Читать книгу Autumn - Kaitlin Spencer - Страница 7

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Kapitel 3

Leavia wusste nicht, wie lange sie in der Kemenate am Webstuhl saß und an ihrem Schal für den Ball arbeitete. Die verzweigten Äste und die Blätter des Lebensbaumes zu weben, war eine Herausforderung, die Zeit benötigte. Da diese Arbeit ihre gesamte Konzentration beanspruchte, hatten ihre Gedanken wenig Gelegenheit, auf Wanderschaft zu gehen.

Sie rieb sich den schmerzenden Nacken und warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne war bereits untergegangen und die Nacht hatte sich auf Herbst gesenkt.

Langsam stand sie auf und streckte sich. Die Zeit auf der Bank des Webstuhls hatte ihren Rücken steif werden lassen. Ein wenig Bewegung würde ihr guttun.

Sie beschloss einen Umweg durch die Gärten zu nehmen, um zu ihrem Schlafgemach zu gelangen. Angst vor der Dunkelheit hatte sie nicht. Sie wusste, dass ihr nichts geschehen konnte, denn sobald sie das Gebäude verließ, würde jeder ihrer Schritte von Wachen beobachtet werden, die sich verborgen hielten. Meist so gut, dass Leavia nicht in der Lage war, sie zu entdecken. Zudem war das Schloss von einer Mauer umgeben, die als unüberwindbar galt. Zum Glück kannte sie eine kleine Tür in der Schlossmauer, die von Gestrüpp verdeckt wurde, um das sich niemand kümmerte, sodass sie ungesehen nach draußen gelangte, wenn ihr danach war. Als Kind war sie durch Zufall darauf gestoßen und weise genug gewesen, ihre Entdeckung für sich zu behalten. Erst viel später hatte sie erfahren, dass das Schloss von Geheimgängen durchzogen war, von denen einer unterirdisch bis vor die Mauern führte.

Das Gebäudeareal selbst lag auf einem Hügel, und von den Wachtürmen aus überblickte man das Land in alle Himmelsrichtungen. Niemand konnte sich unentdeckt nähern, es sein denn, dichte Nebelschwaden zogen vom Fluss herauf, der unten im Tal vorbeifloss. Der Nebel war manchmal so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Im Laufe der Jahre war es Leavia gelungen, die Zeiten der Wachwechsel zu lernen und sich in den entsprechenden Momenten davonzuschleichen, ohne gesehen zu werden.

Sorgfältig löschte sie die Laternen, warf einen Blick in den Kamin, wo das Feuer zur Glut heruntergebrannt war, und verließ das Zimmer. Sie stieg rasch die Treppen hinunter, die durch Fackeln in schmiedeeisernen Halterungen erhellt wurden.

Die Nachtluft war kühl und roch noch immer nach dem Regen, der den ganzen Tag gefallen war. Tief atmete sie ein und machte sich auf den Weg. Immer wieder stieg sie über kleine Pfützen, die sich an manchen Stellen gesammelt hatten, und gelangte kurz darauf zum Eingang des Schlossgartens. Der Kies knirschte leise unter ihren Schuhsohlen. Die Wege wurden sanft vom Mondlicht beschienen, denn die Wolken hatten sich verzogen.

Hin und wieder machte sie einen nächtlichen Spaziergang, wenn sie nicht schlafen konnte, sodass sie jeden Stein kannte und nicht in der Dunkelheit zu stolpern drohte. Sie wusste nicht genau, wie spät es im Augenblick war. Doch anhand des Standes von Mond und Sternen schätzte sie, dass es etwa eineinhalb Stunden vor Mitternacht sein musste.

Eigentlich war es längst an der Zeit, sich zu Bett zu begeben. Dies veranlasste sie dazu, ihren Rundgang durch den Schlossgarten zu verkürzen und einen direkteren Weg zum Südflügel zu nehmen, in dem sich ihre Räume befanden.

