Читать книгу Orte des Grauens - Karin Szivatz - Страница 5
Afrikanische Nächte
ОглавлениеDie Trommeln schlagen sich rhythmisch in mein Gehirn, in mein Herz, in meinen Verstand. Die braunen, stampfenden Füße mit den bunten Bastschnüren und den Amaranthenfedern trommeln auf der Erde. Monotone Gesänge reiten auf den züngelnden Flammen des großen Feuers in der Dorfmitte gen Himmel. Der Stamm beschwört die Geister der Vergangenheit herauf. Bittet um Gnade und Vergebung. Für all seine Sünden. Er bringt ein Opfer dar. Es liegt auf einem Opfertisch. Streng gefesselt, wehrlos, panisch, in Todesangst. Der junge Mann schreit aus Leibeskräften in sich hinein, denn sein Mund ist geknebelt. Sein Kopf fixiert. Der Geist verlangt die Augen des Opfers. Damit er sehen kann, dass seine Untertanen auch gehorsam sind.
Der Sommer war vorüber, die Schulglocke läutete die erste Stunde nach den Ferien ein. Marvin saß braungebrannt hinter seinem Pult und lächelte mich an. Ich freute mich, ihn wieder zu sehen, denn die gesamten Ferien verbrachte er bei seinem Vater im westafrikanischen Senegal, der dort eine Missionarsstation leitete.
Nach dem Unterrichtsende schlenderten wir gemeinsam zu seinem Haus und ließen uns in seinem Zimmer nieder. Er zeigte mir unzählige Fotos aus Afrika, berichtete von Stammesritualen, komischen und tragischen Vorfällen und bereitete mir Tee zu, den er von einem Medizinmann bekommen hatte.
Die Geschmacksstoffe waren nicht sofort wahr zu nehmen sondern entfalteten sich erst nach einigen Sekunden ganz hinten im Rachen, unter dem Gaumen. Aber es war eine durchaus interessante Mischung, die jedoch nicht zu definieren war. Dennoch war er hervorragend und ich leerte den ganzen Becher.
Marvin und ich verbrachten noch den restlichen Tag gemeinsam und erst spätabends, als meine Mutter bereits zum zweiten Mal telefonisch nachgefragt hatte, wo ich denn bleibe, machte ich mich auf den Heimweg.
Gegen zweiundzwanzig Uhr ging ich zu Bett und dachte noch sehr lange über die Schilderungen aus dem Senegal nach. Ich war jetzt in der Maturaklasse und konnte mir eventuell einen Aufenthalt mit Marvin in diesem Land für ein Jahr oder auch nur ein halbes Jahr, vorstellen. Mit dem festen Vorsatz, mit ihm darüber zu reden, schlief ich ein.
Irgendwann, in der Schwärze der Nacht, hatte ich einen absurden Traum. Ein großer, schwarzweißer Vogel packte mich im Schlaf an meinem T-Shirt und trug mich hoch hinauf in den Himmel. So hoch, dass ich die Erde nicht mehr erkennen konnte. Doch ich fühlte mich sicher. Es war nicht kalt und auch nicht windig.
Und schon nach kurzer Zeit verloren wir an Höhe und der Vogel setzte mich sanft in einem kleinen Strohhüttendorf ab, in dessen Mitte ein helles Lagerfeuer brannte. Die Dorfbewohner trugen große, rot-weiße Holzmasken und tanzten um das Feuer.
Zwei der Tänzer lösten sich von der Gruppe und kamen auf mich zu. Sie wirkten nicht bedrohlich, packten mich jedoch bei den Oberarmen und zerrten mich zu einem Tisch, auf dem ein Junge lag. Ich sah in die Augen des Jungen, kaum zwanzig Jahre alt. In ihnen spiegelte sich blanke Angst. Seine Angst übertrug sich auf mich und ich wollte fliehen. Doch die beiden Männer hielten mich fest und drückten mir ein Messer mit schlanker Klinge die Hand. Der große Vogel starrte mich an und seine Augen sagten mir, ich solle die Augen des Jungen herausschneiden.
