Читать книгу Evelyn zwischen 55 und 60 - Karin E. Bell - Страница 3

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Zur Silvesterfeier an diesem klirrend kalten Abend sind mein Mann Hannes und ich bei unseren Freunden Anita und Ralf eingeladen. Ralfs Vater Paul wird auch dabei sein. Auf ihn freue ich mich ganz besonders, denn der 80-Jährige überrascht immer wieder mit spontanen und lustigen Ideen. Mal gespannt, was ihm heute einfallen wird. Hannes und Ralf waren gestern einkaufen und wollen im Laufe des Abends ein Menü zubereiten. Doch schon nach der Vorspeise, einem bunten Salat mit viel Brot und herrlich duftender Kräuterbutter, sind wir alle ziemlich satt. Das erweist sich letztlich aber auch als gut, denn das Hauptgericht, ein Hummer, der von unseren Köchen nun eben erst nach Mitternacht serviert werden soll, erreicht unsere Teller gar nicht. Während wir nämlich draußen das neue Jahr begrüßen, buntes Feuerwerk in den Himmel schicken und Böller auf die Straße werfen, und uns nicht nur aufs neue Jahr, sondern auch auf den nächsten Gang des Menüs freuen, macht sich Paul, dem es draußen zu ungemütlich ist, in der Küche über den Hummer her. Eigentlich hatte er, wie er anschließend zerknirscht erklärt, nur vorgehabt, uns nach unserer Neujahrsknallerei zu zeigen, wie man so ein Schalentier zerteilt. Als ehemaliger Oberkellner kennt er sich da aus.

„Ich wollte nur schon mal anfangen. Aber dann sah der Hummer so lecker aus und duftete dermaßen gut, dass ich nicht widerstehen konnte und ihn nach und nach aufgegessen hab.“

Diese Überraschung ist ihm wirklich gelungen. Wir sind baff und machen gleich in der ersten halben Stunde des neuen Jahres ein dummes Gesicht. Ralf und Hannes sind leicht ungehalten, aber Anita und ich ärgern uns nicht lange über die entgangene Kost. Schließlich waren wir uns noch vor wenigen Minuten draußen vor der Tür beim Anblick des funkelnden Geglitzers am Himmel einig, dass wir uns im kommenden Jahr nicht mehr über jeden Mist aufregen wollten. Immerhin werden wir bald 55. In dem Alter zeigt man doch, wenn man anderen „Älteren“ glauben darf, immer größere Gelassenheit gegenüber den Unbilden des Lebens. Und sonst? Was bringt die Zukunft? Das weiß natürlich keiner. Ich jedenfalls möchte einfach nur abwarten, wie es weitergeht. Mit der Familie, mit dem Job, mit dem Leben.

Am Mittag des 1. Januar sind wir zum Neujahrsessen bei Janni, meiner Schwiegermutter; das ist seit Jahrzehnten Tradition in der Familie. Pünktlich um 13.00 Uhr sind Hannes und ich mit Britta, 23, und Marvin, 18, sowie Hannes‘ Bruder Bert samt Freundin Doro zur Stelle. Janni, der es mit ihren 77 Jahren nicht zu viel war, sich für uns richtig schick zu machen mit weißer Bluse, schwarzer Hose und Lackschuhen, Halskette, Ohrclips und sogar einem kleinen Augen-Make-up bittet uns, kaum dass wir uns auf die Sessel verteilt haben, noch einmal aufzustehen.

„Ich möchte Euch nämlich was Wichtiges sagen, und zwar meine Wünsche für das neue Jahr. Also: Macht auch in diesem Jahr das Beste aus Eurem Leben. Haltet zusammen. Seid guter Dinge, auch wenn die Dinge um Euch rum nicht immer gut sind. Und verliert nicht Euren Humor, auch wenn im Leben nicht immer alles zum Lachen ist. Und achtet auf Eure Gesundheit. Das ist das Allerwichtigste.“

Und dann steht sie da, guckt mit ihren blauen Augen, die von allerhand Lachfältchen umgeben sind, fröhlich in die Runde, wir heben die Sektgläser, stoßen an und trinken auf unser aller Wohl. Anschließend sitzen wir in trauter Runde am gemütlichen runden Esstisch, den Janni wieder mit allerhand Leckereien bestückt hat. Sie muss den ganzen Vormittag in der Küche verbracht haben, aber das Kochen war schon immer ihre große Leidenschaft. Kleine Schnitzel, Kartoffelgratin, Salate und diverse Soßen sowie knusprig gebackenes Brot stehen zur Auswahl. Und Wein. Und dieses Getränk, unsere Gläser werden stets zügig aufgefüllt, sorgt schon bald dafür, dass unsere kleine Familie immer lauter wird. Alle reden durcheinander, jeder kramt seine schönsten und lustigsten Erinnerungen und Episoden der letzten Zeit aus dem Gedächtnis, und es wird viel gelacht. Ein positiver, richtig gut gelaunter Start ins neue Jahr. Die Einzige jedoch, die fehlt, ist meine Mutter, die aber nicht dabei sein kann, weil sie seit Jahren ihre Wohnung nicht mehr verlassen will. Gehbehinderung, kein Schritt ohne ihren Rollator, Wohnung in der 2. Etage und kein Aufzug. Nach dem Essen starte ich einen Neujahrsanruf bei ihr, damit auch die Enkel mal wieder einige Worte mit ihr wechseln können.

„Ich bin gut und zufrieden rein gekommen. Und ohne wehmütige Gedanken.“ teilt sie gut gelaunt mit. Von trüben Gedanken war sie im letzten Jahr stark befallen und hatte mir anschließend davon erzählt. Zweifellos hat sie den aktuellen Jahreswechsel besonders betont, weil sie weiß, dass ich oft über sie und ihr Wohlergehen nachdenke. Während des Gesprächs erwähne ich, dass in wenigen Tagen Marvins und Brittas Geburtstage, die vom Datum her nur fünf Wochen auseinander liegen, gefeiert werden, und frage meine Mutter, ob wir sie aus diesem Anlass nicht ausnahmsweise zu uns holen können. Aber wie fast schon erwartet, bekomme ich eine Abfuhr.

„Du weißt doch, dass ich das nicht will. Die ganzen Umstände.“ Sie wird richtig laut und klingt empört. „Ich fühl mich hier in meiner Wohnung sauwohl. Außerdem das Essen ...“

Ihre größte Sorge ist, dass sie, seit vielen Jahren ein Leichtgewicht, bei uns Mengen verzehren müsste, die wir bestimmen. Als ob wir vorhätten, sie zu mästen. Ich soll sie jedenfalls in Frieden lassen und nicht mehr fragen. Schnell wechsele ich das Thema, und ihr Aufatmen darüber entgeht mir nicht.

„Ich muss jetzt auch in die Küche.“ erklärt sie, und das ist wie stets der klare Hinweis darauf, dass sie genug mit mir telefoniert hat.

Am Sonntag zeigt der Blick aus dem Fenster, dass der Himmel von eisigem Grau ist, nur schemenhaft lässt sich eine bleiche Sonne erahnen. Die Außentemperatur wirkt nicht einladend, dennoch müssen Hannes und ich mal an die Luft; zu viel gegessen und getrunken in den letzten Tagen, dafür zu wenig Bewegung gehabt. Also auf zum Rheinufer. Dort, in der Nähe der Haltestation der Langeler Fähre, werden wir von lautem Entengequake begrüßt. Und uns erwartet ein leicht verschneiter und matschiger Weg mit angefrorenen Pfützen. Die wenigen Fußgänger, die uns entgegen kommen, grüßen freundlich und mit rot gefrorenen Nasen und Wangen unter ihren Mützen hervor. Diese Leute sind wohl genau wie wir der Meinung, dass so unerschrockene Menschen, die sich bei der Kälte nach draußen wagen, einen aufmunternden Gruß verdient haben. Diverse Hunde, die uns entgegen laufen, produzieren mit ihrem Atem, den sie hechelnd in die kalte Luft befördern, tanzende Wölkchen. An manchen Stellen des schneebedeckten Weges sind kleine Kunstwerke entstanden; da herrscht eine Mischung aus Abdrücken unterschiedlichster Profilsohlen sowie jenen von Hundepfoten und Vogelkrallen. Krähen, deren Lebensinhalt das laute Kreischen zu sein scheint, sitzen in den Bäumen, und so manche Möwe schreit ihren Kommentar dazu. Trotz der Kälte gehen wir ein beträchtliches Stück des Weges. Erst als Rhein und Himmel den gleichen Grauton erreichen und die Abenddämmerung beginnt, entschließen wir uns zum Rückweg. Zuhause bereiten wir uns einen Glühwein, essen dazu Spekulatius, und ich überlege: „Was kann uns schon passieren, solange wir die Möglichkeit haben, am Rhein spazieren zu gehen, unseren Gedanken nachzuhängen und dabei die Seele baumeln zu lassen, findest Du nicht?“

„Aufbauend ist so ein Spaziergang auf jeden Fall.“ glaubt auch Hannes.

Am Abend setzen wir uns vor den Fernseher, um den Film „Tatis Schützenfest“ zu sehen. Seit langem hat es sich bewährt, dass wir zu Beginn eines Jahres einen ausgesucht lustigen Film anschauen; so können wir lachend das Jahr beginnen.

Wenige Tage später herrscht zwischen Hannes und unserem Sohn Marvin Krisenstimmung; sie gehen nicht gut miteinander um. Noch gestern hatte Marvin mit mir am Tisch gesessen, wir haben Kaffee getrunken und über alles Mögliche geredet, wobei ich das Gefühl hatte, dass es ihm gut tat, wieder mit einem seiner Eltern ins Gespräch zu kommen, was in letzter Zeit oft schwierig war. Abschotten, Tür zu, Musik laut – so könnte ich Marvins Nachmittage und manche Wochenenden der letzten Zeit umschreiben. Am Abend wurde es nach einem zunächst friedlich begonnenen Gespräch zwischen Vater und Sohn unvermittelt laut, sie schrien sich an und warfen sich dermaßen unfreundliche Worte um die Ohren, dass ich zeitweilig das Gefühl hatte, sie würden gleich aufeinander losgehen. Und ich stand hilflos dabei und fragte, ob sie alle beide verrückt geworden sind. Eine Antwort erhielt ich nicht. Sie merkten vielleicht nicht mal, dass ich auch im Zimmer war. Erst zu später Stunde gelang es ihnen, noch einmal miteinander zu reden. Ich lag längst im Bett, vernahm aber, dass sie wieder in normalem Tonfall miteinander sprachen. Das tat gut zu hören, und ich konnte beruhigt einschlafen. Heute ist alles wieder im Lot. Am Abend geht Marvin auf Tour, er ist mit Schulfreunden verabredet und zieht gut gelaunt von dannen.

In der Nacht werde ich wach und erkenne beim Blick auf den Wecker, der im Lichtkegel der Treppenhauslampe steht, dass es kurz vor drei ist, doch Marvin ist noch nicht zurück. Aber habe ich nicht soeben eine Autotür gehört, die zugeschlagen wurde? So einen satten Ton, wie ihn die Taxen haben, die schweren Limousinen. Offenbar nicht. Denn jetzt müsste ja der Türschlüssel ins Schloss gesteckt werden, doch nichts ist zu hören. Also weiter warten. Ich ziehe die Bettdecke über den Kopf und möchte damit eine gewisse Dunkelheit herbeizaubern. Ich selbst bin es ja, die immer das Treppenhauslicht anlassen will, bis Marvin es nach seiner Rückkehr ausschaltet. So weiß ich Bescheid, falls ich nachts aufwache und ihn nicht habe kommen hören: Ist das Licht aus, liegt er wohlbehalten in seinem Bett. Mit dem Kopf unter der Decke ist es mir schnell zu warm, also weg damit, eine andere Schlafposition einnehmen und Augen zu. Doch einschlafen kann ich weiterhin nicht. Wenigstens kuschelt sich Fussy in meinen Arm; die Katze scheint meine Unruhe zu bemerken.

Bei Britta war alles anders; in Marvins jetzigem Alter wohnte sie nicht mehr hier. Damals wusste ich gar nicht, was sie unternahm, wann sie heimkam und ob alles gut gegangen war. Seit mehreren Jahren wohnt sie mittlerweile allein, ohne elterlichen Beistand, und ich staune, wie sie ihr Leben meistert und in der Lage ist, Beruf und Weiterbildung, Partner und Freundschaften sowie ihren Haushalt zu organisieren und dabei auch die Finanzen nicht aus den Augen zu verlieren. Wir hatten es stets für wichtig gehalten, unsere Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen. Bei ihr ist es offensichtlich schon mal gut gelungen.

Nun geht die Grübelei über Marvin wieder weiter. Was ich mir aber auch immer vorstelle, warum er noch nicht daheim ist. Ich denke an Unfälle, Überfälle und sonstige Katastrophen, die mir in beängstigender Deutlichkeit durch den Kopf geistern. Nur allmählich lasse ich den Gedanken zu, dass er sich vermutlich einfach nur wohl fühlt in seinem Freundeskreis. Das Heimgehen kann warten, wenn man in guter Stimmung ist, das kenne ich ja selbst von früher. Auch die Müdigkeit setzt später ein als bei älteren Menschen, das Durchhaltevermögen ist größer. Bisweilen vergesse ich das.

Plötzlich Schritte auf der Treppe, ganz vorsichtig und leise. Weder eine zufallende Autotür noch das Aufschließen der Haustür habe ich wahrgenommen. Dass Marvin da ist, macht mich so froh, dass ich ihm, aus dem dunklen Schlafzimmer heraus, „guten Morgen“ entgegen rufe. Etwas unüberlegt, denn er soll doch nicht merken, dass ich mir wieder Sorgen gemacht habe. Immerhin ist er ein erwachsener Mensch von 18 Jahren. Wieso fällt mir das erst jetzt ein? Also, beim nächsten Mal stelle ich mich hoffentlich nicht mehr so an.

Auf dem Weg zum Büro nehme ich morgens die Straßenbahn um kurz nach acht und steige im hinteren Wagenbereich ein, genau wie viele andere Leute auch. Vom Sehen her kennt man sich daher zwangsläufig, doch inzwischen bin ich mit einigen Leuten auch schon ins Gespräch gekommen. Für drei Frauen gehöre ich, bloß durch ein paar wenige, gesprochene Worte, wohl schon zum weiteren Bekanntenkreis, denn mir werden zuweilen privateste Dinge anvertraut. Ich erfahre schlimme Dinge über Zahnprothesen, Blasenschwäche oder eine bevorstehende Darmspiegelung. Einmal werden mir sogar recht stattliche Krampfadern gezeigt. Unvermittelt wird ein Hosenbein hochgezogen, damit ich die blauen Verästelungen genau betrachten kann. Das ganze mitfahrende Bahnpublikum scheint diese Berichte über marode Gesundheitszustände zu ignorieren, sonderlich aufmerksam wirkt jedenfalls niemand. Zwei der Damen sind geschieden und möchten gerne einen neuen Partner finden, daher fallen manchmal auch Begriffe wie Heiratsvermittlung oder Kontaktbörsen. Da hören plötzlich die benachbarten Mitfahrer genau hin, was mir richtig auffällt. Sie sitzen dann etwas angespannt da und wirken, als hätten sie die Ohren gespitzt. Ab und zu könnte ich auch etwas beisteuern, denn so manche Erfahrungen, nicht mit Kontaktbörsen, aber mit gesundheitlichen Störungen, habe ich ja auch schon gemacht. Aber ich geniere mich, vor allen möglichen Zuhörern beispielsweise meine Erfahrungen mit einer Darmspiegelung zu erläutern. Das geht doch all die fremden Leute nichts an. Möglicherweise denkt mancher der Mitfahrenden über mich: Scheint noch fit für ihr Alter zu sein. Keine Krankheiten.

Auch viele junge Leute sind um die Zeit mit der Bahn unterwegs, um zur Schule oder zur Uni zu kommen. Und heute ein nettes Erlebnis: Ein junger Mann steht ganz in meiner Nähe, mit dem Rücken zu mir. Tolle Figur, enge Jeans, lange Beine. Mit einem gewissen Wohlwollen betrachte ich sein attraktives Erscheinungsbild. Als ich überlege, ob man das in meinem Alter noch darf, muss ich plötzlich lachen. Nur kurz, es bleibt aber trotzdem nicht unbemerkt, einige Mitreisende merken auf. Vielleicht denkt jetzt so manch einer über mich: Scheint noch fit für ihr Alter zu sein, keine Krankheiten, aber mächtig einen an der Waffel.

Kurz darauf ein Wintertag, leicht verschneit ist alles. Morgens, kurz nach acht, sitze ich in meiner Bahn Richtung Innenstadt und sehe wunderschöne Dinge: Bäume und Sträucher sind weiß garniert, wie mit Puderzucker bestreut sieht alles aus. Am Himmel Kondensstreifen in allen Variationen, einige in klaren Linien, andere schon leicht verwischt. Der Himmel ist zartblau und die Sonne scheint noch sehr blass daraus hervor. Diverse Vögel sind unterwegs, die durch ihr Herumflattern das Bild noch auflockern. Heute werden wir den Tag über sicher eine gute, klare Luft haben. Richtig schönes Winterwetter also. Aus vielen Schornsteinen der Häuser, an denen die Straßenbahn vorbeifährt, sieht man langsam nach oben steigenden Dampf. Und so manche Flachdächer machen den Eindruck, als hätte jemand weiße Tücher oben drüber gelegt. Auf einem Balkon hängt Wäsche. Ob sie gefroren ist? Sofort fällt mir die Geschichte ein, die Hannes erzählt hat aus seiner Jugendzeit: Omas Wäsche hing auf dem Balkon und war gefroren. Schulfreund Martin sah das, überlegte nicht lange und zerbrach eine von Omas Unterhosen. Einfach so. Er war selbst erschrocken und hatte nicht geahnt, dass das so leicht gehen würde. Nette kleine Geschichte. Und ich sitze schon wieder da und grinse vor mich hin.

Einige Wochen lang war ich nach Büroschluss zweimal wöchentlich bei meiner Mutter. An einem Tag habe ich für sie eingekauft und den Müll runter getragen und drei Tage später die jeweils erforderliche Putzerei hinter mich gebracht. Wochenlang hatte ich eine Erkältung, die mir regelrecht die Kräfte raubte, und es war mir zuviel, alles zusammen an nur einem Nachmittag zu bewerkstelligen, nach einem womöglich noch anstrengenden Vormittag im Büro. Nun möchte meine Mutter, dass ich wieder bloß einmal in der Woche komme.

„Du setzt Dich selbst unter Druck.“ glaubt sie.

Ja, kann schon sein, aber ich möchte ja nicht nur meine Aufgaben etwas entzerren, sondern habe zusätzlich auch das Gefühl, öfter bei ihr sein zu müssen! Sie ist doch ansonsten meist allein. Seit dem Tode meines Vaters vor fast 25 Jahren lebt sie in ihrer Wohnung in der Kölner Innenstadt. Ab und zu kommt eine Freundin für ein, zwei Stunden auf einen Kaffee oder eine Nachbarin klingelt, um kurz hallo zu sagen.

Vor zehn Jahren war meine Mutter über eine defekte Gehwegplatte gestolpert und gestürzt, bepackt mit zwei Einkaufstüten, welche sie keinesfalls loslassen wollte, denn der Inhalt hätte ja Schaden nehmen können. Nachdem Wochen später der Bruch der Kniescheibe verheilt war, hatte sie weiterhin Probleme mit dem Gehen, und der größte Fehler, den ich machen konnte, war das Besorgen eines Rollators. Nur für ein paar Wochen, dachte ich. Dass aus dieser Gehhilfe ein ständiger Begleiter werden würde, weil meine Mutter sich fortan weigerte, ohne dieses Hilfsmittel sogar in der Wohnung auch nur einen Schritt zu gehen, konnte ich nicht ahnen.

„Ich muss schließlich selber wissen, was ich tue.“ Mit ähnlichen Worten kommentierte sie es stets, wenn ich das alles mal wieder in Frage stellte und es auch noch wagte, Worte wie Knieoperation oder Krankengymnastin auszusprechen. Es hat lange gedauert, bis ich die Unmöglichkeit akzeptieren konnte, sie eines Tages doch noch umstimmen zu können. Oft hätte ich mir nicht nur in diesem Zusammenhang gewünscht, Geschwister zu haben, dann wäre der Verantwortungsdruck, den ich zu haben glaube, vielleicht leichter gewesen.

Meine Mutter (77) ist stolz darauf, die wesentlichen Dinge im Haushalt alleine bewältigen und sich selbst und ihre Kleidung in Schuss halten zu können. Auch das Kochen fällt ihr nicht schwer, denn dann setzt sie sich vor dem Herd auf die Sitzfläche des Rollators und hat beide Hände frei für die Herstellung ihrer Mahlzeiten. Tätigkeiten wie einkaufen, staubsaugen oder putzen erledige ich. Besonders wichtig ist es für sie, dass niemand ihr vorschreibt, was sie zu tun oder zu lassen hat. Jegliche Form von Bevormundung ist ihr zuwider, was ich regelmäßig schon dann merke, wenn ich einen Vorschlag mache, wie sie dies oder jenes in ihrem Alltag einfacher oder besser handhaben könnte. Wenn meine Mutter die Idee nicht gut findet, und das ist häufig der Fall, funkeln ihre braunen Augen mich böse an, und sie wedelt abwehrend mit den Händen in der Luft herum, so dass ihre schmale Gestalt plötzlich etwas Dramatisches bekommt. „Bloß nicht.“ ist dann die Standardantwort.

Meiner Mutter ist es gelungen, alle erforderlichen Dinge fürs tägliche Leben griffbereit und praktisch auf ihre drei Zimmer zu verteilen. Ihre helle Wohnung, die Zimmer voller Pflanzen, auf deren Pflege sie viel Sorgfalt verwendet, ist ihre Welt. Mit ihrem Leben ist sie ganz zufrieden, wie sie immer wieder versichert. Ihr täglicher Gast, so drückt sie es selber aus, ist das Fernsehen, sie liebt Filme und Fernsehspiele und hat auch Interesse an politischen Sendungen. Fast noch wichtiger aber sind für sie Bücher. Wenn ich einen neuen Stapel aus der Stadtbücherei heranschaffe, kann sie sich richtig freuen. Und ich habe den Eindruck, dass sie froh ist, wenn ich endlich wieder gehe, weil sie dann gleich mit einem neuen Buch beginnen kann.

Tage später stelle ich fest: Ich sollte (mal wieder) abnehmen. Und letztens habe ich gelesen, dass man vor Beginn einer Diät die Schränke ausmisten und alten Kram wegwerfen soll; das würde die innere Bereitschaft steigern, sich von unnötigem Ballast zu trennen. Und ich habe fast eine Woche lang ausgemistet. Was da alles zum Vorschein kam: Hosen, die ich für Renovierungsarbeiten aufbewahrt hatte. Zwei Blusen, an denen die Ärmel zu lang sind und die ich schon seit Jahren kürzen will. Beim Anprobieren stellte ich fest, dass die Blusen sich gar nicht mehr zuknöpfen lassen. Laufen Sachen im Kleiderschrank ein? Gleichfalls in die Mülltonne wanderten: Diverse Kosmetikproben, die ich immer voller Freude in den Zeitschriften entdecke, sorgfältig heraus trenne, um sie dann im Badezimmer in einer Keramikschüssel verstauben zu lassen. Mindestens zwanzig Einzelsocken, deren Partner auf seltsame Weise abhanden gekommen waren. Und ein paar Cowboystiefel, die mir von Jahr zu Jahr toller vorkommen, aber gar nicht mehr passen. Ich glaube, in den Stiefeln sähe ich inzwischen auch ein bisschen albern aus. Es ist wirklich erstaunlich, was man über die Jahre noch zu brauchen glaubt. Im Wäscheschrank fand ich außerdem zwei verwaschene Kinderbadetücher, und trotz leicht wehmütiger Gedanken entschloss ich mich, auch diese auszusortieren. Plötzlich fielen mir zwei alte Bravo-Hefte in die Finger. Meine erste Zwangspause, denn die Zeitschriften wollte ich sofort durchblättern. Der Winnetou-Starschnitt. So wohnen die Beatles. Mary Quant. Die Carnaby-Street. Dazwischen Heintje. Geschichten und Fotos wie aus einer anderen Welt. Später entdeckte ich einen Pappkarton, auf dem in Kinderschrift stand „Jedes Buch eine Mark.“ Ein danach nie mehr ausgepackter Karton von einem Kinderflohmarktbesuch; bestimmt mehr als zehn Jahre her. Beim Durchforsten des Inhalts entdeckte ich diverse Pferdebücher – eine Zeitlang gab es für Britta kaum andere Literatur. Aber im Karton fand ich auch „Die rote Zora“, eins der Lieblingsbücher meiner eigenen Kindheit. Am Ende habe ich nicht nur den Mülleimer gut gefüllt, sondern auch vier große Plastiktüten voller Klamotten zum Altkleider-Container gebracht; alles Kleidungsstücke, die wir Jahre lang nicht mehr getragen hatten. Den Gang zum Container konnte ich immer nur dann antreten, wenn Hannes nicht daheim war, denn er hätte sonst nachprüfen wollen, was ich da wegwerfen will. Den in derlei Zusammenhängen üblichen Satz „können wir doch noch brauchen“ wollte ich diesmal nicht hören.

