Читать книгу Die Orgel - Karl-Heinz Göttert - Страница 7
Philosophen, Historiker und Theologen
ОглавлениеRund 20 Jahre vor Vitruv und ein ganzes Jahrhundert vor Heron gibt es einen Hinweis, der klar bezeugt, dass Wasserorgeln verbreitet waren und dass sie es als Musikinstrumente waren. Zeuge dafür ist einer der kenntnisreichsten und nebenbei der am vollständigsten überlieferte Autor der antiken Welt: Cicero. Als der sich in den Gesprächen von Tusculum mit seinen philosophischen Kontrahenten herumstreitet, kommt er auch auf seine Lieblingsgegner zu sprechen, die Epikureer. Die vertreten die Auffassung, dass es Götter geben mag, dass diese aber weit weg leben, sich nicht um die Menschen kümmern, weshalb es das Beste sei, sich in den schwierigen Weltläuften zurückzuziehen und möglichst viele Vergnügungen zu nutzen. Später wurde dies als »Lust« übersetzt, was den Epikureern einen ziemlich üblen Ruf beschert hat, zum Beispiel in der wenig schmeichelhaften Vokabel der »epikureischen Säue«.
Cicero reagiert weniger aggressiv, schreibt von Genüssen, die vom Geschmack stammen, vom Liebesgenuss und Hören von Gesängen sowie allem, was den Augen angenehm ist. Aber Cicero ist auch der Ansicht, dass man damit nicht zum »höchsten Gut« als wirklich ernsthaftem Lebensziel vordringen könne, und unterstreicht dies durch den Rat, einem Trauernden lieber ein sokratisches Buch zu geben als eine Delikatesse. Worauf die ganz offensichtlich rhetorische Frage folgt: »Du wirst ihn eher ermahnen, sich eine Wasserorgel (»hydraulis«) anzuhören als die Stimme Platons?« Eben, natürlich nicht. Aber eben auch: Wasserorgeln müssen ganz hübsch geklungen haben, wenn sie zu den Genüssen zählen, die als Alternative infrage kamen. Zu musikalischen Genüssen! Natürlich weiß man damit immer noch nicht, wie eine Wasserorgel geklungen hat. Aber man weiß, dass sie im Privatleben eine Rolle spielte – als Musikinstrument.
Dies bezeugt auch der schon genannte Athenaios im 2. Jahrhundert n. Chr. in seinen Philosophischen Gesprächen. Die Stelle ist kostbar und soll etwas ausführlicher zitiert werden: »Während dieser Unterhaltung hörte man in der Nachbarschaft den angenehmen und entzückenden Klang einer Wasserorgel ertönen, sodass wir alle in unserer Aufmerksamkeit abgelenkt wurden, bezaubert und gefangen genommen von den herrlichen Klängen. Und Ulpian sagte, indem er sich an den Alkeides als Musikverständigen wandte: Hörst du, großer Musikus, diese schöne akkordreiche Musik (»symphonias«), welche uns alle wie durch Zaubergewalt von unserm Thema abspenstig macht und die nicht wie bei euch Alexandrinern euer ewiges einstimmiges Flötengequietsche (»monaulos«) den Zuhörern Ohrenschmerzen anstatt eines musikalischen Genusses verschafft?« Worauf noch der Hinweis auf Ktesibios als Erfinder folgt (samt Hinweis auf dessen Frau als erste Organistin) und eine kurze Erläuterung des Mechanismus unter Verwendung der durch Wasser komprimierten Luft. Klar, dass uns hier der so seltene Aspekt der erklingenden Musik mehr interessiert und uns Genaueres darüber lieber gewesen wäre als die eher schwärmerische Beschreibung. Fest steht auf jeden Fall, dass die Wasserorgel im privaten Umfeld als Musikinstrument eingesetzt wurde.
Daneben ist allerdings ein anderer Einsatz ebenso deutlich belegt. Wir können es nachlesen bei Sueton, dem Verfasser von zwölf Biographien römischer Kaiser von Cäsar bis Domitian, erschienen um 120 n. Chr. Anders als Historiker wie Livius oder Tacitus kam es Sueton nicht auf geschichtliche Zusammenhänge oder gar deren Deutung an, sondern auf Unterhaltsames, Anekdotisches – man könnte auch von Klatsch und Tratsch sprechen. Genau deshalb aber wissen wir etwas über die Verwendung der Wasserorgel in der damaligen Zeit. Denn bei der Darstellung von Nero berichtet Sueton ausführlich über dessen besondere Liebhaberei, die er selbst als höchst ernsthaft ansah: sein Auftreten als Sänger. Nichts habe ihn so aufgeregt wie Spott in dieser Richtung, besonders durch seinen politischen Widersacher Vindex, der ihn bei einem Aufstand militärisch bedrohte. Statt darüber dringend notwendige Gespräche zu führen, habe er seinen Beratern ausführlich neuartige Wasserorgeln (»organa hydraulica«) gezeigt, ihre Technik genau dargelegt und erklärt, er selbst wolle sie zu gegebener Zeit im Theater spielen, falls es – ha, ha, ha – Vindex erlaube. Und noch einmal ist bei Sueton von diesem Vorhaben die Rede. Am Ende seines Lebens habe Nero geschworen, im Falle eines Sieges bei einem entsprechenden Fest selbst als Organist im Theater aufzutreten – allerdings auch als Flötenspieler und Tänzer.
