Читать книгу Waldröschen I. Die Tochter des Granden - Karl May - Страница 1
1. Kapitel
Оглавление»Oh, wende deine Strahlenaugen
Von meinem bleichen Angesicht;
Ich darf ja meinen Blick nicht tauchen
Zu tief in das verzehrend Licht. —
Wenn unter deiner Wimper Schatten
Der Liebe mächt‘ge Sonne winkt,
So muß mein armes Herz ermatten,
Bis es in Wonne untersinkt.«
Von den südlichen Ausläufern der Pyrenäen kommend, trabte ein Reiter auf die altberühmte Stadt Manresa zu. Er ritt ein ungewöhnlich starkes Maultier, und dies hatte seinen guten Grund, denn er selbst war von hoher, mächtiger Gestalt. Wer nur einen einzigen Blick auf ihn warf, der sah sofort, daß dieser riesige Reitersmann eine ganz ungewöhnliche Körperkraft besitzen mußte. Und wie die Erfahrung lehrt, daß gerade solche Kraftgestalten das friedfertigste Gemüt besitzen, so lag auch auf dem offenen und vertrauenerweckenden Gesicht dieses Mannes ein Ausdruck, der keinen Glauben an den Mißbrauch so außergewöhnlicher Körperstärke aufkommen ließ.
Sein blondes Haar und seine Züge berechtigten zu der Vermutung, daß er kein Südländer sei; doch war sein Gesicht von der Sonne tief gebräunt, und seine Augen hatten jenen scharfen, umfassenden und durchdringenden Blick, den man nur an Seeleuten, Präriejägern oder sehr weit gereisten Männern zu beobachten pflegt.
Er mochte vielleicht sechsundzwanzig Jahre zählen, doch sein ganzes Wesen atmete jene Ruhe, Erfahrung und Gewißheit, die den Menschen älter erscheinen lassen, als er ist. Seine nach französischem Schnitt gefertigte Kleidung war aus feinen Stoffen, aber bequem gearbeitet, und hinter dem Sattel war ein Reitfelleisen befestigt, das Dinge zu enthalten schien, die dem Reiter wertvoll waren, denn wie unwillkürlich griff er zuweilen danach, um sich zu überzeugen, ob es noch vorhanden sei.
Als er Manresa erreichte, war es bereits am späten Nachmittag. Er ritt durch die alten Mauern und engen Straßen, bis er die Plaza – den Marktplatz – erreichte, wo er ein neugebautes, hohes Haus bemerkte, über dessen Tür in goldenen Lettern zu lesen war,»Hotel Rodriganda«. Der Schärfe seines Rittes nach war zu vermuten, daß er gar nicht beabsichtigt hatte, in Manresa Einkehr zu halten; sobald er aber dieses Schild gelesen, lenkte er sein Tier in kurzem Trab nach dem Tor des Hotels und stieg ab.
Jetzt erst, als sein Fuß die Erde berührte, konnte man seine imposante Erscheinung voll bewundern. Wenn im ersten Augenblick das Herkulische seiner Figur außergewöhnlich erscheinen mußte, so war es doch sogleich die schöne Harmonie seines Gliederbaus, die jenen Eindruck milderte und neben der Bewunderung und Achtung eine freundliche Zuneigung erweckte.
Einige dienstbare Geister eilten herbei, um ihm behilflich zu sein. Er überließ ihnen sein Maultier und trat in den Raum, der für vornehmere Gäste reserviert zu sein schien. Dort befand sich nur ein einziger Mann, der sich bei seinem Eintritt höflich erhob.