Heute Abend nun habe ich etwas Besonderes vor: Ich beginne mit dem Lesen der „roten Zora“, trinke dazu ein leckeres Glas Rotwein – meine Diät hat ja noch nicht begonnen, geplant ist Anfang März – und höre im Hintergrund eine CD, die ich während meiner Aufräumerei auch wieder entdeckt habe, ein wunderbares Album des italienischen Sängers Paolo Conte. Die Kinderhandtücher allerdings liegen wieder im Schrank, ganz unten. Ich habe es am Ende doch nicht fertig gebracht, die tatsächlich auszumustern.

Der Winter geht mir allmählich auf die Nerven, aber es ist erst Anfang März; der Frühling lässt noch auf sich warten. Nachdem ich zwei Tage lang missmutig zuhause vor mich hin gebrasselt und ansonsten viel Musik gehört habe, folgt heute eine für mich echte seelische Aufmunterung in Form eines französischen Spielfilms. Hannes und ich gehen ins Kino und sehen „Ein gutes Jahr.“ Der Film handelt von einem Briten, welcher plant, in Südfrankreich sein geerbtes Haus zu verkaufen, sich dabei aber in Land und Leute verliebt und schließlich bleiben will. Schöne Aufnahmen vom Leben in der Provence, bei stets gutem Wetter und einer Fülle von Natur rundum, blühend in vielen Farben und Formen. Erinnerungen an Reisen nach Südfrankreich werden wach, schöne Erinnerungen. Und der Film schafft es tatsächlich, mich wieder in richtig gute Laune zu versetzen. Endlich ist meine miese Stimmung vorbei. Zwar haben Hannes und ich nach dem Kinobesuch leichte Probleme damit, wieder ins Kölner Leben zu finden; kein schönes Wetter, triste Farben auf den Straßen, und alles ist eher grau und langweilig, aber die wunderbaren Bilder des Films wirken trotzdem noch lange positiv nach. Auf dem Heimweg denken wir an vergangene Frankreichurlaube, besonders eine Situation kommt mir in den Sinn:

„Weißt Du noch,“ frage ich Hannes, „wie wir vor vielen Jahren mal zum Camping in Südfrankreich waren und vergessen haben, für Dich die Lederjacke mitzunehmen?“

„Ja klar, Du hattest vergessen, die für mich einzupacken.“

„Ich war das schuld? Na egal, jedenfalls hast Du abends vor dem Zelt gesessen und gelesen, in Jeans, T-Shirt und dem Jackett vom blauen Nadelstreifenanzug. Das war komischerweise mit auf die Reise gegangen. Sah seltsam aus.“

„War mir egal, wie das aussah. Hauptsache, mir war nicht kalt.“

„Die Leute, die abends über den Zeltplatz spazierten und bei uns vorbei kamen, haben jedenfalls immer gegrinst, wenn sie Dich in den Klamotten da sitzen sahen. Und es hatte sich bestimmt rumgesprochen, es kamen nämlich von Abend zu Abend mehr Leute bei uns vorbei.“ Hannes guckt erst leicht ungläubig, doch dann müssen wir beide lachen.

Morgen geht es los. Mein Abnehmprogramm steht. Eigentlich ist es gar keins, denn ich möchte mich darauf beschränken, insgesamt weniger auf meinen Teller zu tun und damit automatisch weniger zu essen. Außerdem nur ein oder, wie verwegen, vielleicht gar kein Glas Wein abends. Ansonsten die Süßigkeiten weglassen und mich viel mehr bewegen.

Klingt ganz einfach. Doch heute, gewissermaßen zum Abschied, möchte ich mir noch einmal etwas Süßes gönnen. Und wenn schon, dann richtig. Vor mir liegen sechs belgische Pralinen. Schon beim vorsichtigen Auswickeln bin ich begeistert vom Duft, der mir da entgegen schwebt. Als ich das Papier auseinander reiße, weil ich viel zu ungeduldig bin, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Kurz den Duft dieser Schokolade einatmen und genießen und ein erster zaghafter Biss. Noch einer, und gleich danach schiebe ich mir die komplette Praline in den Mund und fange an zu kauen. Ist das lecker. Mir kommt der ärgerliche Gedanke, dass die besonders schmackhaften Dinge fast immer ungesund und somit verboten sind. Diese hier sind verboten, weil sie dick machen. Zwar sind ein oder zwei dieser Köstlichkeiten nicht schlimm, aber drei, vier, fünf oder noch mehr davon sind es. Und ich gebe nicht eher Ruhe, bis alle sechs Pralinen vertilgt sind. Wie viele Kalorien das jetzt wohl sind? Ich spüre förmlich meinen Bauch dicker werden, aber vielleicht dehnt sich ja nur mein schlechtes Gewissen aus. Jetzt habe ich wirklich allen Grund, morgen mit meiner Diät anfangen zu müssen.

Nur wenige Tage später muss ich feststellen, dass ich mich zwar überwiegend an meine persönlichen Diätvorschriften halte, es aber leider nicht sonderlich gut klappt. Nicht nur, dass meine Gedanken andauernd um die nächste, wenn auch bescheidene Mahlzeit kreisen, ich habe dazu auch noch erhebliche Probleme mit dem Kreislauf. Außerdem ist meine Laune denkbar schlecht. Ich blaffe alle Leute an, die mir irgendwo im Wege stehen oder vor mir nicht schnell genug aus der Straßenbahn aussteigen. Schnell tut mir das jedesmal leid, aber gesagt ist gesagt; mein ruppiger Tonfall ist nicht überhört worden. So geht es also nicht.

Ob ich es jetzt endgültig aufgebe? Wirklich kein Versuch mehr, doch noch ein paar Kilo abzunehmen? Es hat in meinem Leben schon so viele derartige Anläufe gegeben, es hat aber auch über all die Jahre nicht nennenswert geklappt. Vielleicht mal ein Kilo weniger, welches sich kurze Zeit später schon wieder auf der Waage zeigte. Einerseits finde ich den Gedanken befreiend, nicht mehr darben zu müssen, andererseits ist es für mich aber das Eingeständnis einer absoluten Niederlage. Nach längerem, ziemlich unzufriedenem Nachdenken über das leidige Thema will ich wenigstens versuchen, nicht noch schwerer zu werden.

Abends wollen Hannes und ich uns einen Fernsehfilm ansehen, genauer gesagt, wir versuchen es. Doch nach wenigen Minuten geben wir entnervt auf. Immer öfter nämlich, so auch heute, haben wir Probleme damit, die Worte der Darsteller zu verstehen, da die ständige Hintergrundmusik so laut ist. Wenn wir die Lautstärke erhöhen, wird folglich auch die Musik lauter. Ein großes Ärgernis. Das Ärgernis hat aber nach dem Abschalten des Fernsehers zur Folge, dass wir uns an den Esstisch setzen und mal wieder so richtig schön miteinander ins Gespräch kommen. Kein ernstes Gespräch, es geht bloß um das, was wir an den vergangenen Tagen erlebt haben und worüber wir uns amüsieren konnten. Aber immerhin.

Es ist der 18. März. Heute wäre meine älteste Freundin Anne 55 Jahre alt geworden. Über 40 Jahre kannten wir uns. Wer weiß, vielleicht hätte mir die Freundschaft mit ihr, trotz ihrer in den letzten Jahren erheblichen Alkoholprobleme, gut getan. Ihr hätte ich bestimmt so mancherlei anvertraut, was ich niemandem sonst, weder im Familien- noch im Freundeskreis, habe sagen können oder wollen. Anne war immer bereit, zuzuhören und hat mich und meine kleinen und mitunter auch großen Probleme stets ernst genommen und mir manchen guten Rat gegeben.

Sie, die in der Schule in den meisten Fächern bessere Noten hatte als ich, hat zwar mit großem Interesse den Beruf der Chemielaborantin erlernt, war aber kaum ein Jahr nach Beendigung ihrer Ausbildung der Meinung, nun unbedingt heiraten zu wollen. Holger. Einen Mann, für den ich nicht viele Sympathien hatte. Schon bald nach der Hochzeit hat sie sich dazu entschlossen, nur für ihn, den erfolgreichen Handelsvertreter mit gutem Einkommen, da sein zu wollen. Einkaufen und kochen, den Haushalt führen, putzen, die Kleidung in Schuss halten und so weiter. Ja, was denn noch weiter?

Spät erst stellte sie fest, dass da ja weiter nichts kommen würde. Kinder wollten beide nicht. Vermutlich ohne es selbst wahrzunehmen fiel sie möglicherweise in eine gewisse Resignation: auch ihr Freundeskreis, und damit auch ich, merkte lange Zeit nichts. Und irgendwann in dieser Zeit wurde der Alkohol ihr Tröster. Vielleicht hat an manchem Abend ein Gläschen Wein für eine bessere Stimmung gesorgt, am nächsten Abend waren es zwei oder drei Gläser, und die Laune wurde sogar noch besser. Zwischendurch auch mal ein Whisky, der ja die Sinne, die Gedanken und all das oben im Hirn noch schneller ankurbeln oder aber auch durchkreuzen kann. Und dann gab es kein Aufhören mehr, dafür aber von Tag zu Tag ein früheres Anfangen. Nur schemenhaft ist mir in Erinnerung, was Anne mir vor vielen Jahren mal erzählt hat in Bezug aufs Trinken, ganz speziell auf ihr Trinken. Bewusst war ihr schon, dass das alles nicht in Ordnung war, nur der konkrete Wille fehlte, etwas an der Situation zu ändern. „Wozu denn?“ fragte sie und hatte dabei einen unglaublich traurigen Blick.

Jetzt ist sie schon seit fast zehn Jahren tot, und es gibt noch nicht mal ein Grab, welches ich besuchen kann. Ihr Mann hatte uns nach ihrem Tod nicht darüber in Kenntnis gesetzt. Erst als ich nach monatelangen, stets vergeblichen Anrufen einen Brief an Anne geschrieben hatte, bekam ich von Holger ein Antwortschreiben, welches aus nur wenigen Sätzen bestand. Anne habe sich einer eher belanglosen Operation unterziehen müssen, aus der sie nicht mehr erwacht war. Anonyme Bestattung. Sonst nichts. „So kanns kommen.“ war Holgers lapidare Schlussbemerkung in seinem Brief.

Anne, drei Tage vor mir geboren, und ich hätten unseren 55. Geburtstag bestimmt angemessen gefeiert, da bin ich mir sicher. Nun werde ich eben allein ein Glas Wein trinken und ganz kräftig und mit viel rückwirkender Zuneigung an sie denken. Wenn es stimmt, dass es so was wie eine unsterbliche Seele gibt, wird Anne das spüren. Also dann: „Prost Anne! Auf die 55.“

55

Vor drei Tagen bin ich 55 geworden, und am heutigen Samstag wollen wir feiern. Während meiner Vorbereitungen werde ich sehr nervös, obwohl doch Zeit genug und alles überschaubar ist. Einmal fragt Hannes: „Was war das denn wieder für ein Stöhner?“ Den hab ich nicht mal bemerkt. Für das Abendessen hatte ich ursprünglich ein großartiges Menü geplant, unter anderem mit Dingen, die ich noch nie ausprobiert habe, mir aber als Essen für die Gäste gut vorstellen konnte. Doch von Tag zu Tag habe ich alles immer mehr herunter geschraubt. Zum Schluss steht auf dem Plan das, was wir schon oft angeboten haben und von der Zubereitungsart her kennen. Keine Experimente! So viel Mut habe ich am Ende doch wieder nicht. Aufgeräumt und staubgewischt habe ich auch wie ein Weltmeister. Und Zeitungsausschnitte und alles, was sonst noch an Papierkram herumlag, weil es eines Tages noch gelesen werden soll, in eine Tüte gepackt und in die Garage getragen; diese Methode bewährt sich seit Jahren. Es sieht jedenfalls recht aufgeräumt ist. Alles ist vorbereitet, der Besuch kann kommen.

Während unsere Gäste rund um den großen Esstisch sitzen und essen, entdecke ich plötzlich eine beeindruckende Spinnwebe an der Wand. Wieso habe ich die vorher nicht gesehen? Das kleine Tier hat doch sicher wochenlang daran gearbeitet. Aber jetzt ist es zu spät und mir auch mittlerweile egal. Wahrscheinlich kann ich hier noch so viel reinigen, es bleibt immer noch vieles übrig. Unsere Freunde kennen vermutlich längst unsere Schwachstellen, um nicht zu sagen Fettecken. Und der Gedanke beruhigt mich plötzlich ungemein. Nach dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“ proste ich der Tischrunde fröhlich zu. Mir geht es jetzt richtig gut und ich genieße das Zusammensein mit all den netten Leuten.

Im Laufe des Abends wird über alles Mögliche gesprochen, über lustige Begebenheiten und Erlebnisse, die von teilweise großem Gelächter quittiert werden. Es geht auch um Reisen – um bereits erlebte oder welche, die noch bevorstehen. Für unsere Freunde Ines und Peter steht in diesem Jahr eine Reise nach Chile auf dem Programm, mit vielen Schifffahrten an der Küste entlang. So weit weg. Ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, 18 Stunden zu fliegen, um einen anderen, sehr fremden Kulturkreis kennenzulernen. Für Hannes und mich reicht eigentlich schon eine Woche Urlaub an der Ostsee.

Später am Abend geht es aber auch um Zukunftsängste, die doch einige von uns haben. Mehr oder weniger ausgeprägt, vielleicht aber nur mehr oder weniger zugegeben. Bei den Männern scheint alles glatt zu laufen, jedenfalls ist nichts Gegenteiliges zu hören. Sie verziehen sich allesamt in Hannes‘ Büro, wahrscheinlich stehen sie im Halbrund um den Computer herum.

Meine Freundinnen Ines, Annelie, Margret, Anita sowie Silvia und ich können uns daher mal ungestört unterhalten, und ich merke schnell, dass alle sich viele Gedanken darüber machen, was ihnen die Zukunft bringen wird. Annelie, geschieden und allein lebend, befürchtet den möglichen Verlust des Arbeitsplatzes, was bei ihr zu ständigen diffusen Ängsten führt und leider auch zu mancher schlaflosen Nacht. Margret und Anita, beide seit Monaten arbeitslos, wollen die Hoffnung nicht aufgeben, mit ihren 57 bzw. 54 Jahren doch noch mal einen neuen Job zu finden.

Auch sonstige Ängste und bedrückende Gedanken lassen sich bei einer Feier nicht ganz verdrängen, dabei geht es durchweg um gesundheitliche Probleme der unterschiedlichsten Art. Da wir alle uns seit vielen Jahren kennen, wird Klartext gesprochen. Ich staune über die große Offenheit, mit der so manches Leiden in aller Deutlichkeit geschildert wird, nichts wird beschönigt. Und die Schlaflosigkeit, verbunden mit ständiger Grübelei, ist auch allen mehr oder weniger ausgeprägt bekannt. Sicher geht das Reden über solche Dinge nur in einer vertrauten Runde, in der man keine Probleme bekommen kann, wenn man sich allzu sehr öffnet. Am Ende finde ich es sehr beruhigend, zu hören, dass selbstverständlich auch andere Frauen nicht alles gut finden, was mit ihrem älter werdenden Körper passiert. Dabei kann ich vergleichsweise froh sein, dass ich nur Probleme mit den Knien habe und etwas schlecht höre.

Aber wir sprechen auch von Träumen, die vielleicht doch noch erfüllt werden können. Annelie sagt: „Mein Traum war immer, später eine Wohnung am Rhein zu haben. Irgendwo, mit einem Balkon. Und von da aus nochmal aufs Neue meine Stadt zu erkunden.“ „Vielleicht eine Alten-WG?“ fragt Silvia. Obwohl sie die Jüngste am Tisch ist, denkt sie oft an ihre späteren Jahre. In dem Zusammenhang erwähne ich ein Buch, welches ich kürzlich gelesen habe: „Die letzte Strophe“ von Christine Brückner. Darin geht es um eine Alten-WG mit interessanten Einblicken in ein nicht vollständig perfekt funktionierendes Zusammenleben älterer Menschen. Nur ein Roman, aber durchaus vorstellbar.

Ich selbst komme zu dem Schluss, dass nicht jeder Mensch für diese Art des Wohnens geeignet ist. Für mich wäre die Vorstellung fürchterlich, dass jeder, dem das gerade einfällt, einfach so bei mir an die Tür klopfen könnte, um zu quatschen, nur weil ihm oder ihr gerade danach ist. Was wäre, wenn ich mir gerade was ganz anderes vorgenommen oder schlicht keine Lust aufs Zuhören hätte? Auch der Gedanke, dass dann nur alte Leute um mich herum wären, gefällt mir nicht. Eine Kombination aus jung, mittelalt und alt wäre doch viel sinnvoller und zweifellos belebender. Meine Idee wäre die Gestaltung von Häusern, die für Alte und Junge gemeinsam konzipiert sind – jeweils einzelne, in sich abgeschlossene und unabhängige Wohnungen.

Es ist 1.30 Uhr. Die Feier ist vorbei und die Gäste sind gegangen. Das Essen war, glaube ich, gut. Gereicht hat es jedenfalls für alle, und unsere Freunde waren offenbar zufrieden mit dem, was wir anzubieten hatten. Es wurde viel geredet, auch viel gelacht. Warum nur habe ich mir vorher wieder so viele Gedanken gemacht, ob alles gut wird?

Einem Zeitungsartikel zufolge bietet die Sporthochschule Köln für Leute meines Alters sportliche Übungen, einschließlich Hanteltraining und Fitnessübungen, an. Wäre das nicht was für mich? Immerhin behaupte ich seit Jahren, ich wolle mehr für meine Beweglichkeit tun. Übers Internet finde ich heraus, dass für Menschen nach Krebserkrankung, Schlaganfall, Herzinfarkt oder mit sonstigen Funktionsstörungen einiges an Kursen geboten wird. Aber ganz allgemein für Leute ab 50? Da entdecke ich nichts. Meine Augen streifen schließlich das Wort Seniorengymnastik. Auf einmal dämmert mir, dass die auch jemanden wie mich damit meinen. Nein danke, als Seniorin fühle ich mich noch nicht. Sollen die älteren Herrschaften da mal alleine herum turnen. Außerdem finden die Übungen an Vormittagen statt, da sitze ich üblicherweise an meinem Arbeitsplatz.

An einem Donnerstag Ende Mai möchte ich einen Krankenbesuch bei unserer Freundin Rosemarie machen. Einen Besuch, vor dem ich mich ein wenig fürchte. Daher fallen mir allerhand Dinge ein, die unbedingt noch getan werden müssen, bevor ich das Haus verlasse. Auch Fussy wird noch ausführlich gestreichelt, wofür die Katze sich mit heftigem Schnurren bedankt. Schließlich warte ich noch einen kräftigen Wolkenbruch ab. Danach finde ich keine Ausrede mehr und mache mich endlich, wenn auch ein wenig beklommen, auf den Weg zum Krankenhaus.

Als ich vor Rosemaries Krankenzimmer stehe, bin ich schrecklich nervös und wage nur ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Ich trete ganz vorsichtig in den Raum und bin überrascht. Sie sitzt ganz entspannt im Schneidersitz auf ihrem Bett – und strahlt mir bestens gelaunt entgegen. Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich wirke vermutlich bedrückter als sie selbst. Vor einer knappen Woche hat Rosemarie eine Brustkrebsoperation überstanden.

„Ich hab die ganze Situation angenommen und akzeptiert. Was bleibt mir auch anderes übrig? Jedenfalls will ich mich nicht gegen die Krankheit und all das sträuben. Die Ärzte haben mir gesagt, das wäre der ganz falsche Weg. Und ich will ja so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen.“

Die bei Patienten unmittelbar nach dem Auftreten solcher Krankheiten häufig entstehenden Aggressionen oder gar Wutausbrüche seien bei ihr bisher nicht aufgetreten.

„Vielleicht kommt das ja noch.“ meint sie lapidar und mit einem leichten Grinsen. Erstaunlich, ihre Haltung. Rosemarie, Studienrätin, verheiratet, kinderlos, die stets gesund lebt mit sehr bewusster Ernährung, überwiegend basierend auf Bio-Nahrungsmitteln, die fast immer ein drittes Glas Wein oder ein viertes Bier ablehnt. Die niemals geraucht hat, dafür aber das Joggen und Radfahren so oft es geht in ihren Tagesablauf einarbeitet. Auch genügend Schlaf und regelmäßige Erholungsurlaube sind für sie selbstverständlich. Und ausgerechnet eine solche Person erwischt es. Sie hält sich aber nicht mit negativen Gedanken auf und zermürbt sich nicht mit der Überlegung, wieso ausgerechnet ihr so etwas passieren konnte, sondern plant weiter:

„Ich will alles etwas ruhiger angehen lassen und mich nicht mehr so viel ärgern.“

Später sagt sie, sie habe in Gedanken schon ein regelrechtes Gespräch entworfen, und zwar mit einer sehr verhassten Frau aus dem Lehrerkollegium.

„Das muss weg. Das Problem muss aus der Welt sein.“

Auch auf eine Nachbarin, die in ihrem Wohnort zwei Häuser weiter wohnt, und mit der sie schon länger im Clinch liege, wolle sie gezielt zugehen.

„Beim nächsten Mal auf dem Markt will ich mich nicht in einen anderen Gang verdrücken, nur um der aus dem Weg zu gehen.“ Sie macht ein zugleich unwilliges wie ratloses Gesicht und ergänzt: „Ich weiß gar nicht mehr so richtig, warum wir dermaßen verkracht sind. Aber das ist irgendwie fest zementiert. Jedenfalls möchte ich mich von solchen Konflikten freimachen.“ Während Rosemarie das sagt, sieht sie energisch und gleichzeitig so überaus verletzt und auch trostlos aus, dass ich sie nur in den Arm nehmen kann, ganz vorsichtig.

Später sitzen wir auf dem Krankenhausflur, während sie ihr Abendbrot zu sich nimmt. Und sie ist schon wieder so voller Zuversicht und Tatendrang. Aus der für die Sommerferien geplanten Urlaubsreise wird zwar nun nichts werden, aber als Lehrerin kann sie ja konkrete Pläne für die Herbstferien machen. Unglaublich, diese Frau. Knapp drei Wochen sind vergangen seit der Diagnose, dann die schwere Operation, und jetzt sitzt sie hier, an der Seite eine bunte Stofftasche, die den Plastikbeutel verbirgt, in den immer noch Wundsekret abläuft. Und sie packt in Gedanken schon wieder die Koffer.

Abends telefoniere ich mit ihrem Mann Carl, der auch voller Bewunderung dafür ist, wie seine Frau das alles meistert.

„Die will ihre Stärke zeigen, will damit sagen: Ich lass mich nicht unterkriegen. Aber im Inneren, da sieht das ganz anders aus.“ glaubt er.

Am späten Abend sitze ich immer noch da, weil ich weiß, dass ich sowieso nicht so schnell werde einschlafen können. Und ich denke, dass man viel bewusster leben sollte. Achtsam sein – das ist damit wohl gemeint, mit viel mehr Rücksicht auf sich selbst. Doch im Grunde ist das ein eher abstrakter Gedanke. Wie sollte man das denn angehen? Alle Leute vor den Kopf stoßen, die man nicht besonders mag, um sie auf alle Zeiten vom Hals zu haben? Das kann ich mir zwar tatsächlich in Gedanken vorstellen, würde es aber letztlich doch nicht schaffen. Und nur noch das tun, was man will? Das hieße für mich, meinen Job dranzugeben und mich nur noch mit Schreiben, Fotografieren und Malen zu beschäftigen. Jedenfalls sollte es etwas Kreatives sein. Auch ziemlich abwegig, denn ich muss doch Geld verdienen.

