Читать книгу Ardistan und Dschinnistan - Karl May - Страница 6

Оглавление

»Warum?«


»Glaubt Ihr vielleicht, daß der Scheik der Tschoban den unverzeihlichen Fehler macht, seinen Erstgeborenen und Nachfolger mitten in Euer Gebiet zu schicken, nur von zwei Männern begleitet?«


»Dieser Gedanke ist richtig, sehr richtig!« stimmte der Scheik schnell bei. »Ich würde es auch nicht tun.«


»Trägt man bei den Tschoban Säbel?« fragte ich.


»Fast jedermann!«


»Diese drei haben keine. Warum? Weil sie ihnen im Wege sein würden. Sie wollen schleichen, forschen, spüren, suchen, leise, ungehört und ungesehen. Da ist der Säbel hinderlich. Und wenn Euer Gebiet durchsucht werden soll, und wenn man erfahren will, was Ihr tut, wo Ihr Euch befindet, genügen hierzu armselige drei Männer?«


»Nein! Herr, Du machst mir angst!«


»Das will ich nicht. Aber selbst wenn es Dir wirklich bange würde, so ist das jedenfalls besser als ein Überfall, dem Ihr unterliegt, weil er Euch völlig unvorbereitet trifft. Also, ich glaube nicht, daß diese drei Tschoban die einzigen sind, die sich jetzt bei Euch herumschleichen. Darum werde ich mich hüten, unsere Gefangenen so wohlfeil hinzustellen, daß sie leicht befreit werden können. Und darum rate ich auch ab, heut im Lager zu übernachten, das vielleicht schon längst ausgekundschaftet worden ist. Die Art und Weise, wie der Ilkewlad sich näherte, läßt vermuten, daß er die Richtung kennt, in der es liegt. Vorher dachte ich anders, jetzt aber nicht mehr.«


»Es hat schon seit undenklichen Zeiten dagelegen!«


»Um so schlimmer! Und um so gefährlicher ist es, es zu einer Zeit zu beziehen, wo Feinde in der Nähe sind.«


»Welche andere Stelle schlägst Du vor?«


»Jetzt noch keine. Ich kenne die Gegend nicht, werde mich aber, bevor es dunkelt, umsehen. Mag aber kommen, was da will, so könnt Ihr überzeugt sein, daß Euch heut ein großes Glück widerfahren ist. Der >Erstgeborene< ist ein Schatz, den Euch die Vorsehung sendet, damit Ihr - - -«


»Die Vorsehung?« unterbrach mich der Zauberer. »Da hört man, daß Ihr Christen Heiden seid! Gott hat ihn gesandt, nur Gott! Das Wort Vorsehung gilt nur für Leute, welche zweierlei falsche Scham besitzen. Sie schämen sich, nicht an Gott zu glauben, und sie schämen sich doch, ihn offen und ehrlich zu bekennen. Da sprachen sie von Vorsehung, Fügung und ähnlichen Dingen, die wie voll klingen und doch keinen Inhalt haben. Wir Ussul besitzen nur Gott allein. Weiter brauchen wir nichts!«


Diese Worte wurden schon in der Nähe des Lagers gesprochen. Als wir dort ankamen, erneuerte sich das Erstaunen über die drei Tschoban. Die hier zurückgebliebenen Ussul brachen in lauten Jubel aus. Mit den Begleitern des >Panthers< wurde wenig Federlesens gemacht. Wir banden sie einfach an zwei Bäume, doch so, daß sie nicht miteinander sprechen konnten. Ihn selbst aber mußten wir legen, denn er konnte nicht stehen. Der gutmütige Zauberpriester untersuchte ihn und fand, daß sein Fuß gebrochen war und schneller Hilfe bedurfte, wenn er nicht vollständig lahm bleiben sollte. Da bekam der Tschoban Angst. Er bat, sogleich verbunden zu werden, und der Sahahr, der zugleich der Arzt seines Volkes war, machte sich, unterstützt von zwei Ussul daran, zum Rechten zu sehen. Wie dies geschah, das kümmerte mich nicht. Ich hatte Wichtigeres zu tun. Die Hauptsache für mich war, einen andern, bequemeren Lagerort zu suchen und dann nach der Insel zu rudern, um zu forschen, ob sie für meine Zwecke geeignet sei. Es galt nämlich, die Gefangenen unter sich zu einer Unterredung zu bringen, die wir zu belauschen hatten und also scheinbar verhüten mußten. Der Scheik begleitete mich. Halef wollte auch mit, mußte aber zurückbleiben, um die Gefangenen zu beaufsichtigen und dafür zu sorgen, daß sie weder unter sich noch mit andern sprechen konnten. Es sollte dadurch in ihnen die Sehnsucht, sich mitteilen zu können, gesteigert werden.


Ein Platz, der sich zum Lagern während der Nacht gut eignete, war bald gefunden. Dann ging es hinüber nach der Insel. Ich hatte angenommen, daß nur das große, schwere Boot, das ich kennen gelernt hatte, vorhanden sei; es gab aber, sorgfältig im Gebüsch des Ufers versteckt, noch ein kleines, leichtes Kanoe aus Holzstützen und Lederbezug und zum Zerlegen eingerichtet, um überall mitgenommen werden zu können. In diesem ruderten wir hinüber. Vorher hatte der Scheik einen seiner Leute nach der >Residenz< geschickt, um den Bewohnern derselben die Freudenbotschaft zu überbringen, daß der >Erstgeborene< ihres Hauptfeindes gefangen worden sei, weshalb man sich für morgen auf einen feierlichen Empfang einzurichten habe. Er sprach da, jedenfalls in bedeutend beschönigender Weise, von seiner >Hauptstadt< und seinem >Schlosse<, seiner >Burg<. Auch gab es einen >Tempel< zur Abhaltung des Gottesdienstes. Dies trug dazu bei, die Spannung auf den morgenden Tag in mir zu erhöhen.


Die Insel war nicht groß, ungefähr fünfzig Schritte lang und halb so breit, rundum am Wasser von dichtem Gebüsch umsäumt. Es standen mehrere Bäume da, die für meinen Zweck vorzüglich paßten. Der eine ganz nahe an einer kleinen, schmalen Einbuchtung des Wassers, die nur ganz wenig breiter war als unser Kanoe.


»An diesen Baum wird der Panther gefesselt,« erklärte ich dem Scheik.


»Wann?« fragte er.


»Während der Nacht.«


»Er soll also herüber auf die Insel?«


»Ja. Doch nicht nur er, sondern auch die beiden anderen Tschoban. Mein Hadschi Halef Omar, der ein außerordentlich pfiffiger Gesell ist, wird sie mit Hilfe zweier Ruderer herüberschaffen. Vorher aber haben wir uns, Du und ich, hier eingestellt. Wir kommen mit unserm Lederboot in diese Einbuchtung. Der Baum, an den der Panther gebunden werden soll, steht so nahe daran, daß wir ihn fast mit der Hand erreichen können. Aber sehen wird man uns trotzdem nicht, weil die Wasserpflanzen und Schlinggewächse des Ufers uns verbergen, die wir außerdem jetzt derart ordnen und zurichten werden, wie wir es uns für unsere Zwecke nur wünschen können. Es kann uns kein Wort, welches an diesem Baum gesprochen wird, entgehen. Die beiden andern werden da drüben am jenseitigen Ufer angebunden, aber nicht so fest wie er, sondern leichter und lockerer, so daß es ihnen mit einiger Mühe möglich ist, sich loszumachen. Sie werden dies ganz sicher tun und dann herüber zu ihrem Vorgesetzten kommen, um sich mit ihm zu beraten.«


»Schlau! Außerordentlich schlau!« lobte der Scheik. »Der Plan ist gut; aber ob er in Erfüllung gehen wird, das ist die Frage. Werden sie wirklich so unvorsichtig sein, miteinander zu sprechen? Werden sie nicht Verdacht schöpfen? Werden sie gar nicht auf den Gedanken kommen, daß man sie belauschen will?«


»Sicher nicht! Ich bin überzeugt, daß uns alles gelingen wird,« antwortete ich. »Wenn sie vom Lager fortgeschafft werden, sehen sie doch, daß wir alle dort beisammen sind - -«


»Wir alle? Wir beide sind doch fort, Du und ich! Und grad das ist es, was ihnen aufzufallen hat.«


»O nein! Wir gehen doch nicht vor ihnen fort, sondern nach ihnen, wenn sie es nicht mehr sehen können. Hierzu kommt, daß sie mit dem langen, schweren Boot transportiert werden, möglichst langsam, wobei anstatt der geraden Linie ein Bogen geschlagen wird. Wir aber nehmen das leichte, schnelle Kanoe und sind also viel eher hier als sie. Sie befinden sich ganz gewiß in der festen Überzeugung, daß nur Halef und die Ruderer vom Lager abwesend sind. Und wenn man sie hier angebunden hat, kann nur der Panther nichts gewahren, weil er auf der entgegengesetzten Seite ist; seine beiden Gefährten aber sehen und hören ganz bestimmt, daß die drei Männer im großen Kahn sich wirklich entfernen und nicht auf der Insel bleiben. Sie werden sich also für unbelauscht halten und in entsprechender Weise miteinander verkehren. Vorbedingung ist, daß wir uns nicht etwa selbst verraten. Bist Du geübt, das Husten und Niesen zu unterdrücken?«


»Sorge Dich nicht! Das übt man schon von früher Jugend an. Selbst wenn wir die ganze Nacht im Wasser stecken müßten, würdest Du nicht das geringste Geräusch von mir zu hören bekommen.«


»So sind wir für jetzt hier fertig und wollen wieder an das Ufer zurück. Ich habe noch meinen Halef heimlich hierherzubringen, um ihn in unsern Plan einzuweihen und zu unterweisen. Es kommt sehr darauf an, daß er, während er die Tschoban nach der Insel bringt, ja nichts tut, was geeignet wäre, ihren Verdacht zu erregen.«


Wir verließen also die Insel und ruderten uns zurück. Dort legten wir so an, daß uns niemand sah. Das geschah natürlich nicht etwa aus Mißtrauen gegen die Ussul, sondern weil ich wünschte, daß überhaupt niemand daraufkam, von dem kleinen Lederkanoe zu sprechen. Die Tschoban brauchten nicht zu erfahren, daß es eines gab. Ebenso sorgte ich dafür, daß Halefs Entfernung aus dem Lager ganz unauffällig vor sich ging. Unterwegs nach der Insel erzählte ich ihm, um was es sich handelte. Er war ganz Feuer und Flamme.


»Sihdi,« versicherte er, »ich werde meine Sache so machen, daß Du gezwungen bist, mich zu loben. Ich gäbe viel darum, wenn ich dann mitlauschen könnte, aber ich sehe ein, daß dies unmöglich ist. Du wirst mir die Bäume zeigen, an welche ich die Gefangenen zu fesseln habe. Ich werde das mit größter Sorgfalt und aber doch so besorgen, daß die beiden Halunken, wenn es ihnen gelungen ist, sich loszubinden, über mich lachen und spotten. Das werde ich sehr ruhig tragen, denn meine Rache kommt dann nach!«


Es handelte sich jetzt nur darum, ihm die Örtlichkeit zu zeigen, damit er dann im Dunkel des Abends genau wußte, woran er war. Ich zeigte ihm, als wir an der Insel ausgestiegen waren, die betreffenden drei Bäume, und er weihte mich in alle die kleinen und großen Finten ein, deren er sich bedienen wolle, die Tschoban so gründlich wie möglich zu täuschen. Wir verdichteten auch das Ufergesträuch in der kleinen Bucht, wo wir zu landen und uns zu verbergen hatten, derart, daß unser Kanoe dann am Abend darunter verschwand und gar nicht bemerkt werden konnte. Dann kehrten wir nicht nach dem alten, sondern gleich nach dem neuen Lagerplatze zurück, den die Ussul inzwischen aufgesucht und eingenommen hatten, und wo man dürres Holz zusammensuchte, weil der Tag sich zu neigen begann und es also nötig wurde, Feuer anzuzünden. Taldscha begann mit den Frauen, das Abendessen zu bereiten. Wir Männer setzten uns um das größte der Feuer, an dem sich sehr bald eine ganz eigenartige und sehr angeregte Unterhaltung entwickelte, in welche die drei Gefangenen absichtlich mit keinem Worte verflochten wurden. Sie waren auch hier angebunden, doch derart voneinander getrennt und abgewendet, daß ihre Augen und Blicke sich nicht treffen konnten. Aber hören mußten sie alles, jedes Wort, und so waren die Ussul alle beflissen, das Gespräch so hin und her zu leiten, daß die Tschoban nur solche Dinge zu hören bekamen, die ihnen imponierten und Angst vor dem, was sie erwartete, einflößten. Daher kam es ganz von selbst, daß die Ussul taten, als ob ich und Halef halbe Götter und außerdem auch ihre besten Freunde seien. Das Verhältnis zwischen uns und ihnen wurde in die beste und innigste Beleuchtung gestellt, und es versteht sich ganz von selbst, daß in dieser Beziehung mein kleiner Halef das Allermeiste und das Menschenmöglichste leistete. Er behandelte die Ussul genau so ungeniert und vertraut, wie vielerprobte, gute Freunde, und sie gingen in einer Weise hierauf ein, daß es ihnen ganz unmöglich wurde, uns später dann etwa als Feinde zu behandeln. Was mich betrifft, so verhielt ich mich möglichst still. Was von unserer Seite gesprochen werden mußte, das sprach der Hadschi in mehr als reichlicher Weise, und mir lag doch alles daran, die Ussul nicht nur im allgemeinen und insgesamt, sondern auch einzeln so genau wie möglich kennen zu lernen.


Das Essen bestand aus erjagtem und am Feuer gebratenem Fleisch mit einer Pflanzenzugabe, die aus wilden, aus dem Gras herausgestochenen Zwiebeln und einer gerösteten Art der Canna indica zusammengesetzt war. Es schmeckte vortrefflich. Daß auch unsere Pferde reichlich mit gutem Futter und Wasser versehen wurden, versteht sich ganz von selbst. Sie standen in unserer Näher. Die Gäule der Ussul aber befanden sich weiter fort von uns. Sie hatten während des ganzen Tages gefaullenzt und gefressen und sich nun niedergelegt, um auszuruhen. Nur einer nicht, nämlich Smihk, der Dicke. Der kam durch die Finsternis der Waldesnacht zum Lager herbeigeschlichen und suchte so lange rund um dasselbe herum, bis er mich sitzen sah. Er nahte mir, wie meist alles, was man nicht gern kommen sieht, von hinten. Das tat er so leise, wie es der pfiffigste Apache oder Komanche nicht leiser fertig gebracht hätte, und strich mir, als sein Kopf den meinen erreichte, mit der Zunge so zärtlich quer über das Gesicht, daß es schien, als ob sie daran kleben bleiben wolle. Ich langte natürlich sofort zu ihm hinauf und gab ihm eine Ohrfeige, die jedes andere Tier in den höchsten Zorn versetzt hätte; er aber nahm sie für einen überzeugenden Beweis meiner Gegenliebe und ließ ein Freudengewieher und Jubelgeheul erschallen, welches die andern dicken Ur-, Jagd-und Streitrösser so sehr entzückte, daß sie aus Leibeskräften mit einfielen und den ganzen Wald, so weit ihre Stimmen reichten, mit Wonnetönen erfüllten.


