Читать книгу Der Altersfaktor beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb - Kamil Dlugosz - Страница 13
2.3 Einflussfaktoren auf den kindlichen Zweitspracherwerb
ОглавлениеAußer dem Alter zu Erwerbsbeginn, das als Schlüsselvariable bei der Unterscheidung zwischen den einzelnen Spracherwerbstypen gilt, gibt es eine Reihe von Faktoren, die den Anfangszustand und Verlauf des Zweitspracherwerbs unterschiedlich stark determinieren. Da die Verhältnisse, in denen eine Zweitsprache erworben wird, normalerweise viel komplexer sind als beim Erstspracherwerb, ist es nie ein einzelner Faktor allein, sondern immer ein Zusammenspiel verschiedener Variablen, die sich auf die Entwicklung der Zweitsprache auswirken. Im Folgenden werden nur diejenigen Einflussfaktoren thematisiert, die im Kontext des kindlichen Zweitspracherwerbs relevant erscheinen.1
In der Fachliteratur hat sich mittlerweile die Differenzierung zwischen internen und externen Faktoren etabliert. Erstere beziehen sich auf die Eigenschaften des Lerners selbst, wohingegen Letztere von der Umgebung bestimmt und vom Lerner unabhängig sind (vgl. z. B. Ellis, 1985: 276; J. Paradis, 2011: 213). Sie umfassen folgende Faktoren:2
„Internal factors include age of onset, knowledge of another language, cognitive maturity and language learning aptitude. External factors include socio-economic status (SES), maternal education and L2 proficiency, number of siblings, length of exposure, input quantity and quality as well as language use or output.“ (Unsworth et al., 2011: 207)
Rothweiler und Ruberg (2011: 11) stellen fest, dass beim sukzessiven bilingualen Erwerb die kognitive, physiologische und anatomische Entwicklung nicht an erster Stelle stehen. Den Autoren zufolge ist – außer dem Erwerbsalter – die Dauer des Kontakts mit der Zweitsprache (length of exposure – LoE, length of residence – LoR), also der Erwerbszeitraum, eine wesentliche Einflussvariable für den erreichten Sprachentwicklungszustand. Insbesondere in Hinblick auf den Erwerb der Satzstruktur im Deutschen verweisen Rothweiler und Ruberg (2011: 11) auf aktuelle Befunde, die zeigen, dass Kinder, die im Alter von bis zu vier Jahren in Kontakt mit der deutschen Sprache treten, die Satzstrukturen einschließlich Frage- und Nebensätzen innerhalb von acht bis 18 Monaten erwerben (vgl. Rothweiler, 2006; Thoma & Tracy, 2006). Die Rolle der Kontaktdauer mit der Zweitsprache wird u. a. von Hopp (2011) hervorgehoben. Er untersucht die Entwicklung der Determinansphrase beim frühen Zweitspracherwerb des Deutschen bei Kindern mit verschiedenen Erstsprachen im Alter zwischen 3;5 und 7;0 Jahren. Ihr Kontakt mit der Zweitsprache setzte im Alter zwischen 1;2 und 5;0 ein und dauerte zwischen 0;5 und 5;4 Jahren. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass nicht das Erwerbsalter, sondern vielmehr die Kontaktdauer einen signifikanten Einfluss auf den untersuchten Bereich hat.
Eine weitere Bestätigung für Auswirkungen der Kontaktdauer auf den kindlichen Zweitspracherwerb liefert eine Studie von Armon-Lotem et al. (2011). Anhand von Satzwiederholungs- und Satzergänzungsaufgaben untersuchen sie die Entwicklung der komplexen Syntax und Morphologie bei 65 russisch-deutsch bilingualen Kindern im Alter zwischen 3;11 und 7;2 Jahren. Das Alter der Kinder bei Erwerbsbeginn betrug zwischen 1;0 und 3;10, die Kontaktdauer zwischen 1;1 und 5;5 Jahren. Die Kontaktdauer mit dem Deutschen erweist sich, im Gegensatz zum Erwerbsalter, als signifikanter Faktor sowohl beim Erwerb der Syntax (p < 0,05) als auch der Morphologie (p < 0,01). Die fehlenden Alterseffekte sind jedoch angesichts des Erwerbsalters der Kinder nicht verwunderlich. Die meisten von ihnen sind weniger als 30 Monate alt und befinden sich daher noch innerhalb der kritischen Phase (vgl. Meisel, 2007a).