Oder Hannes‘ Idee, die er seit Jahren hat: Unsere Zelte hier abbrechen, einen Bauernhof übernehmen, alles selbst beackern, ein paar Tiere dazu. Und ansonsten mehr oder weniger in den Tag hinein leben. Klingt gut, aber wir werden schließlich älter, wie sollten wir unsere Aufgaben dann erfüllen können? Auch das ist keine Lösung. Ja, aber was denn? Alles in etwa so lassen, wie es ist, und weiterleben wie bisher? Vermutlich ja. Es bleibt uns sowieso nichts anderes übrig, so wie den meisten Menschen.

Ein Genießerstündchen im Garten. Jetzt, Anfang Juni, herrscht strahlend schönes Wetter; ich sitze auf der Gartenbank und freue mich über das ganze frühsommerliche Erscheinungsbild, über Bäume und Sträucher in unterschiedlichen Grüntönen, sogar das sogenannte Unkraut sieht hübsch aus. Zahlreiche Rosen sind auf dem Weg zur gelben oder rosafarbenen Blüte. Und links bei den Nachbarn hängen die Zweige voller Kirschen.

Mir kommt die Idee, mich in den nächsten Tagen mal rauszusetzen mit Staffelei, Pinsel und Farben. Vielleicht versuche ich mich mal wieder in Aquarellmalerei. Wie lange habe ich so etwas nicht mehr gemacht und wann in den letzten Jahren hatte ich überhaupt Lust aufs Malen? Im Grunde fehlt ja meist die Zeit dafür; mein Alltag ist schon ziemlich ausgefüllt mit Job, Familie, Haushalt und der Betreuung meiner Mutter. Doch seit mir immer wieder Rosemaries Krankengeschichte mit all ihren möglichen Konsequenzen durch den Kopf geht, versuche ich, so oft wie möglich etwas für mich zu tun. Nur für mich. Etwas Schönes, auch wenn es Zeit kostet, die ich für vermeintlich Sinnvolleres verwenden könnte.

Aber ist nicht gerade das sinnvoll, was einen Menschen zufriedener oder ausgeglichener macht, auch wenn dafür „richtige Arbeiten“ auf der Strecke bleiben? Ist ein solcher Mensch, der sich Zeit für etwas Schönes nimmt, anschließend nicht viel eher bereit, dann auch wieder seine Pflichten auf sich zu nehmen? Ich nehme mir zumindest vor, in nächster Zeit so oft wie möglich hier draußen zu sitzen. Während ich das jetzt notiere, umgeben vom Klang der vielen Vogelstimmen rund um mich herum, bemerke ich, dass ich lächele. Ich freue mich auf etwas! Das kommt in letzter Zeit leider nicht allzu oft vor.

Sowohl Hannes als auch ich sind an diesem Sonntag früh wach. Und da wir schon länger vorhaben, mal zu früher Stunde die Gegend rund um den Dom zu besuchen, um zu fotografieren, überlegen wir nicht lange, machen eine Katzenwäsche, frühstücken schnell und setzen uns in die Straßenbahn. Die Domplatte, die durch das herabfallende Tageslicht hell schimmert, ist fast leer. Nur höchstens zwanzig Touristen, die es bestimmt auch genießen, dass jetzt alles so schön frei ist, verteilen sich über den gesamten Platz. Den Kölner Dom ohne Publikum zu fotografieren, das macht wirklich Spaß.

Wir betreten den Dom in Erwartung dessen, dass wir auch dort ziemlich allein sein werden. Irrtum. Ein Gottesdienst findet statt, an dem überraschend viele, überwiegend ältere Leute teilnehmen. Vorne jedoch stehen zehn junge Männer, in langen weißen Gewändern, und singen nach den Vorgaben des Dirigenten Kirchenlieder. Nicht dass ich die Lieder erkennen würde, aber es ist eben eine ganz bestimmte Art von Gesang.

Nach einer Weile verlassen wir den Dom und gehen in die fast leere Hohe Straße, welche normalerweise von Menschen nur so wimmelt. Außer einigen Italienern, die laut sprechend und mit großen Gesten durch die Straße schlendern, tippeln nur Tauben auf der Straße herum. Und wir. Immer wieder bleiben wir stehen und machen Fotos der schmalen Straße mit ihren Geschäften, was all die vielen Tauben mit Gurren kommentieren.

Auch das Einbiegen in die Schildergasse überrascht mit noch immer großer Leere, obwohl jetzt, kurz nach halb zehn, doch schon ein paar mehr Menschen unterwegs sind. Einige Jogger und Radfahrer bewegen sich eilig durch die Straße. Und so mancher Mensch sieht aus, als wäre er (oder sie) gerade aus einer Kneipe gekommen. Immer weiter führt uns der Weg, bis hin zum Neumarkt, den momentan bloß wenige Autos umrunden.

Am Schluss besuchen Hannes und ich noch ein Café, trinken etwas und denken darüber nach, dass wir sonst um diese Uhrzeit daheim noch beim Frühstück sitzen, dagegen jetzt schon eine Fülle von Eindrücken gewonnen haben. Mir ist jedenfalls klar, dass ich von diesem kleinen Ausflug wieder eine Zeitlang zehren kann; solche Aktionen wirken auf mich stets äußerst belebend.

Ein paar Tage später sitzen Hannes und ich im Gartenlokal an der Ecke; wir wollten einfach mal raus aus der Bude. Irgendwann kommt das Gespräch auf das Segeln, eigentlich kein Thema für uns. Trotzdem versuchen Hannes und ich uns in Leute herein zu denken, deren Traum eine Weltumsegelung ist.

„Finde ich toll, wenn Leute noch Träume haben. Ich habe eigentlich keine mehr.“ erwähne ich eher beiläufig.

Keine Reaktion. Mein Satz hängt mir noch lange im Ohr. Wieso habe ich keine Träume mehr? Und wieso findet mein eigener Mann das nicht seltsam oder zumindest bedauernswert?

Soeben haben wir noch jeder ein frisches Kölsch bekommen, da setzt unvermittelt ein mittlerer Wolkenbruch ein. Wir bleiben dennoch draußen sitzen, warm genug ist es ja, und der große Sonnenschirm schützt uns größtenteils vor dem Regen. Ab und zu weht der Wind zwar ein paar Tropfen zu uns hin, was aber nicht viel ausmacht. Was mir aber vorher, als wir uns beim noch sonnigen und hellen Licht gegenüber saßen, was ausgemacht hat, war eine überraschende Erkenntnis. Gucke ich Hannes sonst nicht so intensiv an oder wieso bemerke ich heute in aller Deutlichkeit: Mein Mann ist alt geworden. Die teilweise grauen, etwas zu langen Haare, und auch der Bart mit seinen diversen Grauschattierungen. Die faltenreiche Haut und die heute etwas müden Augen. Ich bin erschüttert.

Aber möglicherweise wäre ich erst recht erschüttert, wenn Hannes mir ähnliche Betrachtungen aus umgekehrter Sicht schildern würde. Auch ich sitze im gnadenlos hellen Licht, auch ich werde immer grauer. Zwar habe ich noch nicht so viele Falten, das haben die nicht ganz Schlanken sowieso eher selten, aber besonders frisch sehe ich auch nicht mehr aus. Bestimmt gut, dass ich das Thema nicht anspreche, wer weiß, was ich sonst zu hören bekäme. Wir bestellen uns jeder noch ein Bier und hängen weiter unseren Gedanken nach.

Unsere Kinder sind auf der Reise nach Wacken, zum Heavy-Metal-Festival, und ich bin ein bisschen nervös. Ob wohl alles klappen wird mit dem Volvo, dem für Britta ungewohnten Auto? Sie hat den Wagen lediglich einen Tag lang probegefahren, um ein Gefühl für das Fahrzeug zu bekommen. Ihre sonstigen Wegstrecken bewältigt sie mit dem Fiesta. Nach sechs Stunden Fahrtzeit müssten sie längst in Norddeutschland angekommen sein, doch es erfolgt keine Nachricht; mit einer kurzen SMS wäre ich schon zufrieden.

Jetzt kann ich erahnen, wie unruhig vermutlich unsere eigenen Eltern waren, als Hannes und ich uns vor Jahrzehnten auf große Fahrt gemacht hatten. 1972 ging es im alten VW-Käfer nach England, von Calais per Fähre nach Dover. Die anschließende Fahrt entlang der Küste Südenglands dauerte länger als erwartet, und erst als wir zwei oder drei Tage später unser Reiseziel in Cornwall erreicht hatten, riefen wir zuhause an. Beide Eltern wirkten recht aufgeregt. Damals konnten wir kaum glauben, dass sie sich Sorgen gemacht hatten. Uns ging es doch gut. Jetzt begreifen wir es schon.

An einem warmen Freitag Anfang August treffen meine Freundin Anita und ich uns im Eiscafé. Nachdem unsere Eisbecher leer gelöffelt sind, unterhält sie sich ein paar Minuten mit jemandem am Tresen. Ich sitze derweil allein am Tisch und höre der Musik zu. Oh, da läuft gerade „You really got me“ von den Kinks, das höre ich gern. Schnell bin ich dabei, den Takt zu schlagen, ich bearbeite ein imaginäres Schlagzeug. Aber rechtzeitig fällt mir ein, dass man das wohl nicht macht in meinem Alter. Wenn das alle machen würden ...

Ja, wenn das alle machen würden, wäre die Welt vielleicht insgesamt ein kleines bisschen lustiger. Dann wäre der Anblick eines nicht mehr jungen taktschlagenden Menschen völlig normal, weil es ein häufiger Anblick wäre. Aber so käme, falls mir jemand beim Trommeln zuschauen sollte, wohl nur der Gedanke: Die Alte spinnt. Und schnell sitze ich wieder friedlich und still auf meinem Stuhl und warte darauf, dass Anita zurückkommt.

Meine Freundin Ines und ich treffen uns in der Innenstadt. Wir stöbern zunächst in den Läden auf Schildergasse und Hohe Straße herum und gehen dann bei Campi am Wallrafplatz etwas essen. Während wir da sitzen, wird es immer dunkler, bis schließlich ein starker Platzregen niedergeht. Doch wir sitzen gut unter einem der Riesensonnenschirme und können, während wir unsere Baguettes essen, den Leuten zusehen, wie sie versuchen, schnell vor dem Regen davon zu laufen. Es nützt aber nichts, die meisten werden nass, was wir nicht ohne gewisse Schadenfreude feststellen.

Ines hatte vorübergehend aushilfsweise in der Firma ihres Mannes gearbeitet, doch das ist nun vorbei. Jetzt plant sie wieder ihre Freizeit, mit Tennisspielen und sonstigen Aktivitäten, und ich ertappe mich beim zweifelhaften Gefühl von Neid. Nicht aufs Tennisspielen, das kann ich sowieso nicht, aber auf die viele freie Zeit. Überhaupt hat Ines so viel Tolles zu berichten, denn in ihrer Familie läuft es gut. Alle sind gesund und fit, freuen sich auf den bevorstehenden Urlaub, und bei den studierenden Söhnen ist auch alles im Lot.

Ines ist eine Freundin, die gut zuhören kann, für alles Verständnis zeigt und so manchen Rat geben kann. Sie wäre diejenige, der ich mal was von der ständigen Müdigkeit und sonstigen Schwierigkeiten oder Ärgernissen in meinem Leben erzählen könnte. Aber wie sollte das gehen? Meine privaten Misslichkeiten passen doch gar nicht zu ihren positiven Nachrichten. Wie käme ich mir vor, wenn ich jetzt zugeben würde, dass bei uns nicht alles gut läuft. Also behaupte ich, dass auch bei uns alles in Ordnung ist.

Aber das ist es ja bei weitem nicht. Mit meiner Unzufriedenheit über den ganzen Alltagskram weiß ich manchmal nicht, wohin. Augenblicklich missfällt mir daheim so vieles, obwohl Hannes diverse Hausarbeiten übernimmt. Wenn ich zuhause ankomme, vom Büro oder von meiner Mutter, geht für eine Weile gar nichts mehr. Erstmal hinlegen, etwas lesen, manchmal sogar kurz einschlafen, und anschließend mit Mühe wieder aufrappeln, um noch etwas im Haushalt zu erledigen. Mir fehlt schlicht die Energie. Die ganze Situation macht mich täglich unglücklicher, und ich weiß nicht, wie ich daran etwas ändern kann.

Zwei Wochen später. Meine Unzufriedenheit der letzten Zeit hat endlich was bewegt. Mit der Folge, dass ich nicht nur Hannes, sondern auch mich selbst überrumpelt habe. Nur kurz hatte ich Anfang der Woche erwähnt, dass es dringend nötig sei, endlich mal wieder im Wohnzimmer die Wände zu streichen.

„Ja, das stimmt aber auch.“ antwortete Hannes.

„Am Wochenende?“ fragte ich ganz nebenbei.

„Ja, warum nicht. Könnten wir machen.“

Für ihn war damit das Thema erledigt und er wandte sich anderen Dingen zu. Ich nicht. Ich plante. Drei Tage lang redete ich mir selbst Mut zu, denn es musste ja sein. In diesem Zustand, acht Jahre war nicht gestrichen worden, konnte der Raum unmöglich bleiben. Dann verließ Hannes für einige Stunden das Haus, und meine Stunde war gekommen.

Ich begann unmittelbar, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, mit dem Ausräumen des Zimmers. Ein bisschen planlos erst, denn ich hatte mir vorher nicht viele Gedanken über den genauen Ablauf gemacht, aber schnell nahm es Formen an. Die Aktion war jedoch zeitraubender und anstrengender als ich erwartet habe; Kartons für den vielen Kleinkram hatte ich auch noch keine, die würde mir der zweifellos überraschte Hannes geben können, wenn er wieder daheim wäre. Anschließend nahm ich die Bilder von den Wänden. Unter allen Umständen wollte ich erreichen, dass schon so viel Zeug weg- und abgeräumt war, dass ein Zurückräumen schlicht blödsinnig sein würde. Mir war nämlich schon klar, dass sich die Begeisterung meines Ehegatten für die ganze Aktion sehr in Grenzen halten würde.

Einen Teil des Bücherregals leerte ich ebenfalls, wobei mir diverse alte, leicht vor sich hin müffelnde Bücher in die Hände gerieten. Schnell landeten einige dieser alten Schinken in der blauen Tonne, schön bedeckt von einigen Tageszeitungen, damit Hannes nicht etwa verräterische Buchkanten sehen und den ganzen Krempel wieder hervorholen würde.

„Oh Gott, was ist denn hier los?“ fragte Hannes, der noch pfeifend das Haus betreten hatte, jetzt aber sprachlos und ungläubig in das Wohnzimmer starrte. Als ich ihn daran erinnerte, wir hätten doch ausgemacht, am Wochenende anzustreichen, erkannte ich an seinem Gesicht, in dem sich nun mittleres Entsetzen widerspiegelte, dass meine Idee des Ausräumens goldrichtig gewesen war. Keineswegs nämlich hätten wir ansonsten am Wochenende mit dem Anstreichen begonnen.

Was habe ich da bloß angefangen, fragte ich mich kurz darauf. Auf einmal bekam ich Angst vor der eigenen Courage, mir graute regelrecht vor der bevorstehenden Arbeit, während Hannes sein Schicksal offenbar bereits angenommen und, nun schon wieder pfeifend, diverse Bananenkartons hervor gezaubert und mit allerhand Kram aus dem Wohnzimmer gefüllt und irgendwo verstaut hatte. Jetzt war er nämlich derjenige, der sich schon freute; wohl weniger auf die Arbeit als auf das zu erwartende Ergebnis. Einige Momente lang saß ich in leicht panischer Stimmung auf dem Sofa und dachte an Hannes‘ Bruder Bert, der eine größere Umbauaktion an seinem Haus plant und mit großem Mut und voller Selbstvertrauen an die Sache heranzugehen scheint.

„Dann werden wir doch wohl ein Zimmer angestrichen kriegen!“ Das Resumée aus den Gedanken an Bert sprach ich laut aus, wie eine Beschwörungsformel. Ich trank meinen Rest Kaffee, der längst kalt geworden war, und machte mich wieder an die Arbeit, ans weitere Ausräumen.

Das alles ist jetzt vier Tage her. Und nun, nachdem alles fertig ist, sitze ich zufrieden, wenn auch etwas abgespannt, auf dem Sofa, betrachte das wieder vollständig eingeräumte Wohnzimmer, welches in seinem warmen Gelbton ausgesprochen wohnlich aussieht, und bin froh, dass ich endlich mal ein Problem ernsthaft angegangen bin.

Unsere Freundin Silvia hat mich eingeladen zu einem „Haydn-Konzert; im Rahmen der „Brühler Schlosskonzerte“, die alljährlich im August stattfinden. Als wir im Konzertsaal sitzen, sehe ich mir die anderen Besucher an und mache meine Studien: Wer weiß, wie viele Leute hier wirklich freiwillig sitzen, fein gemacht und frisch frisiert. Nicht alle wirken, als würden sie locker und unbeschwert in Erwartung der Musik sein, die ihnen gleich geboten wird. Es ist vielleicht ein Geburtstagsgeschenk von den erwachsenen Kindern („Mama und Papa haben ja sonst schon alles.“) oder das Ergebnis einer überredungsbegabten Freundin („Geh doch mal mit, ich kann günstig an Karten kommen.“). Vielleicht sitzt hier auch so mancher Mensch im reiferen Alter, für den ein solcher Konzertbesuch zum guten Ton gehört („In unserem Alter macht man das eben.“). Sie holt zu diesem Zweck ihr feines Brokatkleid aus dem Schrank, dazu die eleganten, für den Anlass perfekten Schuhe, die aber ziemlich unbequem sind. Er zieht den Anzug an, seinen „guten“, bei dem aber überraschend die Hose kneift. („Sieht keiner, wenn Du die aufmachst. Sitzen ja Leute vor Dir. Musst nur beim Aufstehen dran denken.“) Vielleicht aber wollen sie sich, meinen hämischen gedanklichen Anmerkungen zum Trotz, ganz einfach nur einem wunderbaren Kunstgenuss hingeben, wie er nur in Live-Aufführungen möglich ist.

Während des Konzerts sitzt Silvia neben mir mit geschlossenen Augen und lächelt; sie hat viel mehr Ahnung von klassischer Musik als ich. Aber auch ich genieße die angenehmen Klänge, die verschiedenen Sinfonien und fühle mich richtig wohl. Auf einmal höre ich ein fremdes Geräusch, welches nicht zur Musik passen will. Schräg links von uns schnarcht ein alter Mann; leicht zusammengesackt sitzt er da, und seine Nachbarin, wohl die Ehefrau, bemüht sich so unauffällig wie möglich, ihn wach zu bekommen. Es fällt offenbar schwer, doch endlich gelingt es ihr. Keine drei Minuten später beginnt wieder das gleiche Spiel. Ich beobachte die beiden mit großem Vergnügen, wage es aber nicht, Silvia rechts neben mir anzugucken. Zweifellos hat sie das nette Zwischenspiel ebenfalls im Blick, aber wenn wir uns jetzt auch nur für einen Moment ansehen würden, könnte zumindest ich mich nicht mehr ernst halten. Vor lauter Anspannung sitze ich ganz verkrampft da und bin richtig erleichtert, als eine Pause angekündigt wird. Sofort stehen die Leute auf, es wird unruhig und das ist die Rettung. Silvia und ich sehen uns an und prusten sofort los. Jetzt dürfen wir ja, in der Pause stört es niemanden.

„Du hast ganz angespannt und kerzengerade da gesessen, und ich hab jeden Moment damit gerechnet, dass Du laut loslachen würdest.“ kichert sie.

„Viel hätte auch nicht gefehlt,“ antworte ich, „und wenn ich Dich angeguckt hätte, wär es aus gewesen.“

Wir amüsieren uns über die kleine Episode, vergessen darüber aber ganz, uns über die schöne Musik zu unterhalten, wegen der wir schließlich hier sind. Kulturbanausen!

Nachdem die Pause beendet ist, und das Konzert weitergeht, sitzen Silvia und ich ganz still auf unseren Plätzen und hören in Ruhe zu. Die Stühle des älteren Paares sind leer.

Ein Friseurbesuch steht an. Eigentlich fühle ich mich gut, relativ ausgeruht, und finde, dass ich im Gesicht nicht so eigenartig verquollen aussehe wie manchmal. Nachdem der Friseur meine Haare gewaschen hat, wage ich einen ersten Blick in den Spiegel. Doch was sehe ich da? Schatten unter den Augen, die viel müder gucken als ich mich fühle. Fahle, dicke Wangen. Und sehr vorteilhaft ist es auch nicht, wenn der Friseur mir die Haare ganz aus dem Gesicht kämmt. Ein bleiches Mondgesicht starrt mich da an, dabei ist das Licht beim Friseur doch angeblich eher schmeichelnd. Bei mir wird jetzt aber nicht geschmeichelt, deshalb gucke ich gleich wieder weg, nach unten, was aber zweifellos aus meiner Kinnpartie ein Doppelkinn macht. Gut, dass niemand neben mir sitzt und das sieht. Nun beginnt der Friseur mit dem Haarschnitt, auf dass die Kettchen an seinen schmalen Handgelenken nur so klirren. Wir reden über dies und jenes, mein gertenschlanker Friseur in den modischen Klamotten und ich. Einmal rede ich auch gehörigen Unsinn. Es geht um unsere geplante Urlaubsfahrt.

„Wohin fahrt Ihr denn?“ fragt mein Haarspezialist.

„Richtung Süden“ kommt da, wobei ich mich gleich korrigiere, „Richtung Saarland, meine ich.“ Was war das denn wieder? Leider ist es mir schon mehrmals passiert, dass ich etwas ganz anderes gesagt habe, als ich eigentlich vorhatte. Beginnende Demenz oder sonstige geistige Schwächen?

Schließlich wird mein Haar geföhnt. An mein Gesicht habe ich mich langsam gewöhnt und wage sogar einen längeren Blick in den Spiegel. Beim Bezahlen strahlt mich der Friseur überaus nett und charmant an. Vielleicht sehe ich ja doch nicht so schlimm aus. Aus lauter Dankbarkeit gebe ich ihm ein richtig gutes Trinkgeld. Er bringt mich zur Tür, und erst draußen fällt mir ein, dass er vorhin eine andere Kundin, eine ziemlich dicke, ältere Frau, genauso strahlend verabschiedet hat.

Seit vielen Jahren machen Hannes und ich für einige Tage Abstecher in uns unbekannte Gegenden Deutschlands. Längst haben wir festgestellt, dass es nicht unbedingt nötig ist, weite und kostspielige Auslandsreisen durchzuführen, um immer wieder andere Regionen zu erkunden; die landschaftliche Vielfalt unseres eigenen Landes ist groß genug. So haben wir uns in Süddeutschland aufgehalten, wobei es uns die Gegend rund um den Chiemsee besonders angetan hat. Sehr gerne mögen wir auch die Küsten von Nord- und Ostsee oder die reizvolle Mecklenburger Seenplatte. Diesmal also steht eine kleine Reise ins Saarland an. Doch die Sorge, dass Marvin zuweilen morgens nicht seinen Wecker hört, belastet mich. Und wie wird meine Mutter zurecht kommen? Zu allem Überfluss ist auch noch schlechtes Wetter mit viel Regen angesagt für die nächsten Tage. Ich glaube, ich habe mich selten auf eine Urlaubsfahrt so wenig gefreut wie diesmal. Und auch die nervtötende Kofferpackerei vor der Reise. Wie wird das Wetter sein? Wieviel Variationsmöglichkeiten habe ich mit welchen Kleidungsstücken? Und die ganze Sortiererei, bis alles im Koffer ist. Ich frage mich, ob es sich für die kurze Urlaubsdauer überhaupt lohnt, einen solchen Aufwand zu betreiben. Gleichzeitig denke ich ständig darüber nach, ob Marvin und meine Mutter jeweils alleine zurecht kommen werden. Schließlich kommt mir ein erlösender Satz immer deutlicher in den Sinn, bis es wie in Großbuchstaben da steht: Es sind beides erwachsene Menschen, die eine Woche ihren Kram ohne mein Zutun machen müssen. Mehr nicht. Nachdem mir das richtig klar ist, fühle ich mich besser.

