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Jofrid

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Nun ist ein Wintertag.

Wie braune Säcke hängen die Wolken aus dem Himmel nieder. Darunter dehnt sich der Helleberg, lang, schwarz, lauernd.

Der Helleberg gleicht in seinen Umrissen einem liegenden Weib, mit gewaltigen Schenkeln, aufgereckten Brüsten, weit zurückgebogenem Kopf und hängendem Haar. Das Haar bilden die tiefen waldigen Klüfte, die man Svartejel nennt.

Der Helleberg liegt unter dem braunen Wolkenhimmel wie ein ungeheurer Opferstein ...

Trygve Eivindson steigt auf schmalem Pfade empor. Die Täler strömen schon frühe, graue Dämmerung aus. Ein feiner, körniger Schnee fällt. Es ist eigentlich kein Schnee, nur Nebel, der in leichten, kaum sichtbaren Eisnadeln niederrieselt.

Die Krähen sammeln sich zu Scharen und fliegen der Küste zu.

Eben noch verhallte ihr Krächzen an den steilen Wänden. Jetzt ist es verstummt. Der Fjord liegt glatt, schwarz und träge wie Öl. Kein Windhauch kräuselt das Wasser. Kein Boot zieht seine Kielrinne darein. Unaussprechliche Trauer und Verlassenheit liegt im Himmel und auf Erden.

Vier Tage lang brauste der Weststurm vom Meere herein. An diesem Morgen aber brach seine Kraft. Nun ist grosse Stille ringsum.

Die kahlen Bäume sind müde vom Schaukeln, die Zweige sind müde vom Pfeifen und Wimmern, das Meer ist müde vom wilden Wellengeprassel. Eine schlafschwere Ruhe hat sich über alle Dinge gelegt ...

Doch in Trygves Herzen braust ein gewaltiger Sturm.

Trygves Sinn ist mächtig aufgerührt und voll Groll. Und sein Blick ist wie das Wasser unten im Fjord, schwarz und erfüllt mit lauernder Bosheit ...

Noch kein Jahr verging, seit Trygve Eivindson mit Jofrid über den Fjord dort unten nach Akerud fuhr im geschmückten Boot. Und der Spielmann fiedelte, und zweihundert Gäste lärmten und sangen. Drei Tage lang wurde getanzt auf dem Herrenhof von Lisät. Jofrid, des Pfarrers Tochter, war Braut.

Jofrid war an diesen drei Tagen so weiss, als hätte sie ihr Gesicht mit Mehl bestreut. Mit ihren erloschenen Augen und kalten Händen gemahnte sie an einen unheimlichen Leichnam, der sich in den Kreis der frohen Menschen drängte und sich sündig in ihre Gespräche mischte. Und zuweilen redete Jofrid sowohl viel als hastig und lachte schrill. Und zuweilen verfiel sie unversehens in dumpfes Schweigen. Sie musste mit grossem Lärm umgeben werden. Aber sie raffte sich immer wieder auf und tanzte mit allen Ehrengästen.

Tanzte sie vielleicht nicht ihre ganze Brautnacht lang, bis zum hellen Morgen hin? Aber sie wurde doch nicht warm davon. Und wenn der Spielmann über seiner Fiedel einnicken wollte, brachte Jofrid ihm starken Kaffee aus der Küche und legte jedesmal ein hartes Kronenstück in das Schalloch der Geige. Hat man denn je eine Braut gesehen, die gabmilder mit dem Spielmann gewesen wäre? Nein, wahrhaftig!

Aber der Bräutigam hatte auch nicht sonderlich rote Rosen auf den Wangen. Trygve Eivindson zappelte vielleicht mit seinen langen dünnen Beinen mehr als sich geziemte und trank Bier und Branntwein aus grossen Gläsern und mischte beides durcheinander. Aber das verschlug nicht bei ihm. Er stampfte wohl hart auf den Boden mit seinen Füssen, doch an seine Fröhlichkeit wollte kein einziger glauben. Ja, das war eine Hochzeit, an die man sich noch lange erinnern wird in dieser Gegend ...

Sieben Jahre lang ging Jofrid still im Pfarrhof aus und ein und grämte sich im verborgenen. So lange hatte sie gehofft und gewartet.

Dann kam sie spät im Herbst den Weg daher. Sie kam zu Fuss den einsamen Weg von Hylnäs her. Sie setzte sich auf einen Prellstein, und sie hatte tiefe, blauschimmernde Furchen unter den Augen vor Müdigkeit und Entsagung und Ergebung und vielleicht auch von vielen heimlichen Tränen.

Jofrid sass noch immer auf dem Prellstein, als Trygve Eivindson von seinem Herrenhof herniederschritt. Er schritt einher, ohne unnötige Eile zwar, aber doch wie einer, der ein rechtes Ziel vor Augen hat. Möglich ist, dass Trygve des Pfarrers Tochter von seinem Hause her gesehen.

Nun ist er bei ihr angekommen, einen Grashalm zwischen den Zähnen. Und er wird durch den Anblick der jungen Dame überrascht und bleibt stehen und wundert sich.

Jofrid ruft ihm schon von weitem entgegen: „Ja — ich sitze ein wenig hier ... Ich habe Karen Ystad besucht ...“

Aber warum lächelt sie nun gequält zu diesen unschuldigen Worten und zupft so umständlich mit spitzen Fingern ein Flöcklein Moos von ihrem Kleide?

„... du weisst doch, Trygve, die alte Karen Ystad, die bei uns diente? Sie liegt doch mit ihren lahmen Beinen im Bett. Sie liegt doch schon seit fünf Jahren in ihrem Bett und kann nur ein kleines Stücklein Himmel durchs Fenster sehen ...“

„Ja“, sagte Trygve. „Aber nun musst du wohl müde sein, und du kannst nicht den weiten Weg zurückgehen. Du siehst nicht gut aus, Jofrid ... Wenn du aber mit mir nach Lisät kommen und ein wenig warten willst, werde ich dich nach Hause führen ... Der Mond geht früh auf heute ... Und es ist lange her, seit ich dich gesehen habe, Jofrid.“

Da erhebt sich Jofrid plötzlich von ihrem Stein, wirft den Kopf in den Nacken und sagt hart: „Ich habe hier auf dich gewartet ... Ja, es ist lange her, Trygve ... Ich habe aber meinen Wagen zurückgeschickt und auf dich gewartet ... Und wenn es noch immer deine Meinung ist — du weisst, das, wovon du so manches Mal gesprochen, so werde ich heute nicht mehr nein sagen ...“

Trygve meint, es lege ihm da einer ein nasses Tuch übers Gesicht, und seine Wangen straffen sich. Das ist nichts anderes als ein gewaltiges Erschrecken. Er wird sehr bleich: „Ja — aber Jofrid! Willst du es also wirklich versuchen? ... Gott segne dich für dieses Wort, Jofrid.“

„Ich will es versuchen“, sagt Jofrid mit weissen Lippen.

