Читать книгу Schneeflockenträume in New York - Karin Koenicke - Страница 9

Sternennacht - Vincent van Gogh Julian

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Van Gogh malte seine berühmte Sternennacht nicht an einem lauen Sommerabend, den er mit einem Glas Rotwein ausklingen ließ. Vielmehr befand er sich in geschlossenen Räumen der Nervenheilanstalt von Saint Remy und haderte mit seinem Schicksal. Vielleicht ist das Bild deshalb so emotional mit seinen intensiven Kontrasten und der leidenschaftlichen Rhythmik in den Pinselstrichen? Die schwarz-züngelnde Zypresse, der aufgewühlte Himmel voller kosmischer Energie und ein Dorf, dessen Silhouette an Vincents Heimat Holland erinnert – wie ein nächtlicher Sog zieht es den Betrachter näher und offenbart die gequälte Seele des Malers. Auch der Sänger Don McLean war sehr berührt, denn er setzte dem Bild mit seiner Ballade „Vincent (starry night)“ ein musikalisches Denkmal.

Der Hobel glitt mit Feuereifer über das Eichenholz und schleuderte kringelige Späne auf den Boden der Werkstatt. Julian kam es vor, als hätte das Werkzeug in seinen Händen einen Riesenspaß daran, der Platte zu Leibe zu rücken. Er selbst liebte es immer noch, mit Holz zu arbeiten. Schon als Kind hatte er gerne im Betrieb seines Dads herumgelungert, mit beiden Händen in den Sägespänen gewühlt und den Duft eingeatmet. Gab es etwas, das besser roch als frisch geschnittenes Holz? Das hatte er sich damals nicht vorstellen können und auch bis heute nichts gefunden, was er lieber den ganzen Tag über riechen mochte.

Inzwischen existierte kein großer Schreinereibetrieb mehr, in dem sein Dad einer Horde Angestellten Anweisungen gab. Die Zeiten waren schlechter geworden für das Handwerk, denn die meisten Menschen kauften lieber im Möbelhaus ein, statt sich ihre Tische, Betten und Schränke individuell anfertigen zu lassen. Also hielten nur Julian und sein Vater die Firma in dieser kleinen Werkstatt am Laufen. Wobei sein Dad oft unterwegs zu Kunden war, denn er kannte viele Leute, während Julian hauptsächlich im Betrieb sägte, hobelte oder schraubte.

Zufrieden glitt er mit der Hand über die Eichenplatte. Wie herrlich glatt sie jetzt war! Und doch nicht seelenlos wie eine Kunststoffoberfläche oder eine Sperrholzplatte aus einem dieser Möbelriesen, nein, das Holz lebte und atmete, es hatte Maserungen und Fasern. Für ihn war es fast wie ein lebendiges Wesen. Allerdings eines, das sich bereitwillig formen ließ. Nicht wie er selbst, dem man oft genug einen hölzernen Sturschädel unterstellt hatte. Wahrscheinlich zurecht.

„Hast du den Stuhl für Mrs. Snyder fertig?“, wollte sein Dad wissen, der gerade zur Tür hereingeschneit kam und mit seinen Stiefeln eine Ladung Matsch mitbrachte.

Julian stand auf und holte das reparierte Designerstück. „Klar doch, schon seit heute Morgen. Sieht wieder aus wie neu.“

Sein Vater nickte zufrieden. „Lad ihn in den Wagen, ich fahre später noch vorbei.“ Dann blieb er stehen und strich sich über den grauen Bart, was kein gutes Zeichen war. Immer, wenn er das tat, ging es um ein unerfreuliches Thema. Und Julian konnte sich schon denken, was es war. Deshalb packte er den Stuhl und steuerte damit den Lieferwagen an, der vor der Tür parkte. Doch er wusste, dass sein Dad nicht lockerlassen würde. In dieser Hinsicht konnte sein alter Herr ebenso stur sein wie er selbst.