In diesem Zusammenhang ist auch auf die Studie von Unsworth (2016) zu verweisen, welche die Auswirkungen der Kontaktdauer und des Erwerbsalters auf die Entwicklung des V2-Phänomens bei englisch-niederländischen Kindern ins Visier nimmt. Das Erwerbsalter der Kinder lag entweder vor (M = 2;4) oder nach dem vierten Lebensjahr (M = 5;5). Die Gruppe mit niedrigerem Alter bei Erwerbsbeginn war im Durchschnitt 7;3 Jahre alt und hatte 5;0 Jahre Kontakt mit der Zweitsprache hinter sich. Das durchschnittliche Alter bei Erwerbsbeginn in der zweiten Gruppe lag bei 9;1 Jahren, und die durchschnittliche Kontaktdauer bei 3;7 Jahren. Unsworth (2016) kalkuliert zusätzlich den kumulativen Input in Jahren und den aktuellen Input in Prozent. Aufgrund zweier Aufgaben zur Sprachproduktion versucht die Autorin, die V2/V3-Stellung zu elizitieren. Es stellt sich heraus, dass beide Gruppen unabhängig vom Erwerbsalter die gleichen falschen V3-Strukturen sowohl mit finiten als auch mit infiniten Verben produzieren. Demgegenüber zeigen die Ergebnisse, dass der Input in der Zweitsprache der einzige Faktor ist, der die Fehler der Kinder erklären kann. Dabei handelt es sich jedoch nicht um die einfache Erwerbsdauer in Jahren, sondern um die aktuelle Inputsituation der Kinder: Je mehr Input in der Zweitsprache sie aktuell erhalten, desto weniger Fehler machen sie.3
Zum Faktor Kontaktdauer ist anzumerken, dass nach fünf bis zehn Jahren Kontakt mit der Zweitsprache die Kompetenz als stabilisiert gelten kann und nach Ablauf dieser Periode der Erwerbszeitraum nicht mehr mit dem erreichten Endzustand korreliert (vgl. z. B. Granena, 2016: 17). Nach Wode (1993: 327) ist die Stabilisierungsphase bei erwachsenen L2-Lernern sogar noch früher abgeschlossen, und zwar schon nach Ablauf von zwei bis zweieinhalb Jahren. Längerfristig sind dem Autor zufolge ein frühes Kontaktalter sowie Art und Umfang des Kontakts für den Lernerfolg entscheidend.4 Wenn man zusätzlich bedenkt, dass simultan bilinguale Kinder prinzipiell weniger Sprachangebot im Vergleich zu monolingualen Kindern erhalten, aber dennoch an das muttersprachliche Niveau heranreichen, scheint die Kontaktdauer nicht der entscheidende Einflussfaktor auf den Zweitspracherwerb im syntaktischen Bereich zu sein.5
Da aber einzelne Lerner trotz der gleichen Kontaktdauer die Zweitsprache unter verschiedenen Bedingungen erwerben können, ist notwendigerweise mit Variationen in verschiedenen Parametern des sprachlichen Inputs zu rechnen:
„Children exposed to the L2 in a setting outside the home receive less input than L1 children exposed to a single language in both the home and social settings. This difference is both quantitative and qualitative in terms of the contexts that each language may be used in and is influenced by factors, such as the educational system, the status and the power relations between the two languages, and the institutional support that the minority language receives.“ (Chondrogianni & Marinis, 2011: 320)
Daher wird in der Zweitspracherwerbsforschung auch der sprachliche Input, dem ein Kind innerhalb des Erwerbsraums ausgesetzt ist, als ein sehr wichtiger Faktor analysiert. Dabei scheinen sowohl seine Quantität als auch Qualität eine bedeutsame Rolle zu spielen.6 Veränderungen in der Inputsituation sind insbesondere in Migrantenfamilien zu beobachten, in denen beide Elternteile die gleiche Sprache verwenden.7 Das Kind ist dann in seinen ersten Lebensjahren fast ausschließlich dieser Sprache ausgesetzt. Ein Kontakt mit der Zweitsprache fällt normalerweise erst mit Eintritt in den Kindergarten oder in die Grundschule zusammen. Folglich ändert sich die Inputsituation des Kindes drastisch, weil die Erstsprache in den Hintergrund rückt und die Zweitsprache stark hervortritt (vgl. Rothman, 2009). Unterschiedlich können auch Inputquellen sein, denen bilinguale Kinder ausgesetzt sind. Manchmal passiert es, dass nur ein Elternteil die Minoritätssprache zu Hause spricht, wodurch die Inputmenge deutlich reduziert wird. Auch Geschwister haben einen großen Einfluss darauf, wie viel Sprachangebot in beiden Sprachen bilingualen Kindern zuteilwird. Anzumerken ist dabei, dass sich die Berechnungen der Inputmenge in den meisten Studien lediglich auf eine retrospektive Einschätzung der Inputsituation stützen, d. h. die Eltern werden gebeten, einzuschätzen, wie viel Zeit das Kind mit seiner Familie verbringt oder wie viele Stunden Kontakt mit den Medien in beiden Sprachen das Kind hat. Die zweifelhafte Validität der Elternfragebögen wird von Carroll (2017) wie folgt auf den Punkt gebracht:
„(…) it may seem like a perfectly reasonable methodological decision to rely on questionnaires in which parents are asked to estimate how much time they spend with their children and what languages they are using when they do so. However, temporal units are crude measures of exposure and they tell us nothing about input [KD].“ (Carroll, 2017: 6)
Wenn auch diese Ansicht legitim zu sein scheint, darf nicht vergessen werden, dass die retrospektiven Selbstangaben der Eltern normalerweise die einzige Möglichkeit sind, Informationen über den Input zu gewinnen. Zudem argumentieren einige Forscher, dass die von den Eltern angegebene Einschätzung der Inputmenge den Verlauf der bilingualen Entwicklung in vielen Bereichen tatsächlich voraussehen kann (vgl. J. Paradis, 2017).