»Buenas tardes – guten Abend!« grüßte der Fremde. – »Buenas tardes!« antwortete der Mann. »Ich bin der Wirt. Befehlen Eure Gnaden vielleicht eine Wohnung?« – »Nein, gebt einen Imbiß und eine Flasche Vinto regio.«
Der Wirt erteilte die betreffenden Befehle und fragte dann:
»So wollen Sie heute nicht in Manresa bleiben?« – »Ich reite noch bis Rodriganda. Wie weit ist es bis dahin?« – »Sie werden es in einer Stunde erreichen, Señor. Es sah aus, als ob Sie erst die Absicht hätten, an meinem Hotel vorüberzureiten.« – »Allerdings«, antwortete der Fremde. »Der Name Ihres Hotels hielt mich zurück. Warum nennen Sie Ihr Haus Rodriganda?« – »Weil ich längere Jahre Diener des Grafen war und es seiner Güte verdanke, daß ich mir dasselbe bauen konnte.« – »So kennen Sie die Verhältnisse des Grafen genau?« – »Sehr genau.« – »Ich bin Arzt und stehe im Begriff, mich ihm vorzustellen. Es wäre mir lieb, mich orientieren zu können. Wer sind die Personen, die man auf Schloß Rodriganda antrifft?«
Der Wirt schien, im Gegensatz zu seinen Landsleuten, ein menschenfreundlicher Mann zu sein. Vielleicht war es ihm auch lieb, in der einsamen Nachmittagsstunde eine Unterhaltung zu finden. Redselig antwortete er:
»Ich bin gern bereit, Ihnen jede Auskunft zu geben, Señor. Ich höre an Ihrer Aussprache des Spanischen, daß Sie ein Ausländer sind. Jedenfalls sind Sie von dem kranken Grafen herbeigerufen worden?«
Der Fremde wiegte den Kopf leise hin und her, als sei er zweifelhaft, welche Antwort er geben solle, dann meinte er:
»Es ist so ähnlich, wie Sie meinen. Ich bin ein Deutscher und heiße Sternau, war jedoch längere Zeit erster Assistenzarzt bei dem Professor Letourbier in Paris und wurde dort vor kurzem gebeten, schleunigst nach Rodriganda zu kommen.« – »Ach so! Vielleicht finden Sie den Grafen gar nicht mehr am Leben.« – »Warum?« – »Er ist seit längeren Jahren blind, unheilbar blind, wie die Ärzte sagen, und seit letzter Zeit hat sich auch ein arges Steinleiden bei ihm entwickelt, das neben seiner außerordentlichen Schmerzhaftigkeit schließlich lebensgefährlich wurde. Nur eine Operation kann ihm helfen. Er war bereit, sie vornehmen zu lassen, und rief zu diesem Zweck zwei der berühmtesten Chirurgen an sein Krankenbett, fand aber ganz unerwarteten Widerstand bei seiner einzigen Tochter, Condesa Rosa. Die Ärzte konnten jedoch nicht warten, und gestern hörte ich, daß heute der Schnitt vorgenommen werden sollte.« – »O wehe, so komme ich zu spät!« rief der Fremde, indem er emporsprang. »Ich muß schleunigst fort. Vielleicht ist es noch Zeit.« – »Schwerlich, Señor. Einen solchen Schnitt führt kein Arzt in der Stunde der Dämmerung aus. Übrigens ist es doch möglich, daß man noch gewartet hat, da die gnädige Condesa die Operation von Tag zu Tag verschieben ließ, obgleich die Ärzte, und besonders der Sohn des Grafen, keinen Aufschub gelten lassen wollten.« – »Der Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla hat einen Sohn?