Читать книгу Orte des Grauens - Karin Szivatz - Страница 6

Die Heilung

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„Mama!“, rief Charlotte aufgeregt und lief den glänzenden Gang entlang. Sie konnte es kaum erwarten, ihrer Mutter die beste Nachricht ihres gesamten Lebens zu überbringen.

Martha drehte sich um und winkte ihrer Tochter. Sie wusste, wer da auf sie zugerannt kam und freute sich darüber. Es war ein guter Tag!

„Was ist denn los, mein Kind? Wieso bist du so aufgeregt? Komm, setz dich und erzähl' mir alles.“

Sie nahm in der Leseecke der Station Platz und klopfte mit der Handfläche auf den Fauteuil neben ihr. Charlotte setzte sich und sah sie mit strahlenden Augen an.

„Es gibt ein neues Medikament, das die Alzheimer-Erkrankung stoppt!“ Während dieser wenigen Worte war in dem Glanz ihrer Augen ein See entstanden, der innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde über die Lider schwappte.

„Hast du gehört, Mama? Du wirst wieder gesund!“

Zitternd rutschte sie vom Fauteuil, kniete vor ihrer Mutter nieder und umarmte sie heftig. „Du wirst wieder gesund“, flüsterte sie erneut und behielt ihre Freudentränen nicht mehr bei sich.

Martha hielt ihre Tochter im Arm und versuchte zu verstehen, was sie ihr gerade gesagt hatte. Es gab ein Medikament, das die Alzheimerkrankheit und Demenz heilen konnte? Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Das konnte nicht sein. Ihr Neurologe hatte ihr noch vor wenigen Monaten mitgeteilt, dass es dafür keine Heilung gäbe. Und doch flammte plötzlich Hoffnung in ihr auf.

Vorsichtig löste sie sich aus der Umarmung und drängte darauf, alles ganz genau zu erfahren.

„Hier ist ein Brief von der Firma ...“

Charlotte holte ein Kuvert aus der Tasche und las den Namen laut vor:

„Dobal Pharmaceuticals. Das ist eine US- amerikanische Pharmafirma, die ein Medikament entwickelt, das imstande ist, die Alzheimererkrankung zu stoppen. Und das Allerschönste daran ist, dass es bereits vollständig getestet und zugelassen ist. Das heißt, dass mit der Therapie sofort begonnen werden kann!“

Erneut fiel sie ihrer Mutter um den Hals. „Der Albtraum wird bald vorüber sein und du kannst wieder in deinem Haus wohnen und selbständig leben! Kein Pflegeheim, keine Schwestern und kein Chip, der stets anzeigt, wo du gerade bist. Du kannst dann wieder einkaufen gehen, in deinem Garten arbeiten, mit den Nachbarn reden und jede Menge Kuchen backen! Mama, ich weiß gar nicht, wohin mit meinem Glück!“

Erst jetzt wurde Martha bewusst, was dieses Medikament für sie bedeutete und ließ ihren Tränen ebenfalls freien Lauf.

Nachdem sich die beiden wieder beruhigt hatten, fragte Martha in zweifelndem Ton: “Ist denn noch so viel Geld übrig, dass ich mir die Behandlung leisten kann? Sie ist sicher nicht kostenlos und sicher auch nicht billig.“

„Die Krankenkasse übernimmt die Kosten, das steht extra dabei. Und zwar für jeden Betroffenen. Auch für jene Patienten, die gar nicht versichert sind. Es ist ein wahrer Segen, der gerade auf uns hernieder geht. Wir müssen nur am kommenden Freitag ins Hollister-Stadion gehen. Dort wird ein Vertreter des Pharmakonzerns alles genau erklären und man darf auch Fragen stellen.“

Martha nickte und stellte sich vor, wie es wäre, ihr Leben wieder ohne diese bösartige Krankheit genießen zu können.

In diesem Augenblick kam Herta, ebenfalls eine Patientin der Alzheimerstation, auf sie zu. „Bist du meine Schwester?“, fragte sie, holte ihr Gebiss aus dem Mund und legte es auf den Tisch. Speichel tropfte aus ihrem linken Mundwinkel auf den Boden. Mit einer unkoordinierten Handbewegung steckte sie sich den Arm eines Teddybären in den Mund, den sie wie ein Baby in ihren Armen hielt.

Martha schüttelte fast unmerklich den Kopf und dankte Gott inständig, dass ihr solche peinlichen Momente hoffentlich erspart bleiben würden. Ohne nachzudenken würde sie dieses Medikament einnehmen; sie hatte nichts zu verlieren!

