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Des Berges Wächter

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Dieses ereignete sich in einer weissen Nacht.

Damals zählte Olav nicht mehr als siebzehn Winter. Jofrid zählte nicht mehr als sechzehn Winter.

Sie kamen an einem Johannisabend auf die Rimane, eine steile Wiese unter der Felsenkluft, die Donnerskare heisst. Sie schauten auf alle die roten Feuer in den Bergwänden.

Die Feuer brannten weit hinten im Lande, wo der Schnee noch nicht ganz von den höchsten Gipfeln geschmolzen war, und brannten bis hinaus zu den äussersten Inseln von Tysseland, die wie flache Schilder unter dem hohen Rande des Meeres standen. Wohl hundert rote Feuer brannten und stiessen ungeheure Rauchsäulen in die Luft.

Olav liess sich im blumigen Grase nieder und lehnte den Rücken gegen die graue Bergwand, umschlang mit den Armen seine Knie und freute sich über das alles: Über die stille Nacht und den hohen Rand des Meeres, über alle die vielen roten Feuer und ihre gewaltigen Rauchsäulen. Er freute sich vor allem darüber, dass Jofrid mit ihm in die Ödmark gekommen war.

Aber Jofrid wollte sich nicht zu ihm hinsetzen. Nein, sie blieb am äussersten Abhang stehen. Und da stand sie nun — hoch im Himmel und hoch über dem graublauen Meer. Es fand sich unter ihr nicht mehr dunkles Land als das Stücklein Rasen, das sie mit ihren Füssen berührte.

Unter gesenkten Brauen hervor schaut sie auf den Fjord und sagt mit schwingender Stimme: „Du hast nicht Reisig und nicht Holz gesammelt, Olav. Jetzt werden wir zwei kein Feuer haben.“

Olav entgegnet: „Wie bist du gross! Du bist ungeheuer gross, Jofrid! Du ragst über alle Inseln des Meeres hinaus, du bist höher als der Schneegipfel des Hvithest ...“

„Aber, Olav — nein, was sagst du? — Bin ich gross? ...“

Langsam wendet sich Jofrid zurück.

„Ja, jetzt hast du wieder deine fremden Augen. Das sind wieder deine Märchenaugen. Und du siehst Dinge, die gar nicht da sind. Und du redest Worte, die ich nicht verstehen kann ...“

Sie holt tief Atem und schiebt dabei ihre kleinen Brüste vor, ihre beiden Knospenbrüste: „Mein Vater sagte heute, du seist irgendwie fremd an diesem Strande. ‚Hat man denn jemals in dieser Gegend so unruhiges Blut angetroffen?’ fragte er. ‚Er ist wahrhaftig ein Zigeuner!’ sagte er.“

Nun denkt aber Olav stetsfort seine eigenen Gedanken: „Jofrid! Ich habe dich lange angeschaut. Im hellen Himmel stand deine Gestalt wie ein riesengrosser Schatten ... Jetzt hatte ich die Augen geschlossen. Und jetzt sehe ich dich weiss, wie eine Wolkenfrau mit einer Strahlenkrone. Und nur du bist noch da. Aber Erde und Meer und Berge sind verschwunden ...“

Auf leisen Zehenspitzen macht Jofrid die paar Schritte zu ihm hin, beugt sich nieder und legt ihre Hände auf seine Augen. „Was siehst du nun, Olav?“ fragt sie leise.

Olav hört ihren lauten Atem. Aber jetzt kann er keine verwunderlichen Worte mehr sagen. Denn plötzlich presst Jofrid ihre Lippen auf seinen Mund, und da geht ein kühles, prickelndes Beben durch Olavs Leib.

Dieses war der erste Kuss.

Jofrid hatte in der Stille der weissen Nacht die Stimme des Lebens vernommen. Jofrid war um vieles reifer als Olav.

Olav war damals noch nichts anderes als ein geschmeidiger Knabe, der in Ahnungen und fremden Bildern lebte und dessen Träume noch friedvoll und voller Engel waren.

Als Jofrid Olavs Augen und Mund wieder freigab, beugte sie sich so tief über ihn, dass er von der ganzen Welt nichts sehen konnte als nur ihr Gesicht. Ihr Gesicht mit roten Wangen und funkelnden Augen, mit feuchten, unbegreiflichen Augen.

Wie ging doch ihr Atem heiss!

Olav starrte in dieses taufrische Jungmädchengesicht. Dessen Grösse und Nähe schreckte ihn, und er liess abermals die Lider sinken, als hätte ihn grelles Sonnenlicht getroffen, und so verharrte er in schweigendem Staunen. Und er wurde sehr verwirrt und scheu, wie vor etwas Fremdem und Unbegreiflichem.

Aber Jofrid setzte sich auch jetzt noch immer nicht zu ihm hin. Nein, da stand sie wieder hoch im Himmel und überragte Land und Meer. Sie schaute vor sich nieder mit merkwürdig leerem Blick. Aber um ihre roten vollen Lippen flatterte ein listiges Lächeln.