Als sie das Gebäude betrat, die Halle durchquerte und die Steintreppe hinaufeilte, blieb sie plötzlich auf dem oberen Absatz stehen und lauschte. Da war ein Flüstern, das aus allen Richtungen zu kommen schien. Die Worte konnte sie nicht verstehen, denn sie waren zu undeutlich. Sie spürte einen Lufthauch im Nacken, und die feinen Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

»Ist da jemand?«, fragte sie und sah sich ängstlich um, doch da war niemand.

Noch einmal schwoll das Wispern an, bevor es schlagartig verstummte und alles still war.

Leavia versuchte ihre vor Aufregung beschleunigte Atmung und den rasenden Herzschlag zu beruhigen.

Etwas war geschehen, aber sie konnte sich nicht erklären, was es war. Ihre Großmutter hatte ihr einst von verlorenen Seelen erzählt, die von auserwählten Menschen des Nachts wahrgenommen würden. Und manchmal könne man den Tod selbst hören. Wie ein Flüstern im Wind. Konnte das sein?

Rasch versuchte sie ihr Unbehagen abzuschütteln. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war fort. Sie huschte die restlichen Stufen hinauf in das obere Stockwerk und den Korridor entlang.

Plötzlich trat eine Person aus dem Schatten einer Nische, und Leavia schrie erschrocken auf, während ihr das Herz bis zum Halse schlug.

»Kerem«, stieß sie hervor. »Was tut Ihr hier?«

Er trat noch weiter aus dem Dunkeln, bis sein Gesicht vom Licht einer Fackel erhellt wurde.

»Ihr seid noch spät unterwegs«, stellte er fest. »Dieses Mal bitte ich Euch um Verzeihung. Ich wollte Euch nicht erschrecken, Prinzessin.«

»Warum seid Ihr hier?«, fragte sie erneut.

»Ich war bei einer Besprechung mit Legat Horan. Wir haben nach einer Strategie gegen Minister Verslun gesucht, der uns die Verhandlungen mit Eurem Vater durch seine Arroganz unnötig schwer macht.«

»Ihr kommt also aus einem der entfernten Reiche jenseits der Jahreszeiten?«

»Noch mehr Fragen?«

»Ihr habt recht. Es ist spät, und ich werde mich nun zu Bett begeben, wenn Ihr erlaubt«, erwiderte sie und wollte an ihm vorbeigehen, doch Kerem hielt sie am Arm fest.

Überrascht sah sie ihn an.

»Ich bin nicht gut für Euch, Leavia Autumn«, sagte er, als müsse er sie warnen. »Ich wünschte, es wäre anders, denn irgendetwas zieht mich ständig zu Euch, so wie es Euch offensichtlich zu mir zieht. Fragt nicht nach der Bedeutung meiner Worte, denn es bleibt mir versagt, Euch darauf zu antworten. Es gibt zu viele Geheimnisse in meinem Leben, die mich zu einer Gefahr für andere machen.«

Dann ließ er sie los und ging davon.

Verwirrt blickte sie ihm nach, während sie sich gedankenversunken über die Stelle an ihrem Arm rieb, an der er sie festgehalten hatte.

***

In dieser Nacht schlief Leavia kaum, und wenn sie doch in einen Schlummer fiel, wurde sie von seltsamen Träumen heimgesucht, an die sie sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern konnte. Allerdings hinterließen sie einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

Sie fühlte sich wie gerädert, als sie die Decke zur Seite schlug und aufstand. Es war ein kühler Morgen, sodass es Leavia fröstelte. Rasch griff sie nach einem Schal, der am Bettende lag, und legte ihn sich um die Schultern.