Panisch versuchte ich, den Augen dieses Vogels zu entkommen, diesen beiden Männern zu entkommen, diesem Albtraum zu entkommen, doch zwei metallene Speerspitzen durchbohrten bereits die zarte Haut meines Halses. Der Vogel starrte, das orange Feuer loderte, die Füße stampften, die Monotonie des Gesanges hallte. Mein Hirn war leer, mein Herz stand still. Einer fremden Macht unterlegen, setzte ich die Klinge am rechten Auge an, blendete den Jungen völlig aus meiner Realität aus. Und dann stach ich zu. Beschrieb mit der Klinge einen Kreis. Dann auch im linken Auge. Der Junge schrie nicht, zuckte nicht mehr. Er lag still. Ebenso mein Verstand. Der Vogel nickte und brachte mich in mein Bett zurück.
Am Morgen erwachte ich völlig ermattet. Der Traum war sofort präsent und ich fragte mich, wie ich nur so realistisch träumen konnte.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir jedoch, dass ich mich mit dieser Frage nicht mehr auseinander setzen konnte. Rasch sprang ich unter die Dusche, stopfte mir in der Küche rasch ein paar Weintrauben in den Mund und trank gierig einen Becher Milch. Mein Hals fühlte sich ziemlich rau an; gar so, als hätte ich die ganze Nacht hindurch geraucht.
Die beiden Unterrichtsstunden waren rasch vorüber und ich begleitete Marvin nach Hause. Wir sprachen eingehend über einen zwei- bis dreimonatigen Aufenthalt im Senegal nach der bestandenen Matura. Er war total begeistert und wollte noch am Abend seinem Vater eine E-Mail schreiben, um ihm diesen Vorschlag zu unterbreiten. Um mir diesen Urlaub noch schmackhafter zu machen, erzählte er von jungen, äußerst hübschen Mädchen, die zwar anfangs recht zurückhaltend, aber immer oben ohne waren. Mit diesem sehr verlockenden Bild vor Augen verließ ich meinen Freund ohne ihm von dem mysteriösen Traum erzählt zu haben.
Am Nachmittag rief mich Marvin an und bat um Hilfe. Ohne nachzufragen, wobei er meine Hilfe benötigte, fuhr ich umgehend zu ihm. Er wollte sein Zimmer ein wenig umgestalten und brauchte einen kräftigen Möbelpacker.
Knapp zweieinhalb Stunden später war das Zimmer ebenso fertig wie wir. Keuchend hingen wir in den Fauteuils und klagten über Rückenschmerzen, weil wir das ganze Jahr über keine körperliche Herausforderung annahmen und uns sportlich nur sehr mäßig betätigten.
Marvin bereitete wieder diesen senegalesischen Tee zu und wir redeten über unsere berufliche Zukunft. Über meine nächtliche Vergangenheit jedoch nicht.
Abends übermannte mich der Schlaf bereits um halb zehn und ich verabschiedete mich für diese Nacht von meinen Eltern. Kaum lag ich im Bett, war ich auch schon eingeschlafen. Und kaum war ich eingeschlafen, träumte ich.
Der Vogel stand wieder neben meinem Bett und nahm mich auf seine Reise mit. Erneut setzte er mich in dem Strohhüttendorf ab, in dem das Feuer noch immer loderte und die Männer noch immer ihre monotonen Gesänge in den Himmel und die Welt schickten. Auf dem Opfertisch lag dieses Mal ein Mädchen. Vielleicht vierzehn Jahre alt, vielleicht auch sechzehn. Ihre Schönheit wurde durch ihre Angst gemindert; dennoch war sie schön. Ihre festen Brüste schienen im Stakkato der benachbarten Flammen zu tanzen. Ihre Scham zeichnete sich durch den fließenden Stoff des Rockes ab.
