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Vorwort: Ein Gespenst geht um in Europa? Wie man das Kommunistische Manifest heute verstehen kann…
ОглавлениеKarl Marx ist zurück: Nach der Wende 1989/90 wurden in der DDR und dem „Ostblock“ allerorten die Engels- und Marx-Büsten abgebaut, vergraben und versteckt, heute lobt selbst die bildungsbürgerliche „Zeit“ das Erbe eines Geistestitanen – Karl Marx. In Zeiten von Turbokapitalismus und Finanzkrisen liest man sogar in Wirtschaftszeitungen, dass er Recht hatte, wenn er sich in seinen Schriften mit dem tieferen Zweck der politischen Ökonomie, ihren Entwicklungsperspektiven und ihren sozialen Konsequenzen beschäftigte. Es ist mittlerweile gesellschaftlicher Konsens, Marx als einen der einflussreichsten und streitbarsten Denker des 19. Jahrhunderts zu betrachten.
So viel Lob und Anerkennung hat Marx zu eigenen Lebzeiten nie erhalten. Er galt als persona non grata, war unerwünscht im eigenen Land und ständig auf der Flucht. Schließlich fand er ein Exil in London, wo er am 14. März 1883 auch starb.
Das Besondere an der Arbeit von Marx war, dass er bei der Analyse der Ökonomie die von ihr geschaffenen sozialen Verhältnisse berücksichtigte. Marx war ein moderner Denker. Für ihn waren es nicht – wie nach einem verbreiteten Diktum der Vormoderne – die metaphysischen Dinge, die die Gesellschaft antrieben, sondern das konkrete Handeln der Menschen. Nicht Gott und seine Vorsehung, Schicksal oder Zufall, sondern die Realität von Konflikten und Kämpfen bestimmten das irdische Sein. Damit rückten handfeste Phänomene wie Klassenkampf, soziale Ungleichheit, Geld, Kapital, Konkurrenz, Eigentum, Arbeit und Produktivkraft in den Blick von Marx, seinem Freund Engels und anderen Sozialisten.
Marx war einer der Ersten, die das revolutionäre Potential in der Herausbildung der modernen Welt des 19. Jahrhunderts erkannten. Die Moderne war für ihn – gemäß seiner historisch-materialistischen Perspektive – vor allem durch die allseitige Durchdringung der Welt mit dem System des Kapitalismus geprägt. Was für Auswirkungen dieses System hat, beschrieben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest sehr genau. Bereits 1848, dem Jahr der Veröffentlichung dieser Schrift, erkannten beide ein Phänomen, das uns heute intensiver beschäftigt denn je: die Globalisierung, von Marx damals als „Weltmarkt“ bezeichnet.
Das Kommunistische Manifest beschreibt viele der Entwicklungen, die der Kapitalismus mit sich bringen würde. Geradezu prophetisch wirken die Prognosen der beiden Querdenker bezüglich der Urbanisierung, der Ausbreitung der Kinderarbeit, der permanenten Krisenanfälligkeit des Systems und der Erweckung immer neuer Bedürfnisse, „welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen.“ Sozialer Wandel ist das große Thema des Manifests, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die letzten Jahrhunderte von einem rapiden Entwicklungstempo getrieben waren. Damit war auch das Vergehen von Traditionen und altbekannten Gewohnheiten verbunden. Die Dynamik des Kapitalismus bedeutete immer auch die Vernichtung des Alten. Neue Formen der Kommunikation würden selbst „die barbarischsten Nationen“ an die kapitalistische Zivilisation anschließen – ein Gedanke, der die spätere Globalisierung vorwegnimmt. Die politischen Konsequenzen sahen Marx und Engels deutlich vor sich: den unvermeidlichen Machtverlust der nationalen Regierungen und die Verwandlung der modernen Staatsgewalt in einen „Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“.
Aber nicht alle Prognosen erwiesen sich als zutreffend: die Revolution des Proletariats blieb aus. Die später getroffene Prognose einer „sozialistischen Revolution“, die angeblich mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses eintreten sollte, fand gerade nicht in den Zentren des Kapitalismus statt, sondern lediglich an seiner Peripherie: in Russland, China, Kuba, Vietnam. In der von Marx und Engels beschriebenen Form fand sie aber weder 1917 in Russland noch im sich nach 1945 bildenden „Ostblock“ statt. Die Entfaltung des Kapitalismus brachte zwar deutliche Unterschiede zwischen Arm und Reich hervor, aber die "Klassengegensätze" verschärften sich nicht zum Klassenkampf, sondern verschwammen und fanden ihre Entsprechung in der Konfrontation des Kalten Krieges.
Man kann das Manifest heute ohne ideologischen Ballast lesen: als historische Quelle, als soziologische Beschreibung – und natürlich als Anregung, die Funktionsweise der Gesellschaft auch heute kritisch zu betrachten und darüber nachzudenken, wohin die Dynamik des Kapitalismus führt. Das Manifest ist ein Aufruf, Kritik am Bestehenden zu üben – ein Gedanke, der den meisten Menschen schwer fällt. Aber wie bemerkte der amerikanische Philosoph Richard Rorty einmal: „Die Unterscheidung zwischen Bourgeoisie und Proletariat mag heute so veraltet sein wie die zwischen Heiden und Christen, aber wenn man für ‚Bourgeoisie’ den Ausdruck ‚die reichsten 20 Prozent’ und für ‚Proletariat’ den Ausdruck ‚die übrigen 80 Prozent’ einsetzt, klingen die meisten Sätze des Manifests immer noch wahr.“ In diesem Sinne bleibt der Text aktuell und inspirierend.