Auch die Qualität des sprachlichen Angebots kann sich auf den kindlichen Zweitspracherwerb auswirken. Nach Rothweiler (2007: 123) ist ein konstanter und eindeutiger Input relevant, in dem die verschiedenen Sprachen durch eine Zuordnung zu bestimmten Personen und Situationen getrennt werden. Ebenso förderlich ist es, wenn der Input in beiden Sprachen umfangreich ist und in erster Linie von Muttersprachlern kommt. Genauere Untersuchungen, die der genauen Struktur des Inputs und ihrem Einfluss auf den kindlichen Zweitspracherwerb der deutschen Wortstellung gewidmet wären, sind meines Wissens noch zu erwarten.
In Studien zum kindlichen Zweitspracherwerb der grundlegenden Wortstellungsmuster im Deutschen wird der Input zwar als wichtiger Faktor analysiert, er wird jedoch ausschließlich in Monaten ab dem Eintritt des Kindes in eine deutschsprachige Kinderbetreuungseinrichtung gemessen (vgl. Czinglar et al., 2017: 16). Der Erwerb der deutschen Wortstellung scheint weniger von verschiedenen Eigenschaften des Inputs abzuhängen, weil er in einer geordneten Entwicklungssequenz verläuft, die sich durch den Input kaum modulieren lässt. Da diese Entwicklungssequenz beim Zweitspracherwerb anders verläuft als beim Erstspracherwerb (vgl. z. B. Diehl et al., 2000: 63f.), ist davon auszugehen, dass nicht der Input, sondern vielmehr das Alter bei Erwerbsbeginn für den Wortstellungserwerb konstitutiv ist. Eine weitere Bestätigung dafür bietet der Erwerb des Deutschen als Herkunftssprache. In einer Studie zur Verb- und Negationsstellung zeigt Długosz (2019), dass der Erwerb dieser zwei Phänomene sogar in einer sehr ungünstigen Inputsituation problemlos verläuft. Obwohl die allgemeine Kompetenz der untersuchten Kinder in der Herkunftssprache von einer Attrition betroffen zu sein scheint, erweisen sich die grundlegenden Wortstellungsmuster weitestgehend als robust und veränderungsresistent. In diesem Zusammenhang ist erneut auf den generativen Ansatz innerhalb der Zweitspracherwerbsforschung hinzuweisen, in dessen Rahmen postuliert wird, dass die L2-Grammatiken Eigenschaften aufweisen, die nicht dem Input entstammen können, sondern nur innerhalb der Universalgrammatik erklärbar sind (vgl. Sopata, 2009: 89). Von diesem Standpunkt aus gesehen darf dem Input keine alleinige oder entscheidende Erklärungskraft zugesprochen werden, zumindest nicht beim frühen Zweitspracherwerb.8
Die weiteren, eingangs erwähnten, externen Faktoren, wurden im Kontext des Erwerbs der deutschen Wortstellung kaum untersucht. Erste Versuche, den Einfluss des sozioökonomischen Status auf den Zweitspracherwerb des Deutschen zu ermitteln, wurden zwar bereits unternommen, jedoch nicht in Bezug auf die Syntax (vgl. z. B. Czinglar et al., 2015). Einen durchaus wichtigen Faktor, der entweder als intern zu klassifizieren oder als unabhängig von der Intern/Extern-Unterscheidung zu betrachten ist, stellt das bereits vorhandene L1-Wissen dar, das sowohl den Erwerb als auch die Verarbeitung der Zweitsprache bei Kindern beeinflussen kann. Auf die Frage des Einflusses der Erstsprache und seiner möglichen Manifestationen wird im darauffolgenden Subkapitel eingegangen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass neben dem Alter bei Erwerbsbeginn auch die Dauer, Menge und Quantität des sprachlichen Inputs beim frühen Zweitspracherwerb eine bedeutsame Rolle spielen. Nichtsdestotrotz scheint der Erwerb der grundlegenden Wortstellungsmuster in der Zweitsprache Deutsch in erster Linie vom Alter bei Erwerbsbeginn abhängig zu sein. Die Möglichkeit des positiven Einflusses der Inputmenge und der Kontaktdauer mit der Zweitsprache, der in einigen Studien zum Erwerb des syntaktischen Wissens in anderen Sprachen bestätigt wurde, muss im Kontext des Deutschen als früher Zweitsprache erst untersucht werden.