„Ja — ja. Tu es nur, Liebe! — Alles wird gut. Du sollst nur sehen.“

Jofrid legt ihren Kopf noch ein wenig mehr in den Nacken: „Es ist aber nicht das, dass ich meinen Sinn geändert hätte, Trygve. Nein, wahrhaftig! Ich weiss doch ganz gut, dass es nicht das Rechte und nicht die ganze Liebe ist. Es ist ein Unrecht. Und ich will dich nicht belügen. Und du sollst dir auch keine grossen Hoffnungen mit mir machen ... Aber es ist doch wiederum auch so, dass ich dich gern habe. Es ist das, dass ich dich von Kind an kenne. Und ich kenne dich besser als alle andern. Jetzt bin ich dreiundzwanzig Jahre alt, und mein Vater hat letzte Woche das Kirchspiel in Utvär angenommen. In Utvär gibt es nur Meer und Felsen. Ich aber kann nicht leben ohne die Wälder — — Warum soll ich denn heute schon welken und sterben? — Und nun weisst du alles. Trygve, ich will nicht fort von hier. Und ich will auch leben ... Was ist jetzt deine Meinung?“

Jofrid hat schnell und mit trockener Stimme gesprochen. Wie ein Schulmädchen hat sie das hergesagt, als hätte sie es auswendig gelernt und fürchtete sich nun, es nicht gut zu machen. Und sie wollte möglichst schnell zu Ende kommen.

Was nun Trygve meint? Ach, Trygve ist nur Freude und frohe Überraschung.

„Aber das weiss ich ja schon alles, Liebe“, erklärt er eifrig. „Du kannst mir doch gar nichts von dir sagen, was ich nicht schon vorher wüsste. Und sieh, ich kann es doch so gut verstehen, dass du nicht ganz und in allen Teilen befriedigt sein wirst von mir. Ich bin nun leider nicht mehr als das, was hier vor dir steht. Ich bin nicht klug wie Olav Arnevik. Ich habe auch nicht sein Wesen oder seine Gestalt. Nein, Gott sei es geklagt, meine Nase ist doch viel zu lang und zu dünn, und in meinem Kopfe finden sich leider keine schönen Gedanken. Aber was das Herz anbetrifft, Jofrid, so darf ich schon so viel sagen, dass kein Mann auf der ganzen Welt dich mehr und besser lieben kann als ich.“

Sie gehen nebeneinander her den Weg gegen Lisät hin. Trygve Eivindson ist um so vieles grösser und länger als Jofrid, dass er sich weit vornüber und zu ihr hinneigen muss, um ihr unter den breitkrempigen Hut zu blicken.

Ist jetzt vielleicht noch Eis in seinem Rücken oder ein nasses Tuch auf seinem Gesicht? Nein — Herrgott im Himmel! — keine Spur von Kälte mehr. Jetzt sprudelt heisses Blut in diesem langen, etwas schwerfälligen Menschen. Das Glück jubelt in ihm.

Jofrid folgt Trygve nach Lisät und wird gut und mit Freuden bewirtet. Der alte Oswald selber spannt das Pferd vor den Wagen und lächelt dabei, tätschelt dem Pferde den glatten, samtweichen Hals und flüstert ihm kuriose Worte ins Ohr. Ach, Oswald ist doch mit der Zeit so uralt und schon ziemlich einfältig geworden.

Trygve fuhr Joftid nach Hause, als der Mond aufgegangen war. Trygve hatte auf dieser nächtlichen Fahrt viel zu sagen. Und Jofrid schwieg. Auch ihr Schweigen erfreute ihn. Es machte sie sanft und fein ...

Und dann war auf dem alten Herrenhof auf Lisät auf einmal Hochzeit und Lärm und Tanz und Zuversicht und viel Unbegreifliches und viel Gerede und alles miteinander.

Der alte Pfarrer Bjarnöy zog, kaum dass er seiner Tochter die Ehe geweiht hatte, in sein neues Kirchspiel an die Küste hinaus, wo es nur Felsen und Fische und unendliches Meer gibt ...

Jofrids Wangen wurden mit der Zeit wieder rot und ihre Hände warm. Und Trygve ging frohen Mutes auf seinem grossen, prächtigen Gut umher, redete mit dem alten Oswald viele wichtige und viele törichte Worte und war in seinem Sinn so glücklich, dass er in jeder Nacht vor dem Einschlafen gläubigen Herzens aufs neue Gott dankte, wie ein gutes und freudiges Kind.

Heute aber ist nun alles anders.

Heute stapft Trygve Eivindson den schmalen Pfad an der steilen Berghalde empor, das Gewehr und den Rucksack über der Schulter, die hohe Otterfellmütze auf dem Kopfe. Seine Nase ist noch länger und dünner als gewöhnlich und ragt wie ein unglückliches Felsstück aus einem verwüsteten Acker empor.

Unten liegt Lisät mit allen seinen grossen und kleinen Gebäuden, seinen Scheunen und Ställen und den alten Vorratshäusern. Drei Fenster zur ebenen Erde leuchten rot. Das sind die Fenster der grossen Wohnstube. Aber der Pfad hier ist mit Eis gepflastert und glatt, und es dürfte vielleicht nicht ganz ratsam sein, sich im Gehen allzuoft umzudrehen, meint Trygve. Es sei ein verdammter Weg, meint Trygve.

Sein Herz ist ganz und gar verbittert.

Er kommt auf einer kleinen Ebene an. Die heisst Bratelund.

Weiss Gott, Trygve hat die ganze lange und dachsteile Halde in einem Zuge genommen. O, soweit das Bergsteigen in Betracht kommt, macht es ihm keiner nach in dieser Gegend. Man mag nun über seine langen Beine spotten soviel man will, aber er kann damit die wilden Ziegen im Berge einholen.

Aber auf Bratelund muss Trygve doch stehenbleiben und hinunterblicken.

Und da liegt also tief unten und schon in der Dämmerung eingehüllt der grosse Hof mit den drei roten Fenstern. Nun denkt Trygve, ob er nicht einen Schatten in einem der Fenster sehen könnte, den Schatten einer jungen Frau vielleicht, einer jungen, feinen Frau, die ihr Haar wie eine Krone ums Haupt trägt. Aber nein, dort am Fenster ist kein Schatten und keine Frau und nichts.

