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Drei einfache Soldaten

Der französische Kaiser Napoleon schickte im Sommer 1812 mehr als 500 000 Soldaten aus aller Herren Länder nach Russland. Sie kamen aus Frankreich, Italien, Polen, Preußen, Österreich, Baden, Westfalen, Kroatien, aus Württemberg, Hessen, vom Niederrhein, aus den Niederlanden, Bayern, der Schweiz, Portugal und Spanien. Die meisten von ihnen kehrten nicht lebend aus Russland zurück. Sie verhungerten, erfroren, wurden erschlagen, in Gefangenschaft geschleppt. Ihre Namen sind weitgehend vergessen.

Bekannt sind allenfalls die Namen der Marschälle und Generäle. Sie leben als geschichtliche Persönlichkeiten, als Heroen des Untergangs oder des Sieges in der Erinnerung fort. Die Geschichte interessierte sich für Napoleons Feldzüge und Schlachten, seine Taktik und seine Strategie. Die Soldaten blieben dabei aber meist nur Staffage, Komparsen eines weltgeschichtlichen Ringens, anonymisiert in Stärkemeldungen und Verlustlisten.

Doch zumindest einige der einfachen Soldaten des Kaisers haben schriftliche Zeugnisse hinterlassen: Erinnerungen, Tagebücher, Briefe. So auch der Schwabe Jakob Walter. Im Zivilberuf war er Maurer und zu jener Zeit Soldat im 4. württembergischen Infanterieregiment. Das Regiment war Teil des etwa 15 000 Mann starken Kontingents, das sein Landesherr von Napoleons Gnaden, König Friedrich I. von Württemberg, für den Russlandfeldzug stellen musste. Walter war im Jahr 1788 geboren worden, in der Gemeinde Rosenberg in der Nähe von Ellwangen. Er war kriegserfahren, hatte schon an den Feldzügen von 1806 gegen Preußen und 1809 gegen Österreich teilgenommen.

Im Januar 1812 wurde er wieder einberufen. Wenig später marschierten die württembergischen Truppen Richtung Osten, wiewohl zunächst das Gerücht umgegangen war, man werde nach Spanien kommen. Dort tobte seit 1808 ein grausamer Guerillakrieg gegen die französischen Besatzer. Doch anscheinend schreckten Walter und seine schwäbischen Mitstreiter weder der mörderische Krieg auf der Iberischen Halbinsel noch die Tatsache, dass man nach Osten, Richtung Russland, marschierte:

Ungeachtet [der Tatsache dass] keine guten Aussichten [bestanden] war[en] ich und alle Soldaten ganz lustig, sangen und tanzten immer, besonders da über das schöne Würzburger Land die besten Quartiere und Essen und Trinken, besonders des vielen Weins wegen, ganz gut waren, sodass jedem seine Feldflasche freiwillig beim Abmarsch mit Wein und die Taschen mit Gebäck gefüllt wurden.1

Jakob Walter gehörte zu den Wenigen, die im Dezember 1812 wenn schon nicht gesund, so doch noch am Leben, Russland verließen und schließlich glücklich die Heimat wiedersahen. Der Bericht über seine Erlebnisse in Russland gehört zu den eindringlichsten, die Mannschaftssoldaten über dieses Inferno verfasst haben.

Ebenfalls im Frühjahr 1812 griff der Krieg in das Leben des 1787 in Neuerkirch, einer kleinen Gemeinde im Hunsrück in der Nähe von Simmern, geborenen Jakob Röhrig ein. Röhrig war Franzose. Denn im Frieden von Lun ville hatte Österreich im Februar 1801 die Annexion linksrheinischer Gebiete durch Frankreich akzeptiert. Jakob Röhrig lebte seitdem im französischen Departement Mont de Tonnere, Donnersberg. Dessen Präfekt residierte in Mainz. Röhrig war 1807 der Konskription, der Wehrpflicht, unterstellt worden. Da in diesem Jahr der Bedarf der Armee an Rekruten nur gering war, konnte er sich zunächst wieder seinem Zivilberuf widmen, der Ausbildung zum Dorfschullehrer.

Doch im März 1812 sollte auch Röhrig Soldat werden. Denn: „Als die schönste Armee, die je auf den Beinen stand, auszog, um Russland zu bekriegen, da wurde das Innere des Landes von Truppen entblößt, die natürlich wieder ersetzt werden mussten, wenn auch nicht nach der Qualität, so doch nach der Quantität.“2 Mit anderen Worten: Man begann, diejenigen, die in früheren Jahren nicht „gezogen“ worden waren oder bei der Musterung körperliche Mängel aufgewiesen hatten, doch noch zum Dienst heranzuziehen. So kam schließlich auch Jakob Röhrig zu den Soldaten, obwohl ihm die Familie und Bekannte geraten hatten, doch vor der Rekrutierungskommission zu erklären, er habe „keine gute Brust“. Wohl wäre er mit dieser Lüge durchgekommen, denn er kannte einige Mitglieder der Kommission, die ihm geholfen hätten. Doch Röhrig wollte zu den Soldaten, wollte dem Kaiser, den er vergötterte, dienen.