Während des Abendessens unterhielt sie sich mit einigen anderen Patienten, die im Moment ebenfalls eine gute Phase hatten. Auch deren Angehörigen waren verständigt worden und jeder einzelne von ihnen würde sich am Freitag auf den Weg ins Stadion machen. Um dem Verkehrsinfarkt zu entgehen riet eine Schwester, gemeinsam einen Bus zu mieten; und trotz allem eine Einlage ins Höschen zu legen.

Martha zählte beinahe die Stunden, bis Charlotte sie von der Station abholte und sich mit ihr in den Bus setzte. „Und du glaubst wirklich, dass die Medikamente mir helfen können?“, fragte sie zweifelnd. Sie hatte Angst, sich Hoffnungen zu machen, die letztendlich nicht erfüllt wurden.

Charlotte sah ihre Mutter an und lächelte. „Alles wird gut, du wirst sehen. Schon bald kannst du wieder in deinem Haus wohnen und mit deinen Freundinnen Karten spielen. Hier ist dein Ausweis, den brauchst du im Stadion, das haben die Veranstalter extra in die Broschüre geschrieben.“

Der Bus füllte sich rasch und zwei Stunden später standen sie an einem der unzähligen Tore des Stadions. Tausende Menschen mit der Hoffnung auf Heilung warteten mehr oder weniger geduldig auf den Einlass und beäugten die anderen Alzheimerpatienten sowie an Demenz Erkrankten kritisch.

„Willkommen bei Dobal Pharmaceuticals! Wir bitten die Angehörigen, sich von den Patienten zu verabschieden. Das Stadion fasst einhunderttausend Sitzplätze, viel zu wenig für all die Menschen, die heute Hilfe suchen. Deshalb bitten wir die Angehörigen, vor den Toren zu warten, damit wir für eine größere Anzahl an hilfesuchenden Menschen etwas tun können. Unsere Mitarbeiterinnen kümmern sich um ihre Lieben, keine Sorge. Wir bitten um zwei Stunden Geduld, herzlichen Dank!“, tönte es aus mehreren Lautsprechern und wurde zwei Mal wiederholt.

Charlotte sah ihre Mutter an. „Ich warte hier auf dich, ok? Bald bist du wieder gesund!“ Liebevoll drückte sie die alte Dame und ließ erst am Eingang ihre Hand los. Sie sah noch, wie Martha einen Stempel auf den Handrücken und dann einen Platz in den vorderen Reihen zugewiesen bekam. Mit einer Kusshand verabschiedete sie sich und wandte sich an einen Mann, der gerade seine Ehefrau zum Tor gebracht und sie an der Schulter angetippt hatte.

„Das ist doch viel zu schön um wahr zu sein“, rief er erfreut aus und umarmte Charlotte. „Meine Bettsy wird wieder gesund! Ich kann es kaum glauben.“

Charlotte teilte seine Freude und schon bald lagen viele Angehörige in den Armen fremder Menschen. Sie alle strahlten vor Glück und konnten es kaum fassen.

Nachdem jedes Tor zum Stadion geschlossen war unterhielten sich die Angehörigen davor über die Auswirkungen der Alzheimer-Erkrankung, in welchen Stadien sich ihre Lieben gerade befanden und auch über die Ängste, die sie bislang durchstehen mussten. Doch nun würde sich alles ändern.

Währenddessen warteten die Patienten auf die Informationsveranstaltung und so mancher hoffte, dass er nicht genötigt wurde, eine Antiallergen-Matratze zu kaufen nur um an die Wunderpillen heran zu kommen. Doch eine Lautsprecherstimme beruhigte die alten Menschen. Die zuständige Ärztin und Wissenschafterin Sigrid Bergström sei noch nicht angekommen, werde aber jede Minute erwartet. Es wurde um ein wenig Geduld gebeten. Dann tönte Musik aus den Lautsprechern und die Anspannung löste sich merklich.

Martha nickte im Takt zum Lied und sah ihren Sitznachbarn heiter an. Doch plötzlich verlor sie ihr Lächeln. „Sie bluten aus der Nase!“, rief sie und drückte sich mit dem Rücken an ihre Sitznachbarin auf der anderen Seite. Auch diese sah den Mann mit Entsetzen an, dem das Blut förmlich aus der Nase schoss. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und als Martha sie ansah, bot sich ihr das gleiche Bild. Ihre weiße Bluse wies einen roten Fleck in der Größe eines Fleischtellers auf, doch das Blut strömte nicht nur aus der Nase sondern jetzt auch aus ihren Ohren, den Augenwinkeln und aus ihrem Mund.

Martha sprang hektisch auf und wollte von den beiden Blutmonstern weg, doch sie erstarrte inmitten ihrer Bewegung und hielt ihre eigenen blutigen Hände vors Gesicht. Fassungslos fixierte sie für einen Moment die Hände, dann ihr Kleid. Auch hier prangte ein dunkler Fleck. In diesem Moment kreischten und schrieen rund einhunderttausend alte Menschen in dem Stadion in blinder Panik, sodass eine Welle des Entsetzens und des Schmerzes über das Stadion hinwegrollte und sich über die Ränder nach draußen ergoss.