Hannes‘ Gepäck ist mittlerweile komplett, meine Sachen sind noch unvollständig. Nun habe ich die ganze Woche überlegt, doch trotz aller Vorbereitung ist mir ein Fehler unterlaufen, was mir erst spät auffällt: T-Shirts für Marvin, Wäsche und Socken, alles genug da. Auch für Hannes. Auch für mich? Nein! Unterhosenmäßig ist da was schiefgelaufen. Vier Stück. Der Rest ist im Wäschekorb. Also schnell noch in den Kaufhof, um ein paar weitere Exemplare zu besorgen.

In letzter Zeit rege ich mich oft darüber auf, dass auf den Verpackungen vieler Artikel Inhaltsangaben oder sonstige Hinweise viel zu klein gedruckt sind. Manchmal ist es mir nicht möglich, einen Text zu entziffern. Nun aber muss ich Unterwäsche haben, und siehe da, hier ist der Hersteller kundenfreundlich. Die Größe ist dermaßen gut sichtbar und in einer schönen großen Zahl auf die Verpackung gedruckt, dass es eine Freude sein könnte. Ist es aber nicht, denn als ich in der Warteschlange vor der Kasse an der Reihe bin, legt die Verkäuferin meine Packungen nach dem Scannen auf den Tresen, da sie erst kassieren möchte: So können alle Leute hinter mir sehen, welche Größe ich brauche. Zunächst spüre ich, dass ich rot werde, doch dann geht regelrecht ein Ruck durch meinen Körper (Ihr könnt mich doch mal!). Ich gucke jetzt gleichermaßen stolz und selbstbewusst geradeaus, als wäre es das Erstrebenswerteste der Welt, einen Hintern zu haben, der in Größe 44 passt.

Am Sonntagvormittag starten Hannes und ich unsere Fahrt ins Saarland, und noch bevor wir auf der Autobahn sind, fallen die ersten Regentropfen. Wir kommen trotz der Witterung gut vorwärts und genießen die Fahrt durch schöne Landschaften und diverse Eifeldörfer, hier scheint sogar ab und zu die Sonne. Mancherorts steigt Nebel hoch aus den Hügeln und Bergen, was sehr geheimnisvoll wirkt, und uns beiden gut gefällt. Zunächst landen wir in Saarburg, finden schnell ein Hotelzimmer, bringen unseren Koffer hinein und gehen gleich wieder los. Viele Wege führen bergauf und wieder bergab, Treppchen hoch und wieder runter. Bald hören wir ein gewaltiges Rauschen, dem wir nachgehen. Es ist das Flüsschen Leuk, welches unter lautem Getöse in einem beeindruckenden Wasserfall hinab donnert. Wir entdecken verwinkelte Gässchen und gepflasterte Straßen, sehr alte Häuser, einige davon mit Fachwerk; Saarburg ist 1.000 Jahre alt. Mauersegler lassen sich von ihren Startplätzen herab gleiten und fliegen den Passanten fast um die Ohren.

Nach einem ersten Rundgang haben wir Hunger, es beginnt ohnehin wieder zu regnen. Wir entscheiden uns für ein Weinlokal, welches wir nach Bewältigung von etwa 30 abwärts führenden Stufen betreten können; regelrecht in den Berg hinein gebaut sind die Häuser auf dieser Seite der Straße. Hunderte von kleinen Lampen sind auf die sehr ansprechend dekorierte Weinstube verteilt. Mir gefällt es hier drinnen, aber Hannes ist es viel zu laut. Die Musik und das laute Gequatsche und Gelächter an der Theke, an der sich gut gelaunte, fröhlich trinkende Männer mit der Wirtin unterhalten. Dazwischen das Gedudel des Spielautomaten, der zum Geldeinwurf herausfordert. Daher setzen wir uns ins Nebenräumchen, in dem sich momentan nur zwei Jugendliche mit einer Art Kampftrinken beschäftigen. Wir bekommen Bier sowie Zwiebelkuchen und beginnen genüsslich zu essen.

Danach gehen wir ein weiteres Mal kreuz und quer durch die Straßen und gucken uns für einige Minuten die ruhig und behäbig dahin fließende Saar an, in der sich die Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegeln. Wir bestaunen die von freundlichem, warmem Licht bestrahlte Saarburg hoch oben über der Stadt. Darüber der Himmel, in einem dunklen Blau. Wird es morgen schön? Als wir später unsere Betten aufdecken, sehen wir, dass sie eine Gummieinlage unter dem Bettlaken haben, mit was rechnen die denn hier? Ich lese noch, Hannes aber schläft sofort ein. Und bald schon setzt sich das Sägewerk neben mir in Gang, aber da ich nicht mehr so gut höre, stört es nicht so sehr wie früher.

Ich habe meinen Wecker dabei, damit ich unseren Schüler in Köln wecken kann. Doch Marvin versichert mir bei meinem Anruf kurz nach sieben am nächsten Morgen, er sei schon wach gewesen. Gleich nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg, um zur Saarburg hochzusteigen. Die Burg ist im 10. Jahrhundert durch Graf Friedrich von Luxemburg erbaut worden. Diverse Erzbischöfe, Zerstörungen und Wiederaufbauten, auch die Franzosen waren zeitweise im Spiel. Um die Burgruine vor dem gänzlichen Verfall zu schützen, wurde die Burg im Jahre 1860 für 325 Taler von der Stadt Saarburg gekauft. Viele Stufen wieder, dafür aber wunderschöne Ausblicke auf die gesamte Umgebung. Und kein Regen.

Wir verlassen die hübsche kleine Stadt und fahren nun an der Saar entlang. Rechts der Fluss, links Weinberge. Nach einer Weile kommen wir an einem Steinbruch vorbei, der alles in der näheren Umgebung rot einfärbt. Die Mauern eines kleinen Häuschens, der LKW und sogar die Leitplanke an der Straße gegenüber dem Werk – alles ist rosarot eingefärbt. In Orschotz/Mettlach sehen wir uns die Saarschleife an, von einer ziemlichen Höhe aus geht das hier. In einer mächtigen Kurve windet sich die Saar durchs Land. Es ist ein wirklich imposanter Ausblick, der sich uns da bietet, und wir bleiben bestimmt eine halbe Stunde, um die Sicht zu genießen. Der Blick geht weit ins Land, viel Wald und ganz hinten Berge, über denen der Nebel schwebt. Ganz ruhig ist es hier oben. Weit unten auf dem Fluss kommt ein Schiff in Sicht, ein ziemlich langer Kahn, der Kohle geladen hat. Majestätisch gleitet er dahin, und es dauert eine geraume Zeit, bis er die Strecke bewältigt hat und aus unserem Blickfeld verschwindet. Weiter geht unsere Fahrt, und wir kommen durch Dillingen. Hier vor Ort wird immer noch Bergbau betrieben, vorbei geht es an einem Bergwerksbetrieb, viel Dampf quillt aus den Rohren, auch in Hellblau und Rosa. Hier wird noch harte Knochenarbeit geleistet.

Schließlich erreichen wir Saarlouis. Wir hatten gelesen, dass diese Stadt einen französischen Einschlag hat und würden das gerne mal nachprüfen. Doch auf dem großen Platz in der Innenstadt, um den herum vermutlich prächtige Häuser stehen, ist eine große Kirmes aufgebaut. Dazu kommt, dass der Himmel mit all seinen dunklen Wolken, aus denen es weiterhin schüttet, keine Hoffnung mehr auf trockenes Wetter verspricht. An einer Fußgängerampel komme ich mit einer Frau ins Gespräch – oder sie mit mir. Sie regt sich schrecklich über den Regen auf, kann aber trotzdem nicht nachhause gehen. „Isch muss jetz warte. Do drübe gibsch Dauerbackfolie. Die muss isch hem.“ Von Saarlouis sehen wir insgesamt wenig, aber nun weiß ich, dass es Dauerbackfolie gibt. Hannes und ich flüchten in ein Café und überlegen, was wir machen sollen. Wetteränderung ist nicht angesagt. Nach einer Weile des Überlegens entscheiden wir uns für die Heimfahrt. Hannes ruft Marvin an, um ihn vorzuwarnen.

„Der hat nicht gerade begeistert geklungen.“ meint er.

„Das hab ich mir schon fast gedacht,“ antworte ich, „aber wir können uns doch deswegen jetzt nicht einregnen lassen. Nur damit Marvin seine Ruhe hat, ohne uns.“ Am Abend sind wir wieder in Köln.

Am nächsten Tag bin ich bei meiner Mutter, um ihr frische Lebensmittel zu bringen und den Müll runter zu tragen. Mehr soll ich nicht tun.

„Du hast doch noch Ferien.“

Meine Mutter sieht frischer aus als vor wenigen Tagen, ich habe das Gefühl, dass sie vor unserer Urlaubsfahrt etwas angespannt war, Doch davon kann keine Rede mehr sein, sie wirkt ausgeglichen und zufrieden, und wir reden über allerhand Dinge. Eine ganze Weile geht es um ihre Erinnerungen an längst vergangene Jahre. Sie erzählt von Nachkriegserlebnissen und den Jahren als junge Ehefrau und Mutter. Recht umfassende Schilderungen bekomme ich von ihr. Anschließend hat sie ein fröhliches Gesicht, glänzende Augen und richtig rote Wangen. Ich werde mir künftig viel mehr Zeit für sie nehmen, allein um sie auf solche Geschichten zu bringen. Das Nachdenken und Reden darüber tut ihr so gut.

In der vergangenen Nacht bin ich öfter wach geworden, und wie häufig in solchen Fällen habe ich im aktuellen Buch weiter gelesen, welches neben meinem Kopfkissen liegt. „Garten der Frauen“ von Patricia Gaffney. Am späten Sonntagmorgen wache ich auf mit dem eigenartigen Gefühl, etwas verloren zu haben, doch sogleich fällt mir ein, dass ich in der Nacht leider mein Buch zu Ende gelesen habe. Darin geht es um eine großartige Freundschaft; das Leben von vier Frauen in mittleren Jahren wird geschildert, mit allen Höhen und Tiefen, lustigen und leider auch sehr traurigen Begebenheiten. Eine sehr warmherzige und berührende Geschichte. Am liebsten würde ich gleich noch mal von vorne beginnen mit dem Buch.

Ich denke darüber nach, dass ich eine solch intensive Art von Freundschaft unter Frauen nie kennen gelernt habe, soviel Anteilnahme und echtes Wohlwollen. Dieser Gedanke tut etwas weh. Am ehesten wäre vielleicht meine Freundin Anne für eine tiefer gehende Freundschaft infrage gekommen. Immer haben wir uns vertraut und konnten uns stets aufeinander verlassen. Wir kannten uns, seit wir 13 Jahre alt waren, und haben als Jugendliche viel Zeit miteinander verbracht. Wir mochten die gleiche Musik und die gleichen Klamotten, und konnten über so vieles sehr lachen. Zu einer intensiven Erwachsenenfreundschaft kam es leider dann doch nie. Und jetzt ist Anne schon seit Jahren tot.

An drei andere Freundinnen denke ich, jede Einzelne ist richtig nett, zuverlässig, herzlich und eine gute Zuhörerin. Mit jeder bin ich stets gern zusammen, doch haben wir es nie geschafft, uns allzu persönliche Dinge anzuvertrauen; das Schildern sehr privater Erlebnisse blieb stets außen vor. All diese Gedanken schwirren noch bis zum späten Vormittag in meinem Kopf herum. Ich hocke trübsinnig herum, kann mich zu nichts aufraffen und finde mein Dasein recht trostlos. Leicht depressiv heute. Hannes und Marvin, die das merken, können mir auch nicht helfen, obwohl beide versuchen, mich aufzumuntern.

Wenige Tage später geht es mir wieder besser. Meine Tochter Britta und ich machen einen ausgiebigen Stadtbummel. Sie ist sehr begeisterungsfähig und entdeckt in fast jedem Schaufenster etwas, das sie in die Läden lockt. Begutachtet wird vieles, gekauft nur wenig. Manches dient als Anregung:

„Sowas hab ich schon im Schrank hängen, das brauch ich jetzt nur mal mit ner anderen Farbe kombinieren, und schon hab ich wieder was Neues.“ freut sie sich.

Ich bin gerne mit Britta unterwegs, ihre gute Laune springt stets schnell auf mich über. Was mir aber sehr zu schaffen macht, ist die Musik in den Geschäften oder Modebereichen der Kaufhäuser. Möglichst laut, schrill und oft aus übersteuerten Anlagen. Bin ich eine Ausnahme? Fühle nur ich mich nach spätestens einer Stunde und etwa 20 verschiedenen Musiktiteln völlig groggy? Ich trotte hinter Britta her durch die Geschäftsstraßen und könnte dabei die Augen zufallen lassen. Wenn es mir gelänge, wäre es sicher besser, die Ohren zufallen zu lassen. All die Musik ist eben für junge Leute vorgesehen, die sollen schließlich in die Läden gelockt werden. Vielleicht sollte ich beim nächsten Stadtbummel vorsorglich Ohropax einstecken.

Straßenbahnfahren ist für mich oft so abwechslungsreich wie der Besuch einer Kleinkunstbühne. So wie heute: Ich sitze in der Bahn und es herrscht ein gemütliches Schweigen vor; die meisten Leute dösen vor sich hin und sind vermutlich froh, dass sie in Ruhe gelassen werden. Noch nicht einmal ein Handy ist im Einsatz. Alle dösen.

Oder doch nicht? Ziemlich genau vor mir, jedenfalls in meinem Sichtbereich, lehnt eine junge Frau neben einer Tür. Das kleine Mädchen auf dem Arm dieser Frau ist momentan der einzige Mensch hier, der sich überhaupt bewegt, aber Kinderhände haben ja immer was zu untersuchen oder auszuprobieren. Doch das allseits ruhige Geschehen ändert sich bald und auf einmal kommt richtig Leben in die Bahn. Eine Frau, die die Kleinfamilie ebenfalls im Blick hat, zappelt aufgeregt auf ihrem Sitz herum und ruft, wild gestikulierend, „Hallo, hallo ...“ in Richtung Kleinkind samt Mutter. Auch diese wird plötzlich äußerst lebendig und bewegt sich mit dem Kind hastig an eine andere Stelle. Schade eigentlich. So werden wir alle wohl nie erfahren, ob es einem zweijährigen Kind tatsächlich gelingen könnte, mittels Notbremse eine Straßenbahn ans Halten zu kriegen.

Erneut bin ich mit der Bahn unterwegs. Ein Stück vor mir sitzt ein Mann, etwa 50 Jahre alt. Er schläft. Eine alte Frau in der Nähe sieht öfter zu ihm hin. Schließlich steht sie auf und beginnt ihn zu wecken. Schwieriges Unterfangen. Doch dann sitzt er einigermaßen gerade und hört ihr zu. Sie redet auf ihn ein, und Sätze wie „Sie sind doch noch jung.“ und dergleichen dringen zu mir rüber. Offensichtlich bemüht er sich ernsthaft, teilzunehmen und der freundlichen Frau zuzuhören, aber vergebens. Er nickt ein. Die Frau sitzt wieder an ihrem alten Platz, beobachtet ihn aber weiter. Ihn, der sich wieder in enormer Schieflage befindet – und weiter schläft. Nun beginnt sie, in ihrer großen Tasche herumzuwühlen, um schließlich einen Apfel und eine Pflaume zutage zu fördern. Und er lässt sich nochmal wecken. Die Frau blickt währenddessen immer wieder entschuldigend in die Runde. Ihre Mimik und Gestik drücken aus: „Der ist betrunken.“ Ja, das haben wir, die anderen Fahrgäste, auch schon mitbekommen. Alle gucken dem Geschehen interessiert zu. Nun beginnt der Mann, die Pflaume zu essen. Mit großem Appetit und einem gewissen Vergnügen scheint er die unverhofft erhaltene Vitamindosis zu sich zu nehmen. Auch seine Körperhaltung ist mittlerweile stabiler. Die Frau freut sich sichtlich und guckt mit freundlichem Blick in die Runde. Schließlich verlässt sie nach diversen weiteren, den Mann aufmunternden Worten die Bahn. Aber vorher, sozusagen als Highlight der ganzen Situation, bekommt sie von ihm einen formvollendeten Handkuss. Der Mann wird auch schon bessere Zeiten erlebt haben, denn das konnte, eine gewisse Eleganz und Selbstverständlichkeit war nicht zu übersehen, nicht der erste Handkuss gewesen sein, den er vergeben hat. Er ist momentan beglückt, sie auch – bestimmt noch für längere Zeit. Im Gedanken daran, dass sie so ein armes menschliches Wrack ein wenig hat aufmuntern können. Sie steigt aus und geht ihres Weges, und kann daher nicht sehen, dass er erneut auf seinem Sitz zusammensinkt, den Obstkern vermutlich noch in der Hand, und weiter schläft.

Marvin begleitet mich wenige Tage später ins Max-Ernst-Museum. Mit der Bahn fahren wir nach Brühl, von der Haltestelle aus ist es noch ein gutes Stück zu Fuß bis zum Museum. Nicht immer kann ich mit Marvins schnellem Gang Schritt halten, sage aber nichts und beeile mich lieber. Die gute Stimmung soll nicht beeinträchtigt werden. In Ruhe betrachtet er mit mir die Bilder und Skulpturen, welche ich vielfach so toll und witzig finde, die ihm aber eher wenig sagen. Ein Museumsfan ist er ohnehin nicht. Anschließend gehen wir noch ein Eis essen. Und mir kommt es wie eine kleine Kostbarkeit vor, dass Marvin, der schon lange nicht mehr bereit war, mit seinen Eltern irgendetwas zu unternehmen, mit mir unterwegs war.

Momentan habe ich richtig Kummer mit meinen Haaren. Fast täglich stehe ich vor dem Spiegel und überlege, ob ich sie nicht doch wieder färben sollte. Der Übergang ins Graue ist nach etwa einem dreiviertel Jahr des Herauswachsenlassens überaus gut zu sehen und wirkt gar nicht schön. Wie machen das eigentlich die anderen Frauen in meinem Umfeld? Viele sind blond, da fällt das nachwachsende Grau nicht so stark auf. Einige sind dunkelhaarig und haben entweder noch ihre Naturhaarfarbe oder färben regelmäßig. So einen Kopf wie ich hat keine. Hoffentlich sieht es nicht einfach nur nachlässig aus. Ich kann mir aber doch kein Schild auf den Kopf setzen mit dem Hinweis „Übergangsphase“.

Ein paar Tage später möchte ich mir beim Arzt ein Rezept ausstellen lassen, doch mir fällt beim besten Willen nicht der Name des Medikaments ein, welches ich seit Jahren nehme. Und da mache ich mir Gedanken darüber, ob ich mit meinen grauen Haaren nicht möglicherweise zu alt aussehe. Ich bin alt. Und vergesslich! Mein Gedächtnis überrascht mich sowieso manchmal. Oft begegne ich Leuten, die ich zwar schon ewig kenne, deren Namen mir dennoch auf die Schnelle nicht einfallen wollen. Vor wenigen Tagen kam mir ein Mann aus unserer Nachbarschaft entgegen; wir kennen uns über 25 Jahre. Aber auch hier musste ein freundliches „Guten Tag“ reichen. Dagegen sah ich in der Bahn zuletzt einen schmalen, grauhaarigen Mann sitzen, welcher in einem Buch las und sich dazu Notizen machte, und im selben Moment erkannte ich ihn als Kölner Autor, den ich nur von Fotos her kenne, dessen Name aber sofort präsent war. Auch als kürzlich jemand vom „Mann mit der Pauke“ sprach, fiel mir sofort Wolfgang Neuss ein, der in den 60-er Jahren als Kabarettist einen großen Namen hatte. Solche Dinge weiß ich auf Anhieb, nur das Naheliegende, die Bezeichnung des Medikaments oder der Name des Nachbarn, bleibt leider oft vorübergehend im Verborgenen.

56

Osterbrunch – wie seit Jahren am Ostersonntag für die ganze Familie üblich. Und meinen 56. Geburtstag wollen wir diesmal gleich mitfeiern. Eigentlich ist alles ganz gut vorbereitet. Vor zwei Wochen habe ich bereits damit begonnen, indem ich die Fenster geputzt und heftig aufgeräumt habe. Eingekauft haben Hannes und ich seit Tagen. Immer wieder haben wir was heran geschleppt, Hannes in Bananenkartons, ich in Stoffbeuteln. Um 10.00 Uhr kommt wie verabredet Britta. Sie beginnt sofort, all die vielen Zutaten für den Salat Niçoise zu schnippeln. Ich mache währenddessen alles mögliche andere, stelle dies und jenes auf den Tisch oder auf die Anrichte in der Küche. Aber es dauert alles viel länger als ich gedacht hatte, und daher werde ich immer nervöser. Die Folge sind Ohrenpfeifen (nach längerer Zeit mal wieder) und Händezittern. Außerdem lässt mich die linke Hand einmal mehr im Stich; ich kann damit nicht gezielt kleine Dinge greifen und habe kaum Kraft in dieser Hand. Das passiert oft, wenn ich nervös bin. So richtig erklären kann ich meine Nervosität gar nicht, vermutlich steigere ich mich selbst hinein. Zum guten Schluss klappt es dann doch, alles ist fertig beim ersten Klingeln. Künftig sollte ich viel gelassener sein. In jüngeren Jahren habe ich mich doch auch nicht so verrückt machen lassen.

Pfingstmontag. Es gibt Spargel. Ich hatte mir vorgestellt, den Tisch mal wieder richtig schön zu decken. Mit einem Blumenstrauß in der Mitte und besonders hübschen Servietten. Das erste Problem sind die fehlenden Kartoffeln. Beim gestrigen, überraschend anberaumten Grillabend sind die alle draufgegangen, daher nehmen wir ersatzweise Kartoffelpürree. Die Hähnchenkeulen brutzeln schon im Backofen vor sich hin, als ich anfange, den Spargel zu schälen. Schnell merke ich, dass die geschätzten 25 Minuten fürs Schälen bei weitem nicht ausreichen werden. Aber egal, ich will mich davon nicht unterkriegen lassen. Hannes sieht mir über die Schulter und will beim Schälen helfen, weil er den Eindruck hat, an meinen Spargelstangen verblieben zu viele holzige Streifen. Ich finde das nicht, aber soll er mal ruhig helfen.

Nach einer Weile stehe ich wieder allein in der Küche und der Spargel kocht – über! Es sind entweder zu viele Stangen im Topf oder der ist zu niedrig. Oder beides. Jedenfalls muss ich viel überkochendes Wasser von der Herdplatte wischen. Wenn mein ökologisch denkender Ehemann jetzt sähe, wie viele Blätter Küchenkrepp dafür nötig sind, bekäme ich bestimmt einen Tadel.

Nun möchte ich die Sauce aufwärmen, doch der Packungsinhalt entpuppt sich als Zutat für ein Fischgericht; da werde ich mich wohl verguckt haben. Dann eben keine Sauce. Dafür aber hole ich aus dem Kühlschrank den gut gekühlten Weißwein, der zum Spargelgericht empfohlen wird. Endlich mache ich mal was richtig. Der Wein ist entkorkt und schmeckt leicht säuerlich. Der Tisch ist gedeckt, die Rosen stehen mitten drauf, lassen aber teilweise schon die Köpfe hängen.

Wir können endlich anfangen mit unserem Abendessen. Das Einzige, was auf diesem Tisch jetzt gut aussieht, sind die Servietten. Rote Tulpen auf gelbem Untergrund. Eine Freude fürs Auge. Nicht ganz so erfreulich sieht es auf den Tellern aus: Weiße Teller, weißer Spargel, recht blasser Pürree, dazu die Hähnchenkeulen. Wenigstens die haben eine andere Färbung.

„Also nicht nur Spargel, auch noch Pürree?“ fragt Marvin leicht konsterniert beim Blick über den Tisch. Zum Trost gibt es aber die von ihm sehr geschätzten Hähnchenkeulen.

„Ja, ich hatte mir das Essen auch anders vorgestellt.“ gebe ich zu.

Im Geiste sehe ich nämlich die elegant gekleidete Hausfrau auf dem Foto neben dem Spargelrezept in einer Zeitschrift, mit rot lackierten Fingernägeln und schicker Frisur, die mit strahlendem Lächeln gerade die Platte mit dem Spargel auf den Tisch bringt.

