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8. Kapitel

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»Ich suche dich, o Vaterhaus,

Von dem mich finstere Mächte trennen.

Ich kämpfte gern manch‘ heißen Strauß,

Zu finden dich und zu erkennen!

Ich suche dich, o Mutterherz,

Und hör‘ kein Echo meiner Klagen.

Ich trüge gern den größten Schmerz,

Um dir mein Leid und Weh zu sagen!

Ich suche dich, o Vaterhand,

Der man mich mit Gewalt entrissen,

Und werde wohl von Land zu Land

Fremd und erfolglos wandern müssen!«

In Pons war heute Jahrmarkt, und darum durfte man sich nicht wundern, daß auf den Straßen und Wegen, durch die dieser Ort mit der Umgegend verbunden war, bereits am frühen Morgen ein reges Leben herrschte. Der Spanier ist ernst, doch wenn sich ihm Gelegenheit bietet, das Leben von der heiteren Seite zu nehmen, so gibt er sich dem Genuß um so nachdrücklicher hin.

Zwei Männer schritten von Osten her der Stadt entgegen. Sie hielten sich der Straße fern und benutzten nur Wege, auf denen sie keine häufigen Begegnungen zu erwarten hatten. Sie trugen lange Pyrenäenbüchsen auf der Schulter und Messer und Pistolen im Gürtel und hatten auch sonst nicht das Aussehen friedlich gesinnter Leute. An einer Schnur hing jedem von ihnen eine schwarze Tuchrolle von der Schulter hernieder. Hätte man dieselbe aufgerollt, so hätte man sie als eine schwarze Kapuze erkannt, die vorn wie eine Maske mit ausgeschnittenen Augenlöchern gebaut war. Solche Kapuzen hatten die Briganten bei dem Überfall im Park von Rodriganda getragen, darum war es nicht schwer, diese Männer mit ihnen in Verbindung zu bringen.

Und in der Tat, der eine war jener Räuber, den der Notar hatte entkommen lassen, und der andere war derjenige, der bei dem Angriff auf den Doktor in die Büsche entsprungen war. Als der erstere sein Gespräch mit dem Notar so schnell abgebrochen hatte, war er weiter in das Feld gegangen, hatte Rodriganda, das Dorf, zur Seite liegen lassen und war in den nach Pons führenden Weg eingebogen. Dies war nicht die Richtung, in die das Gebirge führte, und so war er hier wohl sicher, da die Verfolgung, wenn sie ja unternommen wurde, sich jedenfalls hinauf nach den Bergen zog.

So schritt er denn ziemlich unbesorgt weiter, als sich plötzlich vor ihm die Gestalt eines Mannes in der Dunkelheit der Nacht erhob.

»Halt!« rief ihm eine Stimme entgegen, indem zugleich der Hahn eines Gewehrs knackte. »Bleib stehen und lege deine Waffen ab!«

Der Brigant war im ersten Augenblick überrascht, im nächsten aber erkannte er die Stimme. Es war diejenige seines Gefährten, der vor den Hieben Sternaus geflohen war. Darum antwortete er:

»Mach keinen Spaß, Juanito! Bei mir findest du weder Gold noch Silber, ja nicht einmal den zehnten Teil eines armen Maravedi, denn diese Schufte da drüben auf dem Schloß haben mir alles abgenommen.« – »Henrico, du bist es?« rief der andere, und man hörte es dem Ton seiner Stimme an, daß er freudig überrascht war. »Alle Teufel, wie kommst du denn hierher an diesen Ort?« – »Auf meinen Beinen, denke ich!« – »Ja, sie werden dich nicht mit einem Sechsgespann herbeigefahren haben!« lachte Juanito. »Aber ich denke, du steckst im Loch und sollst morgen transportiert werden?« – »Sie hatten es allerdings so vor, aber ich habe ihnen das Spiel verdorben.« – »Du bist entflohen?« – »Natürlich! Oder meinst du vielleicht, daß sie mich freiwillig entlassen haben, he?« – »So dumm bin ich nicht ganz. Aber erzähle, wie es gekommen ist!«