Und da Jofrid sehr lange und beharrlich schwieg, fragte Olav: „Ja, nun bist du wohl unzufrieden?“ Und er meinte das Johannisfeuer.

„Nein“, antwortete Jofrid. „Unzufrieden? Nein, keine Spur.“ Und dann schwieg sie eine Weile. Und dann lachte sie leise und sagte: „Du dummer Bub!“

Olav sagt: „Aber du stehst doch dort mit rotem, zornigem Gesicht, Jofrid, und wenn du nicht böse auf mich bist — was fehlt dir denn?“

„Was sollte mir nur fehlen?“ fragt Jofrid und lacht wieder ein wenig. „Mir fehlt nichts. Nicht das mindeste. Und du verstehst es ja doch nicht“, sagt sie und wirft den Kopf in den Nacken.

Und sie besinnt sich ein wenig und sagt dann noch einmal: „Dummer Bub!“ Und dann schweigt sie. Sie netzt ihre Lippen mit der kirschroten Zungenspitze. Sie dreht sich zu Olav hin und betrachtet ihn, wie ein Mädchen seine Puppe betrachtet, mit viel Liebe; aber auch mit ein wenig Verachtung. Doch an ihren langen Wimpern hängen plötzlich Tränen. So gross ist ihre Zärtlichkeit ...

Nun hatte aber an diesem Tage Olav mit dem Knechte Ingolf gerauft. Der Knecht Ingolf war über zwanzig Winter alt, Olav hatte ihn geworfen und besiegt. Jofrids Puppenblick kränkt ihn sehr und weckt in ihm das Verlangen, vor ihren Augen eine ungewöhnliche und mutige Tat zu vollbringen. Und sogleich sollte diese Tat vollbracht werden. Olav ist voll Jugendherrlichkeit und Mut und bis zum Rande erfüllt mit Heldentum.

„Du sollst dein Feuer haben, Jofrid!“ ruft er und springt auf.

„Wie soll ich mein Feuer haben, wenn du kein dürres Holz gesammelt hast?“

„Ich werde dir den Priester opfern, den grossen finstern Priester, vor dem du dich vor kurzem noch fürchtetest.“

„Den Priester?“ ruft Jofrid entsetzt und überwältigt. „Ich glaube, du bist verrückt. Nein, nein — du — was würden die Leute sagen?“

Jetzt ist kein Puppenblick mehr in ihren Augen.

Olav schiebt die Schulter vor: „Die Leute? — Das hilft alles nichts“, sagt er mit tiefer Stimme. „Der Priester muss sterben in dieser Nacht.“

Er sammelt Reisig. Er sammelt trockenes Moos. Er schichtet es hoch auf um den Stamm eines grossen, dunklen Wacholderbaumes.

In diesem Wacholderbaum wohnt vielleicht ein Gott.

Er ist uralt. Schon viele hundert Jahre lang steht er an der kahlen Felswand, einsam, dunkel und stark. Man kann ihn aus meilenweiter Ferne sehen. In Mannshöhe über dem Rasenband der Rimmane ragt seine Wurzel aus der Felsenspalte heraus, als hätte sie den gewaltigen Helleberg bis hinauf zum Gipfel gesprengt und die Donnerskare aus ihm herausgebrochen. Welch knorrige, verknorpelte Wurzel! ... Es findet sich nicht soviel wie eine Handvoll Erdreich um sie herum.

Nun steht also dieser verwunderliche Baum hier an der Steilwand des Helleberges, solange Menschen zurückdenken können. Ernst und finster steht er da und nährt sich von Sonnenbrand und Wind und Frost und Nordlicht. Seit jeher nannten ihn die Leute „Priester“ und „Bergwächter“. Und Olav schichtet dürres Moos und dürres Gras an seinem Stamme auf ...

„Nein“, ruft Jofrid, „nein, das darfst du niemals tun, Olav. Ich glaube, dass es eine Sünde wäre ...“

Aber in Jofrids Auge springt ein lüsterner Funke auf. Das Ungewöhnliche lockt auch sie. Und nun sagt sie, nein, es solle nicht getan werden; und ruft abwehrende Worte, indes sie Olavs Vorbereitung mit freudig flackerndem Herzen und einem leisen Angstschauer im Rücken folgt. Und wenn sie „nein“ sagt, klingt ihre Stimme voll und weich und einschmeichelnd wie die Stimme eines reifen Weibes.

In dieser Nacht brannte der uralte Wacholderbaum, des Berges Wächter, nieder. Er brannte bis zum Morgen. Man sah sein Feuer vom innersten Fjord bis zum äussersten Schärenhof. Man sah es, bis die Sonne aufging. Dann war nur noch ein Häuflein Asche und ein kläglich verkohlter Stumpf zurück.

Der Morgenwind wirbelte die Asche auf und streute sie über die Rimmane hin. Der Stumpf aber ragt noch heute schwarz aus dem Felsen hervor. Und die Menschen wundern sich, dass dieser verkohlte Baumstumpf nicht völlig sterben und verwittern will.

Der ewige Berg

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