Читать книгу Tristans Tod - Karin Hirn - Страница 6
ОглавлениеProlog 2
Wenn man liebt, so sagt man, vergesse man die ganze Welt. Er kann aber die Welt nicht vergessen, gerade diese Welt will er niemals aus den Augen lassen, solange er lebt. Daraus schlussfolgert er, dass er nicht lieben kann. Er vermöge nicht so zu lieben, denkt er, wie es in ausreichendem Maße notwendig wäre. Denn Welt bleibt bis zu seinem letzten Atemzug sein wichtigstes Gegenüber, das er zum Leben braucht, auf das er angewiesen ist wie die freie Luft zum Atmen, und ist sein bester Gesprächspartner.
Er kann nicht anders, er ist ja ein Künstler. Das erlöse ihn von der Sterblichkeit, so glaubt er. Dabei denkt er, dass die ursprünglichste aller Welten die Natur sei. Dieses Werden und Wachsen befriedigt ihn. Wozu braucht er da noch einen anderen Menschen?
Und doch – wenn er bereit wäre, seinen einsamen Beobachterposten zu verlassen, dann wäre wohl noch reicheres Leben möglich. Er würde sich dann an dies bis an sein Lebensende erinnern, so glaubt er.
Ja, tatsächlich, geade jetzt erinnert er sich an die unnachahmlich feine Linie eines leicht gebeugten Frauennackens, an die Einzigartigkeit unbeschreiblicher Anmut unverstellter Natürlichkeit eines Mädchens, dann erinnert er sich wieder an den dunklen Glanz zweier Augen und an die Bestimmtheit ihres Blicks. Nie vergessen wird er dieses Lächeln, einzigartig ist es doch.
Zwischen all seinen Erinnerungen tanzen die Lichtreflexe eines Sommernachmittags, leicht und luftig. Dieses Lächeln einfach zu vergessen, das wäre doch tatsächlich Verrat! An die reine Schönheit ihres Körpers nicht mehr denken zu wollen, wäre doch eine unverzeihliche Gedankenlosigkeit! Verrucht wäre es auch, sich nicht mehr an diese besondere Lust der Sinne erinnern zu wollen! So denkt er und fühlt sich zerissen in sich selbst. Er wolle doch, so behauptet er, von nichts und niemanden abgelenkt werden in seiner Suche nach Wiedergabe. Schon gar nicht von einer Liebe. Nach langem Überlegen muss er sich entscheiden: Die Lust, die ihm seine Kunst bringt, steht für ihn doch weitaus höher und ist doch weitaus mächtiger als alles andere. Das erhebe ihn über das Los der Menschen, so erwartet er.
„Wir wollen die Kraniche ziehen lassen, wenn es an ihrer Zeit ist“, bestätigt er.
Dies glaubt er und weiß doch nicht, dass auch er wie die Kraniche seiner Bestimmung folgen muss.
Seine Theorie geht nicht auf.
Und dann kommen die dunklen Gedanken.
Wenn er schmerzlos wäre, folgert er, dann wäre der Tod nur ein kleines Sterben.
Er weiß doch, dass er, wenn er malt, sein eigener unsterblicher Schöpfer ist. Es wäre wirklich der allergrößte Verrat, nicht mehr zu malen oder anderes wichtiger zu nehmen. Durch die Dinge über allen Dingen zu sein, das ist sein Wunsch. Der ist keinesfalls gering. Einen anderen will er aber nicht haben.
Und doch ist da dieser unaufhörliche Schmerz, der ohne Pause, bohrend, tagtäglich über ihn herfällt. Sein Plan geht nicht auf, er ist noch immer verletzbar. Da ist er wie jener Tristan, der unheilbar, ohne Aufschub, zwar sanft und doch unerbittlich, dem sicheren Ende zugleitet. Wie im Rausch treibt er dahin. Tristan liebt und Tristan malt.
Armer Tristan, dieser zweigeteilte, zerrissene Tristan. Für Tristan ist das Streben zum Unerreichbaren ein langsam wirkendes, tödliches Gift.
Tot zu sein ist, als würde man schlafen. Also, warum diese Furcht? Man würde tief träumen, ohne ein kommendes Erwachen, und für immer schmerzlos. Wenn Tristan schläft, dann schweigt für ihn die Welt, ihr Atem stockt für eine Weile, ihr Bewusstsein ist verhangen, der Schlag ihres Herzens wird von Minute zu Minute unhörbar.
Tristan, der Künstler, sagt, eine sterbende Liebe sei weitaus größer als eine lebende. Tristan kann sich nur im Tode der Liebe ergeben, ohne die Kunst zu verraten. Malend stirbt er. Oder er stirbt beim Malen. Jeder Pinselstrich ein wenig mehr. Das ist der Preis. Was schließlich übrig bleibt, ist einzig allein das Werk. Wenn dann im Werk die Liebe wohnt, erst dann hat sich das eine mit dem anderen versöhnt.