Noch während ich das Mädchen direkt liebevoll ansah, hatten mich die beiden Männer wieder gepackt und mir dasselbe Messer wie schon in der Nacht zuvor in die Hand gezwungen. Der Vogel starrte mich erneut an und seine Augen sagten mir, ich solle ihr die Zunge herausschneiden. Der große Geist wolle mit seinen Untertanen sprechen.
Wortlos öffnete ich meine Hand und ließ das Messer fallen. Ich würde dem Mädchen keinen Schaden zufügen. Kein zweites Mal würde ich mich mit Blut besudeln. Nicht für einen Geist und nicht für die Dorfge-meinschaft. Ich starrte dem Vogel in die Augen. Es waren kalte Augen. Tot und verbraucht. Er drehte den Kopf und sah die beiden Krieger neben mir an. Ihre Masken zitterten, die Trommeln wurden schneller, der Rhythmus heftiger. Die beiden stampften im Gleichschritt, zwangen mich auf die Knie. Ich sollte das Messer aufheben. Ich ließ es liegen. Ich würde dem Mädchen nicht die Zunge heraus schneiden.
Die Krieger zogen mich hoch. Ein dritter nahm das Messer an sich und zeigte damit auf den zweiten Opfertisch. Dann auf mich. Und zur Krönung noch auf meinen Mund. Die Krieger schleppten mich zum Tisch. Meine Hose färbte sich im Schritt dunkel. Mein Mut war mit den kleinen Rauchsäulen des Feuers in den dunklen Himmel gefahren; ein Geist wird ihn sich holen.
Die Krieger ließen mich los. Stampften weiter mit den Füßen. Irgendwo erklangen leise Glöckchen. Der Vogel starrte. Ich griff in den Mund des Mädchens und trennte die Zunge ab. Das herausquellende Blut nahm ihr Leben mit sich. Spritzte mir ins Gesicht. Auf die Schultern. Den Hals. In meinen Mund. Ließ mich den Geschmack des Todes, des Vergehens, des Endes kosten. Ich sah das Mädchen nicht mehr an. Wandte mich an den Vogel und ließ mich nach Hause bringen.
Frühmorgens erwachte ich mit massiven Kopfschmerzen, die mich sofort an meinen Traum erinnerten. „Herrgottnocheinmal!“, schimpfte ich laut ins leere Zimmer, stand auf und nahm eine Schmerztablette. Ohne richtig zu begreifen, was ich tat, suchte ich gleichzeitig die Pille des Vergessens im Medikamentenschrank. Ich wollte diese Träume vergessen. Musste sie vergessen. Durfte sie aber scheinbar nicht vergessen.
Matt hing ich in des Unterrichts am Sessel und konnte den Worten der Lehrer während der wenigen Stunden kaum folgen. Immer wieder nickte ich ein wenig ein. Oder ich ertappte mich dabei, wie ich die Träume der letzten beiden Nächte Revue passieren ließ.
Marvin wollte nach Unterrichtsende in die Pizzeria um seine Heimkehr zu feiern. Die Pizza war gut wie immer, doch an ihr klebte ein kupferner Beigeschmack von Blut. Ich fand, es war an der Zeit, meinem Freund von diesen Opferritualen zu erzählen. Doch meine Zunge war wie gelähmt. Sie ließ dieses Thema nicht zu. Jedes andere durchaus. Nur dieses nicht.
Angewidert schob ich die Pizza beiseite und entschuldigte mich. Marvin nahm es mir nicht übel und machte sich über meine Hälfte auch noch her. Er sei schließlich noch im Wachsen, erklärte er lachend. Mühevoll rang ich mir ein Lächeln ab und sackte in mir zusammen. Ich konnte nicht verstehen, weshalb ich mit ihm nicht über den Traum sprechen konnte.
