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VORGESCHICHTE IN HALLE UND HAMBURG
ОглавлениеWarum ging Händel nach Italien? Der Sohn des kurfürstlich brandenburgischen Leibchirurgen Georg Händel und seiner Gattin Dorothea, geborene Taust, hätte die engeren Kreise der Heimat im Grunde ebenso wenig verlassen müssen wie sein Jugendfreund Georg Philipp Telemann. Das Vermögen und die gesellschaftliche Stellung der Händels in Halle bildeten für die Ausbildung des Jungen eine verlässliche Grundlage,7 auch wenn der Vater, der bei der Geburt des Sohnes schon 62 Jahre alt war, erst davon überzeugt werden musste, dass sein Filius in der Musik besser aufgehoben sei als in einem bürgerlichen Beruf. Denn um eine alteingesessene Sippe von Musikern handelte es sich bei den Händels – im Gegensatz zu den Bachs – beileibe nicht. Georg Händel war der Sohn eines schlesischen Kupferschmieds aus Breslau, der nach Halle gezogen war, und hatte in seinem Leben auch selbst die Fremde kennengelernt: Als jungen Feldscher hatte es ihn im Dreißigjährigen Krieg bis nach Portugal verschlagen, bevor er sich 1642 oder 1643 endgültig in Halle niederließ. Die Sehnsucht nach der Fremde war dem kleinen Georg Friedrich also gewissermaßen in die Wiege gelegt worden. Seine privilegierte Stellung als Leibchirurg des Kurfürsten von Brandenburg verdankte Georg Händel waghalsigen chirurgischen Eingriffen8. Auch diesen Wagemut könnte Georg Friedrich vom Vater geerbt haben, während die dreißig Jahre jüngere Mutter für die religiöse Erziehung und die Entfaltung der musischen Neigungen zuständig war.
Georg Händel starb 1697 im stattlichen Alter von 74 Jahren – wenige Tage vor dem 12. Geburtstag seines Sohnes. Damit wurde Georg Friedrich zum einzigen Mann in der Familie, der entsprechend zielstrebig seine Karriere als Musiker vorantreiben musste, um die Seinen zu ernähren. Die rührende Sorgfalt für seine Angehörigen, vor allem für seine Mutter, hat ihn lebenslang begleitet. Freilich war es ihm vergönnt, auch nach dem Tod des Vaters mit der Mutter und seinen beiden jüngeren Schwestern Dorothea Sophia und Johanna Christiana im Familienanwesen an der großen Nikolaistraße zu wohnen. Das stattliche Haus „Zum Gelben Hirschen“, das sein Vater 1666 erworben hatte, umfasste neben Arztpraxis und Wohnung auch Stallungen, einen Brunnen und Lagerräume9. Als „Händelhaus Halle“ vermittelt es noch heute etwas von der Atmosphäre eines Treffpunkts für Besucher von nah und fern. Unweit des großen Marktes konnte der junge Händel hier städtisches Leben schnuppern und von der weltoffenen Atmosphäre seiner Heimatstadt zehren, der er bis 1703 als blutjunger Domorganist diente. Anders als Bach, den es mit zehn Jahren von dem kleinen Eisenach ins noch kleinere Ohrdruf verschlug, wuchs Händel in einer der größten Städte Mitteldeutschlands auf. Von Halle mit seinen 12.000 Einwohnern führte ihn sein Lebensweg letztlich in immer größere Städte: über Hamburg, mit 50.000 Einwohnern damals die größte Stadt Deutschlands, und Rom mit seinen rund 150.000 Bewohnern schließlich in die Weltstadt London, die mit 580.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Europas nach Paris.
So zielstrebig diese Karriere eines „Stadtmenschen“ auch scheinen mag, letztlich ausschlaggebend für Händels italienische Wanderjahre war sein Wunsch, Opernkomponist zu werden, wozu ihm die Verhältnisse am Hamburger Opernhaus bald zu eng wurden. Nach seiner zweiten deutschen Oper Nero war er 1705 an einem Scheideweg seiner Karriere angelangt: Deutschland oder Italien? Kirchendienst, deutsche Oper und die Enge der deutschen Städte und Höfe oder das polyglotte Milieu der italienischen Oper, die sich damals gerade anschickte, ganz Europa zu erobern? Händel folgte dem ehernen Gesetz jeder Karriere eines angehenden Opernkomponisten im 18. Jahrhundert: „Er soll gehen, nach Italien reisen, sich berühmt machen!“ So sagte es noch 70 Jahre später der bayerische Kurfürst Max III. Joseph dem jungen Mozart10.