»Er hat Dich in sein Herz geschlossen,« sagte der Scheik. »Nimm es ihm nicht übel!«


Dabei schlug er ihm den Spieß an den Kopf, daß beide krachten, nämlich der Spieß und auch der Kopf; aber Smihk, der Dicke, ließ sich dadurch nicht stören, sondern orgelte weiter, bis er glaubte, seine Gefühle genügend ausgesprochen zu haben, so daß nichts mehr zu sagen war. Dann legte er sich hinter mir nieder und schloß die Augen, um in dem beseligenden Gedanken zu entschlafen, daß ich nun wisse, wie teuer ich ihm sei.


Als endlich auch für die Menschen die Zeit kam, sich schlafen zu legen, wurden auf meine Veranlassung hin Wachen ausgestellt, die während der Nacht dreimal abzulösen waren. Dann wurde, natürlich nur zum Scheine, eine kurze Beratung abgehalten, wie wir uns während des Schlafes unserer Gefangenen am besten versichern konnten. Der Scheik machte den Vorschlag, sie nach der Insel zu schaffen und dort festzubinden, weil da kein besonderer Wächter für sie nötig sei. Wir andern stimmten bei, und Halef bot sich an, sie hinüberzuschaffen, falls man ihm zwei Ruderer mitgebe, ihm zu helfen. Das wurde in völlig unbefangener und unauffälliger Weise gesagt und vorgeschlagen. Keiner der drei Tschoban kam auf den Gedanken, daß es abgekartete Sache sei. Man band sie von den Bäumen los und führte sie fort, dem Wasser zu, wo hinter einem Ufergebüsch, durch welches sie nicht zurückschauen konnten, der große Einbaum zu ihrer Aufnahme bereit lag. Dann eilte ich mit dem Scheik nach der andern Stelle, an der das Kanoe auf uns wartete. Das leichte, kleine Fahrzeug brachte uns im Uferschatten sehr schnell so weit, daß die Insel zwischen uns und dem Einbaum lag und wir, von diesem aus ungesehen, nun gerade und direkt auf sie lossteuern konnten. Das taten wir und erreichten die kleine, schmale Bucht noch rechtzeitig genug, um es uns unter den dichten Zweigen, die eine Decke über uns bildeten, bequem zu machen. Der Baumstamm, an den der Panther festgebunden werden sollte, stand uns so nahe, daß auf dieser Seite seine Wurzeln unmittelbar aus dem Wasser tranken.


Nun nahte das große Boot. Wir vernahmen die Ruderschläge, noch viel eher aber die Stimme des Hadschi, der absichtlich laut sprach, damit wir sein Kommen hören sollten. Er landete drüben an der andern Seite, dennoch unterschieden wir jedes Wort, welches er sagte, denn er sprach sehr langsam und deutlich, und die Breite der Insel war nicht beträchtlich genug, seine Worte zu verschlingen. Er hatte nicht erst jetzt begonnen, mit den Gefangenen zu sprechen, sondern dies schon während der ganzen Fahrt getan. Er besaß so eine pfiffige Art, die Leute auszufragen, und fing es nicht weniger pfiffig an, mich jetzt schon von weitem hören zu lassen, was er von ihnen erfahren hatte.


»Also Ihr beide seid die Erzieher des Prinzen der Tschoban, den man Palang, den Panther, nennt. Von dem einen lernt er das Regieren und von dem andern das Kriegführen. Der eine ist die Kalam el Berinz und der andere das Sef el Berinz. Beide werden angebunden, und dann er selber auch. Zuerst die Kalam el Berinz! Komm! Steig aus!«


Er führte die >Feder des Prinzen< aus dem Boote nach dem betreffenden Baume und band ihn dort mit Riemen fest, die er zu diesem Zwecke mitgebracht hatte. Diese Festigkeit war aber nur eine scheinbare. Dabei sagte er:


»Nun ich von Euch gehört habe, was für ein vornehmer Herr Du bist, tut es meiner Seele vom Kopf bis herunter zu den Füßen weh, daß ich gezwungen bin, Dich hier an diesen Stamm zu fesseln, der nichts von Deinem hohen Stande weiß. Doch wenn ich mich nachher entferne, lasse ich Dir den süßen Trost zurück, daß ich morgen früh wieder kommen werde, um mich zu erkundigen, ob Du gut geschlafen hast.«


Hierauf holte er das >Schwert des Prinzen<, um ihn nach dem andern Baum zu führen und dort anzubinden. Auch dieser bekam einige ironische Bemerkungen zu hören. Dann mußten die beiden Ruderer den >Panther< nach dem dritten Baum tragen, eben dem, in dessen unmittelbarer Nähe ich mit dem Scheik verborgen war. Die beiden andern waren aufrecht stehend angekoppelt worden; dieser aber durfte sich seines verletzten Fußes wegen niedersetzen und wurde nur mit dem Rücken an den Stamm gebunden. Indem Halef dies tat, sprach er:


»Ich liebe Dich, o Prinz. Du hast mein Herz gewonnen. Zwar hast Du es nur heimlich gewonnen, als Du vorhin leise zu mir sagtest, daß Du mir eine ganze Satteltasche voll Goldstücke geben würdest, wenn ich bereit sei, Euch zu Euern Pferden zu bringen und mit Euch zu fliehen; dafür aber sage ich es nun laut, um Deine Güte zu rühmen. Deine Goldstücke gehören nicht mir, sondern meinen Freunden, den Ussul. Wenn ich jetzt hinüberkomme, werde ich ihnen und ihrem Scheik sagen, wie gern Du zahlen wirst. Schlaf wohl! Ich gehe! Allah sende Dir ein ganzes Dutzend glücklicher Träume aus dem Vorrat seines siebenten Paradieses!«


Er entfernte sich und stieg mit seinen beiden Ussul in den Einbaum. Man hörte die Ruder in das Wasser schlagen, und man hörte die Stimme Halefs, der sich absichtlich laut mit seinen Begleitern unterhielt, noch lange, bis sie wegen des zu großen Abstandes verscholl. Das ging alles so ungesucht und selbstverständlich, daß die drei Tschoban gar nicht auf den Gedanken gerieten, sie seien nicht allein hier, oder Halef werde heimlich zurückkehren, um sie zu belauschen. Selbst falls er diese Absicht gehabt hätte, wäre es ihm wegen der Größe des Bootes wohl schwerlich gelungen, die Insel unbemerkt wieder zu erreichen.


Nun warteten wir. Der Scheik war in hohem Grade gespannt, ob die Richtigkeit meiner Voraussetzung sich bestätigen werde; bei mir aber gab es nicht den geringsten Zweifel daran, daß die Gefangenen die Gelegenheit schleunigst benutzen würden, miteinander zu sprechen. Und richtig! Kaum hörte man Halefs Stimme nicht mehr, so rief die >Feder des Prinzen< den beiden andern zu:


»Gebt Achtung! Hört Ihr mich?«


»Ja, ja!« lautete die Antwort von hüben und von drüben.


»Wir sind allein!«


»Weißt Du das genau?« fragte der Prinz.


»Ja. Ich konnte dem Boote von hier aus nachschauen, bis es nicht mehr zu sehen war. Sie sind fort, und kein Mensch ist hier, der uns hört. Wie dumm diese Leute sind!«


»Bist Du fest angebunden?«


»Es scheint so; aber ich will doch einmal versuchen.«


»Ich auch!« stimmte das >Schwert des Prinzen< bei. »Mir scheint, ich kann vielleicht los.«


Es wurde für kurze Zeit still; dann hörten wir gleich hintereinander zwei Freudenrufe. Beiden war es gelungen, sich von den Riemen zu befreien, doch lag es ihnen völlig fern, hier eine Hinterlist zu vermuten. Sie jubelten laut auf und eilten herbei, um auch den >Panther< loszumachen und mit ihm zu besprechen, wie sie sich nun wohl befreien könnten. Hier zeigte es sich, welchen Einfluß Geburt und Erziehung auf Menschen haben, die sonst ziemlich gleichgestellt sind. Er war edler geboren als sie, und er zeigte sich trotz ihres höheren Alters und ihrer größeren Erfahrung als der Bedachtsamste und Vorsichtigste von ihnen.


»Halt! Mich nicht losbinden!« befahl er. »Wir wissen nicht, ob wir uns vielleicht nicht wieder anbinden müssen. Wäre dies der Fall, so könnten wir die Schleifen und Knoten nicht genau so wiederherstellen, wie sie waren, und das würde uns verraten, daß wir frei gewesen sind.«


»Uns wieder anbinden müssen? Das fällt uns doch wohl nicht ein!«


»So? Könnt Ihr schwimmen?«


»Nein. Wir sind keine Fische oder Frösche! Hätte Allah uns Flossen oder Schwimmhäute gegeben, so läge es in seinem Ratschlusse, daß wir schwimmen sollen. Du hast es trotzdem gelernt, aber Dein Fuß ist verletzt - - -«


»Ja, dieser Fuß, dieser Fuß!« klagte der >Panther<. »Daß dieser fremde Hund mich vom Pferd gerissen und lahm gemacht hat, das werde ich ihm nicht vergessen, selbst wenn Allah mit Mohammed vom Himmel käme, um für ihn zu bitten! Ich hoffe, daß die Zeit erscheint, in der ich mit ihm abrechnen kann. Dann wird es keine Gnade geben, keine!«


Er knirschte das grimmig zwischen den Zähnen heraus und fuhr dann fort:


»Also, an das Ufer schwimmen, ist unmöglich; folglich müssen wir hier bleiben. Ich bleibe also angebunden, so wie ich bin, damit man früh nicht spürt, daß Ihr schlecht angebunden gewesen seid. Auf mich paßt man besser auf, als auf Euch.«


»So sollen wir also auf jeden Versuch, die Flucht zu ergreifen, verzichten?« fragte das >Schwert<.


Der >Panther< sann einige Augenblicke lang nach und antwortete dann:


»Ich muß mich fügen! Wegen meines Fußes! Aber nicht Ihr. Ihr könntet fliehen, sobald sich Euch eine Gelegenheit dazu bietet. Aber klüger ist es, hierauf zu verzichten, um meinetwillen. Denn Eure Flucht würde mir wohl sehr übel angerechnet werden. Sie würde meiner Behauptung widersprechen, daß wir in Frieden kommen und Abgesandte meines Vaters sind.«


»Aber wir können doch nicht so lange bleiben, bis sie merken, daß dies eine Lüge ist! Die beiden Fremden glauben schon jetzt nicht daran! Bedenke, daß unser Heer heut über eine Woche den Engpaß Cathar überschreiten wird! Und nur vier Tage später wird es auf der altbekannten Marahka erscheinen, dem Schlachtfelde, auf dem man uns heut gefangen hat! Wenn wir da noch Gefangene der Ussul sind, so ist es um uns geschehen! Die Stunde, in der sie erfahren, daß wir keinen Frieden wollen, sondern ganz im Gegenteile wieder mit einem großen Heer hier im Lande eingefallen sind, wird unsere Todesstunde sein!«


»Das stünde allerdings mit größter Sicherheit zu erwarten,« stimmte der >Panther< bei.»Aber noch ist keine Gefahr. Wenn wir unsere Rolle gut spielen, so werden wir sehr bald entlassen. Wir schließen mit ihnen einen angeblichen Vertrag, den mein Vater durchzuprüfen hat, ehe er ihm sein Siegel gibt. Diesen Vertrag haben wir ihm zu bringen; also müssen wir fort von hier.«


»Aber wenn sie diesen Vertrag abweisen und gar nicht auf ihn eingehen?«


»Das ist unmöglich! Wir wissen ja, daß wir diesen Vertrag überhaupt nicht halten werden, also können wir die Sache so appetitlich für sie machen, daß sie unbedingt anbeißen werden. Diese Ussul sind Dummköpfe. Es gibt keinen einzigen Menschen unter ihnen, den man als klug bezeichnen könnte. Der Dümmste von allen aber ist der Scheik. Hätte er nicht die Frau, die sich bemüht, das bißchen Verstand, das er beinahe besitzt, zusammenzuhalten, so gäbe es auf der ganzen Erde keinen größeren Narren und Einfaltspinsel als ihn! Den nehme ich bei unserem nächsten Sieg gefangen und zeige ihn in unserm ganzen Land herum, damit man endlich einmal erfahre, wie ein Mensch aussieht, der - - -«


»So sieht er aus!« erscholl hinter ihm eine donnernde Stimme, die ihn mitten in der Rede unterbrach, und zugleich erhielt er eine Ohrfeige, welche allerdings noch ganz anders klatschte als die, mit der ich meinem guten, dicken Smihk zu antworten pflegte, wenn er sich eingehender mit mir beschäftigte, als ich wünschte. Nämlich von dem Augenblicke an, der uns die Gewißheit gab, daß die friedliche Sendung dieser drei Männer eine Lüge sei, hatte sich der Scheik nicht mehr zu beherrschen vermocht. Sein Atem begann hörbar zu werden. Ich faßte ihn am Arme, um ihn zur Vorsicht zu mahnen. Dies hätte vielleicht auch gefruchtet, wenn nicht die persönliche Beleidigung gefolgt wäre, die ihn in laute Wut versetzte. Er richtete sich, die Zweige, die uns verbargen, auseinanderstoßend, im Kanoe auf, so lang er war, gab dem Prinzen den Schlag ins Gesicht und sprang sodann an das Ufer. Ich folgte ihm auf der Stelle.


»Allah ‘l Allah!« rief das >Schwert< erschrocken.


»Und auch der Fremde!« fügte die >Feder< hinzu.


Der >Panther< sagte kein Wort. Wahrscheinlich nahm die Ohrfeige seinen Kopf so ganz und gar in Anspruch, daß ihm die Sprache versagte.


»Ja, der Scheik und der Fremde!« donnerte der Ussul weiter. »Der Scheik, den Ihr in Eurem ganzen Lande sehen lassen wollt! Der Scheik, welcher der dümmste von allen Dummköpfen ist! Ihr aber habt die Klugheit schon von Kindesbeinen an Euch in den Kopf geschaufelt und es mit ihrer Hilfe so himmelweit gebracht, daß man Euch nur an den ersten besten Baum zu binden braucht, um alle Eure Geheimnisse zu erfahren. Fort mit Euch von hier! Ihr gehört an Eure Bäume!«


Diese Aufforderung war an die >Feder< und an das >Schwert< gerichtet. Der Scheik nahm den einen hüben und den andern drüben beim Genick und schaffte sie von ihrem Prinzen fort. Sie wagten nicht, eine Hand zum Widerstand zu regen, was ihnen auch wohl schlecht bekommen wäre. Ich folgte. Wir banden sie wieder fest, und zwar so, daß es ihnen nicht wieder gelingen konnte, sich zu befreien. Dann begaben wir uns nochmals zum Panther hin, weil sich dort unser Kanoe befand. Ich untersuchte seine Fesseln. Sie waren ihm so gut angelegt, daß ich nichts daran zu ändern hatte.


»Schurke!« giftete er mich an.


»ich kam nur hierher, um mein Wort zu halten,« antwortete ich.