„Stacy würde sich bestimmt freuen, wenn du sie wegen der Gala fragst“, kam prompt von seinem Vater, sobald Julian vom Transporter zurückkehrte. „Ihre Mom hat mir erst neulich erzählt, dass sie solche Veranstaltungen liebt.“

Schön für Stacy. Julian seufzte. Er selbst hatte weder Lust auf einen Abend unter lauter Handwerkern, die mit ihren neusten Drechselbänken prahlten als seien es schnittige Lamborghinis, noch auf diese Stacy. Sein Dad pries sie ihm so unermüdlich an wie der Verkäufer im Yankee-Stadium seine Hot Dogs. Bisher allerdings mit mäßigem Erfolg.

„Ich denke darüber nach“, erwiderte Julian ausweichend und schaltete kurzerhand die Stichsäge an, um in einer zukünftigen Vitrine Platz für das Glasfenster zu schaffen. Und um sich nicht mehr über dieses lästige Thema unterhalten zu müssen.

Sein alter Herr verdrehte die Augen und stiefelte nach draußen.

Kaum war er außer Sichtweite, legte Julian die Säge weg und wandte sich wieder dem Eichentisch zu, an dem er noch ein paar Kanten abschleifen musste.

„Was ist denn so schlimm an dieser Stacy?“, hörte er plötzlich eine Kinderstimme hinter sich sagen. Er drehte sich um.

Wie so oft, war Billy durch den Hintereingang in die Werkstatt geschlichen und schaute ihn jetzt neugierig an. Billy war ungefähr elf Jahre alt, ziemlich klein geraten, und – trotz aller Versuche, diesen offenbar peinlichen Umstand zu vertuschen – ein Mädchen. Sie wohnte nebenan, ihre Mom saß jedoch ab dem späten Nachmittag an einer Supermarktkasse. Also trieb sich Billy, die eigentlich auf den Namen Annabelle hörte, aber lieber mit einem Jungennamen gerufen wurde, regelmäßig bei Julian in der Werkstatt herum.

„Gar nichts ist schlimm an Stacy“, antwortete Julian. „Ich hab nur einfach keine Lust, mit ihr zu diesem Abend des Handwerker-Verbands zu gehen.“

„Ist sie denn hässlich oder so?“ Billy nahm rückwärts Anlauf, stemmte sich hoch und thronte schließlich mit dem Hinterteil auf dem Arbeitstisch. Leider nahm sie dadurch der säuberlich sortierten Schraubenschachtel den Platz weg, sodass diese entrüstet auswich und auf den Boden krachte. Und zwar so, dass sich sämtliche Schrauben und Muttern über den Werkstattboden verteilten.

Oh Mann, so gern Julian das kleine Mädchen mochte – sie war ein schrecklicher Tollpatsch. Genau wie er es als Kind gewesen war, deshalb schimpfte er nicht mit ihr, sondern holte einen Besen. Er drückte ihr grinsend den Stiel in die Hand.

„So, du Aushilfs-Cinderella. Jetzt sortierst du die schön wieder in die Schachtel. Die Guten ins Töpfchen, du weißt schon. Der Länge nach, von links nach rechts.“

„Okay.“ Billy schien das nichts auszumachen. War ihr sicher lieber als Hausaufgaben. Sie fegte alles auf einen Haufen und hockte sich im Schneidersitz auf den Boden, um die Schrauben wieder einzuräumen. „Aber du erzählst mir dabei von der hässlichen Stacy!“

„Sie ist sogar recht hübsch“, musste Julian zugeben. Naja, wenn man auf so einen Typ stand. Viele Männer wären sicher außer sich vor Freude, eine blonde Ex-Ober-Cheerleaderin ausführen zu dürfen. Nur machte sich Julian leider nichts aus ihr.

Überrascht sah Billy auf. „Und trotzdem magst du sie nicht?“ Das Mädchen trug eine Latzhose, darunter ein kariertes Hemd und auf dem Kopf die obligatorische Basecap über den kurz geschnittenen Haaren. In ihren hellen Augen stand völliges Unverständnis.