Nachdem er aufgegessen hatte, schleppte ich mich nach Hause. Die Hausaufgaben erledigten sich nicht wie sonst auch, von selbst. Das Blatt blieb leer, so lange ich es auch anstarrte. Mein Gehirn verweigerte seinen Dienst und schrie nur noch nach Schlaf. Nach Ausruhen und Entspannen. Doch überbordende Angst vor einem neuerlichen Traum hielt mich wach. Angst und Verstand kämpften miteinander. Ich versuchte, meinen Verstand mit einer weiteren Schlaftablette zu unterstützen; was mir letztendlich auch gelang.
Aber die Tablette konnte den Vogel nicht von seinem Kommen abhalten. Gnadenlos zerrte er mich aus dem Bett und trug mich erneut hinfort. Weit hinauf in den dunklen Himmel, hinab in das Feuer beleuchtete Dorf.
Auf dem Opfertisch lag ein Mann, groß und kräftig. Mit Muskeln aus Stahl. Augen wie ein Falke. Zähne wie ein Hai. Er flößte mir Furcht ein, obwohl er streng gefesselt und wehrlos war. Als ich eine Axt in die Hand gedrückt bekam, wich sein Falkenblick der puren Angst. Schweiß trat auf seine Stirn und seine Lippen zitterten.
Der Geruch des Feuers legte sich wie eine Decke über den Dorfplatz. Das Stampfen der Füße war zu einem Dröhnen angeschwollen. Der Vogel starrte. Hack’ ihm den Arm ab, sagten seine Augen, hack’ ihm den Arm ab. Der große Geist möchte ins Geschehen seiner Untertanen eingreifen.
Doch anstatt dem Mann den Arm abzuhacken, schlug ich mit der Axt wild um mich und wollten den beiden Kriegern den Kopf abschlagen. Doch sie waren behände und rissen mir die Waffe aus der Hand.
Der Vogel starrte. Du oder er. Wähle! Aber wähle rasch. Wähle gut. Und wähle mit Verstand.
Die Augen hinter den Holzmasken waren allesamt auf mich gerichtet. Warteten lauernd. Die Münder hinter den Masken stießen Jubelschreie aus, als die Axt den Arm vom Körper des Mannes trennte. Seine Schreie hingegen gingen mit mir auf die Heimreise und verharrten noch die ganze Nacht an meinem Bettrand.
Ich erwachte um vier Uhr morgens. Mir war übel und ich musste mich übergeben. Die heftigen Kopfschmerzen setzten erneut ein und ich fühlte mich völlig ausgebrannt. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich zappte mich durch die unzähligen Kanäle des Fernsehens. Immer wieder las ich Teile von Schlagzeilen, die über den Bildschirm eilten. Doch bei einer machte ich halt. Und erstarrte.
‚Menschenopferungen im Senegal’. Meine Müdigkeit war schlagartig weg und ich drehte den Ton lauter. Es wurde von drei rituellen Menschenopfern bereichtet, die sich während der letzten drei Tage zugetragen hatten. Die Opfer waren grausam verstümmelt worden, die jeweils fehlenden Körperteile waren unauffindbar.
Mir wurde erneut übel und ich stolperte aufs WC. Ich übergab mich noch immer heftig, obwohl mein Magen längst leer war. Ich versuchte damit, die Schuld aus mir zu schleudern. Mich ihrer zu entledigen. Mich innerlich zu säubern.
Doch die Schuld blieb und belastete meinen Magen, meine Schultern und meine Psyche. Ich konnte nicht begreifen, was hier vor sich ging. Aber ich konnte fühlen, dass ich Schuld auf mich geladen hatte. Und dass dieser Wahnsinn ein Ende finden musste.