»Welches Wort?«


»Du fordertest mich auf, Dir zu beweisen, daß Du ein Feind der Ussul bist, und ich gab Dir mein Wort, daß ich diesen Beweis erbringen werde, noch ehe der heutige Abend vorbei sei. Ich habe es getan, und es ist noch lange nicht Mitternacht. Leb wohl! Wir sehen uns am Morgen wieder.«


Wir stiegen in das Boot und verließen die Insel. Als wir uns so weit vor ihr entfernt hatten, daß wir nicht gehört werden konnten, sagte der Scheik:


»Wie recht hast Du gehabt, und wie gut war es, daß wir sie belauschten!«


»Und wie falsch war es, daß Du so vorzeitig dazwischen fuhrst!« tadelte ich ihn. »Es ist gar nicht zu ahnen, was wir alles noch erfahren hätten, wenn Du ruhig geblieben wärst!«


»Verzeih! Ich hielt es nicht länger aus. Es ist kein Spaß, sich als einen Dummkopf bezeichnen zu lassen, wenn man keiner ist! Übrigens glaube ich, daß wir genug erfahren haben. Nun wissen wir, woran wir sind. Mehr brauchen wir nicht. Wir kennen sogar die beiden Tage, an denen das Heer der Tschoban durch den Paß von Chatar reitet und an der Marahka erscheint!«


»Die Marahka ist mir bekannt, wenigstens der Teil von ihr, den ich heut gesehen habe. Mir ahnt, daß ich sie noch näher kennen lernen werde. Aber wo liegt der Paß von Chatar und wie ist er beschaffen?«


»Er liegt an der Grenze der Wüste, welche die Steppen der Tschoban von meinem außerordentlich fruchtbaren Lande trennt. Er besteht nur aus Stein. Er ist so lang, daß man einen halben Tag braucht, um zu Pferde von seinem Anfang an sein Ende zu kommen. Seine Breite ist gering, sie beträgt an ihrer beträchtlichsten Stelle den Ritt von nur einer Viertelstunde. Es gibt aber Punkte, wo sie so schmal ist, daß ich auf der einen Seite die Worte genau verstehe, die mir jemand von der andern herüberruft.«


»Was gibt es rechts und links? Etwa Gebirge?«


»O nein! Sondern Wasser.«


»Was für Wasser?«


»Das Meer.«


»Das Meer?« fragte ich verwundert. »So ist Dein Land eine angeschwemmte Erde? So ähnlich wie das Delta des Niles? Eine Halbinsel, die mit dem Festlande derart in Verbindung steht, wie zum Beispiel der griechische Peloponnes durch die Landenge von Korinth mit Hellas zusammenhängt?«


Da kratzte er sich verlegen den Bart und antwortete:


»Was Delta ist und Korinth und Hellas und Peloponnes, das weiß ich nicht; aber gelehrte Leute sollen behauptet haben, daß das Land der Tschoban früher ein ungeheuer großer See gewesen sei, während im Süden davon, also da, wo wir uns jetzt befinden, das Meer gelegen habe. Beide, der See und das Meer, seien durch einen starken Felsenkamm getrennt gewesen. Ein großer Fluß habe den See gespeist und die Wasser desselben so schwer gemacht, daß der Felsenkamm endlich nicht länger widerstehen konnte. Der Druck der Wassermenge zwang ihn, sich zu öffnen. Sie rauschte in das Meer hinaus und riß die Felsenbrocken mit sich fort, um sie hüben und drüben weit in das Meer hinein aufzutürmen. So soll der jetzige Engpaß Chatar entstanden sein. Als der See hierdurch leer geworden war, zeigte es sich, daß der Boden seines südlichen Teiles nur aus unfruchtbarem Steingeröll bestand. Das ist die Wüste der Tschoban, die ich schon erwähnte. Der nördliche Teil erwies sich als nützlicher; er brachte nach und nach Gräser und Stauden hervor, wenn auch keine Bäume. Das ist die Steppe der Tschoban. Der Fluß ging durch beide hindurch, durch die Steppe und durch die Wüste. An seinen Ufern wuchsen nach und nach Büsche und Bäume; aber eben auch nur da, am Ufer, weiter nicht. Denn das fruchtbare Land, welches der Fluß aus den höher liegenden Gegenden brachte, wurde von ihm bis hinaus in das Meer getragen und dort von ihm niedergesenkt und aufgebaut. Es wuchs immer größer und größer, immer breiter und breiter. Der Fluß teilte sich in viele, in unzählige Arme und Zweige, die alle an der Entstehung des neuen Landes zu arbeiten hatten. Wahrscheinlich ist es dasselbe, was Du vorhin Korinth oder Hellas oder Delta nanntest. Die Wasser und die Winde brachten Körner und Samen, die guten Boden fanden. Es entstanden Wälder, deren Größe ebenso wuchs wie die Größe des Landes selbst. Das ist das Land der Ussul, in dem Du Dich befindest.«


»Und der Fluß?« fragte ich. »Wo finde ich den?«


»Der ist verschwunden, fort, weg, für alle Zeit.«


»Wohin?«


»Hm! Wohin! Hierüber gibt es eine alte Sage, die zu lang ist, als daß ich sie Dir jetzt erzählen könnte, weil wir sogleich das Ufer erreichen werden. In der Steppe und in der Wüste der Tschoban gibt es seitdem keinen einzigen Tropfen fließendes Wasser mehr , und so sind die Bäume und Sträucher gänzlich verschwunden, die damals am Ufer des Flusses standen. Das Land der Ussul aber ist wie ein Schwamm, welcher die Wasser des Meeres an sich saugt, um sie zu reinigen und trinkbar zu machen. Schau dieses Wasser hier, welches aus dem Meere stammt und doch keinen Tropfen Salz mehr hat! Und morgen, wenn wir in die Hauptstadt kommen, wirst Du sehen, daß wir an Durst niemals zu leiden brauchen und grad an dem, was die Tschoban sich vergeblich wünschen, reicher sind als reich.«


Das Gespräch mußte abgebrochen werden, denn wir landeten. Was ich da gehört hatte, war höchst interessant. Und nicht bloß das allein, denn er hatte es auch in einer Weise gesagt, die nicht seine gewöhnliche war. Wahrscheinlich brauchte man zu der angeborenen Intelligenz der Ussul nur liebevoll hinunterzusteigen, um sie zu wecken und emporheben zu können. Ich freute mich schon jetzt darauf, die Sage von dem verschwundenen Flusse zu hören.


Als wir im neuen Lager ankamen, war es unser Erstes, zwei Ussul nach der Insel zu schicken, um die Gefangenen zu bewachen. Ich hielt das zwar nicht für unumgänglich notwendig, aber nach dem, was wir erfahren hatten, waren die drei Tschoban so wichtig für uns geworden, daß keine Handlung der Vorsicht als unnütz bezeichnet werden konnte. Dann wurde erzählt. Es versteht sich ganz von selbst, daß die Kunde, die wir brachten, aufregend wirkte. Die Ussul hatten zwar gehört, daß die Tschoban zu einem neuen Einfalle rüsteten; aber so gewiß wie jetzt, hatten sie es doch nicht gewußt. Und ebensowenig hatten sie geahnt, daß es so bald geschehen werde. Der jetzige Jagdzug war nur zum Zwecke der Verproviantierung unternommen worden, und ich erfuhr nun, daß auch noch andere Jagdgesellschaften in die Wälder geschickt worden waren, um das zu tun, was der Indianer als >Fleischmachen< bezeichnet. Man sah sich gezwungen, diesmal mehr als früher das Wild heranzuziehen, weil die zahmen Herden sich von dem Verlust, den ihnen der letzte Einfall der Tschoban bereitete, noch nicht wieder erholt hatten. Der Scheik und auch Taldscha versicherten mir, daß ihr ganzer Stamm der Hungersnot verfallen müsse, wenn es nicht gelinge, die ihnen bevorstehenden neuen Verluste abzuwehren.


»Was gedenkt Ihr zu tun? Habt Ihr einen Plan?« fragte ich.


»Ja,« antwortete der Scheik.


»Welchen? Darf ich ihn erfahren?«


»Der, den wir immer verfolgen.«


»Also die Belagerung?«


»Die Belagerung!« nickte er. »Wir schaffen, wenn wir den Überfall zeitig genug erfahren, unsere Herden nach der Hauptstadt. Auch alle Krieger vereinigen sich da. Die Weiber und Kinder verstecken sich, bis die Gefahr vorüber ist. Der Feind kommt und umzingelt uns; wir aber sind vom Wasser gedeckt; er kann nicht herüber und muß wieder abziehen.«


»Wie lange dauert das immer?«


»Oft mehrere Wochen.«


»Hm! Während dieser Zeit zieht der Feind raubend im Lande herum! Ihr aber steckt tatenlos hinter dem schützenden Wasser und habt nicht nur die Menschen zu ernähren, sondern auch die Herden zu füttern! Das kann Euch doch nur schädigen, selbst wenn der Feind schließlich gezwungen ist, abzuziehen! Ist das so oder nicht?«


»Es ist so!« antwortete Taldscha diesmal an Stelle ihres Mannes. »Auch dann, wenn die Tschoban die Belagerung aufheben mußten, ohne uns ausgeraubt zu haben, nahmen sie doch noch ganz bedeutenden Raub mit, den sie sich ringsum zusammengeholt hatten. Und in unsern Herden brach dann infolge des Hungers und des Zusammengedrängtseins fast immer ein Sterben aus, das große Opfer forderte.«


»Ihr habt Euch stets nur dadurch gewehrt, daß Ihr Euch einschließen und belagern ließet?«


»Ja.«


»Warum das?«


»Weil es so Sitte war. Unsere Vorfahren haben es stets getan, und so taten wir es auch.«


»So seid Ihr niemals auf den Gedanken geraten, die Angreifer zu machen, anstatt nur immer die Angegriffenen zu sein?«


»Nie!«


»Sonderbar!«


»Ja, sonderbar, höchst sonderbar!« fiel hier Halef ein. »Die Herrin der Ussul hat es mir übelgenommen, daß ich ihr zugetraut habe, einmal nicht Wort zu halten. Ich bemerke das erst jetzt, weil sie es beharrlich vermeidet, mich anzusehen. Ist ihre Ehre so fein und so empfindlich, daß sie schon ein kleines, unbedachtes Wort so gewaltig übelnimmt, so sollte diese ihre Ehre zu anderen Zeiten nicht so grob und unempfindlich sein, daß man sie wochenlang belagern und ihr ganze große Herden rauben darf, ohne daß sie sich hiervon beleidigt zu fühlen scheint. Mich, den einzelnen, kleinen Menschen, den sie für einen unbedeutenden Zwerg gehalten hat, verfolgt sie mit ihrer Rache. Was hat sie getan, um sich an den Tschoban zu rächen? Mich bestraft sie eines einzigen, unschädlichen Wortes wegen. Womit hat sie die riesengroßen Missetaten der Tschoban bestraft? Reicht ihr Mut nur zur Verachtung und Bestrafung von Zwergen aus? Oder fehlen ihr die Einsicht, die Klugheit und die nötige Begabung, die dazu gehören, einen Plan abzufassen und auszuführen, nach dem man sich mutig wehrt, anstatt daß man sich, seine Krieger und seine Herden langsam abschlachten läßt? Ich sage Euch: Ich, der Zwerg, der gegen Euch winzige Hadschi Halef Omar, hätte mir so etwas nie gefallen lassen; Ihr aber, die Ihr Euch Riesen nennt, sammelt in Eurer Feigheit schon wieder Fleisch, um Euch auf eine elende, unmännliche und furchtsame Belagerung vorzubereiten, anstatt den Feinden entgegenzuziehen und ihnen zu zeigen, daß Ihr Hirn im Kopfe, Blut in den Adern und Mark in den Knochen habt! Ob jemand mich ansieht oder nicht, das ist mir völlig gleich; aber wer da meint, mich verachten zu dürfen, der sollte doch wohl derart zu handeln gewohnt sein, daß ich ihm meine Achtung nicht auch zu versagen habe!«


Diese lange Rede des kleinen Hadschi kam mir wie ein Blitz aus heiterem Himmel, vollständig unerwartet. Daß die Frau des Scheiks so ganz über ihn hinwegzusehen wagte, das ärgerte ihn nicht nur, sondern das erboste ihn. Seit er bemerkt hatte, daß ihre Blicke ihn vermieden, kochte es in ihm, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er die erste beste Gelegenheit ergreifen werde, die Hiebe auszuteilen, die er für nötig fand. Und das hatte er jetzt soeben getan. Nach den Folgen pflegte er bei solchen Dingen nie zu fragen. Die Hauptsache war, daß er seine Meinung gesagt hatte, und was dann kam, das fiel dann stets auf mich. So auch hier.


Die >Dame< Taldscha hatte ihm sehr gut gefallen, darum ärgerte es ihn doppelt, daß grad sie es war, die ihn nicht sehen wollte. Ich fand es also nicht ganz unbegreiflich, daß er in diesem Falle die Rücksicht vergaß, welche man den Frauen selbst dann schuldet, wenn sie sich Mühe geben, einen gar nicht zu bemerken. Dazu kam, daß ich ihm in Beziehung auf das, was er gesagt hatte, keineswegs so unrecht geben konnte. Es schien wirklich mehr als hergebrachte Überlieferung und Bequemlichkeit zu sein, daß diese riesenhaft gebauten Menschen vor ihren bedeutend kleiner gestalteten Gegnern fortwährend zum Kreuze krochen. Jeder Psycholog weiß, daß der Riese gemütlicher zu sein pflegt als der Zwerg, aber diese Gemütlichkeit darf doch nicht in eine Passivität ausarten, die an Feigheit grenzt. Kurz und gut, mein kleiner Halef war grob, sehr grob gewesen, aber er hatte dabei auch mir mit aus dem Herzen gesprochen, und so war ich gewillt, mich seiner anzunehmen, falls sich dies als nötig herausstellen sollte.


Zunächst war man darüber, daß so etwas hatte gewagt werden können, völlig starr. Dann sprang der Scheik von seinem Sitz empor, und die andern stießen laute Rufe des Zornes aus. Nur Taldscha blieb ruhig. Sie bewegte sich nicht und schloß die Augen, als ob sie innerlich nachschauen wolle, ob Halef berechtigt sei, in dieser Weise über sie zu sprechen. Der Scheik aber rief:


»Allahi, Tallahi, Wallahi! So hat noch niemand zu uns gesprochen, noch niemand! Soll ich Dich zwischen diesen meinen Fäusten zu Pulver zerreiben oder zu Brei zerquetschen? Wähle eins von beiden, ich tue es sofort!«


Er hielt dem Hadschi die beiden ungeschlachten Hände hin. Dieser blieb ruhig sitzen, zog eine seiner Doppelpistolen aus dem Gürtel, richtete sie auf den Scheik, ließ die Hähne knacken und antwortete:


»Soll ich Dich mit dem Schrot oder mit der Kugel erschießen? Wähle eins von beiden; ich tue es sofort!«


Ich nahm einen meiner Revolver zur Hand und knackte mit dem Hahne, ohne ein Wort zu sagen. Da machte Taldscha die Augen auf. Sie sah die auf ihren Mann gerichteten Waffen, ließ jene gebieterische Handbewegung schauen, die ich schon beschrieben habe, und sagte zu ihm und den anderen Ussul:


»Schweigt! Ich habe nachgesonnen, und ich fühle, daß Scheik Hadschi Halef Omar nicht unrecht hat. Doch soll er uns sagen, wie er sich unsere Gegenwehr gegen die Tschoban denkt!«


»Ich denke mir Eure Gegenwehr genau so, wie ich mir ihren Angriff zu denken habe,« antwortete er, ohne einen Augenblick zu zögern.


Der Scheik gehorchte seiner Frau; er setzte sich wieder nieder. Die andern unterdrückten ihre Zornesrufe. Da steckte Halef die Pistole wieder ein, und auch mein Revolver verschwand.


»Wie meinst Du das?« fragte Taldscha.