In meinem Fall ist die Hausfrau weder elegant gekleidet noch hat sie besonders schöne Fingernägel und schon gar keine rot lackierten. Die Haare sind heute Morgen zum letzten Mal gekämmt worden, aber dafür habe ich – immerhin zeige auch ich ein freundliches Lächeln – ziemlich rote Wangen. Ob das am Weißwein liegt, von dem ich bereits mein zweites Glas in Angriff genommen habe? Aber wenigstens kommt mir der Wein nicht mehr gar so sauer vor.

Nun kann es aber losgehen. „Guten Appetit und frohe Pfingsten.“ Dann fällt mein Blick auf die Weinflasche, die auf dem Tisch steht. Ich lese den Namen und kann mein Lachen jetzt nicht mehr unterdrücken: „Albino Armani“ heißt der Wein, und ich hätte mir keinen passenderen Namen zu unseren überwiegend blassen Nahrungsmitteln vorstellen können. Das Lachen vergeht mir aber schnell wieder, denn jetzt wird gegessen. Der Spargel ist wohl doch nicht so gut geschält, wie es scheint. Meine Hälfte, Hannes‘ Hälfte? Wer weiß das jetzt noch? Marvin säbelt an seinen Stangen herum, und ich will ihn aufmuntern:

„Sei nicht ärgerlich oder traurig. Frischen Spargel gibts hier ja nur einmal im Jahr.“

„Ich bin nicht ärgerlich oder traurig. Aber es ist grauenhaft.“

Hannes sagt überhaupt nichts, geht jedoch in die Küche, um eine Kompottschüssel zu holen, welche er neben seinen Teller stellt. Und ich kann nun beobachten, wie mein Mann die nicht genießbaren Spargelstreifen äußerst sorgfältig darin deponiert. Komisch, dass ausgerechnet meine Spargelstücke tadellos sind. Wahrscheinlich sind das die, die er geschält hat. Je wütender ich Hannes nun bei seiner Aktion zugucke, desto theatralischer hebt und schwenkt er die dünnen Streifen, um sie mit großer Geste in die Schüssel zu legen. Plötzlich muss ich schon wieder lachen, was mit irritierten Blicken, aber ohne Fragen kommentiert wird. Für das Pfingstfest im kommenden Jahr plane ich schon jetzt eine Dose Ravioli ein.

Eine Autorenlesung besuche ich im Kölner Stadtmuseum. Ich setze mich in die erste Reihe. Rechts neben mich platziert sich eine ältere Dame, die von der Parkinson-Krankheit geschüttelt wird. Ein Stück weiter auf der linken Seite prangt unübersehbar ein Hörgerät in einem Damenohr. Auf den freien Platz dazwischen steuert eine junge Dame zu, flotte Kleidung und kurzer Rock, die aber beim Näherkommen immer älter wird. Von weitem sah man ihre vielen Falten nicht. Ja, das alles wird wohl in Zukunft immer häufiger mein Rundum-Publikum sein, wo immer ich etwas angucken oder anhören werde. Ich bin ja auch nicht mehr jung und werde von derartigen Veranstaltungen eben genauso angezogen wie die anderen älteren Menschen.

Später will ich mich mit Hannes noch im Außenbereich der Ménage treffen, in der Nachbarschaft der Kirche St. Aposteln. Ich bin früher da als er, und nun wage ich das, was ich mir auf dem Weg zum Lokal vorgestellt habe: Ich werde mir ein Bier bestellen. Mein erstes Kölsch, welches ich in der Öffentlichkeit a l l e i n e trinken werde. Warum ich das bisher nie gewagt habe, weiß ich auch nicht genau.

„Ich hätte gern ein Kölsch.“ gebe ich leicht grinsend meine Bestellung ab. Eine beleibte Dame am Nebentisch blickt irgendwie strafend auf das Glas, welches mittlerweile vor mir steht. Sie trinkt Apfelsaft, hat aber einen blank gegessenen Teller vor sich stehen, auf dem ich Minuten vorher noch massenhaft Fritten habe liegen sehen. Alles weggeputzt. Nun gucke ich eben strafend auf diesen Teller, und sie und ich sind jetzt quitt.

Der Geigenspieler, der minutenlang so schrill gespielt hat neben dem Tisch, sorgt dafür, dass ich heute gleich noch was lerne, nämlich dass ich auch Nein sagen kann. Der Musiker hält mir seinen Pappbecher entgegen, doch ich rücke keinen Cent raus, denn es war ein schreckliches Gefiedel. Ins Gesicht gucken kann ich dem Mann während meiner Ablehnung jedoch nicht.

Neue Schuhe brauche ich. In einem Geschäft probiere ich Schuhe an mit schmalem Absatz und beginne sofort, zu wackeln. Das scheint nichts mehr für mich zu sein, ich brauche breitere Absätze. Einen längeren Blick werfe ich auf ein paar Turnschuhe, farbig und gemustert, aber ich glaube, so etwas ist für mich nicht mehr geeignet. Ich stelle mir schon vor, wie ich mit den Dingern herumlaufe und ein entgegen kommender Mensch sich fragt, ob ich mir wohl die Schuhe von der Enkelin geliehen habe. Ich rühre die Schuhe gar nicht erst an. Nachdem ich später mit meinem neuen, relativ gediegenen Schuhwerk im Karton heimwärts gehe, sehe ich eine Frau mit rotem Wallerock, bunter Bluse und vielen Ketten; überhaupt ist sie recht dramatisch aufgemacht. Sie ist etwa in meinem Alter, hat aber viel mehr Mut. Vielleicht hätte ich die bunten Turnschuhe doch mal anprobieren sollen?

So richtig unter Druck gesetzt fühle ich mich derzeit im Büro. Vieles soll, muss fertig werden, unverzüglich! Diesen Begriff verwendete mein Chef vor ein paar Tagen, kaum, dass ich morgens eingetroffen war und noch nicht meine Jacke ausgezogen hatte. Gestern habe ich mit Höchstgeschwindigkeit einen Text zu Ende geschrieben, damit ich heute Zeit haben würde für andere dringende Dinge. Mein Zeitvorrat geht jedoch drauf für eine andere Tätigkeit, zu der ich noch etwas wissen muss. Der Chef ist aber jetzt außer Haus, ich kann ihn nicht fragen und komme nicht von der Stelle. Es geht alles nicht wie gewünscht und ein Papierstau am Kopierer tut sein Übriges. Und schon geht es wieder los mit den Ohren – das linke ist besonders betroffen. Rauschen und Pfeifen wechseln sich ab, mal laut, mal etwas leiser. Den ganzen Tag, bis in den Nachmittag hinein, bin ich nun wieder voller Wut und Fluchtgedanken. Kündigen wollen. Weg mit diesem Job. Anita und ich gehen am Nachmittag in ein Café, um zu quatschen. Sie erzählt von ihren diversen Problemen, die auch ihren ungeliebten Aushilfsjob betreffen. Meinen Einwand „Ich könnte im Moment auch nur reinschlagen.“ übergeht sie. Schade, ich hätte gerne mal gehörig Dampf abgelassen.

Am nächsten Morgen bei den ersten Gedanken ans Büro beginnt schon wieder das Ohrenrauschen. Am Vormittag sitze ich über einer Arbeit, wie üblich in letzter Zeit wie gehetzt. Schnell dieses fertigstellen, schnell ans nächste.

„Ich muss hier weg.“ platzt es unvermittelt und zu meiner eigenen Überraschung aus mir heraus. Meine mir gegenüber sitzende Kollegin schaut mich ratlos an, meint dann aber: „Vielleicht geht es Dir dann besser.“ Mehr gibt es dazu offenbar nicht zu sagen. Ich habe das Gefühl, mich sofort zur Ruhe zwingen zu müssen, daher stelle ich mich ans Fenster, atme ein paarmal tief durch, und sortiere danach ein paar Dinge auf dem Schreibtisch von hier nach da und wieder zurück. Meine eigentliche Arbeit betrachte ich für heute als beendet, eine Form von Selbstschutz vermutlich.

Auf dem Heimweg an der Ampel spüre ich ein inneres Zittern, ich kann kaum still stehen. Erst als Grün ist, und ich weitergehen und mich bewegen kann, beruhige ich mich etwas. Immer noch bin ich fest entschlossen, zu kündigen. In der Straßenbahn male ich mir meine Zukunft in den tollsten Farben aus: Viel Zeit, auch, um zuhause mal endlich alles ordentlich zu schaffen. Auch handwerklich könnte ich mich betätigen; manche kleineren Schadstellen im Haus warten seit Jahren aufs Fertigstellen, obwohl wir uns an manche Provisorien mittlerweile gewöhnt haben. Eine Menge schöner Pläne und möglicher Vorhaben schwirren durch meinen Kopf und ich lächle vor mich hin. Der Mann, der mir in der Bahn gegenüber sitzt, lächelt zurück. Oh, ihn meine ich doch gar nicht.

Allmählich jedoch breitet sich im Kopf der Gedanke aus, dass wir ja auch meinen Verdienst brauchen. Es nützt nichts, diese Tatsache zu verdrängen. Schon beginnt mein Vorhaben wieder zu bröckeln. Lieber nicht kündigen? Vielleicht doch weiter machen, so gut es geht? Oder endlich mal den Chef auf mein Arbeitspensum ansprechen? Ein Aufschub. Vielleicht ist dieser Aufschub aber auch das Schlimmste, was ich mir antun kann, denn mir geht es gar nicht gut, im Grunde schon seit vielen Wochen. Häufiges Ohrenrauschen, mitunter rasendes Herzklopfen und manchmal Kribbeln im linken Arm. Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll. Ein ewiges Hin und Her in meinem Denken.

Zuhause lege ich mich fast unmittelbar in mein Bett, weil ich wie gerädert bin. Und das Ohrenrauschen, welches ja schon heute morgen begann und von dem ich glaubte, es wäre vor lauter schöner Gedanken und Pläne in Bezug auf meine nicht berufstätige Zukunft auf einmal weg gewesen, ist auch wieder da. Nach wenigen Minuten kommt unsere Katze Fussy hinterher, die jede Gelegenheit nutzt, sich anzukuscheln. Ich kann die Augen nicht mehr offen halten, falle in einen Halbschlaf, schrecke häufig auf und zucke mehrfach zusammen. Zugleich registriere ich deutlich, was mit mir passiert: Der rechte Arm verkrampft sich, ich bemerke enormes Herzrasen, eine Art stolpernde Herzschläge, und schließlich zuckt meine Unterlippe, in der es auch seltsam kribbelt. Vielleicht dümpele ich gerade zwischen Herzinfarkt und Schlaganfall vor mich hin. Ich habe den Eindruck, dass irgendwas mit mir aufs Fürchterlichste geschieht, bin aber nicht in der Lage, zu reagieren. Nebenan höre ich Marvin, bin aber unfähig, ihn zu rufen. Nichts geht. Erstaunlicherweise macht mir das nichts aus, ich wundere mich nur darüber.

Da wechselt Fussy die Stellung und legt sich quer über meinen Bauch. Ihr Blick sagt „Streicheln!“ Und das tue ich. Ganz lange und ganz langsam. Eigentlich möchte ich allmählich wieder aufstehen, aber die Katze guckt so lieb, also streichele ich weiter. Endlich merke ich, wie ich ruhiger werde. Fussy mit ihrem Schnurren, welches ich ja nicht nur höre, sondern auch in den Händen spüre, entspannt mich; ich werde zur Ruhe gezwungen.

Ach Du liebes Tier, wenn Du ahnen könntest, wie gut Du mir jetzt im Moment tust.

Hannes gegenüber erwähne ich beim Abendessen meine Gedanken und Nöte der letzten Stunden. Zwar wirkt er nicht allzu beglückt, will mir aber die Idee einer eventuellen Kündigung nicht ausreden. Sicher denkt er, das würde wieder vorüber gehen. Ist ja auch nicht das erste Mal, dass ich so rede und meine Pläne dann doch wieder verwerfe.

Sehr früh bin ich am nächsten Morgen wach. Es ist Samstag. In der Zeitung lese ich, dass es nur vormittags trocken sein wird, später gibt es vermutlich Regen. Meist verlasse ich mich ja auf den Wetterbericht, was bei Hannes regelmäßig für Heiterkeit sorgt. Ich entscheide mich für einen frühen Spaziergang und verlasse das Haus. Kurz nach halb zehn bin ich im Stadtwald, und schon nach kurzer Zeit des Gehens auf dem Waldweg merke ich, dass das eine gute Idee war. Allein die Möglichkeit, tief ein- und durchzuatmen scheint mir heute so wichtig zu sein. Ein Stück vor mir führt eine Frau einen Chow-Chow an der Leine; diese Hunderasse habe ich viele Jahre nicht gesehen. In meiner Kindheit gab es die häufiger – und schon denke ich an meine Kindheit zurück.

Dann gehe ich in den Tierpark und sehe einige Ziegen, die mir neugierig entgegen starren. Ich bin offenbar der erste Besucher für heute. Ein Stück weiter formieren sich Wildgänse, um im Konvoi irgendwohin zu fliegen. Später setze ich mich auf eine Bank, mit Blick in Richtung der mitten im Stadtwaldweiher liegenden Fontäne, die durch den Wind immer wieder ihre Richtung ändert. Auch die Geräusche variieren. Mal lauter, mal leiser. Es lässt sich auf jeden Fall sehr schön nachdenken beim Zugucken. Eine Joggerin macht Halt und beginnt mit Dehnübungen, verbunden mit einer komischen Hüpferei. Das brächte ich nicht fertig, so in aller Öffentlichkeit.

Ich mache mich auf die Rückreise, sitze ausgesprochen zufrieden in der Bahn und denke, dass mein spontaner Stadtwaldbesuch die beste Idee seit Tagen war. Längst ist mir klargeworden, dass ich natürlich nicht kündigen werde. Erst recht leuchtet mir nicht ein, wie ich überhaupt auf einen solch blödsinnigen Gedanken habe kommen können.

Während des nächsten Vormittags überlege ich, ob ich gleich nach Feierabend eine Fotoausstellung besuchen soll, mit Bildern von Köln aus den letzten 100 Jahren. Schon mehrfach habe ich mir derartige Dinge vorgenommen, um im letzten Moment doch zu kneifen. Auch heute gehen meine Gedanken und Meinungen hin und her. Ich kann doch nicht immer zu müde sein für alles. Und dann wieder: Ich muss doch nicht dorthin.

Bis ich mir gegen Mittag einen Löffel voll Joghurt auf meine schwarze Hose kleckere. Der ergiebige Fleck geht trotz aller Wisch- und Reinigungsbemühungen nicht weg, womit mir die Entscheidung schließlich abgenommen wird. Mit einem solchen Kleidungsstück kann ich mich keinesfalls in einer Ausstellungshalle blicken lassen.

Heute hat es viel geregnet, aber am Abend hört es endlich auf. Es ist warm genug und ich setze mich in den Garten. Und ich genieße es: Das Beobachten der mittlerweile sehr hellen, fast weißen Wolken, die oben eilig entlang ziehen. Der Anflug der Vögel auf die Zweige, deren Blätter noch voller Regentropfen sind, und die von hinten schon wieder von der Sonne beschienen werden, was einen wunderbaren Effekt ergibt. Ich sehe den Meisen zu, die sich im Wasserbecken baden. Gerüche fallen mir auf, Gartengerüche, die mir abends und erst recht nach Regen anders vorkommen als am Tag. Allerhand kleine Insekten machen sich nochmal auf den Weg irgendwohin. Richtig viel Leben hier im Garten. Und ich sitze ganz still, um nichts und niemanden zu stören, kein Vogel soll sich von mir verjagt fühlen. Nicht ganz uneigennützig, denn ich will ja immer weiter zugucken, und alles in Ruhe und solange wie möglich auf mich einwirken lassen hier draußen. Sehr ausgeglichen gehe ich nach langer Zeit wieder ins Haus.

Mit Ines und Peter treffen wir uns an einem Samstagabend im Juli zum Essen. Als die zwei an der verabredeten Stelle auf uns zukommen, sehe ich, dass Ines die Haare jetzt ganz aus dem Gesicht und hinten zusammengebunden trägt, und habe einen Moment den Eindruck, ihre längst verstorbene Mutter käme uns entgegen. Ines wäre sicher überrascht und vielleicht gar nicht begeistert, denn viele Eigenheiten und Verhaltensweisen haben ihr an ihrer Mutter überhaupt nicht gefallen. Dazu fällt mir der Titel eines Buches ein, welches ich gelesen habe: „Ich schau Dir ins Gesicht und sehe Deine Mutter.“ Schlussfolgerung der kleinen Reportagen ist die ziemlich sichere Tatsache, dass eine Frau mit fortgeschrittenem Alter ihrer Mutter immer ähnlicher wird, ob sie das nun will oder nicht. Mancherlei Verhaltensweisen und Reaktionen, Gestik und Mimik, sogar bestimmte Formulierungen und Redewendungen werden mit der Zeit übernommen.

Später sitzen wir mit Ines und Peter im griechischen Lokal in Deutz, genießen unser Essen sowie den Blick über den Rhein hinweg auf den Dom und die Kölner Altstadt. Die froheste Erkenntnis des ganzen Abends ist für mich die Feststellung, dass sowohl Ines als auch Peter hin und wieder mal ein Wort nicht einfällt. Ein Name oder ein Begriff, welchen sie eigentlich zu wissen glauben, der ihnen aber erst nach kurzem Nachdenken einfällt. Meistens. Nicht immer. Und dasselbe habe ich auch in letzter Zeit verstärkt bei mir festgestellt. Als ich Ines sage, dass ich froh bin, dass es ihr wohl genauso ginge wie mir, lacht sie zwar sofort und meint, dass so etwas ihr leider wirklich öfter passieren würde. Aber ich bin nicht sicher, ob ihr die Beobachtung und mein Reden über dieses kleine Problem so richtig in den Kram passt.

Auf dem Heimweg weit nach Mitternacht setzen sich zwei junge Mädchen in der Straßenbahn Hannes und mir gegenüber. Schnell registriere ich die Blicke, die sie sich zuwerfen, und kann sie genau übersetzen. Solche Blicke habe ich früher mit meiner Freundin Anne auch gewechselt und sie bedeuten nichts anderes als das: Guck mal, diese alten Säcke hier waren auch auf der Piste.

Ein wunderbares Geschenk habe ich von meiner Familie bekommen, welches jetzt, Mitte September, endlich umgesetzt wird: Ich freue mich auf vier Tage Amsterdam mit Britta.

Eine angenehme Zugfahrt; voller Vorfreude sitzen wir in unserem Zugabteil und sind gespannt auf die Stadt. Unser Zimmer haben wir per Internet gebucht, auch aufgrund der hübschen Außenansicht eines zentrumsnahen Hotels, welches trotzdem überraschend preisgünstig ist. Das Hotel liegt wirklich zentral, aber als wir die sehr steile Stiege bis zur ausgebauten dritten Etage hoch geklettert sind und die Zimmertür öffnen, trifft mich fast der Schlag. Das soll unser Zimmer sein? Ich bin sprachlos, doch Britta fängt sofort an zu lachen. Ein sehr schmales Räumchen, das von einem etwa 1,20 m breiten Bett dominiert wird. Linke Seite eine Dachschräge, an die das Bett heran gequetscht steht, und rechts vom Bett knapp 50 cm Platz. An der Wand entdecken wir zwei Nägel, die wahrscheinlich als Garderobenhalter vorgesehen sind; es ist ja ein Zweibettzimmer. Am Fußende des Bettes, also gleich beim Hereinkommen, ein Waschbecken. Sonst nichts. Ach ja, ein Fernseher ragt auch noch in den Raum hinein, und wir werden an den nächsten Tagen darauf achten müssen, dass wir uns nicht den Kopf stoßen an diesem Gerät. Denn darunter haben wir unsere Gepäckaufbewahrung, unsere unausgepackten Reisetaschen, weil sonst nirgends Platz dafür ist. Das kann ja heiter werden, denke ich. Britta sieht das Ganze weitaus lockerer.

Wir machen uns sofort auf den Weg, um Amsterdam zu erkunden. Einfach drauflos gehen, das hat sich bei unseren bisherigen Städtetouren immer gut bewährt. Nur um drei Ecken, und schon sind wir in Chinatown. Ein buntes Ladengemisch findet sich an den schmalen Straßen, die den Firmenschriftzügen nach zu urteilen fest in asiatischer Hand sind. Ein paar Straßen weiter eine völlig andere Gegend. Hier befinden sich Coffee-Shops, aus denen der unverkennbare Duft nach Haschisch und ähnlichem heraus weht, gleich neben Geschäften mit hochwertiger Lederbekleidung, Läden mit pfiffigen Einrichtungsgegenständen oder modischem Kram.

„All die tollen Klamottenläden hier. Ich glaub, ich muss aufpassen. Hier kann ich ganz schnell mein Geld loswerden.“ meint Britta, wobei ihr Gesicht deutliche Vorfreude zeigt.

Nicht nur die bunten, oft äußerst originellen Läden fallen ins Auge, sondern mehr noch die Massen von Radfahrern. Sie haben eindeutig Narrenfreiheit in dieser Stadt und machen davon rücksichtslos Gebrauch. Jedenfalls springen die Fußgänger oft wie gescheuchtes Wild auf die Seite, wenn nur eine Fahrradklingel zu hören ist. Und es wird viel geklingelt. Nicht zu fassen, wie es den Leuten gelingt, die Kreuzungen anzufahren, dabei die gegnerische Geschwindigkeit einzuschätzen und diese mit dem eigenen Tempo so zu koppeln, dass es nicht zu einem Zusammenstoß kommt. Es klappt immer, egal wo und wie viele Fahrer wir beobachten. Nur wir selbst sind unentschlossen. An einem Überweg merken wir, dass neben uns eine Mutter mit zwei Kindern auf dem Rad auftaucht, während wir gleichfalls die Straße passieren wollen. Wir stehen immer noch da, als das Mutter-und-Kind-Gespann längst die Kreuzung passiert hat und weitergefahren ist.

Die vielen Grachten, welche die ganze Stadt durchziehen, faszinieren uns sofort. Und gleich daneben an den mit Pflastersteinen bestückten Straßen die alten Häuser mit den wunderbaren Giebeln. Kein Haus gleicht dem anderen, und das macht jede dieser Straßen ausgesprochen lebendig. Vor vielen Häusern stehen Kübel voller blühender Pflanzen. Auf den Grachten fahren im Minutenabstand Boote. Touristenboote wechseln sich ab mit so manchem Grachtentaxi und Paddelbooten. Und immer mal ein Hausboot, welches sich ans Ufer schmiegt. Vor einem Boot sehen wir den Briefträger gerade die Post in den Kasten werfen, welcher an der nächsten Straßenlaterne hängt.

Während einer Grachtenrundfahrt erfahren wir, dass Amsterdam tausend Brücken hat und hundert Grachten mit einer Gesamtlänge von hundert Kilometern. Es wird berichtet, dass es trotz der kleinen Begrenzungsgitter an den Straßenrändern zur Gracht hin durchschnittlich einem Autofahrer pro Woche gelingt, sein Auto ins Wasser zu steuern. Entlang der Herengracht bestaunen wir die gut erhaltenen Patrizierhäuser mit ihren vielen Fensterverzierungen sowie allerhand Vorbauten und Erkern. In der Nähe des Bahnhofs fällt der Blick auf das Fahrradparkhaus; fünftausend Plätze stehen dort zur Verfügung. Mein erster Gedanke ist, dass die radfahrende Bevölkerung sicher oft Probleme hat mit dem Wiederfinden des eigenen Drahtesels. Das ist wohl einer der Gründe, weshalb so manches Rad mit Plastikblumen dekoriert oder einer auffallenden Farbe versehen ist. Maßnahmen, die den Wiedererkennungswert erheblich steigern. Nach der Fahrt essen wir in einem Café den berühmten holländischen Apfelkuchen. Apfel mit Anis. Lecker! Wir beobachten die Leute ringsum sowie das lebendige und quirlige Treiben. Ich freue mich immer, dass Britta genauso viel Spaß am Gucken und Beobachten hat wie ich; nicht nur das macht das Reisen mit ihr so angenehm.

In einem traditionellen niederländischen Lokal – großer Raum, riesige Lampen, alles sehr großzügig und mit Platz zwischen den Tischen eingerichtet – genießen wir unser stattliches Abendessen, bestehend aus einer enormen Portion Fisch mit dicken Fritten und Salat. Wir sitzen am Fenster einer belebten Hauptstraße, draußen gehen allmählich die Lichter an, und wir können uns nicht satt sehen.

