Читать книгу Karl Kraus: Ich bin der Vogel, den sein Nest beschmutzt - Karl Kraus H. - Страница 8
III. MENSCH UND NEBENMENSCH
ОглавлениеDas Gefühl, das man bei der Freude des andern hat, ist in jedem Fall selbstsüchtig. Hat man ihm die Freude selbst bereitet, so nimmt man die Hälfte der Freude für sich in Anspruch. Die Freude aber, die ihm ein anderer vor unseren Augen bereitet, fühlen wir ganz mit: Die Hälfte ist Neid, die Hälfte Eifersucht.
Ich begeistere mich für den Ehrenpunkt, seitdem ich die Beobachtung gemacht habe, dass man einer unerledigten Affäre die Befreiung von lästiger Gesellschaft verdankt.
Auch die Dummheit hat Ehre im Leib, und sie wehrt sich sogar heftiger gegen den Spott als die Gemeinheit gegen den Tadel. Denn diese weiß, dass die Kritik recht hat; jene aber glaubt’s nicht.
Gesellschaft: Es war alles da, was da sein muss und was sonst nicht wüsste, wozu das Dasein ist, wenn es nicht eben dazu wäre, dass man da ist.
Man beobachte einmal, wie die anständigen Herren eine Frau grüßen, von der »man spricht«. In dem Gruß ist der abweisende Stolz der Gesellschaftsstütze mit der einverständlichen Kennerschaft des Markthelfers vereinigt. Für beides möchte man ihnen an die Gurgel fahren.
Ich hörte einen angeheiterten deutschen Mann einem Mädchen, das in eine Seitengasse einbog, die humoristisch deklamierten Worte nachrufen: »Da geht sie hin, die Schanddirne!« Es ist nicht anzunehmen, dass je ein Gesetz zustande kommt, welches erlaubt, deutsche Männer niederzuschießen, die mit einem einzigen Wort den vollständigen Beweis ihrer Unnützlichkeit auf Erden erbracht haben.
Die Behörden werden gegen das Publikum erst dann höflich sein, wenn das Publikum sich entschließt, in die Redaktionen der Tagespresse einzutreten. Die Redakteure aber werden erst dann gegen das Publikum aufrichtig sein, wenn es zum Eintritt in die Bürokratie entschlossen ist.
Wenn mich einer ansprechen will, hoffe ich noch bis zum letzten Augenblick, dass die Furcht, kompromittiert zu werden, ihn davon abhalten wird. Sie sind aber unerschrocken.
Ich sehe durch ein Fenster, und der Horizont ist mir durch ein Laffengesicht verlegt. Das ist tragisch. Ich habe nichts dagegen, dass es abscheuliche Gesichter gibt. Aber warum hat es die Optik so eingerichtet, dass ein Mensch einen Wald verdecken kann? Man kann wohl den Menschen wieder durch einen vorgehaltenen Stock verdecken. Aber auf alle Fälle kommt man beim optischen Betrug zu kurz. So dienen die Lichtstrahlen der Vermehrung des Menschenhasses.
Bei gleicher Geistlosigkeit kommt es auf den Unterschied der Körperfülle an. Ein Dummkopf sollte nicht zu viel Raum einnehmen.
Der Mensch denkt, aber der Nebenmensch lenkt. Er denkt nicht einmal so viel, dass er sich denken könnte, dass ein anderer denken könnte.
Gut und Blut fürs Vaterland! Aber die Nerven?
Ich schlafe nie nachmittags. Außer, wenn ich vormittags in einem österreichischen Amt zu tun hatte.
Gerne käme ich um die Konzession zum Handbetrieb einer Guillotine ein. Aber die Erwerbsteuer!
Wenn ich mir die Haare schneiden lasse, so bin ich besorgt, dass der Friseur mir einen Gedanken durchschneide.
Wenn man vom Raseur geschnitten wird, ist man immer selbst schuld. Ich zum Beispiel zucke zusammen, wenn der Raseur von Politik spricht, und die andern werden nervös, wenn er nicht von Politik spricht. In keinem Falle trifft den Raseur die Schuld, wenn man geschnitten wird.
Die ästhetischen Werte des Menschen scheinen bloß die Bestimmung zu haben, uns für eine Lumperei zu kaptivieren. Mich machen sie auf die Gefahr aufmerksam. Und ich würde mich gern von einem Wiener Kutscher überhalten3 lassen, wenn er’s eben nicht mit diesem echten Gemütston täte; und mir von einem italienischen Wirt die Gurgel abschneiden zu lassen, wäre mir ein Vergnügen, wenn’s eben nicht mit diesem träumerischen Augenaufschlag geschähe. Die Unbequemlichkeiten des Daseins nehme ich nur ohne ästhetische Entschädigung in Kauf, und wenn ich schon einen Verdruss habe, will ich mich nicht bei den malerischen Attitüden aufhalten.