Henrico erzählte, was er von seiner Gefangennahme an bis jetzt erlebt hatte, und fragte sodann:

»Aber nun sage auch du, wie du hierherkommst! Was tust du hier?« – »Das hast du ja gesehen! Ich lauere auf einen kleinen Fang.« – »Unvorsichtiger! Warum bist du nicht zum Capitano zurückgekehrt?« – »Warum? Und das fragst du? Meinst du, daß ich dich verlassen sollte?« – »Ach, wirklich? Du bist bloß meinetwegen zurückgeblieben?« – »Ja; bei San Jago, es ist wahr! Als dieser deutsche Elefant so unsinnig auf uns losstampfte und ihr wie Grashalme von ihm niedergetreten wurdet, da machte ich mich in die Büsche und suchte zunächst den Ort auf, an dem wir unsere Büchsen und die übriggebliebenen Kapuzen versteckt hatten. Dann raffte ich das Zeug zusammen und floh weiter. Später ging ich lauschen. Da erfuhr ich, daß man dich gefangengenommen habe und daß die anderen tot seien; morgen würde man dich weitertransportieren. Deshalb nahm ich mir vor, dich zu befreien. Ich wollte mich in den Hinterhalt stellen. Ich habe ja unsere fünf Büchsen und kann also zehn Schüsse abgeben. Für die Nacht hatte ich mich hier am Weg schlafen gelegt, als ich dich plötzlich kommen hörte und dachte, es sei irgendeiner von den reichen Bauern in Rodriganda, dem ich die Goldstücke aus der Tasche heben und die silbernen Knöpfe von der Weste und Jacke schneiden könne. Na, ich hatte mich verrechnet, aber es ist mir so doch noch lieber. Was gedenkst du nun zu tun?« – »Ich kehre zum Capitano zurück.« – »Das fällt mir nicht ein!« meinte Juanito. »Er wird ohne mich auch auskommen.« – »Ja, aber du gehörst doch zu ihm.« – »Jetzt nicht mehr. Ich habe keine Lust, mich wegen des Mißlingens unseres Auftrags bestrafen zu lassen. Er entzieht uns wenigstens zehnmal unseren Beuteanteil.« – »Hm, wenn er es nicht gar noch anders macht!« brummte Henrico. »Recht hast du, Juanito; aber wir müssen gehorchen.« – »Ich sehe keinen Grund dazu.« – »Wir haben ihm Treue geschworen.« – »Bah! Einem Räuberhauptmann braucht man keinen Schwur zu halten. Ich tue das, was die Kaufleute sagen: ich separiere mich.« – »Das heißt, du willst unser Geschäft von jetzt an auf eigene Faust betreiben?« – »Ja. Ganz allein! Außer, du machst mit!« – »Ich? Hm!« – »Überlege es dir, Henrico! Der Capitano nimmt von allem, was wir bringen, den Löwenanteil; er behält alle Geheimnisse, alle Schliche und Kniffe für sich; wir plagen uns; wir riskieren das Zuchthaus und den Galgen, er aber bleibt daheim und spielt den Gebieter. Du weißt, wieviel er für den Tod dieses Deutschen erhalten hat. Wieviel wird er wohl uns davon geben?« – »Einige lumpige Dukaten. Ja, das ist wahr!« – »Sind wir nicht die Kerle dazu, die Summe uns ganz allein zu verdienen? Können wir zum Beispiel uns nicht auch einen reichen Edelmann fangen, der uns ein so großes Lösegeld geben muß, daß wir die Herren spielen können?« – »Alle Teufel, du hast recht, Juanito! Aber dann müssen wir diese Gegend verlassen. Wenn uns der Capitano erwischt, ist es um uns geschehen.« – »Wir gehen über den Ebro. Vorher aber müssen wir uns Reisegeld holen. Da ist heute in Pons Jahrmarkt, und wir werden manchen sehen, dessen Tasche für uns besser paßt als für ihn. Gehst du mit?« – »Ja, es mag so beschlossen sein! Also Gewehre hast du?« – »Die Gewehre und Pistolen, die wir ablegen mußten, da wir den Deutschen nur mit den Messern angreifen durften. Zufälligerweise habe ich zwei Messer bei mir; du kannst eins davon bekommen.« – »Aber mit all den Büchsen und Pistolen sehen wir zu auffällig aus!« – »Narr! Was wir nicht brauchen, das wird versteckt bis zu einer gelegeneren Zeit. Jetzt aber wollen wir uns zunächst selbst in Sicherheit bringen und einen Ort suchen, wo wir die Nacht ungestört verschlafen können.«