„Aussehen ist doch gar nicht so wichtig“, klärte Julian sie bereitwillig auf. „Es kommt bei zwei Menschen doch viel mehr darauf an, was sie gemeinsam haben. Dass sie die gleichen Leidenschaften teilen zum Beispiel.“

„So wie du und diese Nelly, die du mal im Park getroffen hast? Die auch so gern malt wie du?“

Julian zwang sich zu einem Lächeln. Es fiel ihm immer noch schwer, an diesen Tag zu denken. „Ja“, sagte er leise. „So wie diese Nelly und ich.“

Ob er sie jemals aus dem Kopf bekommen würde? Dummerweise wollte er das gar nicht. Jede Minute dieses gemeinsam verbrachten Tages war noch glasklar in seiner Erinnerung, er konnte ihr Lachen hören, ihre Augen vor sich sehen, wann immer er sich darauf konzentrierte.

„Glaubst du, ich kann auch mal einen Jungen rumkriegen, nur weil ich so ein verschwommenes Landschaftsding auf ein Stück Papier pinsle?“, fragte sie und hob den Blick nicht vom Boden. „Weil, das wär schon irgendwie cool.“

Oha, Billy interessierte sich für Jungs? Das war ja ganz was Neues.

„Nun ja.“ Julian überlegte einen Moment, bevor er antwortete. „Es gibt viele Sachen, mit denen man Menschen beeindrucken kann. Am besten mit irgendwas, das dir Spaß macht. Du bist doch gut in Sport, oder?“

Die Kleine nickte, hob aber den Kopf nicht. „Ja schon, nur halt nicht in dem Mädchenzeugs. Tanzen und so. Ich kann aber gut auf Bäume klettern!“ Ihr Gesicht hellte sich auf und sie sah ihn an. „Wär das was? Hätte es dir gefallen, wenn deine Nelly auf diese schiefe Ulme im Park gekraxelt wäre?“

Julian lachte. „Ja, wahrscheinlich schon. Aber weißt du, sie hat einfach die Welt mit ähnlichen Augen wie ich gesehen. Deshalb haben wir uns so gut verstanden.“

„Wie meinst du das?“

Er ließ die Feile sinken. „Sie hat überall Farben erkannt, so wie ich auch. Wir haben uns stundenlang über Maler unterhalten und konnten uns beide an unseren ersten Museumsbesuch erinnern, auch Nelly hatte ihre Eltern ins Museum of Modern Art gezerrt. Stell dir vor, wir waren damals sogar vom gleichen Bild beeindruckt, Starry Night von Vincent van Gogh!“ Er bezweifelte, dass Billy schon mal etwas von dem Maler gehört hatte, geschweige denn von diesem Bild. Nelly hingegen hatte mit glänzenden Augen erzählt, wie sehr es sie beeindruckt habe, dass die Zypresse wie schwarz-grüne Flammen in den Nachthimmel züngelte und das Dunkelblau zwischen den Sternen sich wie eine Zimtschnecke aufrollte. Dass sie niemals eine eindrucksvollere Schöpfung gesehen hätte als diese kreisenden Pinselstriche. Und dass sie auch traurig geworden sei, ohne zu wissen warum. Vielleicht weil das Bild so etwas Intensives und Dramatisches an sich hatte. Ganz ähnliche Gedanken hatte er selbst beim ersten Blick auf das Gemälde gehabt.

Billy machte ein ernstes Gesicht. „Okay, verstehe. Über gleiches Zeug reden.“ Sie sah aus, als würde sie im nächsten Moment einen Notizblock aus ihrer Latzhose holen, um sich einen Merkzettel zum Thema ‚Flirten für Anfänger‘ zu schreiben.

„Nicht nur das. Sie hatte irgendwie die gleiche Sicht auf die Welt, nahm nicht alles so ernst.“

In den Kinderaugen blinkten Fragezeichen auf.

