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Geschenk-, Spionage- und Auftragsorgeln
ОглавлениеWir kehren noch einmal in etwas frühere Zeiten zurück, zunächst in die des Übergangs von der Spätantike zum Frühmittelalter. Dort nämlich ist die Rede von einem Brief des Ostgotenkönigs Theoderich an seinen Kanzler Boethius, in dem es um eine Orgel geht. Abgeschickt wurde der Brief im Jahre 508, erhalten ist er in einem Werk von Cassiodor mit dem Titel Variae, also »Verschiedenes«, das der Verfasser der Geschichte der Goten im Auftrag von Theoderich in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts gesammelt hatte. Der Brief sollte also authentisch sein, jedenfalls lässt sich keine größere Autorität zur Verbürgung denken.
Besonders aufschlussreich ist er allerdings nicht. Denn der große König, der seinen Kanzler Boethius zuletzt aufgrund von wohl falschen Anschuldigungen umbringen ließ (wobei im Kerker ein Werk der Weltliteratur entstand: die Consolationes), schmeichelt diesem nicht nur mit dem Hinweis auf seine Griechischkenntnisse, sondern auch damit, dass er ein großer Erfinder sei, womit einmal mehr Automaten gemeint sind: Wasserkünste und Feuerwerke, Kriegsmaschinen und ein Planetarium, trompetende Standbilder und singende Vögel – schließlich eine Wasserorgel mit »fremden« Stimmen. Von Theoderich stammt das alles nicht, wobei ohnehin anzunehmen ist, dass es ein Höfling aufgesetzt hat. Der aber muss sich bei der Ktesibios-Tradition bedient oder Kenntnisse aus Konstantinopel besessen haben.
Von Theoderich selbst aber dürfte die eigentliche Idee des Orgelbaus stammen. Boethius nämlich möge bitte solche Automaten, einschließlich einer Wasserorgel, herstellen, um sie dem Burgunderkönig Gundobad als Geschenk zu übermitteln. Damit lasse sich erreichen, was Waffen nicht erreichten. Nebenbei müssten die Burgunder die Überlegenheit derer anerkennen, die solche Automaten herzustellen in der Lage seien. Ja, sie würden so staunen, dass sie es nicht wagten, sich als ebenbürtig anzusehen. Politisch passt dies in die ausgehende Zeit der Völkerwanderung, als sich die verschiedenen germanischen Stämme, die das Römische Reich besiegt hatten, nun untereinander zu arrangieren versuchten. Dabei floss sehr viel Blut, auch Theoderich war in dieser Beziehung kein Waisenknabe, hatte Odoaker als Nachfolger des letzten römischen Kaisers Augustulus mit eigener Hand in Ravenna ermordet. Mit den Burgundern suchte er einen weniger blutigen Ausgleich, weil er einen Bundesgenossen gegen die Franken unter Chlodwig brauchte, die selbst wieder mit den Westgoten kämpften, die Theoderich unterstützte. Gundobad hatte gerade mit Chlodwigs Hilfe westgotisches Territorium erobert und sollte nun in gewisse Schranken verwiesen werden.
Und siehe da: Da war die Sache mit den Automaten, die Eindruck machten. Gundobad würde schon einknicken und nicht auf dumme Gedanken kommen, wenn er so etwas als Geschenk erhielt. Leider ist die Geschichte nicht zu Ende erzählt. Wir wissen aus anderen Quellen, dass Gundobad tatsächlich kooperierte, aber nicht, ob Boethius dabei mit seinen Automaten geholfen hat. Bauen konnte er das Gewünschte kaum, aber besorgen? Vielleicht auf diplomatischen Kanälen, denn die Beziehung zu Konstantinopel war auch in Theoderichs Ravenna längst nicht abgebrochen. Interessanterweise scheint der Aspekt der Herrscherakklamation keine Rolle gespielt zu haben. Vogelgezwitscher und Töne ohne Vögel und Bläser sollten reichen. Ob Theoderich damit jedoch einen so machtbewussten König wirklich erweicht hätte? Ob da nicht die Passage mit der Überlegenheit von Frieden über Krieg die entscheidende Rolle gespielt und das Brimborium mit den Automaten ins Spiel gebracht hat? Also etwas für Intellektuelle wie Cassiodor, der daraus eine hübsche Story machte?