Auf diese Weise hatten sich die beiden zusammengefunden. Sie schliefen während der Nacht im Wald, vergruben am Morgen alles Überflüssige und machten sich dann auf den Weg nach Pons.

Sie hatten nicht die Absicht, in die Stadt zu gehen, denn das war zu gefährlich für sie; sondern sie wollten sich vor dem Ort in den Hinterhalt legen, um irgend jemandem eine genügende Summe Geldes abzunehmen, mit der sie eine Zeitlang zu leben vermochten.

So lagen sie hinter einigen Sträuchern verborgen und sahen manchen vorübergehen, ohne daß sie sich von der Stelle bewegt hätten, denn die Passierenden machten nicht den Eindruck, als ob sie größere Summen bei sich führten.

Da vernahmen sie nahenden Hufschlag und das weiche Rollen von Wagenrädern; Henrico lugte mit vorgestrecktem Hals durch die Büsche und zog sich augenblicklich mit einer Bewegung des Schrecks wieder zurück.

»Was hast du? Wer ist es?« fragte Juanito. – »Alle Wetter, bin ich erschrocken!« antwortete der Gefragte. »Das ist die Señorita!« – »Welche Señorita?« – »Aus Rodriganda. Die, welche bei dem Deutschen war, als wir ihn überfielen.« – »Wirklich? Alle Teufel, die müssen wir haben!«

Juanito hob die Büchse und blickte nun seinerseits auch durch die Büsche, zog sich aber mit einer Miene der Enttäuschung augenblicklich wieder zurück.

»Ja, sie war es!« meinte er. »Aber das ging ja so schnell vorbei, daß man gar nicht zum Schuß kommen konnte.« – »Zum Schuß, Juanito?« fragte Henrico. »Du wolltest sie doch nicht etwa erschießen?« – »Narr! Die Pferde wollte ich erschießen. Dann mußten sie halten und waren in unsere Hand gegeben.« – »Das lasse ich mir eher gefallen! Bei der heiligen Madonna, es ist etwas verdammt Armseliges, ein so schönes, wehrloses Frauenzimmer zu erschießen! Wir wären mit diesen paar Leuten schnell fertig geworden. Der Kutscher sah nicht aus wie ein Held, und der andere, den hörte ich gestern Señor Kastellan nennen. Er ist ein Kerl, den eine Mücke in die Flucht treibt. Die Señorita hat sicherlich mehr Geld bei sich, als jeder andere, der hier vorüberkommt. Wollen wir hier auf ihre Rückkehr warten?« – »Ja«, nickte Juanito zustimmend. »Einen besseren Fang können wir ja gar nicht machen. Wir schießen die Pferde nieder, du das Hand- und ich das Sattelpferd. Das Weitere wird der Augenblick ergeben.«

Während dieser Plan hier besprochen wurde, rollte die Equipage der Gräfin Rodriganda der Stadt im Galopp entgegen. Rosa wußte, daß die Freundin mit der Post kommen werde, und da die Zeit der Ankunft derselben noch nicht gekommen war, so gab sie dem Kutscher Befehl, nach der Locanda zu fahren, die sie als das anständigste Gasthaus des Städtchens kannte.

