierigkeiten wie ich. Niemand wird dir glauben, dass du für einen Freund, den du kaum kennst, den Weihnachtsengel spielst und es nicht merkst, wenn er etwas mitgehen lässt.« Seine Stimme wird noch ruhiger. »Eigentlich bist du mir doch dankbar, dass ich dich mitgenommen habe. Wenn ich es vorhin nicht übertrieben hätte, hättest du nicht einmal etwas geahnt. Du hättest dich gefreut, dass wir so vielen Kindern eine Freude machen.«
Ich weiß, dass er recht hat, aber ich sehe weiter starr nach vorne. »Steig’ aus«, wiederhole ich.
Ich finde nicht, dass ich sehr entschlossen klinge, aber Stefan steigt tatsächlich mit langsamen Bewegungen aus. In dem Pullover, unter dem ordentlich der Hemdkragen hervorsieht, sieht er fast so aus, als würde er selbst irgendwo hier in einer Villa Weihnachten feiern, nur, dass es eine regnerische Nacht ist und sein Pullover ziemlich dünn. Ich beuge mich zur Tür der Beifahrerseite hinüber, ziehe sie mit einer schnellen Bewegung zu und drücke den Knopf der Verriegelung herunter, ehe ich das Fenster einen Spalt weit öffne. Stefan sieht immer noch ganz verwundert aus, als er die Finger auf die obere Kante der Scheibe legt. »Was willst du machen?«, fragt er.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich ehrlich. »Aber ich werde nicht zur Polizei gehen. Mein Weihnachtsgeschenk an dich.«
»Willst du mich wirklich hier stehen lassen?«, fragt Stefan ungläubig. »Ich habe nicht einmal Geld für den Bus.«
»Du kannst ja versuchen, an eine Tür zu klopfen«, antworte ich. »Lasst mich ein, ihr Kinder, ist so kalt der Winter …« Ich bin mir nicht ganz sicher, wie das Lied weitergeht, deshalb starte ich den Motor. Stefan kann seine Finger gerade noch aus dem Fensterspalt ziehen, als ich anfahre.
Ich kenne die kleine Kirche in Wandsbek vom Vorbeifahren, ein schlichter Backsteinbau aus den sechziger Jahren, zwischen den eintönigen Wohnblocks. Manchmal sieht man ein paar abgerissene Gestalten vor der Kirche herumlungern, ich weiß, dass sie eine Suppenküche oder einen Aufenthaltsraum für Obdachlose haben. Eigentlich habe ich die Kirche noch nie anders als still und leer gesehen, doch heute Abend ist Mitternachtsmesse. Ich höre die Orgelmusik bis auf die Straße hinaus, als ich langsam auf das Portal zugehe.
Der Jutesack liegt noch im Auto, aber er ist leer. Zum einen sind die eingepackten Geschenke verschwunden, denn ich bin der Weihnachtsengel und habe sie noch zu den braven Kindern gebracht, für die sie bestimmt waren, zu zwei jungen Familien in einer Neubausiedlung. Den Ring habe ich am S-Bahnhof Bahrenfeld in eine Fensternische gelegt, ein Geschenk für jemanden, den ich nicht kenne. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte, aber es fühlte sich nicht falsch an. Am Hauptbahnhof habe ich die Herrenuhr einem Obdachlosen gegeben, ganz eilig, im bunten Licht der kitschigen Weihnachtsbeleuchtung habe ich nicht einmal richtig sein Gesicht gesehen, auch das scheint mir auf seltsame Weise gerecht. Nun habe ich nur noch das Bargeld, ich habe es nicht gezählt, aber wenn man es glatt streicht und bündelt, sieht es eigentlich nicht mehr nach viel aus.
Die Kirchentüren sind weit offen, im hinteren Teil drängen sich die Stehenden. Der Geruch von feuchten Jacken und zu vielen Menschen schlägt mir entgegen. Ich bleibe zögernd stehen.
Auf der Stufe des Portals sitzt ein kleiner, grauhaariger Mann und raucht. Er hat keine Mühe, in mir den Weihnachtsengel zu sehen, auch wenn ich die Flügel und den Umhang im Auto gelassen habe.
»Das ist gleich vorbei, da drin«, sagt er und schenkt mir ein zahnloses Lächeln. »Bisschen spät gekommen, das Engelchen.«
»Viel zu tun«, antworte ich, erst überrascht, dann amüsiert. »Und dann ist mir auch noch mein Weihnachtsmann abhanden gekommen.«
»Nie ist Verlass auf die Kerle, was?«
Ich muss lachen und nicke, dann strecke ich ihm einfach das kleine Bündel Geldscheine entgegen. »Können Sie mir einen Gefallen tun und das nachher für die Kollekte geben?«
Er streckt die Hand nur halb aus und sieht mich dann an, halb ungläubig, halb misstrauisch. »Wirklich?«, fragt er zurück. »Und wenn ich’s behalten würde?«
Ich zucke die Schultern.
»Weihnachten ist ja auch die Zeit der Vergebung.«