Trygves Augen sind scharf. Raubvogelaugen. Ei, zum Pokker, kommt denn dort nicht der alte Oswald mit einer Laterne über den Hof? Ja, das dort ist Oswald. Warum bleibt der Alte denn so lange in der Haustür stehen? Und warum macht er mit seinem Lichte diese Zeichen? Lehnt dort am Türpfosten dennoch die junge Frau mit der goldblonden Krone?

Es könnte schon so sein, dass Jofrid dort unten am Türpfosten lehnt. Vielleicht winkt sie jetzt mit einem weissen Tüchlein.

Aber seht nun diesen Trygve, der einmal alles verstanden hat und sich mit wenigem zufrieden geben wollte. Er will heut nicht mehr das Gute suchen. Er will nur noch das Böse finden. Er ist nicht länger ein gottesfürchtiges Kind.

Nein, er hebt nicht die Hand. Keinen Gruss sendet er hinunter. Er wendet sich um und stapft weiter. Vier lange Schritte nur, dann ist Lisät verschwunden.

Dann ist Trygve allein.

Trygve geht eine halbe Stunde lang durch lichten Birkenwald.

Da liegt vor ihm Eivindsruh. Ein langes, schmales Tal unter dem schroffen Gehänge des Helleberges. Eine dicke Staumauer schliesst es ab. Mit dieser gewaltigen grauen Mauer hat Herr Eivind vor langer Zeit das Wasser des Bergbaches gefangen und zu einem schönen stillen See gemacht und ihm den Namen Dagmarsee gegeben. Um den Berg herum hat Herr Eivind eine breite Fahrstrasse anlegen lassen; die nannte er Dagmarstrasse.

Herr Eivind war einer von den Grossen und Mächtigen. Er war ein Häuptling aus uraltem Blut. Er schuf in frevelhaftem Übermuts einen See auf dem Berg und baute eine lange unnütze Strasse von seinem Hof bis da hinauf.

Er wollte mit seinen vielen Gästen und seiner schönen Frau Dagmar mit Ross und Wagen zum See fahren.

Ja, das war eine herrliche und stolze Zeit. Es lebte damals auch ein starkes Geschlecht.

Herr Eivind war in allen Dingen ein gewaltiger Mann. Er hatte mehr als dreissig Pächter, die Fron leisten mussten. Herr Eivind war ein König. Er war Offizier und trug stets eine Reitpeitsche mit sich herum. Und an der Reitpeitsche war ein schwerer Silberknopf. Die Bauern sagten zum Scherz untereinander: „Herr Eivind nimmt die Peitsche mit sich ins Bett. Denn er kann ohne sie nicht schlafen.“

So gewaltig war dieser Mann. Da liegt er jetzt.

Er liegt unter einem grossen Stein. Neben ihm, unter einem anderen grossen Stein, liegt seine schöne Frau Dagmar.

Dahinter breitet sich der See aus und heisst noch heute Dagmarsee. Aber diese ganze Gegend ist nur noch verfallene Herrlichkeit und nichts weiter als stolze Erinnerung und eine Verhöhnung menschlichen Grössenwahns. Man nennt sie Eivindsruhe. —

Über Nacht hat der Frost den See gepackt. Es fiel auch ein wenig Neuschnee in den ersten Morgenstunden. Eine Hasenfährte läuft zum Birkenwalde heraus. Das ist eine kurze, unsichere und kranke Fährte. Ganz richtig, dort draussen stellt sich auch schon mit seiner hübschen Perlenschnur der Fuchs ein.

Naturgesetz, denkt Trygve Eivindson. Nur Naturgesetz. Der Schwächere und Kranke muss vom Starken verfolgt und aufgefressen werden, denkt er bitter.

Das alles ist unabwendbar, denkt Trygve mit grosser Trauer und steht vor den Gräbern seiner Eltern.

Er nimmt eine Handvoll Schnee vom Stein, der die schöne Frau Dagmar bedeckt. Er stopft den Schnee in den Mund, seinen Durst zu stillen, den heissen Durst, der in ihm brennt.

Herr Eivind? denkt er und grübelt.

Ein finsterer und sehr strenger Herr, dem viel Land zu eigen gehörte. Wenn die Bauern mit ihm redeten, nahmen sie die Mütze vom Kopfe. Nur wenige durften ihm in die Augen schauen. Er steht wahrlich nicht im besten Andenken unter den Leuten. Noch heute senken sie die Stimme, wenn sie von ihm reden.

Herr Eivind? Er holte sich ein schönes Weib aus der Stadt. Dagmar. Sie war so fein und zart, dass die Pächter glaubten, sie müsse einer von Gottvaters vornehmsten Engeln aus dem hohen Himmelreich sein.

Frau Dagmar. Sie spielte auf dem Flügel und sang dazu. Und wenn Frau Dagmar spielte und sang, wagten Knechte und Mägde kein lautes Wort zu reden. So wunderbar klang das.

Frau Dagmar aber wurde auf Lisät bald bleich und durchsichtig. Es hiess, sie sei krank vor Sehnsucht nach der Stadt und nach dem grossen Leben der Stadt und allem anderen, was sie verlassen.

Sie klagte nie. Keinen einzigen Seufzer hörten die Mägde. Aber alle wussten es dennoch. Denn alles auf Lisät drehte sich in jenen Tagen um Frau Dagmar.

Auch Herr Eivind wusste es. O, er verstand das alles gut. Aber er sagte nichts dazu ... Doch damals schuf er, ihr zuliebe, den See auf dem Berge und baute diese teure Strasse und lud viele Gäste ein und erfüllte sein Haus mit Wein und Lärm und Geselligkeit. Ein König. Er hielt grossen Hofstaat, ein Jahr lang oder zwei.

Dann geschah irgend etwas. Frau Dagmar hatte einen seltsamen Einfall. Ein Knecht verschwand am Helleberg, und man konnte ihn niemals mehr auffinden.

Zwei Knechte verschwanden.

Und Herr Eivind verunglückte auf der Jagd. Ebenfalls hier auf dem Helleberg fand er sein Ende.

Er lag unter einem Felsen, mit einer grossen Wunde im Hinterhaupt. Man fand ihn erst am zweiten Tage. Und da lag er also in seiner Grösse und gewaltigen Körperstärke, mit all seiner Macht und mit dem schönen blonden Bart.

Und es war aus mit ihm. Der König starb.

Fast zur selben Zeit, da der König starb, wurde der Prinz, Trygve, geboren.

Die schöne Frau Dagmar schenkte dem Prinzen ihre ganze Lebenskraft oder doch den ganzen Rest ihrer Lebenskraft. Aber es wurde dennoch kein König aus ihm. Nein, Trygve war nicht zum Grossen geboren und auserkoren.