»Die Tschoban greifen Euch an, indem sie in Euer Land eindringen. Wer hindert Euch, denselben Weg zu gehen und bei ihnen einzufallen? Das Gesetz, dem sie gehorchen, nämlich der Islam, gebietet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ihr würdet also ihr eigenes Gesetz beachten und ehren, wenn Ihr an ihnen ganz dasselbe tätet, was sie an Euch schon so oft getan haben!«


»Bei ihnen einfallen - - -?« fragte die Frau in einem Tone, als ob ihr etwas ganz und gar Unmögliches zugemutet werde.


»Bei ihnen einfallen!« rief auch der Scheik.


»Bei ihnen einfallen! Bei ihnen einfallen! Bei ihnen einfallen!« rief man im Kreise auch weiterhin von Mund zu Mund.


»Warum nicht?« fragte Halef. »Was die Tschoban können, das könnt Ihr doch wohl auch!«


»Das meine ich wohl!« beteuerte der Scheik.


»Wenn Ihr das wißt, warum tut Ihr es dann nicht? Fehlt es Euch an Mut?«


»Nein, nein!« versicherte der Scheik.


»Nein, nein! Nein, nein!« klang es im Kreise weiter.


»Oder an Geschicklichkeit, an Flinkheit, an Verstand?«


»Auch nicht!« stellte der Scheik fest.


»Auch nicht!« fielen die andern rundum ein.


»So begreife ich nicht, warum Ihr es nicht tut! Es gibt da nur noch einen einzigen Grund, den man sich denken kann.«


»Welchen?« erkundigte sich der Scheik.


»Daß Ihr zu faul seid.«


»Zu faul?« fuhr der Scheik grimmig drein. »Wer das behaupten will, den schlage ich tot!«


Und er hob schon wieder seine beiden Fäuste empor.


»Den schlage ich tot, den schlage ich tot!« riefen die anderen grad so wie er, indem auch sie ihre Fäuste zeigten.


»Nun, so tut es doch, so tut es doch!« warf Halef ihnen zu, indem er ungläubig lachte.


»Was aber sollen wir drüben?« fragte nun der Zauberpriester.


»Ganz dasselbe, was sie hier bei Euch wollen!«


»Also stehlen, rauben, plündern und brandschatzen?«


»Ja! Stehlen, rauben, plündern und brandschatzen! Was sie glauben, an Euch tun zu dürfen, das kann Euch doch nicht verboten sein, an ihnen zu tun!«


»O doch!« fiel da die blonde Herrin ein, und zwar in ernstem Tone. »Kein Dieb soll mich verführen, auch zu stehlen, und kein Räuber kann mich veranlassen, ihn auch zu berauben. Zu Deiner Ehre will ich annehmen, daß auch Du dieser meiner Ansicht bist und nur vom Standpunkt der Tschoban aus redest, die Mohammedaner und also Heiden sind, aber ich bitte - -«


»Heiden?« unterbrach Halef sie da schnell.


»Ja, Heiden!« antwortete sie. »Oder ist es nicht heidnisch, zu stehlen, weil andere stehlen, und zu rauben, weil andere rauben?«


Der Hadschi hatte sich da in eine arge Klemme hineingeredet. Er war gewiß schwer, ja außerordentlich schwer in Verlegenheit zu bringen, dieses Mal aber wußte er sich keinen Rat. Er warf mir einen bittenden Blick zu, und so fiel ich nicht nur um seinetwillen, sondern auch um meinetwillen ein:


»Der Scheik der Haddedihn meint es nicht wörtlich so, wie er es sagt. Er will Euch nicht verleiten, ohne Grund in das Gebiet Eurer Feinde einzufallen, um dort zu sengen, zu brennen, zu plündern und zu morden. Aber wenn sie vor Euch die Flucht ergreifen müßten und Ihr sie bis hinüber verfolgtet, so wäre das wohl nicht gegen Dein zwar menschenfreundliches, aber auch entschlossenes und tapferes Gefühl.«


»Nein, gewiß nicht!« gestand sie zu. »Ich würde sogar dazu raten.«


»Wirklich?« fragte ich, nicht ohne Absicht, sondern mit ganz besonderer Betonung.


»Wirklich!« versicherte sie, es ebenso betonend wie ich.


»So tut es doch! Schlagt sie aus Eurem Reich hinaus und in das ihrige hinüber! Oder noch besser: Wartet gar nicht erst, bis sie herüberkommen, sondern fallt gleich an Eurer Grenze über sie her, daß sie umwenden und zurückkehren müssen!«


»Sie hinausschlagen - - -?« fragte Taldscha erstaunt.


»Über sie herfallen!« rief der Scheik.


»Daß sie umwenden! An unserer Grenze? Und zurückkehren müssen!« so sagten und fragten und wiederholten auch die anderen.


»Das erfordert Blut, viel Blut!« warnte Taldscha.


»Nein!« antwortete ich. »Vielleicht keinen Tropfen, keinen einzigen!«


»Unmöglich! Man kann doch kein ganzes Kriegsheer über die Grenze hinübertreiben, ohne daß Blut vergossen wird!«


»Das meine ich auch!« stimmte der Scheik bei. »Aber das sollte uns wohl nicht hindern, diesen Rat zu befolgen, der mir gar nicht übel gefällt. Es ist besser, einige Tote zu haben, als von den Tschoban und aller Welt als feig verschrien zu werden. Ich bitte Dich, Effendi, uns Deinen Plan mitzuteilen. Ist es möglich, ihn auszuführen, so daß er uns Nutzen schafft, so werden wir ihn ausführen. Ich bin überzeugt, daß Taldscha einverstanden ist.«


Sie nickte nur. Ich aber entgegnete:


»Einen Plan kann ich Euch noch nicht sagen, denn ich habe noch keinen. Ich kenne Euer Land noch nicht und folglich auch die Gegend nicht, um welche es sich handelt. Freilich, einen Gedanken habe ich bereits jetzt. Und der scheint gut zu sein. Aber, um ihn sich entwickeln zu lassen, muß ich Fragen tun, die ich Euch heut abend unmöglich vorlegen kann. Dazu ist morgen Zeit. Ich halte es nämlich für sehr möglich, die Tschoban zu besiegen und für immer zurückzutreiben, ohne daß es Euch einen einzigen Toten oder eine einzige Wunde kostet. Wenn Ihr wollt, so könnt Ihr es morgen erfahren. Für heut aber soll nun Ruhe sein. Es ist nun schon über Mitternacht. Ich gehe schlafen!«


»ich auch!« stimmte Halef bei, der meine Absicht, nur von der Unterhaltung loszukommen, sehr wohl verstand.


Wir gingen also zu unseren Pferden, bei denen wir uns so niederlegten, daß ihre Hälse unsere Kopfkissen bildeten. Das waren sie und auch wir gewohnt. Die Ussul aber blieben noch sitzen, um das für sie unendlich wichtige, aber auch unendlich unbegreifliche Thema, welches ich ihnen gegeben hatte, weiter auszuspinnen. Das ganze Heer der Tschoban besiegen und für immer zurückzuschlagen, ohne daß es einen einzigen Toten oder auch nur eine einzige Verwundung kosten solle! Das wollte ihnen nicht in die trägen Köpfe, ihnen, die bisher weiter nicht gewußt hatten, als auszureißen, sich zu verstecken und dann hinter den abziehenden Feinden her zu jammern und zu schimpfen. Mein Gedanke kam mir aus der Beschreibung, die der Scheik mir über den hochinteressanten Engpaß Chatar geliefert hatte. Und ich gedachte dabei an eines meiner Erlebnisse bei den Haddedihn-Arabern, deren Scheik jetzt Halef war; nämlich an das so erfolgreiche Zusammentreiben aller ihrer Feinde in das >Tal der Stufen<, das ich im ersten Bande meiner >Reiseerzählungen< beschrieben habe. Vielleicht eignete sich der Engpaß noch viel besser zu so einem pfiffigen Streiche als jenes Tal der Stufen, in welches die Gegner gelockt werden mußten, während die Tschoban auf alle Fälle gezwungen waren, ihren Weg durch den Paß zu nehmen, von dem ich überzeugt war, daß er ihnen sehr leicht verhängnisvoll werden könne.


Als ich Halef hierüber eine kurze Bemerkung machte, wich der Schlaf sofort von ihm. Er richtete sich halb empor und sagte:


»Sihdi, das wäre eine Wonne für mich, so etwas wieder zu erleben! Wie bist Du auf diesen prachtvollen Gedanken gekommen?«


»Durch den Scheik, der mir die Örtlichkeiten beschrieb. Zwar kann man das, was dieser gute Mann behauptet, nicht als geologisch erwiesen annehmen, sondern man muß es erst prüfen; aber etwas Wahres ist doch jedenfalls daran, und man könnte viel Blutvergießen und noch anderes, ebenso Schlimmes verhindern, wenn man die Ussul veranlaßte, den Tschoban heut über eine Woche in diesem schmalen Engpaß entgegenzutreten.«


Ich erzählte ihm, was ich von dem Scheik während des Ruderns erfahren hatte. Als ich damit zu Ende war, teilte er mir mit, daß während unserer Abwesenheit das Gespräch auch unter den Ussul auf den verschwundenen Fluß gekommen sei. Auf seine Bitte habe der Sahahr ihm dann die Sage erzählt.


»So kennst Du sie nun?« fragte ich.


»Ja,« antwortet er. »Willst Du sie hören?«


»Sehr gern.«


»Sie raubt uns nur wenig Schlaf, denn sie ist kurz. Vorher aber muß ich Dir sagen, daß die Ussul nur Gott allein verehren, keinen andern bei oder neben ihm. Bei ihnen ist nur er der Inbegriff der Allmacht, Weisheit und Liebe. Nur er allein kann, was er will, und wenn die Hilfe und das Erbarmen des Himmels sich der Erde naht, so geschieht das nur durch ihn. Das war es, was Du wissen mußtest. Und nun kann ich erzählen.«


Halef machte wie immer, wenn er etwas Derartiges erzählte, vorher eine Pause, um seine Gedanken zu sammeln und den richtigen, klar hindurchführenden Faden zu finden. Dann begann er:


»Weit, weit von hier, hoch über Dschinnistan hinauf, liegt das verlorene einstige Paradies. Seine Tore sind geschlossen. Wer nach ihm sucht, der sieht es von weitem glänzen, jedoch hinein kann keiner. Sogar dem Blick ist es versagt, die himmelhohen Mauern zu übersteigen. Bei Tage in sonnengoldenen Lettern, bei Nacht in flammenheller Sternenschrift sieht man über ihm den göttlichen Ruf erstrahlen:


>Ist Friede auf Erden, dann kommt!<


So oft ein Jahrhundert vorüber ist, springen alle Pforten und Tore des Paradieses auf, und eine unendliche Fülle durchdringenden Lichtes flutet über die Erde und über die Menschen hin, die auf ihr wohnen. Da wird alles, alles offenbar, was je geschehen ist und was noch heut geschieht. Die Erzengel treten vor die Tore. Ihre Scharen erscheinen zu Tausenden und zu Zehntausenden auf den Mauern. Sie schauen herab, ob endlich Friede sei; aber stets ist Krieg und Mord und Zank und Streit. Da erheben sie ihre Stimmen. Ein Weheschrei erschallt, er steigt vom Himmel auf die Erde nieder. Das Licht verschwindet, mit ihm das Paradies. Den Schrei aber hören nie die Mächtigen, die Reichen, die Sieger, sondern nur die Schwachen, die Armen, die Unterdrückten und Geknechteten, die händeringend und hilfeflehend in stiller Kammer beten, daß Gott der Herr sie von ihrem Leid, von ihrer Qual erlöse.


Diese Bitten und Gebete sind mächtiger als die mächtigsten der Menschen. Was kein Sterblicher vermag, das vermögen sie. Sie steigen unsichtbar zum Paradies empor, versammeln sich vor seinen Mauern und wachsen zu Millionen und Millionen an. Sie helfen einander, heben einander über die Mauern hinweg, dringen ein in das Paradies und klammern sich an die Engel. Sie heften sich an die Flügel der Gnade, an die Fittiche des Erbarmens, die über dem Paradiese wehen, und werden von ihnen emporgehoben zum Allbarmherzigen, um in sein Herz zu dringen und es anzufüllen, bis es überschwillt. >Gib Frieden!< jammert es über die Erde. >Gib Frieden!< klagt es durch das Paradies. >Gib Frieden!< bittet es in Gottes eigener Seele. Da sendet er den strengsten aller Geister, der Moses heißt, zum Sinai hernieder. Der schreibt in Stein:


>Du sollst nicht töten!


Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch


vergossen werden!<


Kaum hat das Volk der Menschen dieses Wort vernommen, so bricht es auf vom Berge Sinai, stürzt über das Land der Kananiter und opfert ganz demselben Gott in Strömen von Menschenblut, die durch Jahrhunderte fließen und bis zum Himmel rauchen. >Gib Frieden!< jammert es wieder über die Erde. >Gib Frieden!< klagt es wieder durch das Paradies. Und >Gib Frieden!< bittet es wieder in Gottes eigener Seele. Da sendet er den liebevollsten aller Geister, der Jesus heißt, zur Erdenwelt hinab. Der lehrt und ruft, daß man es durch alle Lande hört:


>Liebet Eure Feinde! Segnet, die Euch verfluchen! Tut Gutes denen, die Euch hassen! Und betet für die, welche Euch verleumden und verfolgen! Denn wer zum Schwerte greift, der wird durch das Schwert umkommen!<