Die Angehörigen sahen in den Himmel und waren eine Sekunde lang erstarrt, als sie das Wehklagen ihrer Lieben hörten. Dann kam Bewegung in die Masse, die sich von allen Seiten auf die Tore des Stadions stürzte. Die Leute hämmerten mit Fäusten gegen die Eisenwände, versuchten, durch versperrte Notausgänge ins Innere des Stadions zu gelangen oder an den Wänden hochzuklettern, doch sie alle trugen lediglich Schürfwunden und blutige, abgerissene Fingernägel davon.

In der Notrufzentrale der Stadt brach das Netz zusammen, weil Zehntausende den Notruf gewählt hatten um Hilfe für die Menschen im Stadion zu erbitten. Gleich nach dem ersten Anruf waren alle verfügbaren Kranken- und Feuerwehrwagen losgeschickt und von den umliegenden Gemeinden Verstärkung angefordert worden. Dass die meisten Fahrzeuge davon im Verkehrsinfarkt feststeckten, war eigentlich nicht von Bedeutung.

Während die Folgetonhörner der Einsatzfahrzeuge die Straßen mit ihren durchdringenden Tönen füllten, die Angehörigen vor dem Stadion brüllten, schrieen und klagten, floss im Inneren des oben offenen Gebäudes Blut aus jeder Nase, jedem Mund, jedem Ohr, jedem Auge, jedem Anus, jeder Harnröhre und jeder Scheide. Die alten Männer und Frauen krümmten sich schmerzerfüllt am Boden, kratzten mit den Fingernägeln an den mit Eisen bewährten Toren zur Freiheit, klammerten sich völlig verängstigt an ihre Sitznachbarn und schlugen in wilder Panik und Hilflosigkeit wahllos Köpfe ein. Sie rissen die Stühle aus der Verankerung und schlugen auf jene Menschen ein, die sich in der Nähe der Tore befanden.

Handtaschen wurden als verlängerte Arme missbraucht und fremde Gesichter mit den Fingernägeln zerkratzt. Sie alle bluteten aus jeder einzelnen Körperöffnung und schon bald lagen viele am Rücken und röchelten; roter Schaum blubberte dabei auf ihren trockenen, rissigen Lippen und floss nach einem kurzen Todeskampf nur noch träge aus dem leblosen Mund.

Jene, die noch imstande waren zu gehen oder zu laufen, trampelten rücksichtslos auf den Sterbenden und Toten herum um zu einem der Ausgänge zu gelangen. Dort erhofften sie sich Hilfe und Schutz. Manche beteten zur ihrem Gott, manche haderten mit dem Tod, manche fluchten lautstark, die meisten schrieen und weinten, aber alle erlitten einen grausamen Tod.

Rund zehn Minuten, nachdem die erste Blutfontäne aus der Nase des alten Mannes gespritzt war, ebbten die verzweifelten Schreie langsam ab und nach gut dreizehn Minuten herrschte völlige Stille im Stadion. Lediglich die vom Blutgeruch angelockten Fliegen summten ihr Festmahllied.

Als endlich die Feuerwehren mit ihren Äxten und Schneidebrennern eintrafen, lagen die meisten Angehörigen auf den Knien und brüllten ihren Schmerz in den Asphalt oder Himmel. Andere wiederum saßen stumm an der Mauer, die sie zu erklimmen versucht hatten. Nur sehr wenige waren noch fähig, zumindest ein paar verständliche Worte hervorzubringen.

Die Feuerwehr machte sich sofort mit ihrem Gerät an die Arbeit um die Tore zu öffnen und als es erledigt war, sperrte die Polizei diese sofort ab. Keiner der Angehörigen sollte in das Stadion gelangen, ehe nicht Klarheit herrschte, was dort drinnen vor sich gegangen war. Es war zum Tatort erklärt worden; noch dazu sollten die Angehörigen dieses Grauen nicht zu sehen bekommen. Doch die aufgebrachte Meute stieß die Polizisten einfach zur Seite und trampelte in Sorge um ihre Lieben über sie hinweg.

Wie ein Wasserschwall ergossen sich die Menschenmassen an jedem Tor in das Stadion, doch die Ersten blieben abrupt stehen und hielten damit die Nachkommenden auf. Sie blickten auf eine Stätte, die mit einem Stadion nichts mehr gemeinsam hatte sondern nur noch einem brutalen Schlachthaus glich.