In seiner Generation war Händel der früheste und berühmteste Italienreisende aus Deutschland. Dadurch blieb ihm letztlich das Schicksal erspart, als Opernkomponist an deutsche Bühnen und deutsche Höfe gebunden zu sein, wie es seinen Hamburger Kollegen Johann Mattheson und Reinhard Keiser, aber auch Gottfried Heinrich Stölzel oder Christoph Graupner erging. Alle Opernkomponisten aus Deutschland, die im 18. Jahrhundert international Karriere machten, reisten zum Studium nach Italien: Johann Adolf Hasse, Johann Christian Bach, Joseph Schuster, Johann Gottlieb Naumann, Wolfgang Amadeus Mozart. Händel war der Vorreiter dieser Gruppe.
Warum aber ging er ausgerechnet nach Rom? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten. Zwar galt Rom seit dem frühen 17. Jahrhundert als das wichtigste Reiseziel für alle künstlerisch Interessierten aus dem Norden, in erster Linie aber für Bildende Künstler, weniger für Musiker. Peter Paul Rubens und Adam Elsheimer, Nicolas Poussin und Claude Lorrain, Simon Vouet und Valentin de Boulogne, Gerrit van Honthorst und Hendrick Terbrugghen hatten hier studiert und sich für kürzere oder längere Zeit am Tiber niedergelassen. Die deutschen Musiker des Frühbarock zog es dagegen eher nach Venedig wie Heinrich Schütz, Hans Leo Hassler oder Johann Rosenmüller. Bei diesen protestantischen Komponisten mag die religiöse Toleranz Venedigs im Vergleich zum päpstlichen Hof der Gegenreformation den Ausschlag gegeben haben, ferner der Nimbus der großen Namen Giovanni Gabrieli und Claudio Monteverdi.
Dem hatte Rom erst viel später Gleichwertiges entgegenzusetzen, Komponisten wie Luigi Rossi, Giacomo Carissimi oder Alessandro Stradella. Zugleich setzte sich im Umgang mit den Protestanten eine wohltuende Toleranz durch, je länger die Epoche der Glaubenskriege zurücklag. Nicht zufällig gewann die Ewige Stadt ab 1648 immer mehr an Anziehungskraft auf junge Musiker aus dem Norden, besonders Organisten. Der Wiener Hoforganist Johann Kaspar Kerll und sein weit gereister, aus Stuttgart stammender Kollege Johann Jacob Froberger machten 1648/49 den Anfang. Der in München aufgewachsene Agostino Steffani folgte 1672, der spätere Weißenfelser Hofkapellmeister Johann Philipp Krieger 1673, der Salzburger Domorganist Georg Muffat 1681.
Spätestens 1680 konnte Rom mit den berühmtesten Musikernamen Italiens aufwarten: Der Geiger Arcangelo Corelli, der Organist Bernardo Pasquini und der Opernmaestro Alessandro Scarlatti bildeten das Dreigestirn des römischen Musiklebens. Als Scarlatti 1703 für fünf Jahre von Neapel nach Rom zurückkehrte, verlieh er zusammen mit seinen Söhnen, mit Corelli und dessen Schülern, mit Maestri wie Carlo Cesarini oder Pierpaolo Bencini, Quirino Colombani oder Giuseppe Valentini dem römischen Musikleben einen Glanz, mit dem im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts keine italienische Metropole konkurrieren konnte. Zwar war die Oper am Tiber durch päpstliches Dekret verboten, doch hatte Rom der Opernmetropole Venedig seine reiche Kirchenmusik, die Kunst seiner Kastraten und ein vielfältiges Konzertleben entgegenzusetzen, in dem Kantate und Oratorium die zentralen Gattungen bildeten.