Dies heilige Wort der Menschen-und der Nächstenliebe ist nie verklungen. Es klingt noch heut. Man hört es wohl, doch keiner will es achten. >Gib Frieden!< jammert abermals die Erde. >Gib Frieden!< klagt das leere Paradies. Und >Gib Frieden!< bittet Gottes eigene Seele. Da sendet er den irdischesten aller Geister, mit Namen Mohammed, der fast noch menschlich spricht und darum leicht begriffen werden kann. Doch der verirrt sich zwischen Paradies und Erde und sucht vergeblich nach dem rechten Weg, der tief hinab zum Menschenherzen führt. Da spricht der Herr: >Wenn keiner es erreicht, daß Friede werde, so gehe ich nun selbst!< Er schlägt den Mantel menschlicher Gestalt um seine Schulter und steigt zur Quelle Ssul im Paradies hinab. Die wächst bis Dschinnistan zum breiten Strom und fließt von da durch Ardistan, an beiden Ufern Frucht und Segen spendend, um an der Mündung neues Land und neues Volk zu schaffen. So wandert er, dem Flusse folgend, hinab nach Dschinnistan, um zunächst dort den Willen des Himmels zu verkünden. Doch kaum hat er sein Friedenswerk begonnen, wird er erkannt, und alles eilt herbei, ihn anzubeten. Er segnet jeden, der vor ihm erscheint, doch nur dem ‘Mir gestattet er, in die Zeitenfernen zu schauen, in den nicht mehr der Säbel und die Kanone, sondern nur der blanke Geist und der blitzende Gedanke die Schlachten schlagen. Dann wandert er weiter, am Strome abwärts, bis nach Ardistan. Er glaubt, er komme grad zur rechten Zeit, denn überall, wo er erscheint, ertönen Kriegstrompeten. Der ‘Mir von Ardistan will Dschinnistan erobern und rüstet heimlich zum plötzlichen Überfall. Der Herr versucht an vielen Orten zum Wort zu kommen, um das Verhängnis aufzuhalten, doch vergeblich. Und als er in der großen Stadt des Scheiks, die glänzend wie ein Traumbild aus dem Märchenland am Strome liegt, seine Stimme zu erheben und von Friedensbruch zu sprechen wagt, wird er als Landesverräter festgenommen und vor den Scheik gebracht. Der hält über ihn Gericht und spricht das Urteil aus: >Man führe ihn auf die Brücke und stürze ihn in das Wasser, weil er sich vor dem Blut des Krieges fürchtet!< Da fragt der Herr: >Ist jemand, der dies Urteil ändern kann?< >Es gibt keinen einzigen, der das vermag!< antwortet ihm der Scheik. >Auch Gott nicht?< >Nein! Allah ist Gott! Und der hat uns befohlen, sein Reich durch Schwert und Feuer zu verbreiten! Es werde Krieg!< Da hebt der Herr die Hand empor und ruft: >Es bleibe Friede! Hoch über dem, den Ihr zum Gott gemacht, steht der Erbarmer gegen den Verderber. Ich sage Dir, o Scheik: Du bleibst daheim; kein Tropfen Blut wird fließen!< Da springt der Scheik von seinem Sitze auf und donnert ihm zu: >Und ich, ich sage Dir, dem Feigling und Verführer meiner Krieger: So wenig, wie der Fluß, der Dich ersäufen soll, vor unserer Brücke umkehrt, Dich zu schonen, so wenig kehrt die Klinge, die ich zum Krieg gezogen habe, in ihre Scheide zurück! Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt!< Da hebt der Herr die Hand zum zweiten Male und spricht: >So sei es, wie Du sagst. Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt! Wenn Gott nicht mehr durch Worte belehren kann, so predigt er durch Taten. Der Strom floß Euch zu Friedenszwecken zu, nicht aber, um das Leben zu zerstören. Er werde Euch genommen! Nicht eine Pfütze bleibe Euch, die genug Wasser hat, auch nur einen einzigen Menschen zu ertränken! Und wehe Euch, wenn Ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu Euch zurückzukehren! Denn alles, was da lebte, würde sterben!< - - - Ein Hohngelächter folgt diesen Worten. Man führt ihn hinaus zur Brücke, der Scheik auf hohem Roß voran. Der gibt, als die tiefste Stelle erreicht ist, den Befehl, den Gefangenen zu ergreifen und hinabzuwerfen. Da hebt dieser zum dritten Male die Hand, doch ohne ein Wort zu sagen. Sofort verfinstert sich der Himmel. Blitze zucken; drohende Donner rollen. Von der Brücke abwärts fließt das Wasser weiter; von ihr aufwärts aber bleibt es stehen. Es bäumt sich auf, wächst höher und höher und bildet eine Mauer, die zum Himmel zu streben scheint. Brüllend vor Angst und Entsetzen eilen die Menschen an die Ufer zurück. Nur einer bleibt, der Gefangene. Leuchtenden Angesichtes steht er auf der Brücke, die von den steigenden Wogen von der Erde gelöst und hoch emporgetragen wird, bis sie verschwindet. Dann sinkt das Wasser zusammen und beginnt, wieder abzufließen, doch nicht abwärts, wie bisher, sondern aufwärts, nach oben, woher es gekommen ist. Der Himmel wird wieder hell. Das Bett des Flusses aber liegt leer, und die entsetzte Menschheit flieht aus der Stadt, deren Trümmer heutigen Tages wasserlos in die Steppe starren, durch welche sich der dürre, ausgetrocknete Lauf in zahllosen Windungen vor Durst und Hunger krümmt, bis er in den Wäldern der Ussul verschwindet.«


Als Halef bis hierher erzählt hatte, machte er eine Pause, um eine innere Betrachtung anzustellen, die er mir dann mitteilte, indem er fortfuhr:


»Ist es nicht rührend, wie lieb die Ussul sich ihren Gott denken, Sihdi?«


»Ist er es etwa nicht?« fragte ich.


»Na, höre, was unsern Herrn Allah betrifft, so kommt er mir schon längst nicht mehr so freundlich vor wie früher. Es muß sich einer von uns beiden geändert haben, er oder ich. Der Gott der Christen ist nicht bloß Herr und Gebieter, wie Allah, sondern zugleich auch Vater und Patriarch, und zwar ein außerordentlich gerechter und guter. Das gefällt mir sehr von ihm. Das habe ich früher gar nicht gewußt, sondern erst durch Dich erfahren. Und betrachte ich mir die Sage, die ich soeben erzählt habe, so erscheint mir der Gott der Ussul dem Gott der Christen viel, viel ähnlicher als unserm Allah. Nur fehlt ihnen die Lehre von Gottes Sohn, dem Erlöser. Doch glaube ich, daß nur ein wirklicher, ein wahrer, ein guter Christ hierher zu kommen und ihn zu verkünden brauche, so würde er sehr bald und sehr viele gläubige Schüler finden. Übrigens weiß ich von Dir, daß eine jede Sage eine Wahrheit enthält, die man in der Tiefe suchen muß. So ist es wohl auch mit dieser Sage von dem verschwundenen Flusse, der plötzlich umgekehrt und aufwärts gelaufen ist, um nach seiner Quelle zurückzukehren?«


»Jedenfalls.«


»Und die Wahrheit, die sich in dieser Sage verbirgt?«


»Ist wahrscheinlich eine zweifache, eine äußerliche und eine innerliche, eine geographische und eine sozialphilosophische.«


»Das verstehe ich nicht. Du kannst mir nicht zumuten, aus dem Unterbewußtsein in das Oberbewußtsein zu steigen, während ich doch jetzt, um einzuschlafen, aus dem Oberbewußtsein in das Unterbewußtsein zu fallen habe. Das wäre grad der umgekehrte Weg. Also, sprich deutlicher!«


»Der äußere oder geographische Kern der Sage ist, daß es hier wirklich einen Fluß, und zwar einen bedeutenden, gegeben hat. Der ist verschwunden. Jedenfalls infolge eines Naturereignisses, welches man sich nicht erklären konnte, so daß man zur Sage griff, um es sich verständlich zu machen.«


»Aber so große Flüsse können doch nicht verschwinden, wenigstens nicht so schnell!«


»Allerdings nicht. Aber sie können ihr altes Bett verlassen, ihren bisherigen Weg verändern, sogar infolge von Entwaldungen der Berge sich nach und nach zurückziehen. Wie es sich hier in diesem Falle verhält, werden wir erfahren, wenn wir erst längere Zeit im Lande gewesen sind.«


»Und die andere Wahrheit der Sage, die innere?«


»Die bezieht sich darauf, daß die Entwicklung des Menschengeschlechts nicht nach kriegerischen, sondern nach friedlichen, versöhnlichen Wegen zu suchen hat. Der Name der Quelle und des Flusses war Ssul, das ist Friede. Diese Quelle liegt im Paradiese. Der Friede ist Himmelsgabe. Wo er fließt, da segnet er nicht nur das, was bereits besteht, sondern auch das, was er bringt und schafft. Er setzt neue Länder an, sichtbare und unsichtbare, im Handel und Gewerbe, in der Kunst und in der Wissenschaft. Und das alles geht wieder zurück, wenn der Strom des Friedens vertrocknet, und die Rüstungen alles, was er schaffte, wieder verschlingen. Oder wenn der Krieg mit einem einzigen rohen Streiche die Gaben vom Tische wirft, die der Friede dort bescherte. Dann weicht dieser letztere bis dahin zurück, woher er kam, bis ins Paradies, oder wenigstens bis Dschinnistan, wenn nicht für immer, so doch für lange, lange Zeit. Und kehrt er endlich wieder, so geschieht das nur langsam, furchtsam, zögernd; er läßt sich nicht zwingen. Darum ist es sehr richtig, was die Sage Gott in den Mund legt, indem er warnend sagt: >Und wehe Euch, wenn Ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu Euch zurückzukehren; denn alles, was da lebte, würde sterben!< Der Völkerfriede, den wir anstreben, kann sich nur nach und nach entwickeln. Umfaßt er mit seinen Wurzeln die ganze Erde, ein Saug-und Faserwurzelchen in jedes Menschenherz, so wächst er hoch über Irdisches empor und trägt als Früchte die ewigen Sterne in seiner Krone. Ein Welt-und Völkerfriede aber, der nicht im Herzen der Menschheit wurzelt, sondern mit Gewalt und plötzlich herbeigezwungen werden soll, der würde zerstören und vernichten, nicht aber erzeugen und beleben. Und hier gibt es in der Sage vom zurückgekehrten Flusse einen Punkt, den ich nicht sehe, oder ein Geheimnis, welches ich nicht begreife. Fast will es klingen, als ob es möglich sei, ihn mit den Waffen in der Hand zu zwingen, ganz plötzlich und unvorbereitet zurückzukehren, also eine noch gräßlichere Katastrophe, wie sein Verschwinden eine war. Eine Sage, die sich so fest gebildet und gestaltet hat wie diese hier, erzählt nie etwas Unnützes. Sie hängt wie eine schwarze Drohung für Ardistan hoch über Dschinnistan, und wenn in dieser von der schauenden Volksseele gedichteten Erzählung kein Geringerer als Gott vor der Entladung dieser Wolke warnt, so ist die Gefahr nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Wirklichkeit vorhanden.«


»Meinst Du? Du glaubst also an Sagen?«


»An ihren eigentlichen Inhalt, ja.«


»Ich auch. Es freut mich, daß wir auch in dieser Beziehung zusammenstimmen. Nun aber lege ich mich wieder nieder. Allah gibt den Schlaf nicht, daß man ihn bewachen soll. Gute Nacht, Effendi!«


»Gute Nacht, Halef!«


Schon nach einigen Minuten war er eingeschlafen, ich aber nicht. Nach so wichtigen Tagen, wie der heutige gewesen war, ist man innerlich verpflichtet, sich das Geschehene zurecht zu legen, um das, was kommen soll, darauf zu bauen. Das war bei mir allerdings bereits geschehen. Aber nun hatte die Sage dazu zu kommen, die für mich mehr, weit mehr, als nur eine kurze, hübsche, aber nichtssagende Erzählung war. Aus solchen Dingen spricht nicht nur die Volks-sondern auch die Menschheitsseele, deren Schritte man nur im stillen Denken und Fühlen sich nahen hört. So lag ich still und sann und sann. Über mir breiteten sich die dunkeln Wipfel der Bäume, die keinen Blick des Sternenhimmels hindurchließen. Aber wenn ich mich auf die Seite wendete, wo unweit von meiner Lagerstätte die freie Lichtung begann, da konnte ich zwischen den Stämmen hindurch zwei Sterne erkennen, die tief am Himmel standen und meine Augen auf sich zogen, weil sie die einzigen waren, die ich sah. Es war der Deneb und die Mira vom Bilde des Walfisches. Die letztere ist interessant, weil ihre Helligkeit innerhalb nicht ganz eines Jahres von zweiter bis zu zehnter Größe schwankt. Heut war sie ganz beträchtlich. Die Mira steht bekanntlich am Hals und der Deneb am Schwanz des Sternbildes, also voneinander entfernt. Indem mein Auge an ihnen hängen blieb, schien sich von mir zu ihnen ein lichtglänzender Weg zu ziehen, der so breit war, wie sie scheinbar auseinander standen. Auf diesem Wege schienen die Gedanken, die mich beschäftigten, zu kommen und zu gehen. Solche Eindrücke gibt es nur während jener ungestörten, sich selbst gehörenden Stunden, in denen die Seele den Körper ganz und restlos beherrscht. Infolge der Sage befand sich die Seele jetzt unterwegs nach Dschinnistan und dem Paradiese. Vor dem körperlichen Auge lagen die beiden Sterne. Die Seele bemächtigte sich ihrer. Dort, von woher die beiden leuchtenden Welten strahlten, sah meine Phantasie das Tor, aus dem der Erzengel trat, und die Mauern, auf denen seine Scharen erschienen, um nach dem Frieden auszuschauen. Ich sah dann auch Gott selber kommen. Ich sah ihn in Dschinnistan erscheinen und den Herrscher dieses Landes ihm zu Füßen anbetend niedersinken. Und ich sah ihn dann nach Ardistan wandern. Ich sah ihn in der Hauptstadt auf der Brücke. ich sah das Wasser wie eine Mauer steigen und nach seiner Quelle zurückkehren, als der Herr verschwunden war. Ich sah die Stadt verdorren und verfallen. Ich stand dann auf ihren Trümmern. Ich suchte und forschte in ihren Ruinen, denn ich wollte den Palast des Königs finden, in dem man Gott gerichtet und zum Tode verurteilt hatte. Ich entdeckte den Weg. Er führte hügelaufwärts, durch ein riesig hohes und breites steinernes Tor hindurch, dessen Pfeiler eine alte, babylonische Sonnenuhr trugen. Nur eine kurze Strecke weiter stand der gesuchte Palast, von Mauern rings umgeben. Das Tor war geschlossen. Ich klopfte an. Der Pförtner erschien. Ich bat ihn, zu öffnen und mich einzulassen. Da schüttelte er den Kopf und antwortete: »Heut noch nicht, aber wahrscheinlich später.« »Warum nicht jetzt?« erkundigte ich mich. »Weil Du jetzt schläfst,« belehrte er mich. »Wir brauchen hier nur wachende Geister und Seelen!« Hierauf nahm er plötzlich die Gestalt, die Kleidung und das Gesicht meines kleinen Hadschi an, ergriff meinen Arm, schüttelte mich und rief: »Wach auf, wach auf, Sihdi! Wir sind schon alle munter. Man bereitet soeben das Essen. Ist dieses vorüber, dann brechen wir auf von hier!«


Ich sprang auf. Ich hatte geschlafen, und zwar tief, sehr tief. Alles, was ich gesehen hatte, war Traum, aber ein so eigenartiger und vertrauenerweckender Traum, daß ich das sofortige Bedürfnis fühlte, mir nichts, gar nichts davon wegnehmen zu lassen, sondern mir alles genau zu merken. Ich hütete mich also, zu sprechen, und ging, ohne ein Wort zu sagen, ein Stück in den Wald hinein, um das, was mir in dieser Nacht gezeigt worden war, in mir zu befestigen. Solange wir unsere gerühmte Psychologie nur theoretisch treiben, sind wir keine Psychologen. Praktisch sein, in das reale Leben greifen, unsere Seele und unsern Geist an uns selbst studieren, sie keinen Augenblick aus den Augen lassen! Alles, was wir fühlen, denken, wollen und tun, auf sie beziehen! Wer das nicht tut, der nenne sich ja nicht Psycholog! Was mich betrifft, so lasse ich keinen meiner Träume ohne den Versuch, ihn festzuhalten, vorüberziehen. Ich komme im späteren Verlaufe der Ereignisse auf diesen Punkt zurück.


Ich hatte länger als alle anderen geschlafen, und Syrr, dessen Hals, wie erwähnt, mein Kopfkissen bildete, hatte ebensolang, um mich nicht aufzuwecken, ganz ohne Bewegung gelegen. Dafür hatte ihm Halef das saftigste Gras und die besten Stauden geschnitten, die es hier gab, und legte sie ihm nun jetzt als Frühstück vor. Den Scheik sah ich nicht. Er war hinüber nach der Insel, um die drei Gefangenen selbst zu holen. Sie machten, als er sie brachte, nicht etwa einen niedergeschlagenen Eindruck, sondern ihr Auftreten und Verhalten ließ deutlich den Wunsch nach Rache erkennen. Sie wurden reichlich gespeist und dann genau so wie gestern auf ihre Pferde gebunden. Hierauf wurde der Heimritt nach der >Hauptstadt< angetreten.