« – »Ja, einen einzigen; es ist Graf Alfonzo, der eine lange Reihe von Jahren in Mexiko gewesen ist, wo sein Vater höchst ausgedehnte und reiche Besitzungen hat. Er wurde jetzt nach Hause gerufen, um bei der Operation, die ja den Tod zur Folge haben kann, gegenwärtig zu sein. Graf Emanuel hat natürlich vorher sein Testament gemacht« – »Welche Personen sind außer dem Grafen und seinen beiden Kindern auf Schloß Rodriganda noch erwähnenswert?« – »Da ist zunächst Señora Clarissa, eine sehr entfernte Verwandte des Hauses. Sie ist Oberin des Stiftes der Karmeliterinnen zu Saragossa und zugleich die Duenja der jungen Gräfin, da dieselbe keine Mutter mehr besitzt. Schwester Clarissa ist sehr fromm, wird aber von Condesa Rosa nicht geliebt. Ferner ist da Señor Gasparino Cortejo, eigentlich Advokat und Notar hier in Manresa, der aber sehr viel auf Schloß Rodriganda verkehrt, weil er der Verwalter des gräflichen Vermögens ist. Auch er ist sehr fromm und dabei außerordentlich stolz. Ich könnte auch noch erwähnen den guten Kastellan Juan Alimpo und sein Frau Elvira, treue und brave Leute, die ich Ihnen empfehlen kann. Andere sind nicht zu nennen, da der Graf sehr einsam lebt.« – »Kennen Sie nicht den Namen Mindrello?« – »Oh, den kennt ein jedes Kind. Mindrello ist ein armer, ehrlicher Teufel, den man in Verdacht hat, daß er zuweilen ein wenig Schmuggel treibt; darum nennt man ihn gewöhnlich Mindrello, den Contrebandier. Aber Sie können ihm volles Vertrauen schenken. Er ist besser als mancher andere, der ihn verachtet.« – »Ich danke, Señor. Nach dem, was ich vernommen habe, darf ich mich nicht länger hier verweilen. Buenas noches – gute Nacht!« – »Buenas noches, Señor! Ich wünsche, daß Sie nicht zu spät kommen.«
Doktor Sternau bezahlte das Genossene, ließ sich sein Maultier vorführen, schwang sich hinauf und ritt im Galopp davon.
Der Tag neigte sich bereits zu Ende, so daß Rodriganda vor Einbruch der Dunkelheit schwerlich zu erreichen war. Während das Maultier leicht und flüchtig auf der Straße dahinjagte, griff der Reiter in die Tasche und zog ein zusammengefaltetes Papier hervor. Der Zustand desselben ließ vermuten, daß Sternau die darauf enthaltenen Zeilen bereits sehr oft gelesen habe, dennoch faltete er es jetzt während des Reitens wieder auseinander und las zum hundertsten Mal die von energischer Frauenhand geschriebenen Worte:
»Herrn Doktor Sternau, Paris, Rue Vaugirard 24. Mein Freund!
Wir nahmen voneinander Abschied für das ganze Leben, aber es sind Umstände eingetreten, die mich dringend wünschen lassen, Sie hier zu sehen. Sie sollen dem Grafen Rodriganda das Leben retten. Kommen Sie schnell, schnell, und bringen Sie Ihre Instrumente mit. Kehren Sie bei Mindrello, dem Contrebandier, ein und fragen Sie nach mir. Aber ich flehe Sie an, schnell, sehr schnell zu kommen!
Rosetta.«
Nachdem Sternau das Schreiben gelesen hatte, faltete er es zusammen und barg es wieder in der Tasche. Er ritt jetzt durch einen dichten Eichenwald, aber er sah nicht die Eichen und nicht den Weg, den sie besäumten. Er dachte zurück an Paris und an die Stunde, in der er die Schreiberin des Briefes zum ersten Mal gesehen hatte.