Nach kurzem Überlegen entschied sie sich zu einem Besuch im Schlossarchiv. Bei Scriptor Andor übte sie sich in Kalligrafie und der Kunst der Buchmalerei, wovon ihr Vater allerdings nichts wissen durfte. Er würde es ihr verbieten und ihr somit etwas wegnehmen, das sie von Herzen liebte. Der Scriptor, ein alter Mönch der Priesterschaft von Herbst, hütete ihrer beider Geheimnis schon, seit die Prinzessin als kleines Mädchen zu ihm gekommen war und ihn bei der Restaurierung eines alten Folianten beobachtet hatte. Sie war auf einen Stuhl geklettert, da sie ansonsten nicht auf sein Stehpult hätte schauen können, und hatte ihm fasziniert stundenlang zugesehen. So lange, bis ihr hysterisches Kindermädchen, das bereits verzweifelt den halben Tag nach ihr suchte, sie bei Andor fand. Keiner von beiden erwähnte das Verschwinden der Prinzessin jemals dem König gegenüber. Das Kindermädchen wollte seine Anstellung behalten und Leavia schwieg, weil sie lernen wollte, wie man Bücher bemalte. So wurde es ein Geheimnis zwischen ihnen, das bis zum heutigen Tag bestand, obwohl das Kindermädchen bereits vor Jahren das Schloss verlassen hatte, um zu heiraten.

Rasch wusch sich Leavia, kleidete sich an und machte sich auf den Weg zum Archiv, das in einem kleinen Seitengebäude hinter dem Nordflügel untergebracht war. Dicht an die Schutzmauer gedrängt, die das riesige Schlossgelände umgab, und vollgestopft mit Büchern und Schriften sowie den Chroniken des Königreiches, die weit in die Zeit zurückreichten.

Als sie auf ihrem Weg am Gewölbe von Marnas Dòrchas vorbeiging, überkam sie dasselbe merkwürdige Gefühl wie am Abend zuvor. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Irgendetwas stimmte nicht. Sie änderte die Richtung und eilte dorthin, wo der Lebensbaum aufbewahrt wurde. Je näher sie kam, desto stärker wurde die warnende Empfindung.

Sie lief die Stufen zum Gewölbe hinunter und stieß die schwere Tür mit aller Kraft auf. Atemlos blieb sie stehen und starrte die Säule in der Mitte der unterirdischen Kuppel an. Sie schlug entsetzt eine Hand vor den Mund. Der goldene Ahorn war – verschwunden. Die Stelle, an der er über all die Zeit gestanden hatte, war leer. Nur die Glaskuppel, die ihn stets vor allen Einflüssen geschützt hatte, war zurückgeblieben und lag auf dem Boden neben der Säule.

Das durfte nicht sein! Verzweifelt durchsuchte sie die Krypta, schaute in jede Nische und jeden Winkel, doch der Baum war nirgendwo.

Rasch eilte sie hinaus in den Korridor.

»Wachen«, rief sie, denn sie wusste, dass sich immer welche in der Nähe des heiligen Artefakts von Herbst befanden. Und sie täuschte sich nicht, denn aus den Schatten traten zwei Soldaten, die sich zuvor verborgen gehalten hatten.

»Hoheit«, sagte der eine von ihnen und verbeugte sich mit einer Hand auf dem Schwertknauf vor ihr. Bereit, die Prinzessin zu verteidigen. »Was können wir für Euch tun?«

»Jemand hat den Lebensbaum gestohlen!«, stieß sie hervor.

Die Wächter sahen sich überrascht an. »Ihr meint, Marnas Dòrchas ist nicht an seinem Platz? Das ist unmöglich!«

»Ich täusche mich nicht. Geh und sieh selbst, Leutnant«, forderte sie ihn auf.

Der Mann eilte in die Krypta, während der andere Soldat bei ihr blieb und alles wachsam im Auge behielt.

»Warum haben die Wachen, die zuvor Dienst getan haben, nicht bemerkt, dass Marnas Dòrchas fortgebracht wurde?« Steckten sie etwa mit dem Dieb unter einer Decke? Leavia mochte nicht daran glauben, doch von der Hand weisen konnte sie den Verdacht dennoch nicht.