Weil Nero immer wieder für das Auftreten der Orgel im Zirkus geltend gemacht wird (womöglich als Untermalung bei der Hinrichtung von Christen, was natürlich einen ungemein schauerlichen Kontrast zum späteren Auftreten in der Kirche darstellt), hier der Hinweis, dass es eine Quelle gibt, nach der Wasserorgeln tatsächlich auch im Zirkus Verwendung fanden. Diese Quelle ist aber nicht Sueton mit seinem Bericht über Nero, sondern der Dichter Petronius in einer seiner Satiren. Dort ist die Rede von einem etwas merkwürdigen Vorschneider des Bratens, der seine Aufgabe mit allerlei Mätzchen verrichtete – und dann heißt es: »wie ein Gladiator im Zirkus zum Klang der Wasserorgel zu kämpfen pflegte«.
All das ist letztlich sehr wenig, sagt eigentlich nur, dass Wasserorgeln neben ihrem Spiel im privaten Umfeld im Theater und im Zirkus verwendet wurden – immerhin überall dort als Musikinstrument. Wie diese Verwendung genauer aussah, bezeugen die Texte nicht. Dafür gibt es eine interessante Nachricht in einer Inschrift aus dem Jahre 90 v. Chr., die 1881 in Delphi gefunden wurde. Dort ist die Rede von einem Organisten namens Antipatros aus Eleutherna auf Kreta, der aus einem zweitägigen Musikwettspiel als Sieger hervorging. Er erhielt als Preis eine Bronzestatuette, die erwähnte Inschrift am Apollotempel und auch noch eine Art Ehrenbürgerrecht der Stadt, was mit Vergünstigungen beim Befragen des Orakels verbunden war. Was dieser Antipatros auf welcher Art von Orgel gespielt hat, ist völlig offen. Aber wenn die Inschrift irgendeinen Sinn hat, dann doch den, dass sich auf Orgeln mehr oder weniger virtuos musizieren ließ. Mochten Vitruv und Co. über Automaten schreiben: Diese Automaten hatten eine Funktion. Man konnte Kunst mit ihrer Hilfe hervorbringen, musikalische Kunst. Reines Gequietsche kann es nicht gewesen sein. Auch für bloße Sirenentöne hätte es kaum einen Preis gegeben.
Wir sind damit noch immer in der klassischen Antike, im 1. vor- und im 1. nachchristlichen Jahrhundert. Zu ergänzen wäre für diese Zeit noch der Beleg bei Plinius dem Älteren, der in seiner Naturgeschichte (1. Jahrhundert n. Chr.) die Erfindung der Wasserorgel des Ktesibios zu den größten der Antike überhaupt zählt, direkt neben dem Bau des Tempels der Diana in Ephesus oder der Anlage des Stadtplans von Alexandria. Interessant wird der Übergang zum Christentum, weil man sich natürlich die Frage stellt, ob die Hydraulis irgendwie und irgendwann in Kirchen auftaucht. Sagen wir es so deutlich wie möglich: Dafür gibt es nicht den geringsten Beleg. Gerade die frühen christlichen Autoren behandeln die Orgel in völlig anderen Zusammenhängen.
Nehmen wir eine Erwähnung der Hydraulis, die regelmäßig in Grußworten von Bischöfen auftaucht, wenn heutzutage Orgeln eingeweiht werden – gewissermaßen als Beleg für die Anfänge der Orgel in der christlichen Kirche. Aber die schöne Berufung steht auf mehr als wackligen Füßen. Es geht um den frühen lateinischen Kirchenvater Tertullian, der um 150 n. Chr. in Karthago als Sohn eines römischen Offiziers geboren wurde und Karriere als Rechtsanwalt machte. Irgendwie war er Christ geworden, verteidigte in Zeiten der Verfolgung das Christentum in zahlreichen Werken, ohne jedoch ein Amt etwa als Bischof anzustreben oder es zu erhalten. In der heutigen Ausgabe seiner Schriften (Paris 1879) wird er als »Presbyter carthaginensis« geführt. Neben etwas eigenartigen Texten wie dem gegen die Putzsucht der Frauen oder den Theaterbesuch der Männer handelt ein Traktat von der Seele (De anima).