Es gibt zwar keinen weiteren Brief dieser Art, dafür aber ein nun wirklich erfolgtes Orgelgeschenk in diplomatischem Dienst. Diesmal ging es von Konstantinopel selbst aus, von Kaiser Konstantin V., und richtete sich 757 an den Franken Pippin den Jüngeren (gest. 768), den Vater von Karl dem Großen. Pippin hatte im Frankenreich die Herrschaft der Merowinger beendet und sich 751 zum König ausrufen lassen. Als der Papst, von den Langobarden bedrängt, Pippin um Hilfe bat, zog dieser 755 nach Italien und sicherte dem Papst die weitere Herrschaft über Rom. Fast gleichzeitig gab es Wirren in Konstantinopel, und auch dessen Kaiser Konstantin V. wandte sich an Pippin bzw. schickte eine Gesandtschaft mit einem Hilfegesuch nach Compiègne. Genau dieses Hilfegesuch aber war mit dem Geschenk einer Orgel verbunden. Näheres über die Orgel ist nicht bekannt, außer dass das Instrument über mehrere Bälge und über Pfeifen aus »Erz« verfügte. Man kann nur annehmen, dass der hohe Wert das mit dem Geschenk verbundene Eheangebot unterstützen sollte. Aus einer Ehe wurde nichts, aber der Eindruck der Orgel war groß, insofern als es mehr als zwanzig zeitgenössische Berichte darüber gibt, in einigen Annalen ist es das einzige Ereignis, das für 757 festgehalten wurde (schönste Formulierung: »Venit organum in Francia«, »So kam die Orgel im Frankenreich an«). Aber irgendwie verpuffte die Wirkung, über Verwendung und Verbleib gibt es nicht die geringste Information.
Ähnliches gilt für das Eintreffen der nächsten Orgel nebst weiteren Automaten im Frankenreich im Jahre 812, wieder vom kaiserlichen Hof in Konstantinopel stammend, und zwar für Pippins Sohn Karl den Großen, seit 800 Kaiser des Römischen Reiches. Diesmal allerdings handelte es sich nicht um ein Geschenk, sondern um das nötige Utensil zur Ausführung der Akklamation, die die anwesenden Franken wohl erstaunt erlebten. Notker der Deutsche, der den Fall ausführlich, allerdings auch fast 200 Jahre nach dem Ereignis schildert, sagt etwas über die Blasebälge aus Rindshaut und einen ehernen Behälter, über das abwechselnde Donnergrollen, die Sanftheit der Leier und die Süße von Zimbeln, was alles von den Pfeifen ausgegangen sein soll, bemerkt aber auch ausdrücklich, dass die Gesandtschaft das Instrument nach Erfüllung ihrer Aufgabe wieder mitnahm. Dabei hatte diese Orgel nicht nur Aufmerksamkeit hervorgerufen, sondern auch Spionage: Karls Handwerker, so Notker, hätten das Instrument klammheimlich nachgebaut. So gab es nun eine Orgel im Frankenreich, die vermutlich nichts anderes war als das typische Akklamationsinstrument des byzantinischen Hofes. Niemand weiß, was man mit dem illegalen Nachbau in Aachen anfing.
Die nächste Nachricht lautet, dass diesmal der Sohn des großen Karl, Ludwig der Fromme, 826 einen eigenen Orgelbau in Auftrag gab. Man hatte nach dem Bericht von Einhard, also einem zeitgenössischen Beobachter, mit dem wohl griechischen Priester Georgios einen Spezialisten in Venedig gefunden, der so etwas beherrschte. Wenn andere Zeugnisse stimmen, war es eine Wasserorgel (»organum, quod graece hydraulica vocatur«, »ein Organum, das auf Griechisch Hydraulica heißt«). In diesem Fall ist aber auch die Verwendung bekannt, jedenfalls wenn man einem Loblied des Dichters Ermoldus Nigellus auf Ludwig den Frommen glauben mag. Denn dieser Ermoldus betrachtet die Orgel als Herrschaftszeichen und sieht im Besitz des fränkischen Kaisers in Aachen die Tatsache belegt, dass Westrom Ostrom den Rang abgelaufen hat. Wie es ein Dichter eben ausdrückt, ist sogar die Rede davon, dass Byzanz vor den Franken »den Nacken beuge«. Bislang sei der Orgelbesitz »der einzige Grund gewesen, sich dir, Caesar, überlegen zu fühlen, aber nun hast du mit dem Instrument in der Aachener Palastaula selbst eines«, heißt es, woraus auf jeden Fall hervorgeht, dass das Instrument nicht in der Kirche, sondern im Palast stand.
Im Übrigen ist wieder völlig offen, was genau mit dieser Orgel geschah. Trotzdem spannen sich um die Geschenk-, Spionage- und Auftragsorgeln nicht nur im Mittelalter allerlei Gerüchte, wenn man denn Notkers Begeisterung etwas nüchterner betrachtet. Moderne Historiker aber machten daraus noch viel phantasievoller die Rückkehr der Orgel in den Westen, wo sie schon immer hingehörte und nun ihren angestammten Platz in der Kirche fand – wobei weder von angestammt noch von Kirche die Rede sein kann. Noch sind wir viel zu weit von diesem entscheidenden Schritt oder auch Quantensprung entfernt, fast ein halbes Jahrtausend.