Er wuchs heran und wurde ein Mensch wie andere Menschen, ohne Peitsche und Silberknopf und ohne breite goldene Epauletten und Hoheit und Strenge im Blick. Er wurde nur ein Mann, gerade und brav. Ein ehrlicher, fleissiger Gutsherr, ein verständiger Mensch und guter Bürger in jeder Beziehung. Und wenn ihm nicht gerade diese Geschichte zugestossen, so wäre über ihn überhaupt nichts zu sagen ...

Das Reich zerfiel. Der alte König hatte gar zu flott regiert und einen allzu prächtigen Hof geführt, um der Liebe willen.

So wurden die Pächter frei und unabhängig und stolz und von ihrem eigenen Werte durchdrungen, ganz von ihrer eigenen Wichtigkeit besessen.

Sie nehmen ihre Mützen nicht mehr vom Kopfe, wenn sie vor Trygve Eivindson stehen, obschon dieser Trygve wahrhaftig noch immer ein grosser Herr ist, der viele Ländereien unter seiner Hand hat. —

Dass es so gut ging, damals mit dem Hof Lisät, ist des alten Oswalds Werk.

Ja, der alte Oswald hat das havarierte Schiff klug gesteuert. Er übernahm das Kommando, als der König begraben wurde, hier unter diesem grossen Stein auf Eivindsruh. Da hörte das flotte Hofleben mit einem Male auf.

Zwar gelang es dem alten Oswald nicht, das ganze Königreich zu retten. Er musste die Pächter ziehen lassen und freigeben. Frau Dagmar musste die Aussenwerke verkaufen. Aber, weiss Gott, Lisät ist auch heute noch ein Herrenhof. Und seine Wälder konnten ein Menschenalter lang wachsen und in Ruhe gross und schlagbar werden. Diese gesegneten Wälder! Längst hat Lisät das Spiel gewonnen ...

Wie die Fährte dort hinten im Schnee, so endete das irdische Dasein des mächtigen Herrn Eivind. Seine Fährte wurde auf einmal krank und brach ab. Der Stärkere war über ihn gekommen ...

Es war einmal eine Wiese mit hohem, sonnenwarmem Gras und vielen Blumen. Trygve lag in diesem blumigen Grase, und eine Frau beugte sich zu ihm nieder. Eine blasse, stille Frau, vor einem ungeheuer grossen Himmel. — Das ist alles, was Trygve von seiner Mutter weiss.

Vielleicht ist auch das nur ein Märchen und nicht einmal wahr und niemals Wirklichkeit gewesen. Jene Blumen sind auf alle Fälle längst verwelkt. Das Kind Trygve wuchs und wurde ein Mann und liebte ein Mädchen. Das Leben hat ihn jetzt erfasst. Die Liebe hat ihn erfasst mit Glück und Leid. Er geriet unversehens in den Wirbel.

Warum steht Trygve nun hier? Warum macht sich Trygve nun an diesem Winterabend so viele Gedanken über die schöne Frau Dagmar und den finsteren Herrn Eivind? Er weiss ja von beiden nur so viel, dass sie in irgendeinem natürlichen Verhältnis zu seinem Anfang standen. Er weiss, dass sie ihm den Herrenhof hinterlassen und eine etwas verworrene Geschichte. Sonst weiss er nichts.

Es ist kein Bild von seiner Mutter zurückgeblieben, kein Bild von seinem Vater. Nur das heimliche Gerede der Leute blieb zurück und die Strasse, die jeden Sommer und jeden Winter mehr verfällt und schon wieder in die Wildnis zurücksinkt. Und hier oben blieben die kläglichen Ruinen einiger Lusthäuschen, eines Landungssteges und der unnütze See. Alles das blieb hinter ihnen liegen.

Die Spuren von Herrn Eivind und Frau Dagmar verblassen schnell und werden bald völlig ausgewischt sein — bis auf die zwei grossen Steine. — Hier ruhen sie. —

Trygve ist schon so manchmal diesen Weg gegangen, dass er nicht mehr auf die zwei grossen Steine achtete. Der stille See und die verfallene Strasse strömen Trauer und Totenhauch aus und locken nicht zum Verweilen.

Herr Eivind und Frau Dagmar ruhen hier. Sie lebten abseits von den Menschen. Nun ruhen sie abseits von den Menschen, in einer Erde, die nicht von Priesterhand geweiht und von keinem Kreuz geheiligt wurde. Das Wild zieht seine Fährte über ihre Gräber ...

Herr Eivind und Frau Dagmar haben sich vom Leben weit zurückgezogen, über alle Massen stolz und ein wenig unbegreiflich. Sie wollten allein leben. Sie wollten im Tode allein liegen. Sie wollten niemals das, was alle wollten.

Aber es wäre für Trygve gut gewesen, jener Frau, die sich damals vor dem grossen, dunkelblauen Himmel zu ihm niederbeugte, an diesem Abend einiges erzählen zu können, von einer anderen Frau, die Jofrid heisst, die heute in ihrer Jugend blüht und eben vorhin noch dort unten am Türpfosten lehnte.

„Mutter“, sagte Trygve leise und heiss vor sich hin. Und er lauschte ganz erstaunt seiner eigenen Stimme.

Wer soll ihm aber nun das alles erklären?

Einmal hat er Jofrid so gut verstanden, dass sie gar keine Worte reden musste, um ihm zu sagen, was in ihr war. Heute versteht er Jofrid nicht mehr, auch wenn sie ihn mit ihren beiden Augen anblickt und viele Worte sagt. Sie hat sich über Nacht verändert. Sie steht ihm plötzlich fremd und unbegreiflich und feindselig gegenüber.

Der Schnee von Frau Dagmars Grab kühlt Trygves Zunge, stillt seinen Durst.

Und plötzlich entsinnt er sich eines Traumes, der ihm oft wiederkehrte und ihn quält. Aber diese Erinnerung kommt aus so weiter Ferne und bleibt verwischt. Sie erregt Angst und grosse Mühe durch ihre Unklarheit ... Wie die Wellen auf dem Wasser dem Sturm voraneilen und ihn verraten, so zeigt sich Trygve etwas im Traume. Er ahnt die Gefahr, die nicht sichtbar werden will.

Er nimmt noch eine Handvoll Schnee vom Grabe seiner Mutter. Dann geht er weiter.

Vorhin, als Trygve das Haus verlassen wollte, stand Jofrid im Gang und blickte ihn an.

Es war Trygves Absicht, ohne ein Wort an Jofrid vorbeizugehen. Aber sie stand da und rührte sich nicht. Sie stand da mit erhobenem Gesicht und schaute ihm gerade und stark in die Augen. Sie hielt ihn fest mit ihren Blicken.