Rasch startete ich den Computer und fand heraus, dass es sich bei meinem Vogeltaxi um den Heiligen Ibis handelte. Er lebte unter anderem in Senegal. Und in Senegal waren in früheren Zeiten Menschenopfer durchaus üblich. Heute nicht mehr. Noch dazu befand ich mehr als viertausend Kilometer weit weg. Es war Zufall. Nichts als Zufall.
Doch dieser Zufall beschäftigte mich den ganzen Tag. Der Unterricht zog an mir vorbei wie der nächtliche Ibis an der Welt. Erneut versuchte ich, die Geschichte Marvin zu erzählen, doch meine Zunge versagte ihren Dienst. Auch bei meinem Deutschlehrer. Und dem Schulwart. Selbst bei meiner Mutter. Ich wollte es jemandem erzählen. Musste. Irgendjemandem. Egal, wem. Doch meine Zunge blieb gelähmt.
Panisch verfolge ich den Lauf der Sonne. Wenn sie unterging, würde ein weiterer Mensch durch meine Hand sterben. Ich wusste nun, dass es kein Traum war. Und ich wusste auch, dass ich etwas dagegen unternehmen musste.
Mit zwei Schlaftabletten, dem Polster und einer Decke kletterte ich ins Baumhaus. So wollte ich den Heiligen Ibis austricksen. Er sollte mich nicht in meinem Zimmer, in meinem Bett vorfinden. Dann würde er unverrichteter Dinge wieder abziehen. So war mein Plan. Doch der Ibis stand im Baumhaus. Gar so, als hätte er den Ortswechsel nicht bemerkt.
Er packte mich am T-Shirt und erhob sich in die Lüfte. Nach dem Flug landeten wir im altbekannten Dorf. Zu den altbekannten Klängen. Beim altbekannten Feuer. Die Trommeln schlugen so laut, dass die Gesänge nicht mehr hörbar waren. Nur spürbar. Die Luft vibrierte. Roch nach Verwesung. Umspielte mich mit grausamer Sanftheit.
Auf dem großen Opfertisch lag ein kleiner Junge. Er würde gerade einmal im Kindergarten aufgenommen werden, so es einen gäbe. Der kleine Junge schlief. Ein gnädiger Dorfbewohner hatte ihm einen wirksamen Schlaftrunk verabreicht.
Stumm dankte ich dem Unbekannten, obwohl meine Augen tränennass waren. Meine Nase brannte und ich spürte kalte Schauer über meinen Rücken jagen. Ich würde das Kind nicht retten können. Ein weiterer Ritualmord. Eine weitere verstümmelte Leiche. Ein weiterer Stein auf meiner Seele. In meinem Magen. Auf meinem Grab.
Das Auge des Ibis wurde wieder lebendig. Der große Geist möchte hören, was seine Untertanen reden. Schneide dem Kind die Ohren ab. Das Auge sprach klar und verständlich. Es traf mich tief in meinem Innersten. Und ließ mich bluten.
Die beiden Krieger packten mich nicht. Sie wussten, dass ich keinen Widerstand mehr leisten würde. Ich war bereits gebrochen. Mechanisch schnitt ich beide Ohren ab. Blut floss in Strömen über meine Hände. Mischte sich mit meinen Tränen der Verzweiflung. Und zog sich als roter Faden bis in mein Baumhaus.
Morgens wachte ich auf und war unfähig, die Sprossen in den Garten hinunter zu steigen. Mit offenen Augen lag ich auf dem Rücken und war tonnenschwer. Ich wusste, dass ich nicht zur Schule gehen konnte. Und dass ich nicht mehr einschlafen durfte. Jeder Schlaf bedeutete einen Toten. Und letzte Nacht hatte ich ein Kleinkind getötet.
Meine Kraft reichte für einen Weinkrampf nicht mehr aus. Dabei hätte ich ihn so dringend gebraucht. Ich war verzweifelt. Am Ende. Ausgelaugt und selbst dem Tode nahe. Etwas musste geschehen. Doch ich wusste nicht, was.