Das war im Jardin des Plantes gewesen, als er, um ein Boskett schreitend, um sich auf die daselbst stehende Bank niederzulassen, dieselbe bereits besetzt fand. Erstaunt und verwirrt von dem Liebreiz der jungen Dame, die er in ihrer Einsamkeit gestört hatte, war er zurückgewichen. Auch sie erhob sich, und nun sah er sich einer Schönheit gegenüber, wie er sie in dieser Vollendung bisher nicht für möglich gehalten hatte. Er, der erfahrene Mann, der Arzt, fühlte, daß seine Pulse stehenblieben, um ihm dann mit zehnfacher Geschwindigkeit das Blut aus dem Herzen nach den Schläfen und in die Wangen zu treiben. Jene Stunde entschied über ihn und auch – über sie. Sie liebten einander unaussprechlich, aber auch ebenso unglücklich. Er durfte sie nur in jenem Garten treffen und sehen. Sie war, wie sie ihm mitteilte, Gesellschafterin der Condesa Rosa de Rodriganda, die mit ihrem blinden Vater in Paris verweilte, und hatte aus Ursachen, die sie ihm nicht nennen konnte, das Gelübde getan, unverheiratet zu bleiben. Er fühlte sich hochbeglückt vor Wonne über ihre Gegenliebe, doch fast wahnsinnig vor Schmerz über ihren unerschütterlichen Entschluß, den er nicht zu fassen und zu begreifen vermochte. Er bat und flehte, er beschwor sie; sie weinte und blieb dennoch fest. Dann reiste sie ab, und er mußte ihr versprechen, sich niemals nach ihr zu erkundigen. Sie wollten für dieses Leben scheiden, um sich in einer anderen Welt als Selige wiederzufinden. Nur ein einziges Mal hatte er sie an sein Herz ziehen und seinen Mund auf ihre Lippen pressen dürfen, aber diese Wonne wurde von dem Schmerz der Trennung beeinträchtigt. Seit jener Zeit hatte er wie ein Riese mit dem Leid gerungen, das sein Herz durchwühlte und sein Leben umkrallte, und es zu keinem Sieg gebracht. Das herrliche Wesen, das er besessen hatte, nur um es wieder zu verlieren, war der Gedanke seiner Tage und der Traum seiner Nächte. Wenn er auch hoffte, daß sein Herz einst noch zur Ruhe kommen werde, so fühlte er doch, daß er diese späte Ruhe mit einem großen Teil seines Lebens bezahlen würde. Und wie sollte sich seine Ahnung erfüllen! Die unbeschreiblichen Gefahren, Leiden und Kämpfe, die seiner ob dieser Liebe harrten, vermochte nur ein Charakter und Held wie Sternau zu tragen und zu überwinden. – Da plötzlich erhielt er ihren Brief. Er las ihn und fühlte alle seine Nerven beben. Ohne zu fragen und zu zagen, packte er sofort das Nötige ein und folgte dem Ruf der Teuren. Obgleich nur eine Gesellschafterin, war sie ihm doch erschienen wie ein holdes, überirdisches Wesen, wie eine jener Feen, deren Augen zuweilen über das arme Leben des Sterblichen hinleuchten wie ein Blick aus Himmelsräumen. Als nun diese Fee gebot, da mußte er gehorchen. Er flog durch das ganze Frankreich; er eilte in rasender Hast über die Pyrenäen, und nun, nun endlich näherte er sich dem Ziel, wo er sie wiedersehen sollte, die Herrliche, die Unvergleichliche, der er zu eigen war mit Seele, Leib und Leben.
Der Galopp des Maultiers war ihm noch zu langsam; er trieb es zu vermehrter Eile, und eben als die Sonne hinter den westlichen Höhen niedertauchte, ritt er in das Dorf Rodriganda ein.
Es hatte ein weit besseres und freundlicheres Aussehen, als es gewöhnlich bei spanischen Dörfern der Fall zu sein pflegt. Die Straße war breit und sauber gehalten, die Häuser des Ortes lugten mit ihren funkelnden Fensterscheiben förmlich einladend aus den wohlgepflegten Blumengärten hervor. Dies war ein Zeichen, daß Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla nicht nur ein Herr, sondern vielmehr auch ein Vater seiner Untertanen sei, der alles tat, um ihr Glück und Wohl zu fördern.
Sternau fragte einen ihm Begegnenden nach der Wohnung Mindrellos und wurde nach dem letzten Häuschen des Dorfes gewiesen. Er sprang vor demselben von dem Tier und trat ein. Die Familie des Contrebandiers befand sich soeben bei einer frugalen Abendmahlzeit.