Das Malerische und das Musikalische sind Argumente, die mit allen Einwänden fertig werden. Und es gibt Wirkungen auf die Nerven, denen sich der oppositionellste Geist nicht entziehen kann. Wenn alle Glocken läuten, umarme ich einen Gemeinderat.
Hysterische soll man vorsichtshalber vor einer Operation narkotisieren, die an einem andern ausgeführt wird. Und um ihnen jeden Schmerz zu ersparen, auch vor einer Operation, die an einem andern nicht ausgeführt wird.
Narkose: Wunden ohne Schmerzen. Neurasthenie: Schmerzen ohne Wunden.
Nichts kränkt den Pöbel mehr, als wenn man herablassend ist, ohne heraufzulassen.
Gewiss, der Künstler ist ein anderer. Aber gerade deshalb soll er es in seinem Äußern mit den anderen halten. Er kann nur einsam bleiben, wenn er in der Menge verschwindet. Lenkt er die Betrachtung durch eine Besonderheit auf sich, so macht er sich gemein und führt die Verfolger auf seine Spur. Je mehr den Künstler alles dazu berechtigt, anders zu sein, umso notwendiger ist es, dass er sich der Gewandung des Durchschnitts als einer Mimikry bediene. Auffallendes Aussehen ist die Zielscheibe der Betrunkenheit. Diese, sonst verspottet, dünkt sich neben langhaariger Exzentrizität noch planvoll und erhaben. Über den Mann in der Narrenjacke lacht selbst der Betrunkene, über den der Pöbel lacht. Sich absichtlich verwahrlosen, um sich vom Durchschnitt abzuheben, schmutzige Wäsche als ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft tragen, über die Verkehrtheit der Gesellschaftsordnung eine ungekämmte Mähne schütteln – ein Vagantenideal, das längst von Herrschaften abgelegt ist und heute jedem Spießbürger erreichbar. Die wahre Bohême macht den Philistern nicht mehr das Zugeständnis, sie zu ärgern, und die wahren Zigeuner leben nach einer Uhr, die nicht einmal gestohlen sein muss. Armut ist noch immer keine Schande, aber Schmutz ist keine Ehre mehr. »Mutter Landstraße« verleugnet ihre Söhne; denn auch sie ist heute schon gepflegter.
Die verkommenste Existenz ist die eines Menschen, der nicht die Berechtigung hat, ein Schandfleck seiner Familie und ein Auswurf der Gesellschaft zu sein.
Familiengefühle zieht man nur bei besonderen Gelegenheiten an.
Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben.
Das Wort »Familienbande« hat einen Beigeschmack von Wahrheit.
Auch ein anständiger Mensch kann, vorausgesetzt, dass es nie herauskommt, sich heutzutage einen geachteten Namen schaffen.
Ein ganzer Kerl ist einer, der die Lumpereien nie begehen wird, die man ihm zutraut. Ein halber, dem man die Lumpereien nie zugetraut hat, die er begeht.
Es gibt Menschen, denen es gelingt, die Vorteile der Welt mit den Benefizien des Verfolgtseins zu vereinigen.
Wenn man nicht weiß, wovon einer lebt, so ist das noch der günstigere Fall. Auch die Volkswirtschaft soll der Fantasie etwas Spielraum lassen.
Dieser Selbstmord war in einem Anfall von geistiger Klarheit begangen. Die Lebensfrohen überlegen sich’s manchmal; und in solch einem könnten so viele Leben gewesen sein, dass er das eine unbedenklich hingab. Selbstmord kann das Aderlassen einer Vollblutnatur bedeuten. Wer sich so ruhig den Mund von den Genüssen des Lebens abwischt, um ihn für immer zu schließen, hebt sich wohl von den Tafelgenossen ab. Überhaupt werde ich den Verdacht nicht los, dass einer schon ein Kerl sein muss, wenn ihn das heutige Leben zu Fall bringt. Was Feuer hat und einen leichten Zug, verbrennt. Nur Männer ohne Mark und Weiber mit Hirn sind der sozialen Ordnung gewachsen.
Was für ein Freund der Geselligkeit war doch der bayrische König, der allein im Theater saß! Ich würde auch selbst spielen.
3Übers Ohr hauen.