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Kapitel 2

Dawn rieb sich die Hände und versuchte Leben in ihre tauben Finger zu bekommen. Himmel, es war wirklich kalt hier oben im Norden. Eisiger, als sie es sich hatte vorstellen können. Und die Kleidung sollte wirklich arktistauglich sein? Darüber konnte sie nur lachen. An diesem Morgen waren es minus zehn Grad und der Verkäufer in dem Geschäft, in dem sie sich ausgerüstet hatte, hatte ihr versichert, sie würde die Kälte erst ab minus dreißig Grad überhaupt spüren. Dem Kerl würde sie was erzählen, wenn sie wieder zu Hause war! Ihm würden die Ohren nur so klingeln. Zum Glück hatte sie in Tante Joans Wohnung einen dicken Schal und die dazu passende Mütze gefunden und sich kurzerhand entschlossen, sie sich auszuborgen. Wenigstens würden ihr dadurch die Ohren nicht abfrieren. Bei ihrer Nase war sie sich jedoch nicht so sicher.

Wie sollte sie nur die Wochen bis Weihnachten in diesem Kühlschrank von Nordpol überstehen, ohne den Kältetod zu sterben? Obwohl sie einmal gelesen hatte, das Erfrieren gar kein so schlimmer Tod war. Man wurde einfach müde, schlief ein und wachte nicht mehr auf. Wahrscheinlich dauerte es nicht einmal eine ganze Woche, bis sie sich eine Lungenentzündung geholt hatte. Vielleicht hätte sie vor ihrer Reise hierher ihr Testament aufsetzen sollen, obwohl sie sich dafür eigentlich zu jung fühlte. Allerdings hatte sie ganz eindeutig die Gefahren frostiger Temperaturen unterschätzt.

Überrascht blickte sie auf, als eine dampfende Tasse in ihrem Blickfeld erschien.

»Du siehst aus, als könntest du etwas Warmes vertragen.«

»Auf jeden Fall«, stimmte Dawn zu und nahm den Becher dankbar entgegen.

»Eine bessere heiße Schokolade als diese wirst du nirgendwo bekommen«, behauptete Hester Phelps und nippte an ihrer eigenen Tasse.

Hester hatte die Marktbude direkt neben der von Dawns Tante, wo sie Selbstgestricktes verkaufte. Mit dem einen oder anderen Schal und der dazu passenden Wollmütze hatte Dawn bereits geliebäugelt. Ihre Standnachbarin war eine rundliche Frau mit rötlichen Wangen und einem freundlichen Gesicht. Das Haar, das mit grauen Strähnen durchzogen war, trug sie zu einem langen Zopf zusammengefasst, der ihr über den Rücken fiel. Dawn schätzte sie auf um die sechzig, was nicht unbedingt etwas heißen musste, denn so präzise sie mit Zahlen umzugehen vermochte, so schlecht war sie darin, das Alter von anderen zu schätzen.

Von dem Moment an, als sie am Nordpol angekommen war – Himmel, sie konnte kaum glauben, dass sie diesen Ort tatsächlich bei dieser Bezeichnung nannte –, hatte Hester sie unter ihre Fittiche genommen.

»Joan meinte, ich soll ein wenig ein Auge auf dich haben, damit du dich hier leichter zurechtfindest«, hatte sie fröhlich verkündet und dabei freundlich gelächelt. Die ältere Frau schien insgesamt ein sonniges Gemüt zu besitzen.

»Wow, das ist tatsächlich der beste heiße Kakao, den ich je getrunken habe«, verkündete Dawn verblüfft, nachdem sie den ersten Schluck genommen hatte. »Was ist da drin, dass er so lecker schmeckt?«

»Das ist Eddas großes Geheimnis. Ich habe schon alles versucht, um es ihr zu entlocken, bedauerlicherweise bin ich bisher erfolglos geblieben.«

»Edda?«

»Sie ist die Konditorin hier«, erklärte Hester. »Ihre Glühweinpralinen sind zum Sterben gut. Die musst du unbedingt probieren. Am besten so bald wie möglich.«

Vielleicht würde sie das tatsächlich tun. Sie verbrachte die nächsten vier Wochen hier, da würde sich bestimmt eine Gelegenheit ergeben, sollte sie diese Überdosis Weihnachten überleben. Im Grunde genommen hatte Dawn nichts gegen all diesen Firlefanz und Glitzer, sie konnte nur nichts damit anfangen. Zahlen, mathematische Formeln und Statistiken waren ihre Welt. Logisch, nüchtern, klar, strukturiert. Nicht hier ein funkelndes Licht und dort ein dicker Porzellanweihnachtsmann. Wobei sie Weihnachtsgebäck dagegen eine Menge abgewinnen konnte. Das half ihr allerdings nicht darüber hinweg, dass zu dieser Zeit des Jahres die Menschen kollektiv von Sentimentalität übermannt wurden. Damit konnte sie einfach nichts anfangen, geschweige denn damit umgehen. Es war ja nicht so, als ob sie andere nicht mögen würde, sie verstand sie mit ihrer Emotionalität nur die meiste Zeit nicht. Gefühle folgten keinem vorgegebenen Muster, und das irritierte Dawn. Zur Weihnachtszeit war es besonders schlimm. Ein Grund mehr, sich von alldem möglichst fernzuhalten.