Am nächsten Morgen stellen wir fest, dass das Schlafen nebeneinander im schmalen Bett besser ging als erwartet. Nun aber schnell raus hier und frühstücken. Die Treppe bewältige ich in der Form, dass ich rückwärts hinunter klettere, anders wage ich es nicht. Es gibt kein Geländer, und die Stufen sind kaum mehr als 15 cm tief. Britta gelingt der Treppenabstieg allerdings im Vorwärtsgang. Als wir an der Rezeption etwas ratlos die vom Vorabend noch unaufgeräumten Tische betrachten, kommt aus einem Nebenraum ein erschrocken blickender junger Mann, der sich hastig ein T-Shirt überstreift und versucht, die verstrubbelten Haare in Form zu bringen. Wir erklären ihm auf Englisch, dass wir frühstücken möchten und erfahren, dass das erst ab 9.00 Uhr geht. Na schön, da werden wir eben noch für die verbleibenden 20 Minuten ein Gängelchen um den Block machen.

Doch die Überraschung ist perfekt, als wir kurz nach neun auf die inzwischen erschienene Hotelfrau treffen, bei der wir uns gestern angemeldet haben.

„Breakfast? At ten o’clock.“ donnert sie uns entgegen. Ganz sicher wissen wir, dass sie gestern etwas anderes gesagt hat, was sie jedoch abstreitet. Feststeht nur, dass wir jetzt nichts kriegen. Britta und ich entschließen uns für den Abmarsch, frühstücken können wir auch woanders, aber ich weise die Dame noch darauf hin:

„A hotel, where it is not possible, to get a breakfast before ten o’clock, is ...“, und da mir nicht einfällt, wie ich ausdrücken soll, dass das unmöglich ist, zeige ich ihr den Vogel, in der Hoffnung, dass sie diese internationale Sprache versteht. Sie zuckt nur mit den Schultern, wendet sich ab, und Britta und ich verlassen die ungastlichen Räumlichkeiten. Wir finden gleich in der Nachbarschaft ein Lokal, welches nicht nur ein Frühstück anbietet, sondern uns auch optisch gefällt – das Café Kobalt. Ein Raum mit Spiegeln, Jugendstillampen, großen Tischen und einem umfangreichen Frühstücksbuffet empfängt uns. Eine Katze kommt heran, um uns zu begrüßen und ein paar Streicheleinheiten einzuheimsen. Zu hören ist klassische Musik, die optimal hierhin passt. Nachdem die freundliche Kellnerin uns Kaffee gebracht hat, holen wir uns etwas vom Buffet und beginnen zu kauen.

Später gehen wir wieder auf die Walz und landen nach einer Weile auf dem Flohmarkt am Waterloo-Plein. Dort gibt es nicht nur ein bunt gemischtes Publikum einschließlich der Händler, sondern auch ein vielfältiges Warensortiment. Indische Saris wechseln sich ab mit afrikanischen Musikinstrumenten. Nebenan bietet eine junge Frau russische Geschenkartikel und sonstige Kleinigkeiten an. Und immer wieder Kleidung. T-Shirts und Sweat-Shirts mit interessanten Aufdrucken, Stiefel, Schmuck – Britta findet endlich ein neues Lederarmband. „So eins hab ich in Köln bisher vergeblich gesucht.“ Es macht Spaß, über diesen Markt mit seiner ganz besonderen Atmosphäre zu gehen und alles zu betrachten. Das bunte Stimmengewirr tut ein Übriges.

Anschließend spazieren wir an einer großen Gracht entlang. Die Straße selbst ist eher unspektakulär, dafür sind die Hausboote, die hintereinander am Ufer liegen, umso interessanter. Bunt gestrichen oder in Schwarzweiß, manche total versifft und richtig dreckig, andere peinlichst sauber mit schneeweißen Gardinen an den kleinen Fenstern. Noch sehenswerter aber sind die jeweiligen Hauseingänge. Kleine Treppen führen nach unten zum Boot, und rund um diesen Zugangsbereich wächst und wuchert es auf vielfältigste Weise. Mancherorts wirkt es, als würde man am Eingang des Dschungels stehen. Woanders sehen wir eine Kinderschaukel, die am dicken Ast eines Baumes hängt, ganz nahe am Ufer. Das Kind schaukelt dann zeitweise über dem Wasser. Hier ist es möglich, aber wie lange würden deutsche Behörden wohl einen solchen Spielplatz dulden?

Am nächsten Tag entschließen wir uns zu einer Stadtrundfahrt, während der wir feststellen, dass wir einige der als Touristenattraktionen bezeichneten Stätten schon längst zu Fuß entdeckt haben. Mann, sind wir schon weit gelaufen. Im Hardrock-Café am Leidse-Plein kaufe ich ein T-Shirt für Marvin und hoffe, dass es seinen Geschmack treffen wird.

„Der zieht es nicht an, wenn die falsche Band vorne drauf steht.“ erklärt mir Britta, aber sie glaubt, das ausgesuchte T-Shirt könnte das Richtige sein.

Später entwerten wir unser 24-Stunden-Ticket für die Amsterdamer Verkehrsbetriebe. Es hat sich für uns stets als lohnend erwiesen, eine Stadt auch von ganz normalen Straßenbahnen oder Bussen aus kennenzulernen. Zunächst fahren wir mit der Linie „10“ bis zur Endstation, laut Streckenplan liegt dort die Küste. Und wir werden nicht enttäuscht. Einen langen Weg, die Suriname-Kade, gehen wir bis zum weitest möglichen Punkt. Kaum jemand ist hier unterwegs außer uns, dabei gibt es so viel zu sehen. Schiffe, die unterwegs sind Richtung Hafen. Kleine Betriebe, in und vor denen gearbeitet wird, stets rund um das Thema Schiff. Ein Hauch vom Duft der großen, weiten Welt weht hier.

Am Abend essen wir in einem argentinischen Restaurant. Der Besitzer ist ausgesucht freundlich zu uns, und deshalb passiert es wohl auch, dass wir uns zu diversen Extras überreden lassen. „Brot dazu?“ „Salat ist klein, zwei Portionen?“ Ja, ja, das nehmen wir alles, er guckt uns aber auch zu freundlich an, vielleicht, weil wir momentan die einzigen Gäste sind? Am Ende sind wir regelrecht überfressen und zahlen für das Essen genauso viel wie für die Mahlzeiten an den beiden ersten Abenden zusammen. Der Chef geleitet uns die drei Stufen runter zur Straße und verabschiedet uns mit herzlichem Händedruck.

Auch am Samstagmorgen, nachdem wir das „Hotelzimmer“ endlich verlassen und unser Gepäck im Bahnhofsschließfach deponiert haben, frühstücken wir im Café Kobalt. Alles ist genau so perfekt wie an den Vortagen, nur diesmal vermissen wir die Katze. Unsere Fahrkarten sind noch gültig, und daher geht es erneut auf eine kleine Reise zum Stadtrand. Diesmal wollen wir mit der „14“ zum Soetermeer. Durch weiträumige Türkenviertel hindurch, in denen das Leben nur so tobt, fahren wir bis zur Endstation. Nichts los hier? Nichts. Aber dann entschließen wir uns, das Soetermeer zu suchen. Irgendwo muss es doch sein. Was wir schließlich entdecken, kommt uns vor wie aus einer anderen Welt. Zunächst führt der Weg unter sehr hohen Bäumen hindurch, rechts und links nur Wiesen, und endlich sehen wir das Meer. So ein schöner, ruhiger Anblick. Auch das ist Amsterdam. Weit hinten das Ufer, davor viele kleine bunte Schiffe; offenbar ein Bootsverleih. Und über allem eine unglaublich wohltuende Stille. Nur wenige Leute auch hier – die Amsterdamer haben es scheinbar nicht so mit der Bewegung in der freien Natur. Wir schon. Aber die Zeit läuft, und wir müssen zurück in Richtung Innenstadt, um nicht aus dem Zeitbereich unserer Fahrkarten heraus zu geraten. Am Dam, mitten im Zentrum und nicht weit vom Bahnhof entfernt, steigen wir kurz vor 14.00 Uhr aus. Gerade noch geschafft! Wir gehen noch etwas essen und trinken ein letztes Amstel-Bier.

Während der Rückfahrt denke ich mit großem Vergnügen an unsere kleine Reise und die vielen Eindrücke zurück, und ganz besonders an das Zusammensein mit Britta. Es tut so gut, das Kind, wenn es auch schon längst erwachsen ist, mal ein paar Tage ganz für sich allein zu haben und dabei zu erfahren, was es denkt und plant und welche Wünsche und Träume es hat.

Am Kölner Hauptbahnhof empfängt uns Hannes, und nur wenige Minuten später erklingt am Bahnhofsvorplatz wunderbares Glockengeläut. Für uns? Natürlich nicht. Es hat mit der Domwallfahrt zu tun, die an diesem Wochenende in Köln stattfindet. Und es läuten nicht nur die Glocken des Doms, sondern auch alle der benachbarten Innenstadt-Kirchen. Tolle Akustik, tolle Atmosphäre.

„Ratet mal, wer noch mitgekommen ist?“

Marvin steht ans Auto gelehnt und lächelt uns freundlich zu. Wir sind froh, dass wir wieder zurück sind. Zuhause finde ich erfreuliche Post im Briefkasten. Da ich mich ja oft so müde und elend fühle, habe ich vor Wochen über meinen Hausarzt eine Kur beantragt, und sie ist tatsächlich bewilligt worden. Im Januar soll es losgehen.

An einem warmen Herbsttag zieht es mich nach Köln-Sülz, in das Stadtviertel meiner Jugendzeit. Meinen Spaziergang starte ich an einem Schreibwarenladen, den es schon seit Jahrzehnten gibt, und blättere in Reclam-Heftchen, was mich sogleich an meine Schulzeit erinnert. Ich gehe weiter und sehe das Schulgebäude, in das ich vor Jahrzehnten täglich ging, und genau gegenüber, wo früher ein kleiner Kiosk in einem Eckhaus untergebracht war, befindet sich mittlerweile ein Schmuckladen. Hier gibt es nun für die Schüler keine Lakritzen, Drops und Pfefferminzbonbons mehr, auch keine Gummibärchen und Colalutscher. Oder Waffeln – die mit dem klebrigen rosa Zeug drin. So was haben wir Schülerinnen dort gekauft und auf dem Heimweg verzehrt. Plötzlich ein starker Wind, der mir Birkenblätter um die Füße wirbelt. Ja, so langsam beginnt der Herbst, auch wenn es heute noch richtig warm ist. Nun weiter die Straße entlang in Richtung meines früheren Zuhauses; etwa vierzig Jahre lang bin ich diese Strecke, meinen damaligen Heimweg von der Schule, nicht mehr gegangen. Schließlich biege ich um die Ecke und fotografiere beim Näherkommen das Haus, in dem ich gewohnt habe. Noch näher komme ich, noch ein Foto, und da sehe ich, dass die Haustür offen steht. Das ist aber sehr verlockend. Ich kann nicht widerstehen und gehe einfach mal in den Hausflur. Alles erkenne ich sofort wieder, den gemusterten Steinboden, das verschnörkelte Treppengeländer, die abgewetzten Stufen.

Und überraschend schnell bin ich schon oben, gucke aus dem Treppenhausfenster und sehe auch da: Es ist fast alles wie gehabt. Die Höfe und Gärten scheinen kaum verändert zu sein, lediglich die Bäume sind viel höher und alles ist dichter bewachsen. Auch auf den Balkon rechts im 1. Stockwerk gucke ich. Im Zimmer dahinter und dem Nachbarraum habe ich als Untermieterin meine erste eigene Bude gehabt, während meine Eltern auf der gleichen Etage in der gegenüberliegenden Wohnung lebten. Plötzlich wundere ich mich über meinen Mut, hier einfach so die Treppen zu ersteigen. Gleichzeitig fällt mir auf, dass ich unglaubliches Herzklopfen habe. Die Ursache ist vermutlich eine Mischung aus dem Erinnern an eine eigentlich doch ganz schöne Jugendzeit und der Angst, ertappt zu werden. Ich mache nun, dass ich hier wieder wegkomme. Was soll ich bloß sagen, wenn mir ein Hausbewohner begegnet und ich erklären soll, was ich hier zu suchen habe? Noch Minuten, nachdem ich das Haus verlassen habe, bin ich nervös und zappelig.

Gleichzeitig aber fällt mir nun wirklich eine Menge aus den 1960er-Jahren ein, und meine Gedanken schweifen ziemlich ab, während ich vor mich hin trotte. Als ich am Radiogeschäft vorbeikomme, erinnere ich mich, dass ich da meine ersten Schallplatten von den Beatles („Roll over Beethoven“) und den Rolling Stones („Satisfaction“) gekauft habe, etwa 1964 wird das gewesen sein. Den Laden gibt es immer noch. (Und beide Titel finde ich auch immer noch gut.)

Zu Weihnachten hatte ich ein Tonbandgerät bekommen und war nun in der Lage, meine Lieblingstitel aus dem Radio auf Band aufzunehmen. Unser Radio war ein Röhrengerät, an das man kein Tonbandgerät anschließen konnte zum direkten Übertragen von Aufnahmen. Deshalb saß ich davor, mit dem Mikrofon in der Hand, starrte auf das grüne Auge des Radios und wartete auf gute Musik. Manchmal kamen erste Takte, die ich aber falsch interpretierte. Dann war es nämlich doch nicht der Titel, für den ich es gehalten hatte. Also wieder zurück spulen und die richtige Stelle nach dem zuletzt aufgenommenen Lied finden, damit der Anschluss stimmte. Ach, es war schon schwierig. Und dann mein Vater. Er sah ja meine mühevolle Kleinarbeit, machte sich darüber lustig und vermasselte mir mehrmals – absichtlich – die Tour, indem er sich grinsend ins Zimmer stellte und laut trötend die Nase putzte. Das Geräusch wurde natürlich, wenn auch eher im Hintergrund, mit aufgenommen. Und ich konnte mich nicht einmal beschweren, weil ja auch mein Geschimpfe auf dem Tonband verewigt worden wäre. Aber am Ende war ich doch zufrieden, denn nun konnte ich, so oft ich wollte, meine Lieblingstitel hören.

Im Frühjahr fand die letzte Phase meines Konfirmandenunterrichts statt, welcher stets um 15.00 Uhr begann. Aber mehrere Wochen lang kam ich stets zu spät, weil um die Zeit im Radio eine Hitparade lief. Auf Platz 1 stand „Flash“ von „Marquis of Kensington“, und diesen Titel wollte ich unbedingt hören. Die Sendung war kurz vor drei zu Ende, ich fuhr dann so schnell es ging mit dem Rad zum Gemeindehaus, kam aber doch einige Minuten zu spät, was der Pfarrer mit bedeutungsvollem Blick auf seine Armbanduhr kommentierte. All das und noch viel mehr sehe ich wieder deutlich vor mir.

Ich brauche eine Pause und setze mich ins Eiscafé, um einen Cappuccino zu trinken. Gleich zu Beginn muss ich ein Herbstblatt aus meiner Tasse fischen, genieße dabei die Sonne und lasse weitere Erinnerungen aus längst vergangenen Jahren auf mich einwirken: Seit einigen Monaten trug ich die Kirchen-Zeitung im feinen Nachbarvorort Lindenthal aus. Vierteljährlich musste ich die Beiträge kassieren. Die Villenbesitzer gaben wenig oder gar kein Trinkgeld, die Bewohner der Mehrfamilienhäuser dagegen schon. Eines schneereichen Abends im Februar hat mich mein Vater begleitet, und es hat ihn so entsetzt zu sehen, wie dunkel und einsam an Winterabenden die dortigen Straßen waren, dass ich den ersten Job meines Lebens sofort kündigen musste. In dem Halbjahr, in dem ich die Kirchen-Zeitung austrug, hatte ich auf wundersame Weise eine Zwei in Religion, aber auf dem nächsten Zeugnis, nach Beendigung meiner Austrägerzeit, gab es die übliche Vier.

Es hatte wieder geschneit, und auf dem Schulhof wurde eine Schneeballschlacht veranstaltet. Mitten drin paradierte die Aufsichtsperson, und ausgerechnet die strenge Französischlehrerin, vor der ich mich sowieso etwas fürchtete, wurde versehentlich von mir mit einem Schneeball am Kopf getroffen. Voller Angst malte ich mir schon aus, welchen Ärger ich wohl bekommen würde. Sie zeterte wütend und mit rotem Kopf herum, doch obschon bestimmt einige Mitschüler meinen Treffer gesehen hatten, hat mich niemand verraten. Noch vieles mehr kann ich mir in Erinnerung rufen, und es bereitet großes Vergnügen, an längst vergangene Zeiten zu denken.

„Du kriegst immer mehr Schneid, je älter du wirst.“ meint Hannes am Abend, nachdem ich vom heutigen Ausflug und dem Besuch an meiner alten Adresse berichtet habe.

Mitte Oktober. Es ist Zeit für unseren fast alljährlichen Besuch der Parkanlage von Schloss Dyck in Aldenhoven/Bedburdyck. Doch vorher wollen wir auf einen Sprung zur nahe gelegenen großen Kastanienallee, denn jetzt ist genau die richtige Zeit für das Ernten von Esskastanien. Vor Jahren waren Hannes und ich mal hier, und jeder, der wollte, konnte sich der dunkelbraunen Früchte, mit dem hellgrauen Zipfel am spitzen Ende, bedienen. Inzwischen ist das Gelände weiträumig umzäunt, was aber dennoch kaum jemanden daran hindert, sich suchend unter den Bäumen umzusehen. Denn es gibt ein großes Loch im Zaun; ein bisschen klettern müssen die Leute zwar schon, aber es geht ganz gut. Immer schon lag ja ein besonderer Reiz darin, an verbotene Dinge heranzukommen. Auch Hannes hat Bedarf an Esskastanien. „Da haben wir ja den richtigen Tag erwischt“ freut er sich. Ich allerdings gucke lieber von außen den vielen Leuten zu, die emsig am Suchen und Aufheben sind.

Zwei Frauen in langen Röcken kommen heran, und fast schon entschuldigend guckt mich die ältere von ihnen einen kurzen Moment lang an. Als ich sie dann den Zaun überwinden sehe, gehen mir bald die Augen über. Durch das nicht zu vermeidende Rockanheben kommen nämlich ungewöhnliche Dessous zum Vorschein: Ein pumphosenartiges, rosafarbenes Unterwäschestück, welches mit dicken Gummiringen unterhalb der Knie festgehalten wird, wahrscheinlich damit nichts verrutscht. Die Frau schafft es, ihrer jüngeren Begleiterin nachzuklettern, ohne dass der Stoff irgendwo hängenbleibt. Da habe ich aber wieder was zu sehen gekriegt.

Hannes hat genug gesammelt, entleert seine prall gefüllten Jacken- und Hosentaschen in einen Karton im Auto, und wir fahren zum Schloss. Dort begeben wir uns auf einen Rundgang entlang des Wassergrabens. Es ist windstill und daher spiegeln sich das Mauerwerk des großen Schlosses sowie diverse Bäume in all ihren Herbstfarben aufs Schönste im Wasser. Rostrot, sattes Dunkelgelb, noch manches nur an den Rändern braun gewordene Grün, vielfach auch grün gesprenkelte gelbe Blätter, Braun in hellen und dunklen Schattierungen. Einfach schön. Und während wir in aller Ruhe gucken, bemerken wir Vogelstimmen unterschiedlichster Art, darunter noch nie gehörte Geräusche. Danach besuchen wir ein Café. Von unserem Platz aus betrachten wir das Schloss, und sowohl Hannes als auch ich sinnieren über längst vergangene Zeiten, über Rittertum und Kämpfe, über Burgfräulein und Minnegesang und all diese Dinge. Ganz still sitzen wir und lassen den Eindruck des imposanten Gebäudes auf uns wirken. Auf dem Rückweg werfen wir noch einmal einen Blick in den Wassergraben mit seinem bunten Laub, welches im Wasser schwimmt. Enten paddeln vorbei, ab und zu taucht ein Fisch an die Oberfläche, um sich einen Leckerbissen zu schnappen, eine Fliege vielleicht oder eine Mücke. Dieses schöne bunte Laub allerorten, dieses ganze Herbstgefühl – genau deshalb wollten wir hierhin.

Geplant war am letzten Oktobertag ein Besuch in der Kölner Südstadt, eigentlich zwecks Begutachtung all der verkleideten Menschen, die Halloween feiern wollen. Hannes und ich fahren in die Innenstadt, sehen aber keinen einzigen verkleideten Menschen und gehen in ein Lokal. Vor Jahren waren wir hier und hörten tolle Rockmusik aus den 70-er Jahren. Versuchen wir es also nochmal. Das Lokal ist dem Anlass entsprechend dekoriert, mit vielerlei Gerippen und Totenköpfen an den Wänden und der Decke. Wir sitzen, umgeben von blauem und rotem Licht, an einem der Seitentische und hören Musik. Schöne alte Titel wie „Days of Pearly Spencer“, „Heavens Door“ oder „Papa told it us“, aber auch diverse Genesis-Stücke wechseln sich ab. Nach und nach füllt sich das Lokal, und ich stelle fest: Die Gäste sind alle weitaus jünger als Hannes und ich, obwohl doch die Musik aus dem Jugendalter von 50- bis 60-Jährigen stammt; da müssten doch ein paar mehr Interessierte kommen, um zu hören.

An der Theke hocken zwei glatzköpfige Männer, deren wie blank polierte Schädel auf ungesunde Weise blau aussehen, des Lichteinfalls von oben wegen, was aber wiederum gerade deswegen sehr gut zu dem gruseligen Ambiente hier passt. Und vor ihnen, wie auf allen anderen Tischen auch, rote Grablichter. Zufällig und ungewollt, aber die perfekte Dekoration – die beiden Glatzköpfigen in Kombination mit den Lichtern. Dann endlich ein junges Mädchen, welches Halloween ernst nimmt und entsprechend gekleidet hereinkommt. Rot gefärbte Haare, die Augen stark mit blauem Lidstrich umrahmt, die Kleidung in gruftigem Schwarz, dazu einigen Silberschmuck. Und es sieht klasse aus.

Nach einer Weile wird uns klar, dass ein Konzert stattfinden wird. Vermutlich sind wir die einzigen hier, die das bisher nicht wussten. Bald gehts los. Eric-Clapton-Titel, Spencer-Davis-Group, Soul-Musik, schöne Sachen, die hier aufs Allerbeste gespielt werden – mit allem, was so eine Gitarre hergibt. Nicht zu vergessen das Schlagzeug dahinter. Ich merke, dass ich immer wieder lächeln muss, jedenfalls habe ich richtigen Spaß an der Musik.

Der Kellner bringt zwei neue Biere und ich frage:

„Wir sind vermutlich die Ältesten hier drin, oder?“

„Ja!“ Mehr ist dazu wohl nicht zu sagen. Besonders viel von den Halloween-Umtrieben auf den Straßen sehen wir zwar an diesem Abend nicht, dafür genießen wir das Überraschungskonzert umso mehr.

Britta und ihr Freund Robert, die uns kürzlich damit überrascht haben, dass sie heiraten wollen, kommen Anfang Dezember abends zu uns, um Brittas 25. zu feiern. Geldgeschenke und ein paar Kleinigkeiten zum Auspacken, wie meist. Sonst keine großen Überraschungen. Oder doch? Ich habe einen Ratgeber zum Thema Hochzeitsplanung erworben, dessen erstes Studium an diesem Abend zu einer Menge Gelächter führt, denn ein derart bombastisches Fest mit viel Firlefanz, wie die Autoren allen Ernstes vorschlagen, wird es ganz sicher nicht werden. In knapp fünf Monaten soll die Hochzeit sein, und nachdem Britta heftig in dem Büchlein herumgeblättert hat, fragt sie sich aber dennoch, wie sie bis dahin alles schaffen sollen. Auch eine „kleine Hochzeit“ hat einen gewissen Vorbereitungsbedarf. Wird schon werden. Wir alle freuen uns.