Nachdem Tertullian seine Gelehrsamkeit unter Beweis gestellt hat und brav die verschiedenen Gliederungen der Seele bei den wichtigsten Philosophen wie Platon oder Zenon aufgezählt hat, bekennt er sich zur Fünfzahl der seelischen Vermögen bzw. den fünf Sinnen: also Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen, Riechen. Danach sucht er nach einem passenden Vergleich, wohl um hervorzuheben, dass etwas so Kompliziertes wie die Ausstattung des Menschen mit diesen verschiedenen »Sinnen« durchaus funktionieren kann. Und diesen Vergleich findet er bei der Hydraulis (»organum hydraulicum«). Alle ihre Glieder, Teile, Stücke, alle ihre verschiedenen Stimmen, Töne, Weisen einschließlich der »Schärfe der Flöten« (»acies tibiarum«) würden schließlich »ein Ganzes« (»una moles«) bilden. Die vom Wasser zusammengepresste Luft führe auf ihren komplizierten Wegen zu einem einzigen Ergebnis. Genauso sei es mit der Seele: Wie der Wind im Rohr durch die Höhle, so komme durch die verschiedenen Sinne der Gesamteindruck zustande, nicht zerhackt, sondern in guter Ordnung. Punkt und Ende der Ausführungen. Woraus zu entnehmen ist, dass es am Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. Wasserorgeln gab, die so funktionierten, wie es Vitruv oder Heron beschrieben haben. Wie und wo sie klangen, wird nicht gesagt. Übrigens findet Tertullian die Erfindung der Hydraulis so wichtig, dass er sie nicht dem unbekannten Ktesibios, sondern dem hochberühmten Archimedes andichtet, der ja tatsächlich nicht nur ein genialer Mathematiker, sondern auch ein ausgefuchster Techniker war.
Nicht viel mehr bietet der wesentlich bekanntere lateinische Kirchenlehrer Augustinus, Bischof im nordafrikanischen Hippo. Von ihm gibt es zahlreiche Bibelkommentare, darunter die Enarrationes in psalmos, also eine Psalmenauslegung. In dieser Schrift stößt Augustinus natürlich auf den 150. und letzten Psalm, in dem von der Musik im jüdischen Tempel die Rede ist. Augustinus geht penibel jede einzelne Bemerkung durch: das Gotteslob im Allgemeinen, die Zuhilfenahme von »psalterium« und »cithara«, weiter das Lob mit »tympanum« und »chorus«, schließlich mit »chorda« und »organum«. Dabei erfährt man, dass »psalterium« und »cithara« Saiteninstrumente waren. Zum »organum« aber gibt Augustinus die durchaus richtige Information, dass man darunter alle Arten musikalischer »Gefäße« (»generale nomen est omnium vasorum musicorum«) verstehe. Heutzutage aber, auch dies ist korrekt, gebe es die engere Bedeutung von musikalischen »Gefäßen«, die mit einem Blasebalg funktionierten, was für die betreffende Bibelstelle allerdings ausscheide, weil »organum« ein griechischer Begriff sei, dessen Entsprechung in der hebräischen Bibel man nicht klären könne. In der Bibel sei wohl mit »in chordis et organo« ein Instrument (»organum«) gemeint, das Saiten habe, also gerade keine Orgel. Daran schließt sich ein Lob der römischen Hydraulis an, die trotz komplizierten Aufbaus einen einheitlichen Ton hervorbringe, was irgendwie nach Tertullian klingt.
Ob Augustinus einmal eine Hydraulis gehört hat? Und dann eine mit Blasebalg? Nur eines steht fest: Hier schreibt niemand über eine Orgel als Musikinstrument und am allerwenigsten über den Einsatz dieses Musikinstruments in der Kirche. Man kann Augustinus Unsicherheit bei der Interpretation des Psalms attestieren, aber er machte nicht wie im frühen 17. Jahrhundert nach vollzogenem Einzug der Orgel in die Kirche König Jubal, den Enkel des ersten Menschen (so Costanzo Antegnati 1608 in L’arte organica), oder wenigstens König Salomon (wie Michael Praetorius 1619 in seiner Organographia) zum Erfinder. Nein, hier spricht ein an der Orgel wenig Interessierter, es geht um gelehrte Anmerkungen zu einer etwas rätselhaften Bibelstelle. Dabei sind wir am Beginn des 5. Jahrhunderts, als im Römischen Reich Orgeln wohl nur noch im Osten existierten, in Konstantinopel. Dort aber hatten sie eine neue Funktion gewonnen, die im Westen allenfalls vorgebildet war. Die Orgel taucht dort nämlich im Zusammenhang des Herrscherzeremoniells auf. Davon wird noch ausführlich die Rede sein. Zuvor aber ein Blick auf eine ganz andere Quellenart: auf Abbildungen.