»Du solltest auf alle Fälle Eddas Julkuchen probieren. Und die Lussekatter. Ein Traum. Man merkt ihre skandinavischen Wurzeln in ihrem Adventsgebäck«, plauderte Hester. »Wenn du lieber etwas Würziges bevorzugst, musst du unbedingt Pepparkakor versuchen. Ich glaube, da sind Nelken, Ingwer und Zimt drin, aber auch dieses Rezept will Edda mir nicht verraten. Es ist wohl ein altes Familiengeheimnis.«

Dawn hörte nur mit halbem Ohr zu, während sie überlegte, wie sie vier Wochen am kältesten Arsch der Welt überstehen sollte. Zwei Tage lagen erst hinter ihr und die kamen ihr schon wie eine Ewigkeit vor.

»Ah, da sind die ersten Kunden«, verkündete Hester. »Wir sehen uns später.«

Mit einem Seufzen ging Dawn in der Bude in Position. Zum Glück hatte ihr Tante Joan eine Auflistung von allem per Mail geschickt, zusammen mit einer Beschreibung aller notwendigen Tätigkeiten, die sie zu erledigen hatte. Dawn liebte Listen. Man konnte sie abarbeiten und einen Haken hinter jeden Punkt setzen. Wie man am besten mit Kundschaft umging, stand jedoch nicht dabei. Verkäuferin des Monats würde sie ganz bestimmt nicht werden. Was ohnehin nicht Dawns angestrebtes Lebensziel war. Sobald sie nach Hause zurückkehrte, würde sie es als Lebenserfahrung verbuchen und dieses Abenteuer vergessen. Das war der Plan.

In Wirklichkeit würde sie vermutlich an jedem zukünftigen Weihnachten daran denken und sich peinlich berührt fühlen. Das war nun einmal der Fluch eines verdammt guten Gedächtnisses.

***

Glücklicherweise verging der Tag schneller, als Dawn erwartet hätte. Doch zu ihrem größten Erstaunen gefiel ihr die Arbeit ganz gut. Von der Kälte einmal abgesehen. Die Menschen, die das Weihnachtsdorf besuchten, waren nett und in fröhlicher Stimmung. Selbst die Weihnachtsmusik, die im Hintergrund zu hören war, störte sie nicht weiter. Wüsste sie es nicht besser, hätte sie glauben können, es würde tatsächlich so etwas wie Weihnachtsmagie an diesem Ort ihren Zauber wirken. Aber Magie gab es nicht. Allenfalls in irgendwelchen Geschichten. Sie hatte sich wohl von der allgemeinen Stimmung mitreißen lassen.

Trotzdem war Dawn froh, als sie den Stand endlich schließen und ins Apartment ihrer Tante zurückkehren konnte. Ihre Finger und Zehen waren Eiszapfen und sie sehnte sich nach einem heißen Bad, um sich aufzuwärmen. Deshalb führte sie der direkte Weg ins Badezimmer, nachdem sie sich der dicken Winterkleidung entledigt hatte. Erst ein duftendes Schaumbad, dann einen schönen Pfefferminztee und ein extra schweres Sudoku, während sie sich eine Pizza im Ofen aufbuk. Das klang nach einem wirklich guten Plan.

Während das Badewasser einlief, bereitete sie alles für später vor. Sie legte den Sudokublock bereit und richtete einen Bleistift akkurat parallel dazu aus, den sie noch einmal zurechtrückte, bevor sie ins Bad ging.

Als sich Dawn ein paar Minuten später ins heiße Wasser gleiten ließ, seufzte sie wohlig. Ja, das würde eindeutig helfen, die Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben. Der Lavendelgeruch des Schaumbades machte sie leicht schläfrig und sie schloss die Augen. Nach dem Tag am Stand war die Entspannung eine einzige Wohltat. Für den nächsten Tag nahm sie sich vor, sich wärmere Kleidung anzuziehen. Auf alle Fälle ein zweites Paar Socken. Obwohl gegen ein drittes Paar ebenfalls nichts sprach. Solange sie hier oben im Norden verweilte, würde sie einen enormen Bedarf an Kleidungsstücken haben und eine Unmenge an heißem Tee benötigen, damit sie nicht zu einer Eisskulptur erstarrte. Oder besser noch leckere Schokolade von dieser Edda, die sie noch nicht kennengelernt hatte, was sie jedoch bald nachzuholen gedachte. Vorzugsweise bewaffnet mit einer großen Thermoskanne.

Die Wärme des Bades machte Dawn müde. Und so beschloss sie, direkt ins Bett zu gehen. Eingekuschelt in warme Decken und den Kopf auf ein weiches Kissen gebettet, wurde ihr klar, dass es hier gar nicht so schlecht war. Sie würde das Ganze als Abenteuer betrachten, wenn auch als ein ziemlich kaltes. Mit diesen Gedanken im Kopf schlief sie ein und träumte von einem Bad in heißer Schokolade mit vielen Marshmallows.

Schlittenfahrt mit Santa Claus

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