Sie fragte: „Du willst fort? Warum gehst du?“

Er sagte: „Ich gehe hinauf zum schwarzen Ur. Ich werde zwei oder drei Tage oben bleiben.“

Sie sagte: „Das war heute morgen noch nicht deine Absicht. Gesteh es nur, du hast heute morgen noch nicht daran gedacht.“

Er sagte: „Nein, ich habe nicht daran gedacht. Aber mir scheint nun, dass ich hier in bestimmtem Sinne überflüssig bin und im Wege stehe.“

Jofrids Augen wurden gross und dunkel, und sie musste die Brauen darüber niedersenken: „Was redest du da? Und wem solltest du denn im Wege stehen?“

Und jetzt wird Trygve kalt im Herzen, und seine Lippen werden schmal. „Einmal warst du ehrlich und stolz, Jofrid,“ sagt er leise und ein wenig unsicher, „heute aber wagst du nicht mehr die Wahrheit zu sagen.“

Und dann schweigen sie beide.

Und dann kommt Olav Arnevik mit dem alten Oswald vom Hofe herein. Olav sagt: „Ich suche dich, Trygve.“

„Du suchst mich da, wo ich nicht zu finden bin“, entgegnet Trygve. Und er fragt: „Was willst du noch von mir?“

Olavs Kinn zuckt ein wenig. Es flimmert ein wenig in seinen Augen. Er schaut Jofrid an.

Er schaut nur Jofrid an und sagt: „Es handelt sich um ein kleines Geschäft, Trygve. Hast du Zeit?“

„Nein“, sagt Trygve, „jetzt habe ich keine Zeit, denn ich will in die Hütte im schwarzen Ur.“

Olav blickt noch immer Jofrid an. Er nickt jetzt und lächelt.

„Wohl! Ich kann auch oben im schwarzen Ur mit dir reden. Ja, das geht wohl an.“

Es flimmern auch Trygves Augen ein wenig.

„Das ist gut“, sagt er. „Ich erwarte dich. Wann wirst du kommen?“

„Ich werde noch in dieser Nacht zu dir hinaufkommen. Denn morgen muss ich mit dem Postschiff wieder südwärts fahren. Und nun will ich nach Hause gehen. Leb wohl, Jofrid.“

Und Olav geht.

Und Trygve geht.

Jofrid steht aber immer noch auf derselben Stelle, mit gefalteten Händen. Wie an ihrem Hochzeitstage sind ihre Wangen bleich und ihre Augen erloschen ...

Trygve schreitet über die Hauswiese und denkt: Hat sie denn unser Gespräch vom Mittag ganz vergessen? Scheut sie sich denn jetzt gar nicht mehr, zu lügen und zu heucheln? Ist sie denn mit einem Male völlig anders und schamlos geworden?

Trygve schreitet durch den Wald und denkt: Das war ja alles nur ein gemeines Spiel, eine billige Komödie! Aber nur das eine ist unklar: Warum ist sie jetzt feige und ängstlich? Früher war sie doch tapfer, und ihre Worte waren stets stark und gerade. Früher hatte sie einen offenen Blick. Früher redete sie nicht mit zwei Zungen.

Trygve kommt an den Fuss des Berges und beginnt zu steigen und denkt: Wie kann sie denn nur dieses gottverfluchte Gespräch vergessen haben? Dieses Gespräch zerbricht doch alles zwischen uns. Wie kann sie nur so tun, als ob nichts zwischen uns läge? ...

Es liegt aber dieses zwischen Trygve und Jofrid:

Olav ist gestern zurückgekehrt. Acht Jahre lang war er verschwunden in Ferne und Schweigen und Geheimnis ... Olav Arnevik vom grossen Hof im Motal, der den „Priester“ verbrannte in einer Johannisnacht.

Olav kehrte zurück, weil sein Vater starb. Er will sein Erbe antreten.

Olav ging in seinen jungen Jahren hier an diesem Strande umher. Dann zog er fort, wurde Seemann und Abenteurer. Es laufen böse Geschichten über ihn um.

Alle Leute wissen, dass Jofrid vom Pfarrhof einmal den wilden Olav liebte. Auch Trygve weiss das, denn Jofrid selber sagte es ihm. Sie sagte es ihm in jener Nacht, als sie miteinander im Mondschein zum Pfarrhof fuhren und einig wurden.

„Ich liebte ihn“, sagte sie, drehte den Kopf zur Seite und wiederholte hart und trocken und hastig, als müsse sie das alles auf einmal loswerden: „Ja! und ich liebe ihn noch immer. Nie werde ich seine Märchenaugen vergessen können ... Das alles musst du wissen, Trygve ...“

„Ja!“ antwortet Trygve, ganz berauscht von Liebe und Glück. Überwältigt von diesem Glück, das so unerwartet über ihn hereingebrochen.

„Ja“, sagte Trygve damals. Und wenn er sich dabei überhaupt etwas dachte, dann war es ungefähr dies: Olav ist fort ... Gott allein weiss, wo er ist. Er hat nie geschrieben. Er hat uns sicher alle beide vergessen. Und vielleicht ist er schon gestorben und vermodert ... Aber an meiner Seite sitzt Jofrid. Ich spüre doch ihre Wärme! Ihre Nähe umgibt mich ... Ich höre doch ihren Atem — ich höre ihre dunkle weiche Stimme!

„Ja, Liebe!“ sagt Trygve. „Ja, ganz gewiss, in seinen Augen war etwas Märchenhaftes.“

Grosser Himmel — er grollte Olav Arnevik deswegen nicht!

Aber gestern kam Olav zurück ... Es liegt noch immer etwas Märchenhaftes in seinen Augen, und seine Stimme hat noch immer einen merkwürdig vollen und tiefen Klang. Sie gemahnt an eine Orgel. Früher, wenn Olav in eine Gesellschaft trat, schwiegen die Leute eine Weile, ehe sie weiter redeten. Das ist heute noch ebenso wie es ehedem gewesen.

Gestern, am Vormittag, trat Trygve zu Jofrid in die Wohnstube und sagte: „Olav ist wieder da! Die Knechte erzählen es.“

Jofrid schaut auf. Und da verändert sich ihr Gesicht. Sie gibt keine Antwort. Sie faltet still und feierlich die Hände im Schoss nach ihrer Gewohnheit. Es scheint, dass sie angestrengt nachdenkt über eine wichtige Sache.

Und als sie lange nachgedacht hat, sagt sie leise: „Er soll aber nicht zu uns ins Haus kommen. Trygve, das musst du verhindern! Darum bitte ich dich sehr, Trygve.“

Nun besinnt sich auch Trygve und denkt lange nach.