»Das kann ich nicht sagen, Hoheit«, erwiderte der Soldat, der immer noch neben ihr stand.

Das Verschwinden des goldenen Ahorns war eine Katastrophe. Was hatte das zu bedeuten? Wer tat so etwas?

Kerem. Der Name schoss ihr in den Kopf. Er hatte sich merkwürdig verhalten, nachdem sie vom Hoffnungsbaum gesprochen hatte. Konnte es sein, dass er …? Ihr Herz mochte es nicht glauben, nachdem sie ihm in die Augen geblickt hatte, aber ihr Verstand sagte etwas anderes; er spielte tatsächlich mit der Möglichkeit, dass er der Dieb sein könnte.

»Ich muss gehen«, sagte sie unvermittelt. »Mein Vater muss erfahren, was geschehen ist.«

Ohne weiter darüber nachzudenken, lief sie den langen Korridor entlang. Die überraschten Blicke des Wachpostens konnte sie förmlich in ihrem Rücken spüren.

Sie musste Kerem finden und ihn zur Rede stellen. Musste erfahren, ob er etwas damit zu tun hatte. Sie wünschte sich so sehr, dass ihr Herz recht hatte. Da war etwas in seinen Augen. Ein Bedauern. Schmerz. Genau konnte sie es nicht bestimmen.

Sie rannte förmlich zum Gästetrakt des Schlosses, immer darauf bedacht, sich nicht im Rock ihres Kleides zu verfangen und zu stolpern. Es war nur eine vage Vermutung, die sie dorthin trieb. Und sie hoffte, dass sie ihn dort finden würde.

Als sie das Gebäude mit den Gästegemächern betrat, blieb sie kurz stehen, um sich zu orientieren. Doch sie musste nicht an jede Tür klopfen auf der Suche nach ihm, denn Kerem kam gerade die breite Steintreppe herunter. Leavia stürzte auf ihn zu und stellte sich ihm in den Weg.

»Wart Ihr es?«, forderte sie zu wissen.

Überrascht blickte er sie an. »Wovon sprecht Ihr?«

»Von Marnas Dòrchas, dem Lebensbaum. Der Quelle der Hoffnung im Königreich Herbst. Er ist verschwunden!«

»Was meint Ihr damit: Er ist verschwunden?«, fragte er sichtlich irritiert.

»Er wurde gestohlen.«

»Und Ihr denkt, dass ich es gewesen bin, Eurer Reaktion nach zu urteilen«, vermutete er.

»Wart Ihr es?«

»Was denkt Ihr von mir? Natürlich nicht! Wie kommt Ihr nur auf eine solche Idee?«

»Ihr habt mich danach ausgefragt und dann seid Ihr einfach gegangen. Euer Verhalten war so merkwürdig. Und gewissermaßen verdächtig.«

»Deshalb muss ich es gewesen sein, der Eure wichtigste Reliquie gestohlen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich verärgert oder enttäuscht sein soll. Schmeicheln tut es mir ganz bestimmt nicht.«

»Ihr könnt das nicht verstehen. Dieser goldene Ahorn ist praktisch das Herz, das dieses Königreich am Leben erhält!«

»Das verstehe ich durchaus. Dennoch habe ich ihn nicht entwendet.«

»Wie kann ich Euch nur glauben?«, fragte sie.

»Das müsst Ihr mit Euch selbst ausmachen«, erwiderte er distanziert. »Und jetzt entschuldigt mich. Ich muss zu Legat Horan, der mich erwartet.«

Ohne Gruß drängte er sich an ihr vorbei.

»Kerem.«

Er blieb stehen, wandte sich zu ihr um und sah sie an.

»Wenn Ihr es nicht wart, wer war es dann?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete er, und ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass es nur die halbe Wahrheit war.

Dann ließ sie ihn gehen.

Autumn

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