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Ein Kind lebt im Hier und Jetzt

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Eine ebenfalls nur dem Kind vorbehaltene Eigenschaft ist das Leben im Hier und Jetzt. Das Kind erlebt jeden Augenblick bewusst, kann diesen aber Sekunden später wieder vollkommen vergessen. Es ist in der Lage, Stimmungen in Windeseile zu ändern. Diese Fähigkeit zerrt bisweilen vehement an den Nerven der Erwachsenen. Eine Fähigkeit, um die wir unser Kind beneiden.

Hierzu ein Beispiel, das jeder kennt: Ihr Kind spielt brav in der Ecke des Wohnzimmers mit Bausteinen. Mit der Zeit wird ihm langweilig. Während Sie das Mittagessen zubereiten, hängt es an Ihrem Rockzipfel und quengelt. Einerseits verständlich, andererseits müssen Sie das Mittagessen vorbereiten. Folglich schimpfen Sie mit dem Kind. Die Situation eskaliert, möglicherweise so weit, bis Sie und Ihr Kind vor Wut toben. Nachvollziehbar. Nun packt Sie als liebevoller Elternteil das schlechte Gewissen. Sie nehmen Ihr Kind in den Arm und trösten es. Als wäre nie etwas geschehen, zieht es sich wieder in die Spielecke zurück und spielt mit den Bausteinen. Es lebt im Hier und Jetzt. Die Auseinandersetzung mit Ihnen hat es längst vergessen.

Eine Mehrkind-Familie mit gleicher Ausgangslage: Sie kochen, Ihre Kinder spielen. Wie Kinder nun mal sind, beginnen sie mit der Zeit sich zu streiten und verlagern ihren Konflikt in die Küche. Ein äußerst ungünstiger Ort. Das ist ihnen nicht bewusst. Folgendes passiert: Entweder mutieren die Kinder zu Musketieren und sind „einer für alle – alle für einen“, und die Fragezeichen stehen ihnen ins Gesicht geschrieben, gemäß dem Motto: „Warum regt sich Mutti/Papa nur so fürchterlich auf? Es ist doch alles in Ordnung.“ Oder Sie und die Kinder toben vor Zorn. Ihr schlechtes Gewissen quält Sie. Schnell nehmen Sie Ihre Kinder tröstend in den Arm. Schon ziehen sie sich in die Spielecke zurück und tun, als wäre nichts geschehen.

Eine beneidenswerte Fähigkeit. Beleuchtet man diese Begabung jedoch kritisch, können wir von Glück sagen, dass wir sie uns nicht bis ins hohe Alter bewahren können. Wir würden fern jeder Realität das Leben an uns vorbeirauschen lassen. Setzen wir diese Realität ins wirkliche Leben um, schaut alles anders aus.

Nehmen wir noch einmal das Beispiel von vorhin. Wäre es dem Kind nicht möglich, im Hier und Jetzt zu leben, könnte kein Elternteil bei dieser Ausgangslage das Mittagessen in Ruhe weiter vorbereiten, ohne zu riskieren, dass sich das Kind aus Wut etwas antut. So aber wissen wir: Das Kind hat sich wieder beruhigt und wir können zur Tagesordnung zurückkehren.

Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, dass das für einen Erwachsenen typische Selbstverständnis auch fürs Kind gilt?

In diesem erwähnten Beispiel geht es um nichts. Es ist eine Lappalie, die jeden Tag vorkommt. Schwierig wird es, wenn es zu Situationen kommt, mit denen ein Kind überfordert ist, die trotzdem passieren, obwohl sie für das Kind unbegreiflich sind. Physisch hinterlassen sie bei ihm keinen anderen Eindruck als die Geschichte zuvor. Sie passieren und das Kind „vergisst“ sie. Psychisch verletzen sie das Kind zutiefst, nachhaltig und im schlimmsten Fall sogar lebensbedrohlich.

Pädophil veranlagte Menschen scheinen dies zu wissen. Wie sonst lässt es sich erklären, dass ein Kind in der Lage ist, ausgelassen auf einem Spielplatz zu spielen; kurze Zeit später wird es von einem Triebtäter unter einem Vorwand weggelockt und missbraucht. Ist es wieder auf den Spielplatz zurückgekehrt, gibt es sich wie zuvor, gleichgültig, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Diese Tatsache macht es so schwierig, sexuellen Missbrauch zu erkennen. Das Kind ist unfähig, uns zu sagen, was geschehen ist, weil es das nicht begreifen kann. Es hat keine Worte dafür. Zudem wird ein missbrauchtes Kind massiv unter Druck gesetzt.

Ein Kind lebt im Hier und Jetzt!

Wir würden es manchmal gerne können – das Kind kann es. Diesen Schutzmechanismus beherrscht es und das ist im Normalfall gut so. Geht es jedoch um existenzielle, lebensbedrohliche Situationen, ist dieser Schutzmechanismus hinderlich. Ein Kind, das sexuellem Missbrauch oder Misshandlungen ausgesetzt ist, baut blitzartig einen Schutzwall auf. Dieser Mechanismus ist ihm nicht bewusst, es handelt instinktiv, um überleben zu können.

Werden wir Erwachsene einer Situation ausgesetzt, die wir im Geist zwar rasch nachvollziehen können, aber weder emotional noch auf körperlicher Ebene folgen können, wirft uns dies aus der Bahn. Wir brauchen eine gewisse Zeit, um alles auf einen Nenner zu bringen und das Erfahrene zu verarbeiten. Nur so sind wir in der Lage, das Geschehen zuzuordnen und damit rational umzugehen. Jeder, der schon einmal Ähnliches erlebt hat, weiß, wie viel Energie man aufwenden muss, um das zu meistern.

Dem Kind fehlt diese Ratio. Es wird von seinen Gefühlen geleitet. Der Organismus übernimmt für die Ratio das Handeln. Für das Kind ist nur eins wichtig: das Überleben!

In gewissen Situationen, vor allem bei sexuellem Missbrauch, kann es das nur, wenn es die Ratio ausschaltet, also rein emotional und instinktiv handelt. Die Verdrängung beginnt.

Tote Augen – stumme Schreie

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