»Wohnt hier Mindrello?« fragte Sternau. – »Ja. Señor, ich bin es«, antwortete der Mann, indem er sich vom Stuhl erhob.
Er war eine kräftige, untersetzte Gestalt, die jeder Strapaze gewachsen zu sein schien, und sein offenes Gesicht konnte ihm als die beste und zuverlässigste Empfehlung dienen.
»Kennen Sie die Gesellschafterin der Condesa de Rodriganda?« – »Wie heißt sie?« forschte der Spanier mit gespannter Miene. – »Rosetta.« – »Heilige Madonna von Cordova, so sind Sie wohl Señor Sternau aus Paris?« – »Der bin ich.«
Da erhoben sich sämtliche Mitglieder der Familie und streckten Sternau mit einem freudigen Willkommen die Hände entgegen, und sogar die Kleinen wagten sich herbei, um mit lachenden Gesichtern dem Beispiel der Erwachsenen zu folgen.
»Willkommen, herzlich willkommen!« rief Mindrello. »Sie kommen gerade noch zur rechten Zeit. Die gnädige Condesa, ich wollte sagen, die gute Señorita Rosetta ist in großer Angst gewesen. Ich werde sogleich nach ihr senden.« – »Wurde der Graf heute operiert?« – »Nein, noch nicht; die Condesa hat so lange gebeten und gefleht, bis man es noch einmal verschoben hat; aber morgen wird es sicher geschehen. Die Condesa ist ganz überzeugt, daß Sie kommen werden, Señor.« – »So weiß sie von dem Brief, den mir die Gesellschafterin, Señorita Rosetta, geschrieben hat?« – »Ja, hm, natürlich weiß sie es«, antwortete der Spanier mit einer Verlegenheit. »Aber, Señor, wir haben Ihnen für heute ein kleines Zimmerchen fertig gemacht, da oben im Giebel, wo die Blumen vor dem Fenster stehen. Ich werde Sie hinaufführen und Ihnen zugleich ein Abendbrot geben, bevor die Señorita kommt« – »Und mein Maultier?« – »Das wird beim Nachbar einen Platz und auch Futter finden, bis Sie mit ihm in das Schloß ziehen. Wollen Sie mir folgen, Señor?«
Mindrello führte Sternau darauf eine kleine Treppe empor in ein niedriges Gemach, dessen Decke der Arzt mit dem Kopf erreichte, das aber höchst saubergehalten war, in Spanien eine sehr große Seltenheit. Bald wurde das Mahl gebracht, und während desselben konnte Sternau durch das Fenster die herrliche Aussicht auf das Schloß genießen.
Noch aus der Zeit der Mauren stammend, bildete es ein gewaltiges, durch malerisches Kuppelwerk gekröntes Viereck, das trotz der Massigkeit seiner hoch und langgestreckten Fronten so leicht und zierlich gegliedert zum Himmel strebte, als sei es aus leuchtenden Minaretts, mit Rosenblättern verziert gebildet. Von diesem weithin schimmernden Bau stachen die ihn umgebenden dunklen Korkeichenwaldungen außerordentlich effektvoll ab, und wer ihn jetzt betrachtete, als das verglimmende Abendrot seine zauberischen Tinten über ihn warf, der konnte sich in jene Gegenden des Morgenlands versetzt fühlen, wo aus dem ewigen Pflanzengrün die Bauwerke der Kalifen so weiß, rein und unbefleckt emporragen, als ob sie von den Händen der Engel und Seligen errichtet wären.
Der Tag schied aus dem Tal; die Dämmerung verschwand, und der Abend warf seine Schatten über Schloß und Dorf. Sternau brannte das Licht an und prüfte die Instrumente, die ihm Mindrello heraufgebracht hatte, ehe er das Maultier zum Nachbar schaffte. Da hörte er die Stiege leise knarren, und dann klopfte es.