Dann sagt Trygve: „Olav ist doch mein einziger Freund, Liebe. Das darfst du nicht vergessen. Wie sollte ich ihm da die Tür meines Hauses verschliessen können? Bedenke auch, Jofrid, dass er mir in seiner Weise Vater und Mutter und Bruder gewesen, und dass nie ein böses Wort oder ein Schatten zwischen uns war. Ich habe von ihm stets nur Gutes empfangen.“

„Das alles ist wahr“, entgegnet Jofrid. Aber sie beharrt auf ihrem Willen: „Du sollst ihn nicht in unser Haus eintreten lassen!“ fordert sie noch einmal.

„Du nimmst es jetzt gar zu schwer, Jofrid“, tröstet Trygve, so gut er es versteht. „Was vorher war, das ist doch vorbei.“

„Nein!“ behauptet Jofrid. Auf ihrer Stirn erscheinen zwei steile Falten. „Nein!“ ruft sie heftig.

Aber in diesem Augenblicke hört man im Hof schon Olavs Stimme, diese tiefe volle Orgelstimme, die man nach acht Jahren noch nicht vergessen hat ...

Trygve stand auf und führte Olav ins Zimmer zu Jofrid.

Und da konnte man bemerken, dass Olav schon grau war an den Schläfen und auf dem Scheitel, und dass er viele kleine böse Falten um die Augenwinkel hatte. Aber er ging noch immer so leicht und rank wie früher. Und noch immer war Glanz und Zauber über seinem Wesen.

Olav Arnevik redete und lachte, und bald überwand Jofrid ihre Angst und fürchtete sich nicht länger vor sich selber. Bald sassen um den grossen runden Tisch drei Menschen beisammen, drei fröhliche Menschen, die schon als Kinder miteinander spielten und glücklich und einig waren.

Und natürlich musste es Olav sein, der erzählte. Er erzählte von einer fremden Welt und fernen Dingen, wie er es einstmals getan. Jetzt hatte er vieles erlebt und gesehen und gehört von dem, was er früher erträumte und ahnte ... Und alles schien gut.

Und alles schien gut, bis auf diesen heutigen Mittag.

Da ging Trygve über den Hof. Da sah er hinten in Jofrids Blumengarten ein Lamm, das durch den Zaun eingebrochen war. Da sah er durchs Fenster in die grosse Wohnstube.

Im Kamin brannte ein helles Feuer. Und vor dem Feuer stand ein Mann. Und ein Weib hing an seinem Halse. Der Mann war Olav. Das Weib war Jofrid.

Das sah Trygve mit seinen Augen. Und darum wurde für ihn die Welt mit einem Male sonderbar und unbegreiflich. Sie wurde böse.

Trygve lachte. Und das war König Eivinds schlimmes Lachen.

Dann machte er drei Sätze und brach eine Latte vom Zaun. Dann schlug er zu. Und es lag ein Lamm in Jofrids herbstleerem Blumengarten und zuckte mit den Beinen.

Es lag da ein Lamm mit bebenden Flanken, als ob es im fahlen Sonnenschein schlafe. Und es war so, als ob es vor Wohlbehagen kichere. Aber es floss ein wenig Blut aus seiner Nase, und die Zunge hing ihm zwischen den Zähnen hervor.

Trygve aber lief in den Wald und wunderte sich, dass der Himmel nicht mit Blitz und Donner grollte und dass der Himmel das alles geschehen liess und nicht einstürzte mit lautem Krachen. Und dass die Sonne sich nicht verfinsterte.

Doch weder Getöse noch Dunkelheit trat ein. Und Trygve ging zurück und traf Jofrid allein in der Wohnstube. Sie sass in ihrem Stuhl vor dem Kamin. Sie starrte ins Feuer, und ihre Augen waren mit roten Rändern eingefasst ...

In Trygves Adern fliesst doch etwas vom Blute des alten Königs Eivind. Das Königsblut brennt und schäumt jetzt auf. Trygve will es kurz machen, ohne Umschweife und ohne Seitenpfade ... Zugreifen, zuschlagen — ein Ende machen ohne Zaudern.

Er fragt kurz und bündig: „Was hat es zwischen euch gegeben?“

Jofrid hebt den Kopf. Sie legt den Kopf zurück auf ihre ganz besondere Art. Dann lässt sie ihn wieder zur Seite sinken, starrt ins Feuer und schweigt.

„Ich frage, was vorgefallen ist?“

„Nichts ist vorgefallen. Was sollte vorgefallen sein?“

Jofrids Stimme ist ohne Klang, so müde und gleichgültig ist sie.

Und als er sich zu ihr niederbeugt, sagt sie noch einmal: „Es hat nichts gegeben. Was willst du?“

„So? Hat es vielleicht nichts gegeben? ... Ich stand aber draussen. Ich habe es gesehen ...“

Dem schien Jofrid nun wirklich keinen Wert beizumessen. Nein, es machte keinen Eindruck auf sie. Bei Gott, sie war weder zerknirscht noch geknickt. Sie war durchaus nicht demütig, noch zeigte sie sich willig, eine Schuld auf sich zu nehmen. Sie war nur Kälte und Schweigen.

„Willst du vielleicht bestreiten, dass du ihn umarmtest?“

„Umarmtest? Vielleicht habe ich ihm die Hände auf die Schultern gelegt —“, sagt Jofrid. „Ich weiss nicht ... Das ist möglich ...“

Wie ruhig und nebensächlich sie das doch nahm.

„Willst du leugnen, dass du ihm nachliefst bis zur Tür?“

„Nein.“

„Was wollte er von dir?“

„Nichts.“

„Nichts? — Soll damit gesagt sein, dass am Ende alles nur Täuschung oder ein kleiner Scherz war?“

„Nein — Gottvater! ... So meinte ich es nicht. Ein Scherz? ... Nein!“ ruft Jofrid.

„Ich habe ein Recht, die Wahrheit zu fordern!“ ruft Trygve.

„Was willst du denn?“ fragt Jofrid müde.

„Was ich will? — Die Wahrheit ... Alles!“

Ach, Gott helfe ihnen beiden! Es ist ihnen so bluternst mit ihren Fragen und Antworten. Es hängt doch für Trygve so ungeheuer viel davon ab, was Jofrid auf seine Frage antworten will. Alles hängt für ihn davon ab. Gott weiss auch, wenn man jetzt Trygve einen guten Grund angeben könnte, wäre er schon nicht mehr völlig abgeneigt, zu verzeihen. Jofrids Kälte und Gleichgültigkeit verwirrte und ernüchterte ihn ein bisschen. Das starke Blut König Eivinds ist in Trygve doch sehr gemischt worden mit dünnerem Blute.