„Ich geb dir ein Beispiel. Ein Hund hatte sich losgerissen, er war ein ganz wilder Feger. Kläffte wie verrückt und sprang die Leute im Park an. Alle Spaziergänger regten sich auf, nur Nelly nicht. Sie lachte, redete ihm ruhig zu und wir schafften es gemeinsam, ihn am Halsband festzuhalten. Und das, obwohl sie ein gelbes Sommerkleid anhatte und der Hund das total dreckig gemacht hatte.“ Stacy wäre wahrscheinlich wie eine Furie auf den Hundebesitzer losgegangen. Doch Nelly hatte mit schräg gelegtem Kopf an sich hinunter geschaut und nur gesagt, dass die Pfoten ein richtig kreatives Muster hinterlassen hätten.

„Okay“, notierte Billy sich im Geiste. „Wenn man sich schmutzig macht und wilde Sachen gut findet, kann man bei Männern punkten. Guter Tipp, das merke ich mir.“ Sie grinste breit.

Julian schüttelte lachend den Kopf. „Du bist echt eine Marke. Ich hole uns einen Eistee. Und dann überlegen wir, mit welchen deiner Fähigkeiten du Jungs den Kopf verdrehen kannst.“

„Oh ja, das machen wir!“, erwiderte sie begeistert. Dann wurde sie ernster. „Tut mir echt leid, Julian, dass ihr euch so dämlich aus den Augen verloren habt. Das war ganz schön viel Pech. Du hast aber nach ihr gesucht, gell?“

„Hab ich“, gab er zu. „Aber jetzt lass uns über andere Sachen reden.“ Das Thema tat nämlich zu sehr weh. Und er wollte nicht, dass Billy mitbekam, wie schmerzhaft Liebe sein konnte. Dafür war sie viel zu jung, und sie hatte sowieso schon mit genug Problemen zu kämpfen. Sie sollte lieber von ihm lernen, wie spielerisch und leicht alles sein konnte. So wie damals, als er mit Nelly auf dieser Bank vor den duftenden Rosensträuchern ein Eis gegessen hatte und die gesamte Spatzenschar des Prospect Parks um sie versammelt war, um von ihr mit Stückchen ihrer Waffel gefüttert zu werden. Nicht daran denken! Er stand auf und ging nach oben in die Küche.

Als er zurückkam und Billy ein Glas überreichte, in dem die Eiswürfel munter klimperten, kam ihm plötzlich eine Idee.

„Sag mal, gehst du gerne Schlittschuhlaufen?“ Soweit Julian wusste, gab es bei den Eisflächen immer wieder abendliche Discoläufe, bei denen sich Teenies und Kinder trafen. Da konnte Billy sicher auch ein paar Kontakte mit Jungs knüpfen, denn auf dem Eis würde nicht auffallen, dass sie keine elegante Ballett-Tussi war. Sie konnte da ganz sicher mit ihrer Sportlichkeit punkten!

Das Mädchen sprang auf. „Und wie! Mom wollte es mir schon die ganze Zeit beibringen, aber sie hat ja nie Zeit. Wann gehen wir? Du zeigst mir dann einfach, wie es funktioniert.“

Julian trank erst mal einen Schluck. Er hatte eher geplant gehabt, sie dort abzuliefern und ihr gemütlich von draußen zuzuschauen, möglichst mit einer Tasse heißer Schokolade in den Händen.

„Morgen Abend?“, schlug er mit nicht ganz so großer Begeisterung vor.

„Au ja!“, rief Billy. „Wird sicher toll. Nur du und ich. Ist ja irgendwie wie ein erstes Date.“

„Sieht wohl so aus“, sagte Julian und überlegte, vielleicht doch wieder die kreischende Säge anzuwerfen. Manchmal war man deutlich sicherer, wenn man nichts redete.

Schneeflockenträume in New York

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