Im Jahr darauf, als Napoleon nach der Katastrophe in Russland eine neue Armee aus dem Boden stampfen musste, wurde Röhrig schließlich als voltigeur, als leichter Infanterist, dem 150. Linienregiment zugeteilt und marschierte nach Sachsen, um an einigen der mörderischsten Schlachten der Napoleonischen Kriege teilzunehmen. Jahrzehnte später schrieb er seine Erinnerungen an die Zeit als Soldat des Kaisers nieder. Sie sind realistisch und unprätentiös und gehören zu den informativsten ihrer Art. Röhrig wird auf den folgenden Seiten deshalb häufig zu Wort kommen.

Die Grande Armée

Größere Heeresabteilungen, die selbstständig auf einem Kriegsschauplatz kämpften, wurden in der französischen Armee mit geografischen Bezeichnungen unterschieden: Armée d’Italie, Armée du Rhin usw. Als man im Jahr 1803 Truppen zur Invasion Englands zusammenzog, hießen sie dementsprechend Armée d’Angleterre. Im August 1805 (nachdem man die Hoffnung auf eine Invasion der britischen Inseln aufgegeben hatte) wurde sie in Grande Armée umbenannt. Das hatte zwar mit ihrer Größe zu tun (ca. 200 000 Mann), war jedoch auch ein Hinweis darauf, dass zu diesem Zeitpunkt nicht klar war, auf welchem Kriegsschauplatz sie eingesetzt werden würde. In der Folge bezeichnete der Begriff Grande Armée meist die Armee, die auf dem Hauptkriegsschauplatz kämpfte und von Napoleon persönlich kommandiert wurde. Der Begriff verschwand nach 1813 aus dem Sprachgebrauch. Die Armee, die Napoleon im Frühsommer 1815 nach Belgien führte, wurde als Armée du Nord bezeichnet. Schon zuvor, im Jahr 1809, war das gegen Österreich operierende Heer Armée d’Allemagne genannt worden.

Auch für einen weiteren Landsmann Röhrigs, den Pfälzer Barbier Jakob Klaus aus Haßloch, brachte das Jahr 1812 eine schicksalhafte Erfahrung. Anders als Röhrig war er, geboren 1788, bei der Losziehung weniger glücklich gewesen:

[Im Jahr] 1807, da bin ich in den Milizenstand aufgefordert [ worden, und hier auf dem Gemeindehaus in Haßloch bin ich 1807, den 22. Jänner, unter das Maß gestellt worden. 1807, den 7. Mai, hatten wir Konskriptionspflichtigen auf das Schießhaus in Neustadt ziehen müssen. Da hatte ich gerade die Nummer 51 gezogen.3

Klaus wurde dem 8. Linienregiment zugeteilt und im niederländischen Venlo ausgebildet. Danach wurde er nach Spanien geschickt, wo er beim 117. Linienregiment fünf Jahre lang diente. Im April 1812, als sich Jakob Walter auf den Weg nach Polen machte und Jakob Röhrig nach Boulogne marschierte, wurde Jakob Klaus vor Alicante schwer verwundet. Nur dem glücklichen Zufall, dass ein Truppenarzt aus seiner Heimat sich seiner aufopfernd annahm, verdankte er die Genesung. Im Dezember 1812 wurde er für untauglich befunden und aus der Armee entlassen.

Ein schwäbischer Maurer, ein Dorfschullehrer aus dem Hunsrück, ein Barbier aus der Pfalz. Sie nahmen als einfache Soldaten an den Napoleonischen Kriegen teil. Ihre Erinnerungen zielten nicht auf ein breites Publikum, sondern waren eher für Familie oder Freunde gedacht. Sie erschienen oft erst Jahrzehnte nach dem Tod des Verfassers. Die Texte spiegeln nicht – wie diejenigen der Generäle oder gar Napoleons Erinnerungen – Ruhmsucht oder Rechtfertigungszwang, sondern zeigen ein weitgehend realistisches Bild des Krieges „von unten“. Exemplarisch soll anhand der Erfahrungen dieser Soldaten der Alltag in der Grande Armée nachgezeichnet werden. Zu Wort kommen dabei jedoch auch andere Soldaten, die unter Napoleon dienten.

Die Memoiren, Tagebücher und Briefe der einfachen Soldaten erlauben es, ihren Alltag in jenen Jahren nachzuvollziehen: die Märsche, die Biwaks, die Einquartierungen, den Hunger, das Plündern, die zerschlissene Kleidung, das Erleben der Schlacht, der Verwundung oder Erkrankung, der Gefangenschaft; aber auch das Heimweh und die Motivation, trotz aller Miseren und Strapazen weiterzukämpfen; die Stunden der Muße oder der Kurzweil; das Verhältnis zu den Offizieren oder zur Zivilbevölkerung; die Heimkehr und das Leben nach dem Krieg.

Napoleons Soldaten

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