»Herein«, antwortete er.
Die Tür wurde geöffnet, und – da stand sie unter derselben, von dem Licht hell bestrahlt, sie, nach der er sich gesehnt hatte mit jedem Schlag seines Herzens. Sternau öffnete die Arme und wollte der Geliebten entgegeneilen; aber es ging ihm wie damals in Paris. Sie, die einfache Gesellschafterin, stand vor ihm so stolz, so hoch und hehr wie eine Königin; sein Fuß stockte, er wagte es nicht einmal, ihre Hand zu erfassen.
»Rosetta…«
Dieses eine Wort war alles, was er zu sagen vermochte; aber es lag in seinem Ton eine ganze Welt voll Entzücken und – Herzeleid.
Sie stand vor ihm, ebenso ergriffen wie er. Sie sah ihn erbleichen, sie sah, daß er mit der Hand nach seinem Herzen fuhr, sie sah, daß sein Auge größer und dunkler wurde, wie unter einer aufsteigenden Tränenflut, und nun zitterte auch ihre Stimme, als sie fragte:
»Señor Carlos, Sie haben mich noch immer nicht vergessen?« – »Vergessen?« erwiderte er. »Verlangen Sie von mir alles, aber verlangen Sie nicht, daß ich Sie jemals vergessen soll. Sie sind mein Denken und Empfinden, mein Leben und Leiden, und Sie vergessen, das heißt nichts anderes als sterben.« – »Und dennoch muß es sein. Heute aber dürfen wir uns noch sehen, und so will ich Ihnen danken, daß Sie gekommen sind.« – »Oh, Señorita, ich glaube, ich wäre gekommen, und wenn ich auf dem Sterbebett gelegen hätte«, antwortete Sternau in tiefster Bewegung. – »Fast möchte ich Ihnen das glauben, denn auch ich habe erfahren, wie allmächtig die Liebe ist. Aber lassen Sie uns von dem sprechen, was mich veranlaßte, Sie hierher zu rufen.« – »Ihre Zeilen waren unbestimmt. Sie ließen mich vermuten, daß der Graf sich in einer Gefahr befindet. Ich habe dann in Manresa gehört, daß er eine Operation erleiden soll.« – »Allerdings, aber es gibt noch andere Gründe, die mir Besorgnis einflößen, Gründe, die ich nur gegen Sie erwähnen kann, da ich zu Ihnen ein so unendliches Vertrauen besitze. Ich weiß nicht, sondern ich ahne nur, daß der Graf sich auch noch in einer anderen Gefahr befindet, als diejenige ist, die seine Krankheit befürchten läßt; aber nun ich Sie hier bei uns weiß, bin ich ruhig. Es ist mir, als sei mit Ihrem Erscheinen jede Gefahr gewichen.«
Bei diesem Bekenntnis leuchtete sein Auge auf, er streckte ihr beide Hände entgegen und fragte mit bebender Stimme:
»So groß ist Ihr Vertrauen, Rosetta? Oh, dann ist es ja sicher, daß Sie mich noch lieben.«
Sie legte die Hände in die seinigen und antwortete:
»Ja, ich liebe Sie, Carlos, ich liebe Sie noch so innig, wie ich Sie bei unserem Scheiden liebte, und ich werde Sie so innig weiter lieben, bis ich einst diese Erde verlasse. Ich bin Ihnen bisher ein Rätsel gewesen, aber morgen werden Sie imstande sein, dieses Rätsel zu lösen, und dann werden Sie begreifen, daß die Trennung unser einziges Schicksal ist.« – »Warum erst morgen? Warum nicht jetzt?« hauchte er. – »Weil meinem Mund das Wort schwer wird, das Sie morgen erfahren sollen. Carlos, grollen wir dem Schicksal nicht, sondern suchen wir unser Glück in der reinen Freude darüber, daß unsere Herzen einander gehören, obgleich uns die Verhältnisse trennen. Lassen Sie uns ohne Leidenschaft sprechen und zu dem Thema übergehen, das mich zu Ihnen führt.«
Ohne Leidenschaft! Welch ein Verlangen für ihn, auf den die mächtigsten Gefühle einstürmten! Aber er zwang sich, ruhig zu sein, und führte sie zum Sessel.