All dies wusste Händel, als er nach Rom aufbrach, hatte ihn doch schon sein Lehrer Friedrich Wilhelm Zachow in Halle mit dem italienischen Stil vertraut gemacht. Zwei Reisen nach Berlin, die er wohl 1696 und 1702 unternahm, offenbarten ihm die kurze Glanzzeit der italienischen Musik unter Königin Sophie Charlotte von Preußen, an deren Hof seine späteren Londoner Konkurrenten Giovanni Bononcini und Attilio Ariosti wirkten. Als er Halle 1703 Richtung Hamburg verließ, war er längst ein bedeutender, im italienischen Stil versierter Musiker, wie sein Jugendfreund Telemann bezeugt hat. In Hamburg freundete er sich mit Johann Mattheson an, von dessen umfassender Kenntnis der italienischen Musik er profitieren konnte. In den Hamburger Opern des genialen Reinhard Keiser lernte er nicht nur eine Fülle von Themen kennen, die er später effektvoll in seine italienischen Werke einbauen sollte, sondern auch einen durch und durch italienischen Arienstil, der ihn nachhaltig fasziniert haben muss. Dies alles, verbunden mit den zunehmend instabilen politischen Verhältnissen in der Hansestadt Hamburg, ließ in ihm den Entschluss reifen, selbst nach Italien zu gehen, um den italienischen Stil an der Quelle zu studieren.
Den unmittelbaren Ausschlag gab, wie sein erster Biograph Mainwaring bezeugt, die Einladung des Prinzen Gian Gastone de’ Medici, der das triste Eheleben mit seiner böhmischen Gattin regelmäßig gegen das bunte Treiben der Opernmetropole Hamburg eintauschte. Will man Mainwaring Glauben schenken, so kam es nach der Uraufführung von Händels erster Oper Almira zwischen dem Komponisten und dem Prinzen zu einer Auseinandersetzung um die Vorzüge und Schwächen des italienischen Stils. Daraufhin soll der Prinz eine formelle Einladung an Händel ausgesprochen haben, ihn nach Italien zu begleiten11. Tatsächlich ist der junge Hallenser dann aber selbständig gereist, und zwar mit einem gewissen Herrn von Binitz, sicher aber ausgestattet mit Empfehlungsschreiben für Gian Gastones Bruder, Ferdinando de’ Medici, den Musik liebenden Granprincipe di Toscana12. Händel reiste also nicht ins Ungewisse, sondern mit klaren Zielen in den Süden: zuerst die toskanische Hauptstadt Florenz, dann Rom, die Hauptstadt des Kirchenstaats.
Viele Wege führen nach Rom, auch auf der Reiseroute, die der junge Händel in Norditalien einschlug. Leider können wir sie heute nicht mehr rekonstruieren, da sich bislang kein Dokument gefunden hat, das seine Anwesenheit in Italien vor Ende 1706 bezeugt. Verschiedentlich wurde vermutet, er habe vor Florenz und Rom bereits Venedig besucht, weil er einige seiner frühesten römischen Werke auf venezianischem Notenpapier begonnen und auf römischem vollendet hat13. Doch setzt dies nicht zwingend einen Aufenthalt in der Lagunenstadt voraus: Venezianisches Papier wurde auch in Rom gerne gekauft und verwendet, ebenso florentinisches14. Man darf zwar annehmen, dass Händel auf der üblichen Route über den Brenner nach Norditalien kam und sich schon allein deshalb weit östlich hielt, weil der Spanische Erbfolgekrieg den Westen Norditaliens erreicht hatte: In Savoyen tobte 1706 der Kampf zwischen Franzosen und Kaiserlichen. Doch mochte er sich gerade deshalb beeilt haben, über Bologna und den Apennin möglichst rasch nach Florenz zu gelangen.
Auf diesen nicht mehr zu greifenden Reisestationen erwarb sich der blutjunge „Sassone“ den Ruf eines ausgezeichneten Cembalisten und Komponisten, der ihm nach Rom vorauseilte. Einige vielleicht schon in Florenz komponierte Kantaten legen davon Zeugnis ab. In das Reich der Legende darf man dagegen eine seltsame Behauptung seines ersten Biographen John Mainwaring verweisen, wonach er seine beiden Opern Rodrigo und Agrippina für Florenz und Venedig schon geschrieben haben soll, bevor er in Rom eintraf15. Auch wenn Ursula Kirkendale diese Theorie 2004 noch einmal zur Diskussion stellte16, spricht in den Quellen alles dagegen. Mit Dorothea Schröder darf man vielmehr annehmen, dass er 1706 zunächst die Gelegenheit wahrnahm, in der üblichen Herbst-Stagione der italienischen Bühnen erste Operneindrücke zu sammeln, und zwar in Pratolino bei Florenz, dem Sommersitz des Ferdinano de’ Medici17. Der Granprincipe ließ dort 1706 und in den Folgejahren insgesamt fünf Opern aufführen, deren Libretti Händel später in London neu vertonen sollte, also vermutlich in Pratolino kennenlernte.