Wir hatten uns nicht mit Packpferden zu befassen, denn der Ertrag der Jagd war schon vorgestern nach demselben Ziele abgegangen. Wir ritten mit dem Scheik, seiner Frau und dem Sahahr voran; die anderen folgten weit hinterher. Die Entfernung bis zur Stadt war so bedeutend, daß wir uns sehr sputen mußten, um noch vor Abend anzukommen.


Die Gegend, durch welche wir kamen, war durchaus eben, lauter auf-und angeschwemmtes Land. Häufig trafen wir auf natürliche Kanäle, die ganz das Aussehen von plötzlich erstarrten Flüssen hatten; das Wasser bewegte sich nicht, sondern es stand. Es schien aber dennoch rein zu sein, denn die Pferde tranken es, ohne sich zu weigern. Wir kamen durch ausgedehnte Wälder, meist Laubwaldungen. Dazwischen lagen grüngoldene Triften für gezogene, freigewordene oder freigeborene Rinder-und andere Herden. Das Ganze machte den Eindruck einer jungfräulichen Natur, die mit den Menschen noch nicht in Berührung getreten ist.


Alle die kleinen, schmalen Kanäle mündeten in einen außerordentlich breiten, tiefen und mit Wasser gefüllten Kanal, der einiges Gefälle zu besitzen schien, denn das Blattwerk und anderes, was auf ihm schwamm, bewegte sich, zwar langsam, aber doch in einer bestimmten Richtung.


»Das ist Es Ssul, der Fluß,« sagte der Sahahr, indem er auf das Wasser deutete.


»Der aus Dschinnistan und Ardistan kommt?« fragte ich, nicht etwa, weil ich zweifelte, sondern um auf diesen Gegenstand einzugehen.


»Ja, derselbe,« nickte er.


»Der also auch durch den Engpaß Chatar geht?«


»Ja. Man kann ihn bis hinauf verfolgen.«


»Aber dort hat er kein Wasser mehr?«


»Nein, keinen Tropfen.«


»Ich vermute, daß Eure Hauptstadt an ihm liegt?«


»Du vermutest richtig. Unser Land hat keine Berge, keine Felsen, keine Steine. Wir können keine Mauern bauen, um uns zu schützen. Nur unser Gottestempel und der Palast des Scheiks sind von Stein. Das Material hierzu wurde vor langer, langer Zeit aus Ardistan geholt. Damals bekam nämlich jeder Ussul, der dorthin reisen wollte, nur dann die Erlaubnis dazu, wenn er sich verpflichtete, einen so großen Stein mitzubringen, als ein Pferd ihn tragen konnte. Auf diese Weise sind wir zu dem Mauerwerk für die beiden Gebäude gekommen. Du wirst hierüber lachen?«


»O nein. Dieses Verfahren ist mir bekannt.«


»So tut man dasselbe auch bei Euch?«


»Ja; jedoch auf anderem Gebiete. Jede Wissenschaft und jede Kunst holt da ihr Fundament und ihre hervorragenden Bauten aus dem nächst höheren Gebiete. Ganz dasselbe ist es auch mit jedem einzelnen Geisteswerk. Es ist ein Weltgesetz, daß allüberall der Ussul das, was er nicht besitzt, obgleich er es braucht, aus Ardistan oder gar aus Dschinnistan zu holen hat. Aber Du wolltest von der Lage Eurer Residenz sprechen! Wie heißt die Stadt?«


»Ihr Name ist Ussulia. Sie ist sehr groß. Weil wir sie nicht durch Mauern decken konnten, so mußten wir sie durch das Wasser schützen. Darum wurde sie an den Strom gebaut, und darum wurde viele Jahre lang das Erdreich ausgehoben, um ihn zu zwingen, nicht nur mitten durch die Stadt, sondern auch um sie herum zu gehen. Außerdem rahmt sich jeder Besitzer das Land, das ihm gehört, durch tiefe Gräben ein. So ist fast jedes Haus eine Festung zu nennen, welche die Tschoban, wenn sie kommen, erst einzunehmen haben, ehe sie sagen können, daß sie sie besitzen. Außerdem liegt im Osten und Westen der eigentlichen Stadt je ein großer See, die beide mit in ihren Bereich gezogen sind. Da gibt es viele, viele Wohnungen, teils an das Ufer, teils in das Wasser gebaut. Die Bewohner verkehren nur schwimmend oder in Kähnen miteinander, und wenn letztere versteckt oder ganz fortgeschafft worden sind, so würde der Besitz der Stadt für die Tschoban doch unnütz sein, weil sie nicht schwimmen können. Du hast ja gehört, daß sie meinen, wenn sie schwimmen sollten, so hätte Allah ihnen Flossen und Schwimmhäute gegeben!«


Nach dieser Beschreibung mußte ich mir die Ussul als Pfahlbauern denken, und es stellte sich später allerdings heraus, daß sie es wirklich waren. Es war bei ihnen alles für den Aufenthalt am oder im Wasser eingerichtet, auch ihre Gestalt, ihre Stark-und Fettleibigkeit, ihre ganze Lebensweise. So ging es auch ihren Pferden. Zwar soll man den Menschen nicht mit dem Tiere vergleichen, aber alle diese guten, unbeholfenen Menschen schienen mir sowohl innerlich wie auch äußerlich mehr oder weniger mit Smihk, dem Dicken, verwandt zu sein.


Der Ritt verlief während des ganzen Tages für mich und Halef im höchsten Grade interesselos. Es geschah nichts, was uns beschäftigen konnte. Jeder Abweg aus der Richtung, auch der kleinste, wurde vermieden und jeder Erregung wich man aus. Ich sah, wie die Ussul vor allen Dingen ihre Bequemlichkeit liebten. Solche Menschen und solche Völker pflegen aber dann, wenn sie einmal aus ihr aufgerüttelt worden sind, viel schwerer wieder zur Ruhe zurückzukehren.


Nur einmal gab es eine Art von Szene, aber auch nicht äußerlich, sondern nur innerlich. Das war, als man sich bemühte, mir eine Beschreibung der Stadt zu geben. Man schilderte den Tempel, den Palast, die Straßen und Gassen, die freien Plätze und die wichtigsten Gebäude. Unter diesen letzteren wurde auch das Syndan genannt und mir beschrieben. Gegenwärtig war der gefährlichste unter den Gefangenen ein Wahnsinniger, der zugleich auch räudig war und der Ansteckungsgefahr wegen von allen Menschen abgesondert gehalten werden mußte. Der Wahnsinn fordert auf alle Fälle unser ganzes Mitgefühl heraus, und von einer derartigen Räude, die kein Aussatz war, hatte ich noch nie etwas gehört. Daher erkundigte ich mich nach diesem Gefangenen mit viel größerem Interesse, als ich den übrigen Gegenständen der Unterhaltung gewidmet hatte.


»Gibt es bei Euch einen Arzt, der es versteht, derartige Krankheiten richtig zu behandeln?« fragte ich, indem ich mich unbefangener stellte als ich war.


»Natürlich gibt es ihn!« antwortete der Sahahr in selbstbewußtem Tone.


»Den muß ich kennen lernen!« sagte ich.


»Du kennst ihn schon!« versicherte er.


»Wieso?«


»Ich selber bin’s!«


»Glaubst Du, ihm helfen zu können?«


»Nein. Diesem Dschirbani kann nicht geholfen werden. Er wird an der Räude sterben. Und auch sein Wahnsinn ist unheilbar. Sein Wahnsinn wächst, und die Räude frißt ihn auf. Er hat schon fast sein ganzes Haar verloren. Man hat weiter nichts zu tun, als ihn streng abzusondern, damit seine Krankheit nicht auf andere übergeht.«


»In welcher Weise äußert sich sein geistiges Leiden?«


»Darin, daß er alles anders macht, als wir.«


»Hm!« brummte ich, und Halef lächelte. Da konnte man wohl sehr Vieles anders machen, ohne grad irr im Kopf zu sein!


»Auch denkt er ganz anders als wir,« fuhr der Sahahr fort. »Er sagt es zwar nicht, aber man sieht es ihm an, daß er sich einbildet, klüger zu sein, als andere Leute. In der Religion, in der Geographie, in der Weltgeschichte, in der Kunst, ein Land und den darin wohnenden Menschenstamm zu regieren, hat er seine eigenen Ansichten. Er spricht nicht davon, aber er lehrt sie, indem er sie befolgt, indem er nach ihnen lebt und handelt. Das ist das Gefährlichste, das Allergefährlichste, was es gibt! Darum sperren wir ihn ein! Denn wer ihn sieht und ihn beobachtet, der läßt sich von ihm täuschen, gewinnt ihn lieb und handelt so wie er. Und das ist die schlimmste Art des Wahnsinns, weil er ansteckend wirkt!«


»Weißt Du, woher er solche Gedanken nimmt? Hatte er einen Lehrer?«


Bei dieser Frage wurde er verlegen.


»Einen Lehrer eigentlich nicht,« antwortete er. »Weißt Du, was ein Hamaïl ist?«


»Ja. Das ist ein Kuran, der aus Mekka stammt und den man als Andenken an die Pilgerfahrt nach dieser heiligen Stadt an einer Schnur um den Hals trägt.« Daß ich selbst einen hatte, sagte ich ihm nicht.


»Das ist richtig,« fuhr er fort. »Ein solches Hamaïl hat der Dschirbani. Aber dieses Buch an seinem Halse ist kein Kuran. Ich habe ihn einmal gebeten, hineinschauen zu dürfen, und er erlaubte es mir. Da stand die Überschrift:


>Werde Mensch; du bist noch keiner!<


Ist das nicht wahnsinnig? Ist das nicht verrückt? Und als ich ihn fragte, in wiefern wir noch keinen Menschen seien, wollte er mir weißmachen, daß in jedem Menschen gleich von Geburt an ein Tier stecke, welches man entweder totschlagen oder verhungern lassen müsse, wobei der von ihm befreite, gut, edle Mensch dann übrig bleibe. Wenn das kein Wahnsinn ist, so gibt es überhaupt keinen!«


»Könnte es nicht doch etwas anderes sein?« fragte Halef.


»Nein! Unmöglich! Ein Tier im Menschen! Bedenke doch! Ich will es Dir an einem Beispiele erläutern: Du bist Hadschi Halef Omar, der berühmte Scheik der Haddedihn, und man sagt von Dir, daß Du einen Vogel, einen Hund, einen Affen in Deinem Innern habest. Wie würdest Du Dich dazu verhalten?«


»Sehr ruhig. Es würde mir ganz und gar nicht einfallen, es in Abrede zustellen, denn unmöglich ist es nicht. Ich sehe vielmehr, daß noch ganz andere, viel größere Wunder geschehen.«


»Welche?«


»Das nächstliegende ist, daß Smihk, der Dicke, in Deinem Kopfe herumzurennen scheint. Wenn er nicht bald verhungert oder totgeschlagen wird, wird man Dich nie zu den Menschen rechnen können! Das ist es doch, was der Dschirbani meint?«


Der Sahahr schaute den Hadschi mißtrauisch von der Seite her an. Er wußte nicht, ob er die Worte des Kleinen als scherzhaft, als ernst oder gar als beleidigend betrachten solle. Darum gab er lieber keine Antwort und fuhr in seinem vorigen Thema fort:


»Der Dschirbani ist also körperlich und geistig ansteckend. Das ist aber nicht alles. Es kommt noch hinzu, daß er so schwer festzuhalten ist. Er hat schon alle Arten des Gefängnisses durchgemacht, doch gelang es ihm stets,, zu entkommen. Darum haben wir ihn nun endlich an den Ort gebracht, von wo aus eine Flucht völlig ausgeschlossen ist. Er steckt im Stachelzwinger und wird von Bärenhunden bewacht, die bei jedem Fluchtversuche ihn oder den, der ihn befreien wollte, sofort in Stücke reißen würden.«


Bei diesen Worten schauderte mich. Es wollte eine Ahnung in mir aufsteigen, daß es mit diesem angeblichen Wahnsinnigen eine ganz eigene und besondere Bewandtnis habe und daß es infolge meines Naturells und Temperaments ganz und gar nicht ausgeschlossen sei, ihm einen Dienst und Hilfe zu erweisen. Darum erkundigte ich mich nach ihm und fragte:


»Wie alt ist er?«


»Nicht viel über zwanzig Jahre.«


»Noch so jung und schon so unglücklich? Wie traurig! Von wem hat er das Buch, von dem Du sprachst?«


»Von seinem Vater.«


»Wer war sein Vater? Natürlich ein Ussul?«


»O nein. Er war ein Fremder; aber seine - - - seine - - - seine - - - Mutter war eine Ussul!«


Er sagte das stockend. Es schien ihm nicht über die Lippen zu wollen. Schließlich drückte er es förmlich heraus. Sein bärtiges Gesicht nahm einen mehr tierischen als menschlichen Ausdruck an; seine Zähne knirschten, und er fuhr fort:


»Warum soll ich es Euch nicht sagen! Ihr werdet es doch erfahren und hören! Sie war - - war - - - war meine Tochter!«


»So ist er Dein Enkel?« entfuhr es mir in der Überraschung.


»Ja.«


»Und Du sperrst ihn ein?«


»Ja, ich sperre ihn ein!« antwortete er in unendlich gehäßigem Tone.


»Zu den Hunden! Die ihn zerreißen, wenn er zu fliehen wagt!«


Da flammten seine zorneslodernden Augen zu mir herüber, und er rief, als ob man es in weite Ferne hören solle:


»Sie mögen ihn zerreißen - - zerreißen! So wie der Zorn, der Grimm und der Kummer mich zerrissen haben, als ich vergeblich mit seinem Vater rang, mein Kind vor ihm und seinem Wahn zu retten! Ich habe nichts mit diesem Räudigen gemein. Er war der Sohn meiner Tochter, also Fleisch von meinem Fleische und Blut von meinem Blute. Aber dieses Fleisch und Blut ist gestorben; es lebt nicht mehr. Er ist mir also fremd, ja fremder noch als jeder Mensch, den ich nie gesehen habe. Die Hunde mögen ihn zerreißen - - zerreißen - - - zerreißen!«


Er gab seinem Pferde einen Hieb, daß es vor Schreck zusammenzuckte und dann vorwärts stürzte. Er versuchte gar nicht, es zu zügeln; er kam uns weit voraus. Wir schauten ihm nach. Der Scheik sagte:


»Nun ist er wieder ganz in Wut getaucht. Doch hat er recht. Es gilt die Erhaltung des Stammes und die Bewahrung der Religion vor wahnsinnig falschen Gedanken. Wenn die Räude des Dschirbani sich über andere verbreitet, bekommen die Ussul sehr bald so glatte Gesichter wie die unbehaarten Völker, die keine Männer, sondern lauter Weiber sind. Und wenn die Religion verpflichtet werden soll, zu lehren, daß wir Tiere im Leibe haben, so wird die Erde sehr bald zu einem einzigen großen Irrenhaus geworden sein!«


Er dachte nicht daran, daß Halef und ich uns beleidigt fühlen konnten, weil wir doch auch zu den >unbehaarten Völkern< gehörten, >die keine Männer sind<. Seine Frau fühlte das heraus. Darum versuchte sie, die Sache abzumildern, indem sie einwand:


»Du darfst nicht verlangen, daß alle Menschen grad uns für am schönsten halten. Es ist doch ganz natürlich, daß Leute, die den Schmuck des Haares nicht besitzen, nach und nach zu der Überzeugung gekommen sind, daß man nackte Gesichter vorzuziehen habe. Du weißt doch, daß es sogar Menschen gibt, die ihren Haarschmuck künstlich entfernen, indem sie sich scheren!«


»Die sind eben wahnsinnig! Vollständig verrückt und übergeschnappt!« beteuerte er im Tone größter, unerschütterlichster Überzeugung. »Hier bei uns hat das zu gelten, was wir für schön halten. Was andere denken, geht uns nichts an. Und da sind wir, die wir das Volk regieren und über sein Glück und Wohl zu wachen haben, verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die Räude, um die es sich hier handelt, nicht weiter verbreitet werde. Von der Verwüstung, die so ein Mensch, wie der Dschirbani ist, in der Religion anrichten kann, will ich gar nicht sprechen, weil dies Sache des Sahahr ist, der die Verpflichtung übernommen hat, alles, was mit dem Gottesdienst zusammenhängt, vor Beschmutzung und Verfälschung zu schützen.«


»Aber es ist sein Enkel, gegen den er wütet! Das Kind seines eigenen Kindes!« klagte sie, von Mitleid bewegt.