»Sie sollen hören, was ich von Ihnen wünsche«, begann sie. »Sie wissen, daß der Graf unheilbar blind ist. Zu diesem Leiden ist ein neues und höchst schmerzhaftes getreten; er leidet an einer sehr ausgebildeten Steinkrankheit, und die Ärzte, die wir zu Rate zogen, behaupteten, daß nur die Operation sein Leben retten könne. Er hat sich für diese Operation entschieden und seinen Sohn, den Grafen Alfonzo, aus Mexiko kommen lassen, um ihn noch einmal zu sehen und damit der Erbe anwesend sei, wenn der Schnitt mißglücken sollte. Oh, das klingt so kalt und geschäftsmäßig, während es mir das Herz zerreißt! Ihr Männer spielt mit dem Tod und nennt dies Mut; mir aber schaudert vor einem solchen herzlosen Mut. Condesa liebt den Vater; er war ihr einziger Freund bisher, und sie war seine Hand, die ihn, den Erblindeten, durch das Leben leitete. Sie betet Tag und Nacht zu Gott, daß er gerettet werde, denn sie fühlte eine fürchterliche Angst, daß man den falschen Weg eingeschlagen habe. Die Ärzte sind finstere, kaltherzige Männer, denen sie kein Vertrauen schenkt. Der Notar und Schwester Clarissa, die den Grafen fast keinen Augenblick verlassen, gleichen unheilvollen Dämonen, die nach des Kranken Blut lechzen, und Graf Alfonzo, der Sohn – ach, wie unglücklich, wie sehr unglücklich ist die Condesa!«
Rosetta legte das bleiche Gesicht in die Hände und weinte. Es war nicht jenes laute Weinen, welches das Herz von seiner Last erlöst, sondern jenes stille, das keinen Laut, sondern nur Tränen und immer wieder Tränen hat. Sternau konnte dies nicht länger ansehen, er kniete vor ihr nieder, zog ihr die Hände von den überströmenden Augen und bat mit flehender Stimme:
»Weinen Sie nicht, Señorita. Blicken Sie auf mich: ich bin ein Riese, aber wenn ich weinen sehe, so muß ich vor Schmerz vergehen. Erleichtern Sie Ihr Herz, indem Sie mir alles mitteilen.« —
»Ich werde es tun«, antwortete sie, indem sie sich faßte und ihre Tränen trocknete. Dann fuhr sie fort: »Die Condesa war ein sehr kleines Mädchen, als sie den fortgehenden Bruder zum letzten Mal sah. Es vergingen fast sechzehn Jahre, und nun freute sie sich aus vollstem Herzen über seine Wiederkehr. Er kam, und sie eilte ihm entgegen, um an seine Brust zu fliegen; aber nur einen einzigen Schritt, dann blieb sie halten und vermochte es nicht, ihm ihre Arme entgegenzustrecken. Der vor ihr stand, den durfte sie nicht berühren, sie wußte nicht warum; aber eine innere Scheu sagte es ihr. Das war nicht das Auge oder die Stimme eines Bruders, sein Angesicht war hart, und seine Worte klangen herzlos. Und dann, als sie ihn von Tag zu Tag beobachtete, gewahrte sie die Blicke, die er auf seinen Vater warf. Ein jeder dieser Blicke sagte: Ich laure nur auf deinen Tod! Da wurde ihr Angst, sie ahnte ein Geheimnis, und in dieser Todesangst schrieb sie – bat sie mich, an Sie zu schreiben, damit Sie kommen und helfen möchten.« – »Was ich tun kann, soll geschehen«, versicherte Sternau. »Die Operation wird morgen stattfinden?« – »Ja. Man will sie auf keinen Fall länger hinausschieben.« – »Wann?« – »Ich hörte, daß sie um elf Uhr vorgenommen werden soll.« – »Werde ich vorher den Grafen sehen und sprechen dürfen?« – »Ja, wenn Sie sich bei der Condesa melden.« – »Wann wird sie mich empfangen?« – »Kommen Sie um neun Uhr! – Haben Sie bereits einmal den Stein operiert?«
Sternau lächelte ein wenig.