Die wenigen grünen Flecken des ehemals saftigen Rasens in der Mitte waren mit Gebissprothesen, Arm- und Beinteilen, Brillen und Erbrochenem übersät. Überall lagen blutrote Leichen, die sich zum Teil aufgelöst hatten, die von panischen Füßen zertrampelt waren und denen die Köpfe eingeschlagen wurden. Außer den Fliegen, die sich über den Festschmaus hermachten, bewegten sich nur vereinzelte weiße Haare in der lauen Sommerbrise.

Die meisten der Angehörigen in den ersten Reihen mussten sich sofort übergeben und versuchten sogleich, wieder nach draußen zu gelangen. Der Anblick raubte ihnen beinahe den Verstand. Auch die Notärzte und Sanitäter standen hilflos, beklommen, schockiert und völlig ratlos an den Toren. Niemand wagte sich in diese Stätte des Grauens vor.

Um so rasch als möglich der Lage Herr zu werden hatte der Bürgermeister sieben Einheiten des Bundesheeres angefordert. Sie errichteten Schutzzäune rund um das Stadion und schafften die Angehörigen mühsam aus der Sperrzone.

Die Soldaten mussten bei jeder noch so verstümmelten Leiche einen Ausweise zur Identifizierung suchen und sie anschließend in schwarze Plastiksäcke stecken. Jene ohne Ausweis wurden, nach Männern und Frauen getrennt, auf ein nahes Fußballfeld gelegt. Dort mussten die Angehörigen ihre Lieben aus tausenden von Leichen heraus picken und identifizieren. Die Soldaten übergaben sich beim Anblick der halb aufgelösten Leichen ebenso wie die Ärzte und die Angehörigen. Das Kriseninterventionszentrum schickte Psychologen um den traumatisierten Menschen beizustehen, doch sie selbst stießen sehr rasch an ihre Grenzen.

Drei der besten Pathologen der Umgebung wurden vom Bürgermeister an den Ort des Grauens gerufen um eine erste Einschätzung der Todesursache abzugeben. Sie alle waren sich einig, dass es sich dabei nur um ein chemisches Gift handeln könnte, das seine Wirkung extrem rasch entfaltete. Genaue Angaben könnten sie erst nach ein paar Labortests und Obduktionen machen.

Örtliche Fernsehsender übertrugen Liveberichte von dieser Tragödie unfassbaren Ausmaßes im Fernsehen, doch gleichzeitig wurde von mehreren landesweiten Sendern von einem gleichen Ereignis berichtet. In etlichen Städten des Landes spielte sich zur gleichen Zeit die gleiche Tragödie in den größten Stadien ab. Dobal Pharmaceuticals hatte zu jeder einzelnen Veranstaltung viele tausende Alzheimerpatienten und Patienten mit Demenz eingeladen. Jedem wurde ein neues Medikament zur Heilung versprochen, doch die alten Menschen hatten nur einen grausamen Tod gefunden.

Während Tod und Leid sich über viele Städte des Landes wie ein Leichentuch legte, rechnete einer der führenden Politiker die Zahl der Toten zusammen. Er kam auf eine knappe Million landesweit. Er grinste, dann setzte er seine Rechnung schriftlich fort und murmelte die Zahlen vor sich hin:

„Also:

Durchschnittliche Pension 1000,-

Durchschnittlicher Pflegebeitrag 1200,-

Durchschnittliche Behandlungskosten

400,-

pro Person und Monat.

Das ergibt 2600,- pro Person und Monat, mal eine Million Erkrankte macht rund 2.600.000.000 pro Monat. Und bei einer durchschnittlichen Lebensdauer von zehn Jahren bei Alzheimer und Demenz kommen wir auf eine Ersparnis von beinahe genau 31.200.000.000,-

Abzüglich der Kosten für die Scheinfirma Dobal Pharmaceuticals in Höhe von 20.000.000,- macht noch immer einen recht satten Reingewinn für die Staatskasse.“

Mehr als zufrieden lehnte er sich zurück, rieb sich erfreut die Hände und nippte an seinem Drink.

Sein Plan war einfach genial! Das tödliche Gift war in der Stempelfarbe enthalten, das in Minutenschnelle über die Haut in den Blutkreislauf gelangt war und dort sofort zur Zersetzung der inneren Organe und Schleimhäute geführt hatte. Die Menschen lösten sich sozusagen von Innen heraus auf und mit ihnen auch die Probleme der Staatskasse, die ziemlich leer gewesen war. Nun brauchte man sich keine Sorgen mehr um die kostenintensive Versorgung von Alzheimer- und Demenzkranken machen. Sie waren alt und krank, sie hatten ihr Leben bereits gelebt. Und jetzt würden sie ihren Beitrag leisten und dem Staat nicht mehr zur Last fallen.

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