»Um so höher ist es ihm anzurechnen!« versuchte er sie zu widerlegen. »Einen besseren Beweis von Gerechtigkeit und Unparteilichkeit kann es gar nicht geben!«


Er wandte sich zu mir und fuhr fort, auf sie deutend:


»Wir sind immer einig, sie und ich, in allen Stücken, nur in diesem einen nicht. Ich behaupte mit dem Sahahr, daß der Dschirbani unschädlich zu machen sei, sie aber nimmt ihn stets in Schutz. Man hat sie sogar im Verdacht, daß ihm die Flucht nicht so oft gelungen wäre, wenn sie ihn nicht dabei unterstützt hätte.«


Da machte Taldscha eine ihrer gebieterischen, zum Schweigen auffordernden Armbewegungen und sprach:


»Seine Mutter war meine Freundin von ihrer frühesten Jugend an und ist es geblieben, bis sie starb. Sie war jünger als ich, und ich betrachtete sie ebenso als Schützling wie als Freundin. Ich hatte sie lieb, sehr lieb, und nahm mich ihrer an, als sie verstoßen wurde. Sie starb vor Sehnsucht und vor Herzeleid, und nun sie tot ist, lenke ich meine Liebe auf den über, den sie uns hinterlassen hat. Interessierst Du Dich für solche Dinge, Effendi?«


»Sogar sehr!« antwortete ich. »Fast möchte ich Dich bitten, mir noch mehr von diesem Dschirbani zu erzählen.«


»Es gibt keine lange Erzählung, mit der ich Dich da ermüden könnte. Die Sache ist sehr kurz und sehr einfach. Es kam ein fremder Mann in unser Land, der aus Dschinnistan stammte und gar nicht die Absicht hatte, bei uns zu bleiben. Der sah meine Freundin und gewann sie lieb, sie ihn ebenso. Ihretwegen beschloß er, bei uns zu bleiben. Um Ussul werden zu können, mußte er, wie Du weißt, mit einem Ussul kämpfen und ihn besiegen. Das geschah, und zwar sehr leicht, denn der Dschinnistani war zwar unbehaart und von kleinerer Körpergestalt als wir, aber so stark, gewandt und geschickt, daß ihm die rohe Kraft seines Gegners nicht widerstehen konnte. Sobald er Ussul geworden war, begehrte er meine Freundin von ihrem Vater zur Frau. Dieser verweigerte sie ihm, und zwar aus körperlichen und geistigen Gründen. Der Sahahr schien ihm an sich schon nicht geneigt zu sein. Sodann behauptete er, als Sahahr der Ussul verpflichtet zu sein, einer körperlichen Entartung des Stammes in jedem, also auch in diesem Falle entgegenzutreten. Und schließlich war er mit den Menschheitszielen, von denen der Dschinnistani nicht nur sprach, sondern förmlich schwärmte, nicht einverstanden. Der Letztere versicherte, daß die Menschheit nur durch Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit, durch Liebe und Güte, vorwärts kommen könne. Der Sahahr aber haßte das; er haßt es auch noch heut. Er bezeichnet es als Feigheit, als Dummheit, als Verweichlichung, und ist der Ansicht, daß die Ussul an dieser Menschheitsliebe, falls sie bei uns überhand nähme, unbedingt zugrunde gehen würden. Er fiel, so oft er konnte, über den Dschinnistani her; er hielt ihn nicht nur für allgemein schädlich, sondern auch für seinen persönlichen Feind, der ihm die Tochter rauben und verführen wolle. Er erklärte, daß er lieber sterben als sein Kind einem Manne aus Dschinnistan zum Weibe geben werde. Darum kam die Sache vor den großen Rat der Stammesältesten, und dieser entschied genau so, wie er nach den Gesetzen der Ussul zu entscheiden hatte: der Sahahr und der Dschinnistani hatten miteinander zu kämpfen; dem Sieger fiel die Tochter des Ersteren zu. Dieser war so ergrimmt und seines Sieges so gewiß, daß er die Bedingungen bis auf Leben und Tod verschärfen ließ. Aber es kam ganz anders, als er dachte, und er unterlag; der Dschinnistani aber schonte ihn und schenkte ihm das Leben. Die Ehe ist eine außerordentlich glückliche gewesen, obgleich sie dadurch getrübt wurde, daß der Sahahr seine Tochter für immer verstieß und seinen Schwiegersohn unausgesetzt und bis zur Unversöhnlichkeit verfolgte. Es wurde ein Sohn geboren, der sich äußerlich zum behaarten Ussul, innerlich aber zum Dschinnistani entwickelte und in jeder Beziehung der Stolz und die Freude seiner Eltern war. Seine Mutter gab ihm den riesenstarken Körper und die reine, liebenswerte Seele. Sein Vater aber schenkte ihm den Geist von Dschinnistan, wurde sein Lehrer und Führer, sein Vorbild und Ideal, dem der Sohn ähnlich zu werden strebte. Ich habe oft dabeigesessen, wenn dieser Geist aus diesem Manne zu seinem Weibe und zu seinem Kinde sprach. Was ich da hörte, ist tief in mich gedrungen und hat sich festgesetzt, um niemals mehr zu weichen. Darum gleiche ich nicht ganz den anderen Frauen der Ussul, und darum nehme ich mich dieses Dschirbani an, den ich weder für wahnsinnig noch für krank halte.«


»Wie?« fragte ich. »Du hältst ihn nicht für räudig? Wie kann ihn da der Sahahr dafür halten? Es müssen doch Hautflecke, Knötchen, Bläschen, Schuppen und Borken zu sehen sein!«


»Nein! Keine Spur davon!«


»Wirklich nicht?«


»Gewiß nicht. Seine Haut ist so weiß und rein wie das Weiße meines Auges!«


»Aber da kann man doch unmöglich von Räude oder irgend einer anderen Hautkrankheit reden!«


»Das meine ich auch!« stimmte sie bei.


»Ich nicht!« widersprach er. »Es gibt einen Ausschlag, den man die unsichtbare Räude nennt. Die ist die allergefährlichste! Denn weil man sie nicht sieht, frißt sie sich ein, bis sie unheilbar geworden ist.«


»Davon habe ich noch nie gehört!« sagte ich.


»Es ist nur eine Erfindung, eine Ausrede des Sahahr!« erklärte sie. »Die Kunde von dieser unsichtbaren Krankheit stammt nur von ihm allein. Ich glaube nicht an sie!«


»Er ist der Sahahr, der oberste Zauberer und Arzt des ganzen Landes,« fuhr der Scheik fort, uns zu widersprechen. »Der weiß, was er sagt, und ich habe mich in allen Stücken nach seinem Urteile zu richten. Wenn es auch keine äußeren Zeichen und Merkmale dieser verheerenden Krankheit gibt, so ist es doch bewiesen, daß sie vorhanden ist. Der Kranke verliert das Haar, es fällt ihm aus. Wenn das so weitergeht, so wird es gar nicht lange dauern, daß er seinem Vater gleicht und ihn nur die Körpergröße als einen Ussul kennzeichnet!«


Da fiel Taldscha rasch ein:


»Grad hiermit beweist Du, daß keine Krankheit vorhanden ist! Daß seine riesige Gestalt und seine kindlich reine Seele von seiner Mutter stammen, bleibt unbestritten. Das wird er behalten, so lange er lebt. Das andere aber ist nur vorübergehend. Er wird sich in dieser Beziehung aus dem Ussul in den Dschinnistani verwandeln, der sein Vater gewesen ist. Es war die größte Sünde, die Ihr begehen konntet, ihn mit wirklichen Aussätzigen zusammenzusperren und - - -«


»Wie? Was?« warf ich dazwischen. »Mit wirklichen Aussätzigen? Ist das wahr?«


»Ja, allerdings!« gestand sie. »Wunderst Du Dich darüber, daß es hier bei uns den Aussatz gibt?«


»O nein, gewiß nicht. Es wäre vielmehr ein Wunder, wenn es ihn nicht gäbe. Aber hoffentlich sondert auch Ihr diese Kranken ab.«


»Natürlich, man weiß es gar nicht anders.«


»Und mit solchen Aussätzigen hat man den Dschirbani zusammengesperrt?«


»Immer und jahrelang!«


»Das klingt ja genau so, als ob man gewünscht hätte, daß er aussätzig werde!«


Diese Worte entfuhren mir gewissermaßen in der Eile. Kaum hatte ich sie ausgesprochen, so hielt die Frau des Scheiks ihr Pferd an, wendete sich mir voll zu, reichte mir die Hand und sagte:


»Ich danke Dir, Effendi, ich danke Dir! Du hast da ganz meinen Gedanken ausgesprochen, der mich bis jetzt gepeinigt hat. Er hat mich oft mit dem Scheik entzweit, der mir sonst alles zuliebe tut, aber grad dieses eine nicht zu können scheint, nämlich den Sahahr einer derartigen Rache für fähig zu halten. So oft es dem Dschirbani gelang, der entsetzlichen Gefangenschaft zu entfliehen, habe ich im stillen gejubelt; doch die Freude dauerte immer nur kurze Zeit, dann brachte man den Armen gebunden und gefesselt wieder, oder man fand ihn, zum Tode erschöpft, im tiefsten Walde liegen. Kein Ussul getraute sich, ihn bei sich aufzunehmen, und wenn der Unglückliche versuchte, sich in das Land der Tschoban hinüberzuretten, so galt er bei diesen erst recht für ansteckend krank und wurde von ihnen wieder über die Grenze herübergetrieben. Nun hat man ihn gar in den Stachelzwinger gesperrt und läßt ihn von den Blut-und Bärenhunden bewachen. Da gibt es kein Entrinnen, so lange er überhaupt lebt!«


»Oho!« rief da der kleine Hadschi aus.


»Was?« fragte sie ihn. »Wozu dieser Ruf?«


»Ich glaube nicht, daß es keine Hilfe gibt.«


»Wer sollte da helfen?«


»Mein Effendi! Es gibt weder einen Blut-noch einen Bärenhund, vor dem er sich fürchten würde. Wenn er den Dschirbani aus dem Stachelzwinger heraus haben will, so holt er ihn heraus; darauf kannst Du Dich verlassen!«


»Wirklich?« fragte sie.


»Ja, wirklich!« nickte er. »Auch ist mein Sihdi doch nicht allein da, sondern ich stehe an seiner Seite und helfe ihm. Du willst mich zwar verachten, aber wenn es darauf ankommt, diesem armen Enkel eines rachsüchtigen Zauberers Hilfe zu bringen, so glaube ich, wohl imstande zu sein, mir Achtung zu verschaffen.«


Inzwischen war der Sahahr in seinem Zorne weit vorausgeritten. Als Taldscha jetzt ihr Pferd anhielt, um mir die Hand zu geben, hielt auch ich und Halef an; der Scheik aber ritt in dem bisherigen Schritte weiter. So befanden wir uns für diese kurze Zeit mit seiner Frau allein, und so kam es, daß wir mit ihr jetzt einige Worte wechseln konnten, die er nicht hörte.


Taldscha warf zuerst einen forschenden Blick auf Halef, dann sagte sie in ihrer aufrichtigen, fast möchte ich sagen, hochherzigen Weise: »Es war falsch von mir, Dich verachten zu wollen. Ich will Euch nicht verhehlen, daß ich auch heute noch auf der Seite des Dschirbani stehe, doch hat der Sahahr in diesem Falle die größere Macht in den Händen, weil er so klug gewesen ist, diese Angelegenheit auf das religiöse Gebiet hinüberzuspielen, wo es nicht geraten ist, sich ihn zum Feinde zu machen. Wie dankbar würde ich Euch sein, wenn Ihr mir helfen könntet, mir und ihm!«


»Wir wollen!« versprach Halef. »Ich bin während Eurer ganzen Unterredung still gewesen; aber es ist mir kein Wort davon entgangen. Ich bin weder ein Arzt, noch ein Priester, noch ein Zauberer, aber Allah hat mir gewiß nicht weniger Verstand in den Kopf gelegt als Euerm Sahahr. Und dieser Verstand sagt mir, daß dem Dschirbani großes Unrecht geschehen ist und heute noch geschieht. Ich bin bereit, alles für ihn zu tun, was mir möglich ist, und wenn es so ist, wie ich mir es denke, so brauche ich gar keinen anderen Menschen dazu, sondern mache es ganz allein!«


Er sagte das in seinem überzeugungsvollsten Tone. Sie schaute ungläubig auf den kleinen Kerl hernieder und fragte:


»Du ganz allein! Gegen die Stachelwände? Gegen die Bärenhunde? Gegen den Willen des Scheiks? Gegen die Macht des Sahahr? Und gegen die vielen Menschen alle, die an ihn glauben und auf ihn schwören? Du, der Fremde, der heute erst zu uns gekommen ist und uns also noch gar nicht kennt! Ja, der sich eigentlich als unsern Gefangenen zu betrachten hat! Und Du sprichst davon, ehe Du unsere Stadt auch nur gesehen hast, einen Gefangenen von dort zu befreien!«


Da lachte Halef fröhlich und sagte:


»Wir Eure Gefangenen? Es ist gewiß nicht höflich, eine Frau Deines Ranges auszulachen, aber wenn Du diese Worte wiederholtest, würdest Du mich zwingen, diese Unhöflichkeit dennoch zu begehen. Ich habe es weder mit den Stacheln und Bluthunden noch mit dem Scheik und den Ussul, die an ihren Zauberer glauben, zu tun, sondern ganz allein nur mit diesem Zauberer selbst. Sage mir, Herrin der Ussul, ob der Sahahr den Tod verachtet?«


»Das tut er keineswegs; er liebt im Gegenteil das Leben sehr,« antwortete sie.