Als ich es endlich doch noch schaffte, das Baumhaus zu verlassen, musste ich meiner Mutter keine Erklärung abgeben. Sie sah, dass ich krank war und benachrichtigte die Schule. Und den Arzt. Und selbstverständlich auch Marvin.
Die Schule registrierte den Anruf, der Arzt und Marvin kamen zu mir. Es wurde ein grippaler Infekt vermutet, aber zur Sicherheit Blut abgenommen. Marvin versuchte herauszufinden, was mir fehlte. Ich konnte es ihm nicht sagen. Dann fuhr er in die Schule, um gleich nach Unterrichtsende wieder zu kommen. Und er blieb bei mir. Den ganzen Nachmittag über. Und auch am Abend.
Um nicht wieder einen Mord begehen zu müssen bat ich ihn, die Nacht über bei mir zu bleiben. Ohne Erklärung. Marvin blieb. Ohne zu fragen.
Doch der Ibis holte mich auch in dieser Nacht. Er trug wieder mich an die Stätte des Grauens. Des Mordens. Der Rituale.
Auf dem Tisch lag Marvin. Geknebelt. Gefesselt. Starr vor Angst. Todesnah. Ich sah ihn an. Ohne Atem. Ohne Herzschlag. Ohne ersticktem Schrei.
Der Vogel starrte. Riss die Aufmerksamkeit an sich. Befahl mir stumm, mich ihm zu unterwerfen. Ein weiteres Mal. Befahl mir, dem großen Geist ein Herz zu schenken. Damit er Mitleid haben konnte. Mit den Menschen. Um kein weiteres Opfer mehr zu fordern.
Mir wurde übel, doch mein Magen streikte. Nicht einmal ein vages Würgen brachte ich zustande. Die Krieger waren nicht an meiner Seite. Sie stampften im ohrenbetäubenden Trommelwirbel um das große Feuer, das sich seinen Weg durch die Finsternis bahnte. Niemand sah mich an. Nur der Vogel starrte. Ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Ich musste meinen Freund für all die vielen Menschen opfern, die der große Geist gewiss noch fordern würde.
Das Messer lag bereits auf dem Tisch. Entschlossen nahm ich es und setzte es mir an die Brust. Der Vogel schüttelte den Kopf. Ein unnötiger Tod. Völlig unnötig. Es wird sich nichts ändern. Seine Augen sprachen und waren doch längst tot.
Ohne Marvin in die Augen zu sehen stach ich in sein Herz. Die Trommeln verstummten. Die Gesänge verhallten. Das Feuer erlosch. Das Stampfen verebbte. Die Holzmasken fielen. Der Vogel sackte zusammen. Marvin starb.
Ich erwachte in meinem Bett. Marvin schlief auf der Couch. Sein Herz pochte rhythmisch. Ließ bei jedem Schlag das T-Shirt ein klein wenig erzittern. Von weit her waren Trommeln zu hören. Sie kamen näher. Dann das Stampfen von Füßen. Die Gesänge der Krieger hallten plötzlich durch den Raum. Das Feuer begann zu lodern. Der Heilige Ibis starrte mich an. Mein Hirn war leer. Mein Verstand verbraucht. Die monotonen Gesänge wurden lauter, pochten in meinen Schläfen.
Ich nahm den Brieföffner und tanzte mit den Kriegern im Rhythmus der Trommeln. Erneut trieb ich meinem Freund das Messer ins Herz.
Die Trommeln verstummten. Die Gesänge verhallten. Das Feuer erlosch. Das Stampfen verebbte. Die Holzmasken fielen. Der Vogel sackte zusammen. Blut sickerte aus meinem Freund. Ich wandte mich ab. Sah nicht in seine Augen. Sah nur den restlichen Tee des Medizinmannes brodeln. Er löste sich in Dunstschwaden aus dem Becher. Hob sich empor, vereinigte sich mit dem Universum. Es war vorbei.