Читать книгу Tote Augen – stumme Schreie - Karin Varch - Страница 9
Verdrängung
ОглавлениеSicher hat jeder von uns schon eine Situation erlebt, die er zunächst nicht wahrhaben wollte. Im ersten Augenblick reagiert man fassungslos, danach kommt der Gedanke: Das kann nicht sein! Dann die Erkenntnis: Es ist so. Anschließend beginnt, zumindest vorübergehend, die Verdrängung. Wir beschäftigen uns mit irgendwelchen unnützen Dingen, um uns abzulenken. Das Ereignis, das uns fassungslos machte, wird vorerst zurückgestellt. Dies geht für kurze Zeit gut. Sodann stellen wir uns der Situation und beginnen sie zu lösen.
Ähnlich funktioniert dies mit Verdrängung nach sexuellem Missbrauch, allerdings mit einem kleinen Unterschied. Alles, was davor war, scheint augenblicklich vergessen – doch das Unterbewusstsein speichert es. Wird ein Kind sexuellen Handlungen ausgesetzt, ist es für diesen kleinen Menschen eine erschreckende und unfassbare Situation. Vom Verstand her weiß es noch nicht, was da mit ihm passiert. Das Unterbewusstsein hat jedoch bereits begriffen, dass es etwas Schreckliches ist, und der Körper beginnt, sich zu wehren. Dem Missbrauch ist ein Kind immer hilflos ausgeliefert. Sobald er vorüber ist und das Kind den Ort des Geschehens verlässt, beginnt die Verdrängung. Es ist eine Schutzfunktion des Körpers. Wäre das Kind nicht in der Lage, derartige Erlebnisse schlagartig zu verdrängen, würde es den Missbrauch keinesfalls überleben.
Die Verdrängung ist nach so einschneidenden Ereignissen umfangreich und tief. Es können viele Jahre, sogar Jahrzehnte vergehen, bis die Erinnerungen zutage kommen. Die Folgen für Körper und Seele sind fatal.
Stellen Sie sich das Bewusstsein und Unterbewusstsein wie einen riesigen Eisberg vor. Von einem Eisberg sehen Sie nur die Spitze. Der weit größere Teil befindet sich unter Wasser. Dieser Teil wird Schiffen immer wieder zum Verhängnis, weil er nicht gesehen werden kann. Er treibt im Verborgenen sein zerstörerisches Unwesen. Genauso zerstörerisch wirken verdrängte Erinnerungen in unserem Unterbewusstsein. Zwar sind wir in der Lage, furchtbare Erlebnisse zu verdrängen, vergessen können wir sie nicht. Diese verdrängten Erinnerungen sind im Unterbewusstsein verankert und warten dort auf Entdeckung.
Über viele Jahre funktioniert die Verdrängung gut und man lebt ein scheinbar normales Leben. Das Unterbewusstsein ist rund um die Uhr aktiv. Die verdrängten Erinnerungen ruhen nie. Sie nagen an der Seele, bis der Körper dem Druck nicht mehr standhalten kann. Zu diesem Zeitpunkt beginnt das Unterbewusstsein sie an die Oberfläche zu befördern. Zunächst merken die Betroffenen davon nichts. Allerdings schicken ihre Körper in immer kürzeren Abständen ein SOS in Form von Krankheiten, Schlafstörungen oder kleinen Unfällen – bis die ersten Flashbacks auftauchen.
Flashbacks sind Erinnerungsfetzen, die plötzlich durch das Gehirn jagen. Die Opfer sind erneut fassungslos wie seinerzeit, bevor die Verdrängung begann. Alles, was jahrelang tief im Unterbewusstsein vergraben war, holt sie mit voller Wucht ein – nimmt ihnen den Atem. Von einer Sekunde auf die andere werden sie mit der Vergangenheit konfrontiert. Oft brauchen sie Tage, um zu begreifen, dass die Erinnerungsfetzen zu ihrem eigenen Leben gehören. Ab diesem Zeitpunkt gibt es keine Verdrängung mehr. Nun müssen sie beginnen, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und es zu verarbeiten.
Welches Ereignis auch immer die Verdrängung ausgelöst haben mag – der Verdrängungsmechanismus hält kein Leben lang stand. Je größer die seelische Verletzung war, umso größer und tiefer ist die Verdrängung, umso grausamer das Erwachen. Manchmal genügt schon eine unbedachte Äußerung, um eine tiefe seelische Verletzung auszulösen. Die Verdrängung scheint der einzige Ausweg aus der momentanen Situation zu sein.
Zum besseren Verständnis ein kleines Beispiel: Es gibt Menschen, die haben eine wunderbare Singstimme. Ihr Talent nutzen sie nicht, weil ihnen in der Kindheit eingeredet wurde, sie wären unmusikalisch oder sie sollen mit der ständigen Singerei nicht nerven. Dies gräbt sich derart in ihr Unterbewusstsein ein, dass sie nicht in der Öffentlichkeit singen wollen. Ihr Gedächtnis hat die Demütigungen der Kindheit scheinbar gelöscht, bewusst erinnern sie sich nicht mehr daran. Das Unterbewusstsein hält die Erinnerung gefangen und hindert sie zu singen. Sie würden es vielleicht gerne tun, doch es kommt kein Ton über ihre Lippen – zumindest nicht, wenn jemand zuhört.
Wie schwer es für Missbrauchsopfer ist, diese Erinnerungen zuzulassen und zu verarbeiten, kann niemand nachvollziehen. Wir können versuchen, es uns vorzustellen. Doch selbst mit der größtmöglichen Fantasie wird es nicht annähernd möglich sein, nachzuempfinden, was diese Menschen an seelischem Druck und Leid aushalten müssen. Wie viel Mut und Kraft sie benötigen, um wieder ein normales Leben führen zu können. Oft müssen Betroffene verschiedene Therapien ausprobieren, bis der richtige Therapeut gefunden wurde, der sie auf dem Weg ins aktive Leben zurückbegleitet. Hier spielt ebenso das verloren gegangene Vertrauen eine Rolle. Als Erstes müssen diese Menschen lernen, wieder Vertrauen zu fassen. Nur wenn ein gewisses Maß an Vertrauen da ist, sind sie in der Lage, über derart einschneidende seelische Verletzungen zu sprechen.
Verdrängung ist kein unerschöpfliches Potenzial, gleichgültig, wie dick die Mauern sind, die sie um sich herum errichtet haben. Nach und nach stürzen sie ein und immer wieder tauchen neue Flashbacks auf, die sie ins Nichts zurückwerfen. Der Fall ins Bodenlose ist vorprogrammiert. Dies geht so weit, bis alle Schutzmechanismen ausgeschaltet sind. Dieser Tatsache stehen sie schutzlos gegenüber. Der Schmerz, der dabei entsteht, ist mit nichts zu vergleichen. Die Opfer haben das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Es fühlt sich an, als würde ihnen jemand die Haut von der Seele ziehen, die dann wie ein blutiger Klumpen in ihrem Inneren liegt. Es dauert oft Monate, wenn nicht Jahre, bis Betroffene so weit sind, dass sie die Vergangenheit abschließen können, ihre Seele heil werden kann und dieser wahnsinnige Schmerz in ihrem Inneren aufhört.