Es ist der 24. Dezember. Mit einem schönen Blumenstrauß, überwiegend rote Rosen, dazu weißes und grünes Dekogewächs, bin ich unterwegs zu meiner Mutter, wie üblich am Vormittag des Heiligabends. Als ich ankomme, gibt es für mich eine Überraschung, denn es hat Probleme gegeben. Schon vorgestern ist es ihr nach dem Essen übel geworden, sie musste sich übergeben. Für sie, die üblicherweise nur kerzengerade und äußerst vorsichtig geht, müssen es unangenehme Bewegungen gewesen sein. Alles tut ihr weh.

„Ich fühle mich, als hätte ich überall blaue Flecken.“

Seit vorgestern verbringt sie den Tag sitzend auf dem Sofa. Um abends ins Bett zu können, muss sie sich hin robben, jedenfalls beschreibt sie es so. Es ist einfach furchtbar. Was jetzt?

„Warum hast Du nicht angerufen?“ frage ich.

„Wenn ich die Büro-Telefonnummer gehabt hätte“ antwortet sie.

„Aber Du konntest doch zuhause anrufen, Hannes hätte mir schon Bescheid gesagt.“

„Jetzt mach mir nicht noch Vorwürfe.“

Das mache ich doch gar nicht, aber um jetzt mit einer entsprechenden Antwort zu kontern, tut sie mir viel zu leid, daher gehe ich gar nicht auf den Satz ein.

„Eigentlich müsstest Du jetzt wohin, wo man Dich vollständig betreuen kann. Zu uns oder auch in ein Krankenhaus.“

„Bloß nicht.“ schreit sie mir entgegen. „Das wird schon wieder. Ich weiß schon, warum ich Dich nicht angerufen habe.“

Oh, ein sehr vorwurfsvoller Ton. Ich höre mir das alles an und fühle mich ziemlich hilflos. Jemand, der energischer wäre als ich, würde jetzt vielleicht sinnvolle Maßnahmen ergreifen. Welche, weiß ich auch nicht so genau. Ich versorge meine Mutter mit dem Nötigsten, bringe ihr wie gewünscht einen Eimer Wasser, der zunächst zum Waschen dienen soll. Später wird er auch noch für andere Zwecke verwendet werden. Ausleeren soll ich ihn dann morgen. Nein, essen möchte sie jetzt nichts, auch auf einen frischen Kaffee legt sie keinen Wert. Als sie mir klarmacht, dass ich nun gehen soll, bin ich fast schon froh, aber keineswegs sicher, ob ich das jetzt richtig mache, sie einfach so im Stich zu lassen. Zuhause gibt es – schlimme Idee, es ist erst Nachmittag - einen doppelten Sherry für mich. Danach schnell unter die Dusche. Wir bekommen abends Familienbesuch, und da möchte ich wenigstens äußerlich frisch und gut aufgelegt wirken.

Der Tannenbaum ist nett geschmückt, mit einigen Kugeln und vielen kleinen, rot lackierten Äpfeln sowie der Lichterkette. Hannes ist in der Küche dabei, eine Meisterleistung zu vollbringen. Die Gänsekeulen brutzeln im Backofen und es riecht verführerisch. Rotkohl, Pfifferlinge, Kastanien und Klöße sind auch schon in der Mache. Schwiegermutter Janni, Schwager Bert mit Freundin Doro kommen, und bald darauf auch Britta und Robert. Wir essen, alles ist bestens, die Laune ist gut und es gibt keine Unstimmigkeiten; es wäre ja bei uns nicht das erste Mal, dass an einem mit Spannung erwarteten Abend die Stimmung kippt und es böse Worte gibt. Heute nicht.

Nach dem Essen ziehen sich Hannes und Bert zurück ins Büro, und Marvin und Robert probieren oben ein Computerspiel aus. Später wird Marvin noch stundenlang allein vor seinem PC sitzen, um wahrscheinlich in irgendeinem Forum mit anderen Jugendlichen darüber her zu ziehen, wie der Heiligabend mit den jeweiligen Eltern verlaufen ist.

Britta, Janni, Doro und ich unterhalten uns über alles Mögliche. Mir fällt auf, dass meine Schwiegermutter Vorfälle, die sie erst vor einer Viertelstunde in aller Ausführlichkeit geschildert hat, bald darauf aufs Neue erzählt. Sie hat vollkommen vergessen, dass sie all das mit ähnlichem Wortlaut gerade erst berichtet hat. Doro gibt mir durch Augenzwinkern zu verstehen, ich solle nichts dazu sagen, aber das hätte ich sowieso nicht gemacht. Doch was hat das zu bedeuten? Ein einmaliger Ausrutscher? Oder zu viel Wein?

Erster Weihnachtsfeiertag. Viertel vor neun – raus aus dem Bett. Meine Mutter wartet auf mich. Ich ziehe die Sachen an, die im Badezimmer von vor einigen Tagen noch da hängen; es passt einigermaßen zusammen. Mir fällt auf, dass ich so, zumindest an arbeitsfreien Tagen, schon häufig vorgegangen bin. Hauptsache, die Klamotten passen halbwegs zusammen. Wann habe ich damit angefangen, so gleichgültig zu werden?

Schnell noch eine Tasse Kaffee, eine Scheibe Brot und los. Als ich am Neumarkt die Bahn verlasse, gehe ich immer zögernder, je näher ich dem Wohnhaus meiner Mutter komme, weil ich nicht weiß, was mich jetzt in der Wohnung erwartet. Alle Möglichkeiten stelle ich mir vor. Alle! Nachdem ich tief Luft geholt habe, betrete ich die Wohnung. Meine Mutter sitzt an der gleichen Stelle auf dem Sofa wie gestern, doch sie wirkt lebhafter.

„Mir geht es schon viel besser.“ meint sie.

Ich kümmere mich um alles, entsorge, was nötig ist, und lüfte das Schlafzimmer.

„Gestern war ich manchmal richtig ruppig.“ stellt meine Mutter fest. Ja, stimmt, ich weiß das noch, gebe ihr aber keine Antwort, sondern lächele sie nur an. Ich versorge meine Mutter so gut es geht, und mache mich nach einer Stunde wieder auf den Heimweg.

Silvester. Nun ist das Jahr also schon wieder fast vorbei. Am Nachmittag kommt überraschend unser alter Freund Konrad vorbei, und wir erzählen von gemeinsamen Silvesterfeiern früherer Jahre. Zum Beispiel gab es da die Feier bei Axel, während der ein Gast auf der Dachterrasse Böller in einen Blumentopf steckte, und kurz darauf die Pflanzen durch die Luft flogen; winterhart, aber nicht flugtauglich. Leider fand die Idee damals zwar bei manchen Gästen Anklang, nicht jedoch bei Axel, der die Tonscherben und zerstörten Blumen vorfand und wortlos damit begann, alles einzusammeln. Nie wieder hat er einen von uns zu einer Feier eingeladen. Blöde Geschichte und auch im Nachhinein noch peinlich. Allerdings stelle ich mit Vergnügen fest, dass auch Konrad sich offenbar gern an frühere Zeiten erinnert.

Inzwischen ist Abend, 18.50 Uhr. Endlich kommt wieder das „Dinner for One“. Es muss sein – für meine Begriffe muss es wirklich sein, every year! Doch in diesem Jahr sitzt erstmals niemand neben mir, der mitlachen würde. Hannes kann dieser Sendung nichts abgewinnen. Auf Marvin war da in den letzten Jahren Verlass, aber er ist nicht daheim. Er konnte sich auch stets gut amüsieren über den Butler James. Manchmal haben wir vermutlich nicht nur über den Verlauf des Dinners gelacht, sondern gegenseitig über uns selbst. Nach der Sendung sitze ich auf dem Sofa und mache mir Gedanken darüber, was im nächsten Jahr möglicherweise auf unsere Familie zukommen wird; Gedankenspiele, die mich schon in so mancher Nacht beschäftigten. Das häufige Grübeln über das, was passieren könnte, was aus den Kindern oder meiner Mutter wird, was finanziell für uns möglich ist oder eben nicht, raubt mir häufig den Schlaf. Und so sehe ich dann oft morgens aus und fühle mich entsprechend. Ich will mir aber nicht dauernd über Eventualitäten den Kopf zerbrechen, sondern entscheide mich, das kölsche Motto als Überschrift für das neue Jahr zu wählen: Et kütt wie et kütt – es kommt wie es kommt.

Schon bald nach dem Abendessen gehen Hannes und ich ins Bett, und zwar weit vor Mitternacht. Ich zumindest fühle mich so müde wie schon lange nicht mehr. Erstmals schicken wir zum Jahreswechsel keine Raketen in den Himmel. Es wird auch ohne gehen.

Um Mitternacht werde ich der Straßengeräusche wegen kurz wach. Aber da auch Hannes die Augen nur halb geöffnet hat, verkriechen wir uns beide wieder unter unsere Bettdecken. Den Sekt können wir nächstes Jahr trinken.

Es ist Mitte Januar. Heute beginnt meine Kur in Bad Brückenau. Hannes bringt mich zum Hauptbahnhof. Es hat den Anschein, als wäre er bedrückt darüber, dass ich wegfahre, dabei sind es doch nur drei Wochen. Hinfahrt per Bahn, später per Bus und dabei der Ausblick auf die schöne fränkische Landschaft. Überall liegt Schnee, dazu scheint die Sonne. Toll!

Mein Zimmer ist recht nett, vom Fenster aus habe ich den Blick auf Bäume und eine größere Schneefläche, auf der ich versuche, die Spuren zu deuten. Nicht so sehr die von Stiefeln, sondern die tierischen. Und ich ahne schon jetzt, dass ich die wunderbare Ruhe hier genießen werde. Am Abend nach der ärztlichen Untersuchung und einem ersten Essen möchte ich am liebsten schon ins Bett gehen, doch ich habe versprochen, daheim anzurufen. Aus Hannes Reaktion kann ich große Erleichterung heraus hören. Was hat der denn gedacht, wo ich landen würde? Falscher Zug, falsch umgestiegen oder sonstwie unter die Räder gekommen? Britta erhält eine SMS, auf die sofort eine Empfehlung kommt: Mach Dir eine schöne Zeit und benimm Dich gut.

Am nächsten Morgen schellt um halb sieben der Wecker, fast wie zuhause. Ich hoffe, dass dort auch alles pünktlich seinen Weg geht. Aber wieso auch nicht? Außerdem hatte ich mir doch vorgenommen, diese Art von Gedanken während der Kur von mir fernzuhalten. Einfluss nehmen kann ich ohnehin nicht von hier aus. Zum Frühstück esse ich ein richtig leckeres Müsli, mit Haferflocken und weiteren körnigen Zutaten. Danach findet ein erster Vortrag statt – eine Ernährungsberatung. Ich erfahre, dass ich als Colitis-Patientin bisher mit Vorliebe ausgerechnet zu den Nahrungsmitteln gegriffen habe, die mir gar nicht zuträglich sind. Vom Vollkornbrot über Müsli, von Salaten über viele Gemüsesorten, auch die meisten Obstsorten sind für mich nicht geeignet; es sei denn, sie sind gegart. Da werde ich heftig umdenken müssen. Im Vortragsraum fallen mir einige Leute auf, die sehr krank aussehen. Was habe ich eigentlich hier zu suchen? Außer der häufigen Müdigkeit und meiner blöden Darmgeschichte fehlt mir doch nichts.

Zwischen verschiedenen Maßnahmen und Anwendungen habe ich immer mal eine halbe Stunde oder länger Zeit. Was tun solange? Lesen will ich nicht ständig. Daran gewöhnt, meist irgendwie beschäftigt zu sein, muss ich lernen, auch mal eine Zeitlang einfach da zu sitzen und alles auf mich einwirken zu lassen. Die Gedanken kommen und wieder gehen lassen, das hab ich doch mal in einem Kursus gelernt. Jetzt kann ich es endlich mal umsetzen oder zumindest versuchen. Aus dem Fenster gucken, auch wenn nicht allzu viel zu sehen ist. Die Vögel, die Bäume, der Himmel, der alle paar Minuten sein Erscheinungsbild ändert. Bewusster atmen, wenn Zeit dazu ist. Hab ich doch auch mal geübt. Lediglich ein paar Sätze schreibe ich ins Notizbuch, und stelle dabei fest, dass sich auf meinen Händen einige Altersflecken gebildet haben. Wieso habe ich das bisher nicht gesehen? Zu wenig Zeit und Ruhe, um auf so was zu achten?

Schwimmen! Erst habe ich keine Lust, hinzugehen; am Ende möchte ich gar nicht raus aus dem Wasser. Wie viele Jahre war ich wohl nicht mehr in einem Schwimmbad?

„Gibt es hier eine Kleiderordnung, weil fast alle Damen schwarze Badeanzüge tragen?“ fragt ein Mann. Aha, doch kein Kurschattenanwärter, wie ich erst befürchtet habe, weil er dauernd zu mir hin guckt.

„Nein, aber man bildet sich immer ein, Schwarz mache schlank.“ antworte ich, und er ist zufrieden und schwimmt weiter seines Wegs.

Ich genieße es bald, nichts tun zu müssen. Nicht planen, was gekocht werden soll oder einzukaufen ist. Waschen, bügeln, mit all diesen Dingen habe ich jetzt nichts am Hut. Und ins Büro muss ich auch nicht. An diesen Zustand des Nichtstuns könnte ich mich bestimmt schnell gewöhnen. Am Nachmittag ein Spaziergang gemeinsam mit der sechzigjährigen Christa, die im Speisesaal neben mir sitzt und mit der ich mich etwas angefreundet habe. Hier in der Gegend gibt es viele schöne Bauwerke aus der Zeit des bayerischen Königs Ludwigs I, es gibt viel zu bestaunen. Später gehen wir in ein Café, und dort erzählt sie mir in gestraffter Form ihr Leben der vergangenen Jahre. Eine wohlhabende Frau, das erkennt man nicht nur am ständig wechselnden Goldschmuck, den sie trägt, sondern auch die Kleidung sieht edel aus. Überhaupt sind die Auftritte der Damen, die ich täglich um mich herum habe, vielfach sehenswert. Einige wechseln mehrmals täglich ihr Outfit. Für wen denn bloß? Für die meist übergewichtigen Herren, die in ihren Jogginganzügen herum schlurfen?

Ich telefoniere mit Marvin, der sich recht zufrieden anhört. Später ruft Hannes an. Ich würde ihm gerne sagen, dass ich ihn und den Rest der Familie doch mehr vermisse als ich erwartet habe. Aber wenn ich das vermelde, setzt er sich möglicherweise morgen früh ins Auto und kommt her. Er berichtet, dass unsere Katze Fussy zwei Tage lang kaum gefressen hat. Sie vermisst mich! Mit meiner Kurmaßnahme bringe ich wohl mehr durcheinander als vorher angenommen. Hoffentlich bewirkt sie im Gegenzug wenigstens was Positives.

Am Sonntag führt Christa und mich ein kleiner Spaziergang im Regen zur Wandelhalle, denn wir wollen zum Kurkonzert. Wir hören dem Stehgeiger und dem Gitarristen zu und stellen fest: Alles nur ältere Leute hier im Saal. Aber wir sind ja auch ältere Leute, das vergesse ich bloß manchmal.

Am nächsten Tag stehe ich am Fenster, gucke den tief liegenden Nebelschwaden zu und überlege, warum mein Hausarzt nie auf die Idee gekommen ist, mich auf Milchzuckerunverträglichkeit zu testen; diese Problematik ist bei mir festgestellt worden. Zu teuer für einen Kassenpatienten? Zu gleichgültig, der Arzt? Später gibt es Übungen für die Halswirbelsäule. Erstaunlich, an welchen Stellen des Körpers es bei solcherlei Bewegungen knacken kann. Aber hinterher wirkt alles sehr entspannt. Ich nehme mir vor, solche Übungen daheim weiterzumachen. Oft nutze ich die von mir selbst unfreiwillig verordnete Treppentherapie. Dauernd kommt es auch nach Tagen noch vor, dass ich irrtümlich treppauf gehe, während ich doch für die nächste Anwendung nach unten müsste. Doch nicht nur ich bin so schusselig, auch viele andere machen auf Fluren oder im Treppenhaus plötzlich Halt und gehen in anderer Richtung weiter. Beruhigend, nicht nur ich bin so blöd. Am Nachmittag entschließe ich mich zu einem Spaziergang. Es ist längst nicht mehr so kalt wie zu Beginn der Kur, und die Wege sind eisfrei. Zwischendurch spiele ich ein bisschen mit den tief hängenden Zweigen eines Baumes und lasse die Wassertropfen durch die Gegend flitschen. Auf einer kleinen Brücke bleibe ich stehen und gucke dem schnell dahin fließenden Flüsschen nach. Die Eisschollen am Ufer, vor wenigen Tagen noch dick, stabil und unzerstörbar wirkend, sehen jetzt aus wie aus Glas. Kristall, in den verschiedensten Formen. Mit etwas Fantasie lassen sich da richtige Skulpturen entdecken. Das Alleingehen tut gut; ich kann meinen Gedanken nachhängen und fühle mich am Schluss richtig wohl.

Lauter neue Dinge lerne ich kennen. Das Laufbandtraining, welches nicht so schlimm ist, wie ich befürchtet hatte. Und heute den „Hydro Jet“; eine Art Wasserbett, welches mittels heftiger Bewegungen aufs Allerfeinste den Rücken massiert. Der vorherige Kommentar eines Mannes, der gleichzeitig mit mir auf eine Anwendung wartet: „Da welle se net, dass des uffhört.“ Stimmt!

An unserem Tisch sitzen inzwischen neue Kurgäste, deshalb erfahre ich auch andere Krankheitsgeschichten, und mir scheint, dass manche Frauen – die Männer halten sich allesamt bedeckt – fast schon genüsslich und stolz von ihren jeweiligen Krankheiten berichten. Einzelheiten werden da gerne in grausamer Ausführlichkeit geschildert.

„Das Knäckebrot, das ich jetzt hier esse, kommt in einer halben Stunde wieder raus. Komplett.“ Das sagt die mir gegenüber sitzende junge Frau, und ich wage weder zu fragen, weshalb sie es dann isst, noch mir vorzustellen, wie das Knäckebrot nach dieser halben Stunde wohl aussehen mag.

Meine Kurfreundin Christa hat viel mehr Anwendungen auf dem Plan stehen als ich.

„Und zwischendurch gehe ich noch Wassertreten und aufs Rädle.“

„Meinst Du nicht, dass Du Dir zu viel zumutest?“ frage ich sie.

„Ach, ich bin mein Leben lang furchtbar ehrgeizig gewesen. Das wird nimmer anders.“

Als ich zugebe, dass ich froh bin, immer mal lesen zu können zwischen den Anwendungen, fällt ihr dazu keine Antwort ein, doch der leicht geringschätzige Blick spricht Bände. Wenn ich jetzt auch noch erwähnen würde, dass ich minutenlang aus dem Fenster gucken kann, ohne an was Besonderes zu denken, verstünde sie vermutlich die Welt nicht mehr.

Ich habe Zeit zum Nachdenken und stelle fest, dass ich im Grunde ganz zufrieden bin mit meinem Leben und der Art, wie ich es gestalten kann. Nicht nur, dass ich mit meiner Familie und den Freunden einverstanden und gern mit ihnen zusammen bin. Der Job geht auch so einigermaßen. Immer häufiger lasse ich mich darauf ein, mein Umfeld auf mich wirken zu lassen und einfach zu gucken, was passiert. Die simpelsten Dinge können erlebenswert sein und es muss längst nicht mehr „viel los“ sein. Sehr zufrieden und ausgeglichen gehe ich an diesem Abend ins Bett und schlafe schnell ein.

Am nächsten Vormittag kommt dann das, wovor mir die ganze Zeit am meisten gegraut hat: Das Nordic Walking, welches mir zwangsweise verordnet worden ist. Es geht gleich los mit Problemen, denn als einzigem Teilnehmer gelingt es mir nicht auf Anhieb, die Hände vorschriftsmäßig in die Schlaufen der Stöcke zu bekommen. Ach so, man soll den Verschluss und das ganze Zeug erst lockern. Na dann. Nach einigen allgemeinen Erklärungen stapfen wir los, und ich komme mir schon nach kurzer Zeit dermaßen bescheuert vor und schäme mich sogar vor dem Lastwagenfahrer, der weiter oben die Straße entlang fährt und vermutlich weniger auf uns mit unseren Stöcken als auf seine kurvige Wegstrecke achten wird. Nach einer Weile sollen wir eine Pause machen, mit offenen Ohren für weitere Erklärungen. Nach dem Zuhören klappt es schon wieder nicht, die linke Hand ordentlich in die Schlaufe zu bekommen. Unsere Leiterin kümmert sich um mich; nur mir muss sie helfen, nur eine Doofe hier im 12-er Grüppchen. Ja, und zu meiner eigenen Überraschung höre ich mich erklären:

„Wenn ich was nicht machen will, reagiere ich immer so bockig.“

Und alle hören zu. Was müssen die jetzt von mir denken? Nicht nur doof, sondern auch noch renitent, zickig – oder was weiß ich. Weiter geht es auf dem rutschigen Boden. Einen Moment lang bin ich so wütend, dass ich die Stöcke am liebsten weit weg werfen würde. Oder diesem Typen ins Kreuz, der wie ein Musterschüler, aufrecht, stramm und auch noch lächelnd vorneweg läuft. Er will zeigen: Ich kann es. Ich hab es kapiert. Ob er glaubt, er bekäme eine gute Note am Schluss? Morgens bei der Wirbelsäulengymnastik hat er auch schon so perfekt alles mitgemacht und beifallheischend der Krankengymnastin ins Gesicht geschaut. Wenn einer also die Stöcke ins Kreuz kriegen sollte, dann er! Ich bin wirklich froh, als die Stunde vorüber ist und ich nichts geworfen habe.

Später gibt es ein Sedativbad. Ich darf in eine Wanne mit wohlriechendem Zusatz. Das Radio läuft, nebenan singt einer mit: „It’s not unusual“. Tom Jones und mein badender Nachbar singen im Duett, in sehr unterschiedlichen Tonlagen. Ich bringe kurz darauf mit meinen Händen passend zum Takt des nächsten Musiktitels Wasser in Wellen. Meine Hände sind kleine Schiffe, die das Meer durchpflügen, meine Fantasie geht mit mir durch. Aber dann fällt mir ein, dass mein jetzt nicht mehr singender Nachbar das ja auch hören kann. Was denkt der jetzt, was sein benachbarter Badender da tut? Meine Schiffe hören unvermittelt auf, der Wellengang auf hoher See ist beendet.

Am Morgen ein wunderschöner Himmel, viel Rot, welches später teilweise zu Lila überwechselt. Ein dramatisch schöner Anblick. Nach dem Frühstück geht es in die Muckibude zum Muskeltraining an verschiedenen Geräten. Eigentlich bin ich innerlich schon wieder auf Abwehr, warum ist das so? Vielleicht denke ich an die Männer und Frauen, die mit ihren gestählten Muskeln manchmal auf Fotos zu sehen sind, oft mit Öl eingerieben, und in dieser Erscheinung bei mir mitleidiges Lachen, Ablehnung, manchmal sogar Ekel erzeugen. Es nützt aber alles nichts, ich muss mit dem Armtraining beginnen. Mit dem Heben von zunächst ganz geringen Gewichten. Nur kein falscher Ehrgeiz. Das hier ist ja ein erster Einführungstag. Und dann macht es mir sogar Spaß. Unangenehm wird es in dem Moment, als in der geöffneten Tür schon die Probanden der nächsten Stunde erscheinen, und ich ausgerechnet am schwierigsten Gerät sitze. Beine auseinander, Beine wieder zusammen, Kraft zeigen und Gewichte heben. Sieht sicher klasse aus, zumal ich die Turnschuhe vergessen und Mühe habe, meine flachen Pantoffeln auf den Fußstützen ans Halten zu kriegen. Das Schlimmste aber sind die kritischen Blicke der Leute in der Tür. Jedes einzelne Gesicht vermittelt: Ich kann das aber schon viel besser.

Später, wieder auf dem Zimmer, sehe ich mit gemischten Gefühlen aus dem Fenster. Erst fällt Regen, der in Schnee übergeht und sich bald zu einem heftigen Schneetreiben entwickelt. Und um 11.00 Uhr soll das schreckliche Nordic-Walking wieder stattfinden. In der vergangenen Nacht hatte ich länger wach gelegen und überlegt, wie ich mir diese verhasste Sportmaßnahme vom Hals schaffen könnte, und nun wird der Schnee immer mehr zu meinem Verbündeten. Am Ende entscheide ich mich fürs Fernbleiben vom Unterricht, und ich komme mir vor wie ein Schüler, der die Schule schwänzt. Kein übles Gefühl. Stattdessen genieße ich das Lesen eines Krimis. Ach ja, der Musterschüler wird den Schneeflocken zum Trotz sicher wieder wacker vorneweg stöckeln. Ich kann ihn mir richtig vorstellen und muss schon wieder grinsen. Und intern rechne ich auf. Gestern Nachmittag habe ich mit Christa und einer weiteren kurenden Dame einen zweistündigen Fußmarsch, oft bergauf und bergab, absolviert. Der galt für heute mit.