»Ah! Hast Du gesehen, was für einen Eindruck es auf ihn machte, als ich ihm sagte, daß ich mit keinem anderen kämpfen wolle, als nur mit ihm?«


»Ich habe es gesehen.«


»Es schien ihm gar nicht angenehm zu sein.«


»Gewiß nicht. Er ist überhaupt niemals ein Held im Kampf gewesen, und seit er trotz seiner überlegenen Körperstärke damals von dem Dschinnistani besiegt worden ist, hat sich seine Vorsicht gesteigert. Er hat die Wirkung Eurer Waffen kennen gelernt, und es konnte ihm nicht entgehen, daß Ihr alles anders, besser und erfolgreicher als wir, in die Hand zu nehmen wißt. Ich zweifle gar nicht daran, daß er sich vor einem Kampfe mit Dir fürchtet.«


»Und dieser Kampf ist unvermeidlich?«


»Eigentlich, ja. Aber es wurde schon davon gesprochen, ihn Euch zu erlassen, da Ihr ja genügsam bewiesen habt, daß Ihr würdig seid, Freunde und Verbündete der Ussul zu sein.«


»Wie gütig! Wie freundlich!« scherzte Halef. »Aber die Sache liegt für uns ganz anders, als für Euch. Wir beanspruchen dieselben Rechte wie Ihr. Das heißt, daß der Sahahr zu beweisen hat, daß er würdig ist, unser Freund und Verbündeter zu sein. Wenn er so furchtsam ist, uns den Kampf schenken zu wollen, so sind dagegen wir mutig genug, ihn zu bestehen!«


»Welch ein Gedanke!« wunderte sie sich. »Aber Du hast ganz recht.«


»Und höre mich weiter! Es ist Allahs Gebot, daß der Mensch in genau derselben Weise bestraft wird, in der er gesündigt hat. Als der Sahahr damals mit dem Dschinnistani kämpfte, wagte er es, den Kampf bis auf Leben und Tod zu treiben. Er wußte, daß seine Körperkräfte größer waren, als die des anderen, und war so töricht, die Kräfte der Seele und des Geistes nicht in Berechnung zu ziehen. Darum wurde er besiegt. Das war die einfache Folge, aber noch nicht Strafe. Diese eigentliche Strafe kommt erst jetzt, wo er einen ganz ähnlichen Kampf bestehen soll. Ich verlange nämlich genau so wie damals er, daß es um Tod oder Leben gehe. Was daraus folgt, kannst Du Dir denken!«


»Was?« fragte sie, in hohem Grade gespannt.


Halef antwortete:


»Entweder bittet mich der Sahahr, von diesem Verlangen abzustehen, dann werde ich es nur unter der einen Bedingung tun, daß er dem Dschirbani die Freiheit gibt. Oder er schämt sich, so feig zu sein, und geht dann auf meine Forderung ein. Nun, so kommt es eben zu einer Entscheidung auf Leben und Tod, und mein Effendi wird mir gern bezeugen, daß da nur ein einziger Ausgang möglich ist, nämlich der, daß der Sahahr stirbt. Ist der aber tot, dann wird wohl niemand den Dschirbani länger quälen wollen.«


»Diese Deine Gedanken sind nicht übel,« erklärte sie; »aber der letzte ist falsch. Nämlich der Dschirbani würde auch nach dem Tode des Sahahr für ansteckend räudig gelten. Man glaubt daran, und was sich im Kopfe solcher Menschen festgesetzt hat, das ist nur schwer zu beseitigen. Ich spreche mit Euch noch weiter über diese Sache. Jetzt müssen wir dem Scheik nacheilen, er wartet.«


»Noch eines möchte ich gern wissen,« bat Halef.


»Und das ist?«


»Was ist aus dem Dschinnistani, dem Vater des Dschirbani, geworden?«


Im Weiterritte antwortete sie:


»Er ritt jährlich einmal, genau zur Zeit der Sonnenwende, hinauf nach Dschinnistan zu denen, die ihn liebten. Dort holte er Bücher, die er las und aus denen er Weib und Kind unterrichtete. Von dort brachte er nach und nach auch jene weißen Steine mit dunklen Worten mit, die heut auf der Insel der Heiden zu sehen und zu lesen sind. Der Sahahr war ganz dagegen, daß diese Steine aufgerichtet würden. Er bezeichnete ihre Inschrift als die größte Verrücktheit, die es geben kann; aber weil die Insel Eigentum des Dschinnistani geworden war und seinem Sohne heute noch gehört, hatte der das Recht, dort zu tun, was ihm beliebte. Er stellte die Schriftsäule in die Nähe seines Lotosweihers und beschattete sie mit duftenden Nelken-und Magnolienbäumen.«


»Warum hast Du diesen Ort die Insel der Heiden genannt?«


»Weil er eine Insel ist und weil der Dschinnistani nach unsern Begriffen ein Heide war, denn wer nicht an den Gott der Ussul glaubt, der ist ein Heide.«


»So ist also auch sein Sohn, der Dschirbani, nach Deiner Ansicht ein Heide?«


»Ja.«


»Und dennoch liebst Du ihn?«


»Ganz gewiß! Ist es bei Euch wohl anders? Haßt und verfolgt Ihr Eure Heiden? Haltet Ihr sie vielleicht gar für schlechtere, für minderwertige Menschen?«


»Ja, das tut der Islam allerdings.«


»Wie falsch!«


»Falsch? Ist es wohl richtiger, sie für räudig oder für verrückt zu erklären?«


Die Frau des Scheiks ging in echter Frauenweise über diese Frage hinweg, als hätte sie sie gar nicht gehört, und sagte:


»Du wolltest wissen, was aus dem Dschinnistani geworden ist, und ich teile Dir mit, daß er jährlich hinauf nach seiner Heimat geritten ist. Einst kehrte er nicht mehr zurück. Man hat ihn nie wieder gesehen. Alle Nachforschungen sind vergeblich gewesen. So war man gezwungen, anzunehmen, daß er unterwegs in die Hände der Tschoban gefallen ist, die ihn ermordet haben. Hierüber ist seine Witwe, meine Freundin, vor Schmerz und Gram zugrunde gegangen. Ihr Sohn hat sie auf der Insel der Heiden bestattet und ihr mitten unter Blumen einen Stein gesetzt, auf dem geschrieben steht:


>Das Erdenleben ist ein Läuterungsfeuer, aus dem Dich nur der Glaube befreien und zum wahren Menschen erheben kann!<


Wenn Ihr es wünschet, werde ich Euch nach dieser Insel führen, um Euch das Grab und die Schriftsäule zu zeigen. Jetzt aber sprechen wir nicht mehr davon; der Scheik hat es nicht gern.«


Wir hatten diesen nämlich jetzt eingeholt und erreichten bald hernach auch den Sahahr, der sich inzwischen beruhigt hatte und nun über die Raschheit seines Temperaments verlegen zu sein schien. Die sich jetzt entspinnende Unterhaltung vermied den bisherigen Gegenstand. Ich beteiligte mich fast gar nicht an ihr, denn, was ich über den Dschirbani gehört hatte, beschäftigte meine Gedanken und Empfindungen vollständig. Ich begann zu ahnen, daß sich mir hier bei den Ussul eine Welt erschließen werde, welche bis jetzt der meinigen größtenteils fremd gewesen war.


Etwas über die Mitte des Nachmittages kam uns eine Menge Reiter entgegen, die uns von der Stadt aus zu begrüßen hatten. Es waren die Ältesten und allerlei Beamte oder sonstwie Leute, die irgend eine nicht ganz gewöhnliche Stellung inne hatten. Sie waren über uns unterrichtet, denn sie hatten die gestrige Botschaft ihres Scheiks erhalten. Daß der >Erstgeborene< der Tschoban ergriffen worden sei, war für sie eine Neuigkeit von allergrößter Wichtigkeit. Sie waren uns entgegengeritten, um ihn so bald wie möglich zu sehen. Und nicht minder groß war ihr Interesse für die beiden Fremden, denen sie diesen Fang zu verdanken hatten. Sie sahen uns wie Wunderwesen an, und als ich während des Weitermarsches gelegentlich einige gut gezielte Schüsse abfeuerte, wuchs ihre Bewunderung ins Riesenhafte. Ich meinerseits verhielt mich zurückhaltend gegen sie; ich brachte ihnen zunächst nur ein allgemeines, wissenschaftliches Interesse entgegen. Sie zeichneten sich alle durch ungewöhnliche Körpergröße und Behaarung aus. Man gewann wirklich den Eindruck, daß es bei ihnen keine Ehre sei, Gesichter zu haben wie die unserigen. In ihrer Kleidung und Bewaffnung glichen sie dem Scheik. Die ganze Truppe, die über vierzig Personen stark war, zählte nur fünf schlechte Gewehre. Ihre Gäule glichen Smihk, dem Dicken, doch muß ich aufrichtig gestehen, daß dieser noch der schönste und der edelste von allen war.


Der kleine Hadschi verhielt sich ganz anders als ich. Kaum hatte er sie gesehen, so wurde er auch schon vertraulich mit ihnen. Die Achtung, mit der sie ihn trotz seiner geringen Körpergröße behandelten, gefiel ihm ungemein. Als sie den Wunsch äußerten, die drei Tschoban zu sehen, erklärte er sich sofort bereit, mit ihnen zurückzubleiben, um sie ihnen zu zeigen und hierbei zu erzählen, wie es uns gelungen sei, sie zu besiegen und festzunehmen. Ich hütete mich, ihn hiervon abzuhalten, denn daß er nur bestrebt sein werde, ihre Hochachtung zu vermehren, anstatt sie zu vermindern, das wußte ich ganz genau. Er wartete also mit ihnen, um unsern eigentlichen Trupp mit den Gefangenen herankommen zu lassen. Nur die Ältesten, fast lauter hochbejahrte Leute, blieben bei uns und kehrten um, uns zu begleiten.


Die Einsamkeit, die uns bisher begleitet hatte, minderte sich. Schon tauchten hier und da Leute aus dem Volke auf, und es zeigten sich größere und kleinere Herden von Pferden, Rindern, Schafen, sogar von Ziegen. Hirten standen dabei. Auch etwas Ähnliches wie Felder trat auf. Bei uns in Deutschland würde man freilich derartige Stellen für vollständig verwahrlost und verwildert halten. Der Wald begann zurückzuweichen. Wo Bäume standen, waren es entweder Überreste des Waldes, oder man hatte sie aus Nützlichkeitsrücksichten neu gepflanzt. Wir erreichten ein Netz von Kanälen, an deren Ufern man zuweilen eine Hütte liegen sah, manches Häuschen war auf Pfählen im Wasser errichtet und bestand ausschließlich aus zusammengefügten Stämmen, Hölzern und Knüppeln, deren Zwischenräume zugestopft und verschmiert worden waren. Die Türen und Fenster waren, zumal für Ussulgestalten, fast lächerlich niedrig, schmal, eng und klein. Diese Pfahlbauten lagen anfangs weit auseinander; erst allmählich näherten sie sich und die eigentliche Stadt begann. Nun hielten auch wir an, um die Zurückgebliebenen mit den Gefangenen zu erwarten, denn es war ein >großer Einzug< geplant.


Noch ehe diese zu uns gestoßen waren, erschienen auch vor uns Leute, denn das Gerücht von unserer Ankunft hatte sich rasch verbreitet. Diese Leute wurden zahlreicher, aber keineswegs in der lauten, energischen und frohen Weise, in welcher der Deutsche einen derartigen Auflauf zu veranstalten pflegt, sondern still, langsam und schwerfällig, als ob es in der Seele gar nichts gebe, was die Arme und die Beine zwingen könne, sich auch einmal etwas lebhafter zu bewegen als gewöhnlich. Diese Menschen glichen ganz und gar dem geräuschlosen, stauenden Wasser ihres Landes. In dieser innerlichen und äußerlichen Schwere lag es auch, daß man im Kriege lieber hier sitzen blieb und sich von den heranziehenden Tschoban belagern und aushungern ließ, als daß man ihnen entschieden und schnell zuvorkam, um sie schon gleich an der Grenze zurückzuschlagen. Wenn ich hoffte, sie zu diesem letzteren Verhalten begeistern zu können, so unterlag es gar keinem Zweifel, daß dies nur unter Anwendung ganz besonderer Mittel zu erreichen sei.


Endlich holten die Zurückgebliebenen uns ein. Halef nickte mir schon von weitem zu. Er lächelte beinahe übermütig und zeigte überhaupt ein sehr befriedigtes Gesicht. Als sich der Zug nun wieder in Bewegung setzte, ritten wir beide nebeneinander, und da sagte er:


»Sihdi, es steht alles gut, sehr gut! Ich habe es vortrefflich eingeleitet!«


»Was?« fragte ich.


»Den Kriegszug nach dem Engpaß Chatar. Ich habe erzählt, was damals in dem Tal der Stufen geschah. Ich habe berichtet, was Du damals ganz allein ausgerichtet und vollendet hast. Ich habe geschildert, wie die feindlichen Stämme der Dschowari, der Abu Hammed und der Obeïde damals von Dir an ihren langen Nasen in die Gefangenschaft geführt worden sind. Ich habe ihnen versichert, daß es uns ganz gewiß nicht schwer fallen wird, so Ähnliches auch hier zu tun. Sie wissen schon alles. Sie kennen sogar schon die Länge, Breite, Höhe und Schwere des Löwen, den Du damals in der Nacht geschossen hast, ganz allein, während Hunderte in den Zelten steckten und sich fürchteten. Sie staunen über Dich, alle, alle! Über Deine Klugheit und Bedachtsamkeit, über Deinen Mut und Deine Stärke! Sie werden Dir gern gehorsam sein und alles tun, was Du von ihnen verlangst.«


Das klang wohl sehr befriedigend, nur kannte ich leider meinen kleinen Hadschi Halef Omar allzugut, als daß ich seine Rede wörtlich genommen hätte. Wenn er sagte >Deinen< Mut und >Deine< Klugheit, so war dieses >Deine< sicherlich in >meine< umzuwandeln. So stille und sinnende Leute, wie die Ussul waren, pflegen aber ein scharfes Auge und Ohr für Übertreibungen zu haben. Ich hütete mich also, mich an der Begeisterung Halefs zu erwärmen, und tat, als ob die Umgebung, durch die wir kamen, mich vollauf beschäftigte, so daß ich für seine Worte keine Aufmerksamkeit mehr übrig habe.


Die Stadt lag auf einer ebenen Fläche, die nicht die geringste Erhebung zeigte und durch unzählige Kanäle und kleinere Gräben in Vierecke eingeteilt wurde. Zuweilen bildete sich auch, wenn mehrere Gräben zusammenstießen, entweder ein Drei-oder Mehreck. An den Außenseiten der Stadt hatte jede derartige Landfigur nur ein einziges Gebäude zu tragen; im Innern der Stadt aber rückten die Wohnungen einander näher. Da standen oftmals zwei, drei oder auch mehrere zusammen. Stets aber bestanden die Häuser und Hütten aus dem schon beschriebenen Material und glichen einander vollkommen in der Bauart. Mauern waren unmöglich; auch trennende Zäune gab es nicht, weil ja Gräben vorhanden waren. Wer nicht ganz und gar offen vor den Augen des Nachbars wohnen wollte, der schützte sich durch Büsche und Sträucher, die alle den wasserliebenden Pflanzenarten angehörten. Der Baumschlag war sehr spärlich. Obstbäume nach unseren Begriffen sah man nicht. Wo sich Baum oder Busch mit Früchten zeigte, schien er mir unmittelbares Naturerzeugnis, nicht aber Veredelung zu sein. Weil der Verkehr der Einwohner unter sich nur auf dem Wasser bewerkstelligt werden konnte, nahmen wir alle möglichen Arten primitiver Ruderfahrzeuge wahr, vom großen Einbaum im Flusse an bis zu dem kleinen, aus zusammengebundenen Weidenruten bestehenden Flosse im seichten Graben herab. Brücken waren auffallend wenige zu sehen. Jedenfalls liebte man diese Art der Verbindung nicht. Was man nicht einfach überspringen konnte, das wurde durch Rudern oder Schwimmen überwunden. Wir sahen nicht nur Kinder, die wie die Fische schwammen und tauchten, sondern auch Erwachsene, die ganz dasselbe taten. Daß dabei ihre allerdings spärliche Bekleidung naß wurde, daran lag ihnen offenbar nichts.

Ardistan und Dschinnistan

Подняться наверх