Aber nein! Nichts von Gründen und Erklärungen oder Bekenntnissen.

Jofrid denkt doch nur allein an sich selber und bemerkt gar nicht Trygve, der da vor ihr steht und bebt vor Empörung und Angst und Erwartung. Herrgott — Jofrid ist nun selber so mürbe und hoffnungslos und verzweifelt an allem. Sie begreift ja gar nicht, was dieser Trygve eigentlich von ihr begehrt.

So eigensüchtig ist sie. Sie wird sogar böse auf ihn, dem sie Unrecht zufügte.

„Ach, Trygve!“ ruft sie plötzlich. „Das ist ja lächerlich! ... Ein eifersüchtiger Mann!“

Und dann fragt sie: „Hast du denn gar kein Vertrauen?“

Auf einmal lacht er. „Hahaha!“ lacht er in Hohn und Feindseligkeit.

„Du lachst?“ fragt Jofrid. „Also nicht ... Nun, wie du willst ... Lache du ...“ Ja, das wird doch ein ganz schlimmes Gespräch.

„Und du hast ihm nur die Hände so auf die Schulter gelegt, wie? — Nein, Liebe, jetzt bist du aber hinreissend komisch.“

Dieser unglückselige Trygve — nicht einmal im heiligsten Zorn gelingt es ihm, grosse und ergreifende Worte zu finden. Er vermag es nicht, Jofrids Herz zu rühren. Nein.

Sie dreht sich ihm jetzt zu: „Wenn du es so meinst ... ja, dann hat alles andere keinen Sinn mehr ...“

Darauf schweigt sie. Sie schweigt abwesend und ohne sich Zwang anzutun, verbissen, gehässig. Grosser Himmel, wie sie schweigen kann!

Wie aber sollte Trygve dieses Benehmen begreifen? Hätte er nicht zum mindesten ein wenig Reue und Demut erwarten können? Soll er denn beides auf einmal verlieren, die Liebe und die Achtung? Und warum in des Herrn Namen soll ihm dieses denn angetan werden?

Er vermag seinen grossen Zorn nicht länger einzudämmen. Er ruft: „Ist denn das deine Meinung? ... Du betrügst mich und verspottest mich dazu! Hast du denn kein Herz im Leibe?“

„Nein — aber Trygve! — Was sagst du da? ... Hör endlich auf! Warum plagst du mich?“

„Ich frage, und du antwortest: ‚Nein — nicht — nein’. — Gut! Ich werde Olav selber fragen ...“

„Gut. Frag ihn selber ...“

Und damit war dieses Gespräch zu Ende.

Und damit war dieses Glück zu Ende. Es währte ein Jahr. Und es war ein grosses Glück. Es reichte bis zu den Sternen. Dann zerbrach es.

Die Wendung kam Trygve so überraschend, dass sie ihn im ersten Augenblick betäubte. Der eigentliche Schmerz kroch erst allmählich hinterher. Eine Schlange mit vielen Widerhaken. Eine Schlange, die sich um Trygves Seele windet und sich mit grausamer Gemeinheit mehr und mehr eingräbt.

Trygve erreicht die enge, sehr tiefe Schlucht, die man Porten nennt. Es führt nur dieser einzige Pfad nach dem schwarzen Ur. Ein Baumstamm liegt über der Schlucht, der dient als Steg. Er liegt seit einem Menschenalter da und ist morsch geworden.

Man könnte hier, wenn man eine Absicht hätte, ein wenig nachhelfen. Man könnte den Baumstamm an einem Ende um ein paar Fingerbreit verschieben. Dann würde er sich sozusagen fast von selber drehen. Und wenn ein Mensch darüberschritte, würde der Baumstamm sich ganz gewiss drehen. Und der Mensch müsste in die Tiefe sausen, durch einen schwarz vereisten Schlund, über glasglatte Felsen.

Ja, er würde in sehr verändertem Zustande unten im Fjord anlangen. Und dieser Mensch könnte hinfort kein Gegner mehr sein, kein gefährlicher Rivale mit Märchenaugen und einem überwältigenden Zauberglanze über sich. Ein solcher Mann könnte ganz gewiss keine junge Frau mehr verhexen und kein Glück mehr zerstören.

Trygve hat heute seltsame Einfälle. Sein Sinn ist ganz und gar verblendet.

Aber wenn nun zum Beispiel Olav Arnevik in dieser Nacht hier ausglitte und den grossen Sturz tun würde, dann wäre das nichts weiter als ein gewöhnlicher Unglücksfall. Niemand würde sich darüber wundern und aufhalten.

Doch das könnte immerhin keine Klarheit schaffen. Olav könnte dann keine Frage mehr beantworten. Trygve will jedoch Antwort haben. Er will in dieser Nacht noch die Wahrheit ergründen. Jetzt weiss er sie nicht und ist im Zweifel. Und der Zweifel, meint er, sei das Schlimmste und Gefährlichste von allem.

Trygve weiss wohl, dass etwas geschehen. Aber er weiss nicht, was geschah. Ja, er meint, die nackte Gewissheit müsse leichter zu ertragen sein als die falsche Zuversicht. Darum soll dieser alte Baumstamm gut und zuverlässig über dem schwarzen Schlunde liegenbleiben.

Weshalb Trygve nun alle diese seltsamen Einfälle hat? Es ist so, als würden sie ihm ins Ohr geflüstert. Sie kommen ungerufen zu ihm. Da wäre zum Beispiel eine andere Stelle: Der Weg biegt schmal und scharf um eine Felswand, Wurzeln und Gestrüpp hängen bis tief herab. Man könnte hier also sehr leicht ein Stücklein Wurzel ausbrechen und oben darauf einen schweren Stein legen, oben auf der abschüssigen Fläche. Man müsste das untere Ende der Wurzel so weit niederhängen lassen, dass es den Weg ein klein wenig versperren würde. Wenn ein Mensch vorbei wollte, müsste er die Wurzel verschieben. Und dann würde der Stein ihm ganz von selber auf den Kopf fallen.

Haha! Trygve kennt sie gut, diese Art Künste. Hat er denn nicht manche Falle gestellt hier an diesem Berge und Fuchs und Wolf überlistet? ... Ein schweres Dach aus Torf und Steinen, das nur auf der Rundung eines kleinen Holzes ruht; das Holz lässt sich leicht verschieben. Ein Sperling kann es mit seinem Schnabel. Und wenn es verschoben wird, bricht das Dach ein ...