Seit zwei Tagen bekomme ich laktosefreie Kost. Und zu meiner Überraschung und wirklich großen Freude ist das ganze Bauchgerumpel sehr viel weniger geworden. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich regelrecht darauf warte, dass zwanzig Minuten nach dem Essen das Getöse im Bauch wieder losgeht, doch nichts geschieht. Ein Gefühl, welches ich seit Jahren nicht mehr kenne. Das ist das Schönste, was mir hier bisher widerfahren ist.

Ich glaube, dass ich häufiger die positiven Dinge im Leben sehe als manche anderen Menschen. Heute im Schwimmbad: Drei Personen schwimmen, vier Personen am Beckenrand quatschen, einer von ihnen ziemlich laut, ihn hört man auch oft quer durch den Speisesaal rufen, und er findet sich erkennbar unwiderstehlich. Immer laut, immer auffallend, immer präsent. Christa nennt ihn spöttisch den „Hahn im Korb“. Jetzt unterhält er mit lauter Stimme sämtliche Schwimmer, und eine Frau neben mir meint ärgerlich:

„Blöd, dass das so laut ist hier.“

„Aber dafür schwimmen die uns nicht im Weg herum.“ lache ich sie an.

„Stimmt, wenn man es so sieht.“ Nun kann auch sie lachen.

„Man sollte es so oft wie möglich so sehen“. finde ich.

Seit gestern plagt mich das schlechte Gewissen. Zunächst einmal hatte ich tagelang überlegt, wie ich es Hannes deutlich machen soll, dass er sich nicht ins Auto setzen und hierher fahren soll, um mich „mal richtig in den Arm zu nehmen.“ Ich selbst finde es gar nicht so schlimm, mal für drei Wochen getrennt zu sein. Außerdem, um knappe vier Stunden hier beisammen zu sein, fallen, je nach Witterung, sechs bis sieben Stunden Fahrtzeit an. Ein Missverhältnis, was Hannes von sich aus eigentlich auch so sehen müsste. Und was sollen wir hier in der Zeit zwischen Ende Mittagessen und Abendessen anfangen? Straßen und Wege sind teilweise glatt, und abgesehen davon kann man auch der Kälte wegen nicht stundenlang herumlaufen. Und die ganze Zeit im Café sitzen? Alles Quatsch.

„Aber einmal möchte ich schon kommen, um mal zu sehen, wie Du da wohnst, wie es da aussieht.“ tönt es durch den Telefonhörer.

„Ein bisschen Abstand tut uns beiden doch wirklich mal ganz gut. In Ruhe nachdenken über dies und jenes kann bestimmt nicht schaden.“ entgegne ich.

Doch Hannes ist da anderer Meinung.

„Du willst wohl mit aller Macht hierhin kommen?“ frage ich, etwas lauter als nötig. Kurzes Schweigen am anderen Ende. Habe ich einen wunden Punkt getroffen, ist mein armer Mann jetzt beleidigt? Das Gespräch beenden wir mit beiläufigen Redewendungen.

Dieses Telefonat war gestern Abend, und seitdem gärt es in mir. Hätte ich mich anders, zumindest vorsichtiger ausdrücken sollen? Aber wie oft habe ich Dinge schon nicht auszudrücken gewagt aus lauter Angst, mein Gegenüber vor den Kopf zu stoßen. Immer Rücksicht auf andere. Nicht auf mich. Ich finde, ich habe es richtig gemacht, fühle mich aber trotzdem nicht gut dabei. Wäre ich regelmäßig in der Lage, offen und unverblümt das zu sagen, was ich wirklich möchte, wie es für die meisten Menschen in ihren Beziehungen wohl normal ist, wäre mein Gegenüber daran gewöhnt.

Es ist früher Morgen. Wieso höre ich draußen eine Türe zuklappen? Oh Schreck, mein Wecker hat den Geist aufgegeben. Jetzt heißt es, in knapp zwanzig Minuten waschen, anziehen und zum ersten Termin gehen. Ausgerechnet heute habe ich schon eine Anwendung um halb acht. Es gelingt mir zwar eine flotte Katzenwäsche, doch bin ich nervös und etwas kopflos. Was könnte ich anziehen, wo sind überhaupt die Socken? Wie immer, wenn etwas unter Zeitdruck geschieht, mache ich alles leicht unüberlegt, stehe mir selbst im Weg und brauche daher mehr Zeit als nötig wäre. Noch schnell wiegen (600 g weniger als vor drei Tagen!) und Blutdruck messen (höher als sonst, der Puls auch. Zweifellos aus Stressgründen). Am Ende sitze ich drei Minuten vor dem Termin am Wartepunkt und denke, dass die Hektik gar nicht nötig gewesen wäre.

„Wie im Schlaraffenland. Hier wird man richtig verwöhnt.“ stöhnt vor Wonne mein Gegenüber am Mittagstisch. Das kann ich bestätigen. Doch gleich darauf ein ganz anderes Thema: „Mein Mann hat mich geschlagen“ erwähnt eine Frau beiläufig. „Meiner auch.“ kommt gleich von meiner Nachbarin. Gewalt in der Familie! Hier am Tisch sitzen sechs Frauen unterschiedlichen Alters, und zwei davon haben schon mal die Hucke voll gekriegt. Zufall? Oder ist diese Art der zwischenmenschlichen Verhaltensweisen weiter verbreitet, als ich ahnte? Doch bevor das Thema vertieft wird, dringt vom Nebentisch - dort sitzt der Hahn im Korb - ein Satz zu uns herüber:

„Ich hab mich gleich am Anfang mit einer eingelassen, damit die anderen mich in Ruhe lassen.“ Er glaubt bestimmt wirklich, was er sagt. Zum Lachen. Überhaupt ist es erstaunlich, wer sich hier alles in welchen Konstellationen gefunden hat. Manche Frauen mit besonders ausladenden Figuren (wieso gerade die Dicken?) haben, ohne das allzu sehr zu vertuschen, so manche Männerhand fest im Griff. Bezahlen sie dafür? Nur um später, wieder daheim, ihren Freundinnen erzählen zu können, dass sie auch einen Kurschatten hatten? Und die Frau, mit der sich unser Hahn eingelassen hat, ob sie sich sogar geadelt fühlt, weil seine Wahl ausgerechnet auf sie gefallen ist? Hier ist schon allerhand Kurioses zu beobachten. Und, wie überall, wo ich in den letzten Jahren auf eine größere Ansammlung von Menschen getroffen bin: Es ist immer mindestens eine Person dabei, die dermaßen gut situiert ist, dass es eigentlich schon schmerzen müsste. Ach, all der viele Reichtum! Dabei habe ich persönlich in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass gerade die wirklich Wohlhabenden über diese Tatsache in den allermeisten Fällen kaum ein Wort verlieren.

Im Übrigen fällt mir auch hier wieder auf, dass die Menschheit stets nur von sich erzählen will. Ich, ich, ich. So geht es die ganze Zeit. Außer Christa hat mich bei all den vielen Gesprächen, und ich bin wirklich ein geduldiger Zuhörer, noch niemand gefragt, was ich denn mache, wenn ich nicht gerade zur Kur bin. Also höre ich eben zu und bilde mir mein eigenes Urteil.

Eine Gruppensitzung: Stressbewältigungstraining. Ausgerechnet zum Anti-Stress-Training komme ich zu spät. Beim Frühstück und beim Quatschen mit der neben mir sitzenden Frau, einer jungen Russin, die mir so sympathisch ist, habe ich die Zeit vergessen. Die Teilnehmer der Gruppe müssen sich zunächst vorstellen und von sich und ihren Problemen erzählen. Schnell stellt sich heraus, dass die meisten Frauen die gleichen Schwierigkeiten haben wie ich; viele fühlen sich für alles zuständig und wollen die Dinge möglichst perfekt erledigen. Auch das Thema Mobbing wird angeschnitten, und ich erfahre schlimme Dinge aus so manchem weiblichen Berufsalltag. Wenn ich es vergleiche, muss ich zugeben, dass es mir an meinem Arbeitsplatz offenbar sogar richtig gut zu gehen scheint.

Unser Dozent gibt auch grundsätzliche Ratschläge und empfiehlt, auf folgendes besonders zu achten: Gesündere Lebensweise, eine optimale Situation am Arbeitsplatz sowie eine sinnvolle Erholung, nicht nur in den Ferien, sondern auch bezogen auf Freizeitgestaltung. Außerdem sollen wir keine zu hohen Erwartungen an das soziale Umfeld stellen.

Nach einem Test erfahre ich, dass ich nicht gut Nein sagen kann und allem oder allen gerecht werden will. Ich soll lernen, mir nicht so viel aufbürden zu lassen. Das alles weiß ich schon lange, aber diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen, ist mir in all meinen Lebensjahren noch nicht nennenswert gelungen. Später komme ich vorbei am Internet-Raum. Kein Platz frei? Wie ärgerlich. Oder doch nicht? Ich wollte eine kleine Internet-Sitzung zwischen zwei Termine schieben, dabei habe ich doch vor wenigen Minuten erst was über Stressbewältigung gehört. Ich kapiere wohl nur langsam, auf was es ankommt.

Am frühen Nachmittag geht es wieder in den Fitnessraum, und hier liefere ich ein Glanzstück ab. Vermutlich weil gleichzeitig mit mir einige neue Kurgäste trainieren, will ich denen wohl mal – ich weiß selbst nicht, wie ich darauf komme – zeigen, wie das hier geht. Das heißt, ich mache ein paar Klimmzüge und dergleichen mehr, als nötig ist. Selbstredend, dass ich auch mit dem Einstellen der Geräte schon bestens vertraut bin. So cool bin ich. Vermutlich hakt bei mir kurzfristig der Verstand, denn nach Beendigung meiner Vorstellung komme ich nur mit Mühe die Treppen hoch, aber das sehen die Neuen jetzt nicht, die ackern ja an ihren Geräten. In meinem Zimmer angekommen, spüre ich, dass mir ziemlich übel wird. Im Magen? Oder ist es eher der Herzbereich? Was wird das denn jetzt? Ein Herzinfarkt infolge sportlicher Überbelastung? Ich lege mich sofort ins Bett. Oder sollte ich doch mal bei der Stationsschwester vorsprechen? Wie oft haben die hier im Haus wohl überraschende Todesfälle? Langsam beruhigt sich alles, und nachdem ich über einem inhaltlich zäh voran kommenden Krimi mehrfach eingenickt bin, geht es wieder. Eigentlich wäre noch genug Zeit für einen kleinen Spaziergang, aber ich bleibe liegen. Mir ist klar, dass ein solches Luxuslotterleben wie hier für mich bald wieder Vergangenheit sein wird. Also, genießen! Frische Luft schnappen kann ich gleich beim Lüften.

Nach einem Vortrag über gesunde Ernährung sprechen Maria, die mit mir am Esstisch sitzt, und ich mit einem etwa 50-jährigen Mann; es ist ein kurzer Erfahrungsaustausch zum gerade gehörten Thema. Kurz darauf kommt eine jüngere Frau aus dem Vortragsraum, sie hatte wohl noch Fragen an die Dozentin gehabt, guckt uns kurz an, streicht dem Mann zärtlich über den Arm, und wirft Maria und mir einen eisigen, äußerst vernichtenden Blick zu. Sofort ist klar, warum, denn ich erinnere mich, dass die beiden beim Vortrag recht eng beieinander gesessen haben. Die Frau glaubt vermutlich, Maria oder ich wollten was von ihrem älteren Modell. Das ist meiner, sagt der Blick, lasst die Finger von ihm. Maria interpretiert es genauso und wir grinsen uns an.

„Jetzt sanieren sie uns hier aufwendig, schicken uns dann nachhause und nach ein paar Wochen ist alles beim Alten.“ erklärt mir ein Mann am Wartepunkt vor einer Übungsstunde.

„Ja, so wird es wohl werden. In den meisten Fällen.“ antworte ich, hoffe jedoch, dass ich selber etwas mehr daraus mache. So viele gute und wissenswerte Dinge habe ich hier gelernt, die dürfen doch nicht ungenutzt wieder in Vergessenheit geraten.

Eine erneute Gesprächsrunde mit dem Psychologen, welcher der Runde folgendes vermittelt:

„Es ist überlegenswert, ob Sie nicht nach der Kur mal mit dem Chef oder den Kollegen sprechen, mit denen es irgendeine Problematik gibt“.

Ja, das ist in der Tat überlegenswert, aber entweder ist ein Mensch in der Lage, Probleme anzusprechen und tut das üblicherweise auch, wenn es nötig ist. Oder er hat es nicht gelernt oder nie den Mut gefunden, Ärgernisse anzuprangern, möglicherweise aus Angst vor Ablehnung oder sonstigen negativen Reaktionen. Zu dieser Kategorie zähle ich mich, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das in meinem weiteren Berufsleben noch in den Griff bekommen werde.

Nach dem samstäglichen Mittagessen werden Christa und ich von einer Mitkurenden im Auto mitgenommen zu einer Fahrt nach Bad Kissingen. Wir spazieren eine Weile durch den Ort, lassen uns den kalten Wind um die Nasen wehen und gucken uns die vielen schönen alten Gebäude an. In einem Café bestellen wir uns Obstkuchen und Kaffee. Richtigen Kaffee. Der erscheint mir gegenüber dem sonstigen während der Kur verabreichten coffeinfreien Kaffee als ziemlich stark und ich lasse die Hälfte stehen. Zu viel des Guten, ich bin nichts mehr gewöhnt. Später gehen wir in eine Pizzeria, und der italienische Wirt kann es nicht fassen, dass wir auf Wein zum Essen verzichten wollen. Im Grunde hätte ich jetzt nichts gegen ein Gläschen Roten. Aber wenn mir schon normaler Kaffee nicht bekommt, wer weiß, wie ich auf Rotwein reagieren würde. Vielleicht auf der Rückfahrt zum Kurheim leicht angeschickert auf der Rückbank des Autos sitzend? Nein, besser nicht. Alle drei bekommen wir unsere Pizza nicht aufgegessen, sonst gibt es ja abends immer Brot mit dünnen Scheiben Käse oder Wurst. Da hat der Magen sich wohl inzwischen umgestellt und gelernt, sich einzuschränken.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen sitzt die Tischrunde noch lange beisammen, heute geht es um traurige Familienschicksale. Gleich zwei Leute berichten von ihren Söhnen. Einer hat mit zwanzig Jahren Multiple Sklerose bekommen, von heute auf morgen. Und der Mann erzählt, wie sich das Leben einer ganzen Familie unvermittelt verändern kann. Danach ist Maria an der Reihe. Einer ihrer drei Söhne hat paranoide Schizophrenie, auch aufgefallen erst im Jugendalter. Sehr traurige Schicksale, die da mit all ihren Folgen für die Familien geschildert werden. Vielleicht könnte ja auch ich mir manches von der Seele reden, weil ich weiß, dass wir alle uns wahrscheinlich nie wieder sehen werden. Sicher ist das auch ein Grund, weshalb sich einige jetzt gegen Ende doch offenbaren. Es sind eben doch nicht nur die bisher so perfekten Menschen, in deren Leben alles glatt läuft.

Später geht es wieder ins Sedativbad. Obwohl ich vergangene Nacht lange genug geschlafen habe, lege ich mich nach diesem Bad für eine Weile ins Bett. Vordergründig, um die Wirkung des Bades zu intensivieren. Hintergründig aber, weil ich es so richtig genieße, schon wieder im Bett zu liegen und zu lesen. An einem Montagvormittag faul im Bett liegen, wann kann ich mir das sonst schon leisten? Überhaupt, diese letzten drei Kurtage bewusst zu genießen, das habe ich mir ganz persönlich verordnet. Davon werde ich geraume Zeit zehren, wenn ich wieder in Köln bin.

Ohnehin mache ich mir viele Gedanken, wie das wohl werden wird, wieder zuhause. Mit allen Pflichten, Aufgaben und auch mit so manchen Zwängen, denen ich mich nicht entziehen kann. Das kann in ein paar Tagen ja wieder lustig werden. Dann wird es wohl auch nichts mehr mit dem Erraten von fünf Sudokus am Tag oder dem ausführlichen Lesen von Zeitschriften. Von all den Frauenzeitschriften, die überall zum Ausleihen herumlagen, habe ich für die nächsten Monate auch genug. Aber hier haben die ewig gleichen Themen um Gesundheit, Körperpflege und Ernährung auch hin gepasst.

Leider ist es so, dass ich seit zwei oder drei Nächten stets für längere Zeit wach liege. Wie zuhause. Und die Gedanken kreisen, wie sonst auch, um die Lösung von möglichen Problemen. Am Anfang dieses Aufenthalts war das noch anders. Vermutlich hatte ich zu Beginn das Gefühl, sowieso aus der Ferne nichts ausrichten zu können, also konnte ich auch getrost schlafen und brauchte irgendwelche Gedanken und Sorgen erst gar nicht an mich heran lassen. Wieso dann jetzt? Zu ärgerlich.

Am Nachmittag, es ist wunderbares, sonniges Wetter, gehe ich in den Park. Kein Eis mehr auf den Wegen, gutes Vorwärtskommen, ohne zu rutschen. Der Schnee ist größtenteils weg getaut. Neben dem Weg, auf dem breiten Wiesengelände, häufen sich Massen von Maulwurfshügeln. Raubvögel suchen dicht über dem Boden nach Nahrung, in der Hoffnung, dass eine Maus die Nase aus einem Mauseloch reckt, um nach dem Wetter zu gucken. Andere Vögel fliegen hintereinander in der Luft, so manche Pirouette, mancher Schlenker wird dabei eingearbeitet. Die Vögel wirken gut gelaunt. Ebenso wie zwei Hunde, die weit hinten miteinander spielen und raufen. Alle spüren, heute zum ersten Mal seit so vielen eisigen Wochen, dass bald wieder der Frühling kommen will. Oft bleibe ich stehen, auch, um weiter hinten dem glucksenden Bach zuzugucken und -zuhören. Das Sonnenlicht spiegelt sich darin. Mir gefällt das alles so gut. Mit dem Spaziergang verabschiede ich mich von dieser schönen Gegend; morgen heißt es Kofferpacken. Die drei Wochen kommen mir rückblickend vor, als wäre ich auf einer Insel gewesen. Diese werde ich morgen verlassen und schauen, wie es dann weitergeht. Jedenfalls freue ich mich schon unglaublich auf meine Familie. Und auf das Katzentier.

Am nächsten Nachmittag bin ich endlich wieder in Köln. Hannes holt mich am Bahnhof ab und sieht froh und zufrieden aus. Zuhause steht ein großer Strauß Rosen für mich da. Und es wartet eine Katze oben an der Treppe, die mit großen Augen guckt und sich nicht sicher zu sein scheint, ob ich es bin, die sie da hat reden gehört. Doch, Fussy, ich bin es. Ich bin wieder da. Britta kommt mich begrüßen und kurz danach steht auch Marvin in der Tür. Ach, wie bin ich froh. Meine wichtigsten Leute sind um mich herum und sie alle wirken so, als würden sie sich richtig freuen, mich wieder hier zu haben.

An einem sonnigen Sonntagnachmittag im März fahren Hannes und ich zum Aachener Weiher in der Kölner Innenstadt und drehen eine Runde um den See. Endlich ist der Frühling da. Die Bäume tragen Knospen, die aussehen, als würden sie gleich aufplatzen; in wenigen Tagen schon werden überall kleine zarte Blättchen zu sehen sein. Auch die Sträucher haben Ansätze der jährlich wiederkehrenden kleinen Wunderwerke der Natur.

Und der rosa blühende Kirschbaum vor dem Ostasiatischen Museum ist schon jetzt ein wunderbarer Farbklecks. In der Nähe des Museums brütet ein Schwan, nur leicht verdeckt durch Gebüsch, und er beäugt uns argwöhnisch, wohl in der Hoffnung, dass wir bald weitergehen. Überhaupt ist der Nestbau der Vogelwelt in vollem Gange. Mancher Vogel, der eine Rispe im Schnabel trägt, flattert in „seinen“ Baum. Alle Bänke rund um das Ufer sind besetzt. Nach dem langen, kalten Winter warten die Menschen ungeduldig auf den Frühling.

Später sitzen wir im Biergarten am Aachener Weiher und genießen ein erstes Kölsch im Freien. Auf den Stufen am Ufer hocken viele junge Leute, und allen tut es sichtbar gut, dass sie etwas Wärme mitkriegen. Der Weiher glitzert vor sich hin, und nur wenn zwischendurch die Sonne hinter den Wolken verschwindet, sieht er eher grau aus. Für einen Moment wird es kühler und die Menschen machen schnell wieder ihre Mäntel zu. Am Abend gehen Hannes und ich in einem persischen Lokal essen. Richtig lecker alles, aber leider zu viel für mich. Essen in solcher Menge, auch wenn es noch so gut schmeckt, kann eine Belastung sein, noch Stunden später. Ich werde künftig nach dem Seniorenteller Ausschau halten. Das meine ich jetzt ernst.

Morgen ist mein Geburtstag, und wir erwarten Gäste. Schon in den frühen Morgenstunden wache ich auf und überlege; allerhand Fressalien und Getränke haben wir schon gekauft, nur die frischen Waren müssen noch besorgt werden. Wie viele Hähnchenkeulen brauchen wir, was fehlt sonst noch, was könnten wir vergessen haben? Offenbar nicke ich wieder ein. Als ich gegen neun erneut aufwache, merkt Fussy, wie ich mich bewege. Sofort beginnt sie, mit ihren Pfoten auf der Bettdecke zu kneten, doch ich drehe mich nochmal herum, und die Katze hört gleich wieder auf mit der Kneterei. Welch ein rücksichtsvolles Tier.

Ich liege noch eine Weile still und mache mir ein paar Gedanken. Im neuen Lebensjahr möchte ich die Dinge ruhig auf mich zukommen und möglichst entspannt auf mich einwirken lassen. Die Gelassenheit, von der ich schon so lange träume, vielleicht wird es ja doch noch was damit. Endlich stehe ich auf, weil ich viel vorhabe, zumindest heute wird es noch nichts mit der Gelassenheit. Ich muss recht zügig vorgehen und alles in einem gewissen Zeitplan unterbringen. Wenn ich mich unmittelbar auf den Gedanken von vorhin einlasse und tatsächlich alles in Ruhe auf mich zukommen lasse, damit aber Gefahr laufe, nicht alles zu schaffen, was ich mir für unsere Gäste vorgenommen habe, bin ich auch nicht zufrieden.

Gleich nach einem hastig eingenommenen Frühstück begebe ich mich zum Supermarkt, um kiloweise Gulasch und mit sechs Päckchen den kompletten Bestand an Hähnchenunterschenkeln aufzukaufen. Später backe ich einen Kuchen und merke währenddessen, wie lästig mir im Grunde eine solche Tätigkeit ist. Abwiegen, rühren, umfüllen, leider auch etwas daneben schütten, weil ich unachtsam bin. Endlich bin ich fertig, der Kuchen steht im Backofen. Vielleicht sollte ich künftig so was lassen. Wieso muss ich eigentlich Kuchen backen, wenn ich das gar nicht gerne mache? Möglicherweise ist das heute der letzte Kuchen, den ich selber backe. Dann muss bei Bedarf eben künftig Marvin ran, der kann das ja auch. Am Nachmittag kommt Britta, um die Lauchcremesuppe zu kochen; sie hat da ein tolles Rezept. Ich bereite währenddessen die Gulaschsuppe vor für den nächsten Abend. Britta und ich stehen gemeinsam am Herd, kochen und quatschen. Später trinken wir vier, Vater, Mutter und zwei Kinder, ein Gläschen Sekt auf meinen letzten Tag als 56-Jährige.

57

Am Morgen werde ich zunächst von Hannes, später auch von Marvin richtig fest umarmt. „Alles Gute zum 57.“ wünscht er mir.

Evelyn zwischen 55 und 60

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