»Sehr oft, Señorita. Ich glaube sogar, daß man mich für eine Kapazität auf diesem Feld hält.« – »Ist die Operation sehr gefährlich?« – »Um dies sagen zu können, muß man den Fall untersucht haben. Warten wir, bis dies geschehen ist!« – »Ja, warten wir! Ich habe zu Ihnen ein unerschütterliches Vertrauen. Nur Sie allein werden Rettung bringen, wenn Rettung möglich ist.«
Sie erhob sich. Da fragte er traurig:
»Sie wollen gehen, Señorita?« – »Ja; ich werde sonst vermißt. Also um neun Uhr kommen Sie?« – »Ich komme! Darf ich Sie nicht begleiten, Señorita?«
Rosetta besann sich errötend und antwortete:
»Es ist dunkel, und man wird uns nicht sehen. Ja, kommen Sie bis zum Schloß mit!«
Sie verließen das Häuschen, und er reichte ihr den Arm. So hoch und stark er war, so war er doch kaum um einen halben Fuß größer als sie, und wer sie jetzt so nebeneinander dahin schreiten sah, der hätte sie jedenfalls für ein ganz auserlesenes Paar gehalten.
Sie legten ihren Weg unter tiefstem Schweigen zurück, aber desto lauter war die Stimme ihrer Herzen. Er fühlte ihren Arm auf dem seinigen, aber er hätte es nicht gewagt, ihn fester an sich zu ziehen. Es war ihm, als wandle ein überirdisches, unendlich höheres Wesen neben ihm her, ein Wesen, zu dem er anbetend emporschauen müsse. Und als sie endlich vor dem Parktor standen, um Abschied zu nehmen, da zuckte es ihm zwar heiß und verlangend durch die Seele, aber seine Arme blieben gesenkt, und als sie ihm die Hand entgegenstreckte, da zog er diese nur für eine ganz, ganz kurze Zeit an seine Brust, und wagte es nicht, sie mit seinen Lippen zu berühren.
»Gute Nacht, Carlos«, sagte sie.»Ruhen Sie aus von Ihrer Reise!« – »Ausruhen?« fragte er. »Meine Seele ist ruhelos, bis sie die Ruhe des Grabes finden wird. Gute Nacht, Señorita!«
Er wollte gehen, sie aber faßte ihn abermals bei der Hand, trat nahe, ganz nahe an ihn heran und lehnte ihr Köpfchen an seine Schulter. Dann fühlte er ihren Busen an seinem Herzen sich heben und senken und hörte ihre leise gesprochene Bitte:
»Mein Carlos, vergib mir, und sei nicht unglücklich!«
Da umfaßte er sie mit den Händen, zog sie innig an sich und flüsterte:
»Wie kann ich glücklich sein, wenn du mir nicht aufgehen darfst, mein Licht, mein Stern, meine Sonne!« – »Nur unsere Körper werden getrennt sein, unsere Seelen aber haben sich gefunden und werden einander nie verlieren, was auch kommen möge! Gott sei mit dir!«
Darauf trat Rosetta von ihm zurück und schlüpfte in den Park. Er aber stand und lauschte, bis ihre leichten Schritte verklungen waren, bewegungslos noch lange an derselben Stelle bleibend.