Zum Pokker! Wie stellen sich doch die Menschen zumeist dumm und plump an, wenn sie einen anderen Menschen beseitigen wollen: Gift und Dolch und Kugel und Spektakel — haha ... Diese Kannibalen und Urwaldmenschen!

Trygve aber, der Sohn König Eivinds und der schönen blassen Frau Dagmar, hat mehreres: Leidenschaft und auch Phantasie, Klugheit und Gemüt. Und därum muss er jetzt für zwei oder für vier leiden und ist wirr im Kopfe vor allzugrosser Qual.

Trygve hat viele Jahre lang gewartet auf Jofrid. Sie wurde ihm endlich gegeben. Der, der sie ihm nehmen will, wird sein Feind in alle Ewigkeit — und ob es gleich Olav Arnevik wäre.

Das schwarze Ur ist eine ungeheure Geröllhalde. Grosse und kleine Blöcke haben sich im Laufe der Zeit von der Südostflanke des Helleberges gelöst und rollten den Hang hinunter. Einige kamen wohl mit einem Schwunge in den Fjord. Andere aber wurden in ihrem Laufe aufgehalten, blieben liegen, wurden von anderen begraben. Heute türmt es sich übereinander wie eine unbegreifliche Verwirrung aus Stein. Eine versteinerte Unbegreiflichkeit.

Felsblöcke, mächtig wie Kirchen, ruhen auf Flächen, die nicht grösser sind als ein paar Kinderhände. Sie werden durch ein himmlisches Wunder im Gleichgewicht erhalten. Sie haben vieles gemein mit den grossen Lügen des Lebens.

Sie bilden unter sich ein Labyrinth von Gängen und Höhlen. Seit Jahrhunderten hat sich ein weicher Moosteppich darüber ausgebreitet und verschliesst tückisch die Öffnungen.

Oft verschwinden hier Schafe und Kühe, die sich hinauswagten von den wenigen sicheren Pfaden, welche der Mensch und das Wild gefunden, das Ur zu überqueren.

Warum nun gerade hier eine Sennhütte steht? Das weiss man nicht. Vielleicht ist es wegen der guten Quelle, deren Wasser nie versiegt und im Sommer kalt, im Winter aber warm ist.

Herr Eivind hat diese Hütte erbaut. Herr Eivind wollte alles anders und auf seine eigene Art machen. Und wenn er es nach seinem Willen gemacht hatte und die Menschen sagten, es sei töricht oder verrückt, dann war er zufrieden und freute sich.

Doch diese Hütte stand schon manches Gottesjahr, und kein Stein traf sie. Sie steht auch heute noch und gleicht einem Felsblock, und nicht einmal einem von den bedeutenden. Sie ist schon vor langer Zeit grau geworden, und die weiche Moosdecke hat sich auch über sie hingelegt. Auf ihrem Dache wächst Gras und ein paar elende Krüppel von Birken.

Wenn der Wind schweigt, hört man tief unter den Felsen ein wildes Wasser rauschen. Ein verborgener Fluss, der aus dem Helleberg hervorbricht, aber an keiner Stelle das schwarze Ur verlässt und die Freiheit gewinnen kann. Dort regt sich das geheimnisvolle Leben unter der Zerstörung.

Heute rauscht es vielleicht etwas lauter als sonst. Das kommt wohl daher, dass die Stille am Berg so ungewohnt tief ist. Sogar Trygve beachtet diese verstärkte Stimme des verborgenen Wassers. Er, der doch heraufgezogen ist, um Gerichtstag zu halten und dessen Blut heute so mächtig rauscht.

Er bleibt stehen, nimmt das Gewehr vom Rücken und beginnt ein leises Gespräch.

„Jofrid!“ sagt er zu sich selber. „Hast du vielleicht je solche Augen gesehen? Oder gibt es auf fünf Meilen im Umkreis dieses seidenweiche Haar? — Nein, bei Gott! ... Aber bleich war sie und schwach in den Knien und ganz anders als sonst — wie nach einer Krankheit ...“

Die Tür zur Hütte ist sehr niedrig. Man muss sich tief bücken. Trygve klopft den Schnee von den Schuhen und legt Rucksack und Leinenjacke ab. Er zieht auch nach alter Gewohnheit im Vorraum die Schuhe aus. Das Gewehr aber nimmt er mit in die Stube hinein.

Er macht Feuer auf dem Herd. Er sitzt auf der Bank neben dem kleinen Tisch, nicht anders als ein gewöhnlicher Jäger. Er schaut den gelben Flammenzungen zu, wie sie spielend über die Birkenscheiter lecken. Weiche, zarte, sehr flinke Zungen — keine Zähne; aber sie zernagen und fressen das Holz und heulen und knurren in Wollust. Zuweilen brechen sie in ein lautes Gelächter aus. ...

Wie soll man hingegen das erklären, dass ein junges Weib so völlig ohne Herz sein kann? Hat Trygve ihr denn nicht gedient mit Geduld und Beständigkeit und in treuer Liebe? — Olav hingegen ist von ihr gegangen ...

„Mir wird es zu eng hier“, sagt Olav eines Tages. „Immer dieselben Gesichter“, sagt er, „immer dieselben Berge ... nur eine einzige Strasse ...“

Olav schwingt den Hut und besteigt das Schiff. —

Vorgestern kam er wieder zurück und brachte Unglück über Lisät. ...

Das Feuer auf dem Herd brennt unnütz. Trygve kocht sich kein Essen darauf. Er legt sich ins schmale Bett an der Wand. Und nun braucht er also nicht einmal die Wärme des vergeudeten Feuers. Er faltet wie zum Gebet die Hände unter dem Kopfe und denkt und denkt.

Im kleinen Fenster steht die leere Nacht. Die Zeit geht. Das Feuer wird nicht überdrüssig, zu singen, zu brummen und vor sich hinzulachen. In grosser Tiefe rauscht unermüdlich das verborgene Wasser.

Trygve denkt nun: Ich werde ihn ganz einfach fragen: „Was war das?“ — Und wenn er noch immer der Bursche ist, wie ich ihn kenne, wird er mir ins Gesicht schauen und antworten, denn er fürchtet nichts zwischen Himmel und Erden ...

Und darüber schläft Trygve ein.

Ein Traum weckt ihn. Er sieht sich in der Hütte um. Auf dem Herd liegt nur noch ein Häuflein Asche, unter der sich ein wenig Glut verbirgt.

Über die Stubenwand aber streicht ein rötlichgelber Schein. Und das ist nicht der Mond, sondern Laternenschein. Und das ist auch niemals Olav Arneviks Art gewesen, mit der Laterne in den Berg zu gehen.

Nein, der da kommt, das ist der alte Oswald.

Der ewige Berg

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