Dort angekommen, überließ sie dem Kastellan und dem Kutscher die Sorge für die Pferde und begab sich in das Zimmer, in dem sie bei ihrer jedesmaligen Anwesenheit in Pons abzusteigen pflegte. Es war heute zwar bereits besetzt, aber der Wirt machte es der Gräfin möglich, es für die kurze Zeit des Wartens zu erhalten.

Als nach einer halben Stunde die mit sechs Maultieren bespannte Post-Diligence in das Städtchen rollte, stand der Kastellan mit dem Kutscher in der Posthalterei bereit, den Gast zu empfangen und seiner Herrin zuzuführen.

Der große Kasten der Post-Arche entleerte sich nach und nach seines Inhaltes, und ganz zuletzt entstieg ihm auch eine Dame, die so in Schleier und Reisemantel eingehüllt war, daß man von ihr nur erkennen konnte, daß sie von mittelgroßer Figur und gewandtem, selbstbewußtem Benehmen sei. Der Kastellan hatte alle Aussteigenden vergeblich gemustert, jetzt aber trat er mit seiner tiefsten Verbeugung zu der Dame heran und sagte:

»Guten Tag – willkommen! Nicht wahr, Ihr seid Miß Amy, Señorita Lady Lindsay?«

Ein ganz kurzes, aber goldig helles Lachen drang durch den Schleier, gerade, als ob ein Rotkehlchen einen abgerissenen Jubelton getrillert hätte, und dann erklang die Antwort auf die seltsame Frage des Kastellans:

»Ja, mein Freund, ich bin Amy Lindsay. Und wer seid Ihr?« – »Oh, Doña Lady Señorita, ich bin Señor Juan Alimpo, der Kastellan auf Schloß Rodriganda. Das sagt meine Elvira auch.«

Wieder erklang der kurze, melodische Triller, denn der Nachsatz des wackeren Kastellans war ja ganz geeignet, die Heiterkeit der Dame zu erregen, und sie fragte:

»Und wer ist diese gute Elvira?« – »Diese Elvira ist meine Frau, Miß Amy Señorita Lindsay.« – »Ach so! Und wollt Ihr mir nun wohl sagen, ob Dir allein hier seid, um mich abzuholen?« – »O nein, Lady Lindsay Doña! Meine gnädige Condesa ist da. Sie ist in einer der ersten Locandas abgestiegen und erwartet Euch dort zum Gruß.« – »So führt mich hin, Señor Alimpo.«

Der Kastellan gab dem Kutscher einen Wink, sich des Gepäcks anzunehmen, und schritt in stolzer Haltung vor der Engländerin her, um ihr den Weg zu zeigen. Der gute Alimpo war sich bereits jetzt bewußt, daß diese »Miß Lady Amy Señorita Lindsay« seine ganze Verehrung erlangen werde. Sie war gar nicht so stolz wie so manche spanische Dame; ihr Lachen war süß wie das Gezirpe eines Heimchens, und ihre Stimme klang so eigentümlich voll und rein, als sei sie von einem großen Musikmeister partout dazu gestimmt worden, recht tief in alle Herzen zu dringen.

Rosa stand am Fenster ihres Zimmer und sah die Freundin kommen. Sie eilte ihr entgegen. Draußen vor der Zimmertür trafen sie sich. Die Fremde schlug den Schleier zurück, und nun blickte Alimpo in ein so zauberisch mildes, blondes Mädchenangesicht, daß er ganz vergaß, sich zu entfernen, um nicht Zeuge des Bewillkommnungskusses zu sein. Erst ein fragender Blick aus dem dunklen Auge seiner Herrin machte ihn auf seine Unhöflichkeit aufmerksam. Er drehte sich also schleunigst um und kehrte nach dem Hausflur zurück, wo er auf den Kutscher stieß, der soeben unter der Last des Gepäcks dahergekeucht kam.

»O heilige Madonna! War das ein Gesicht!« rief der Kastellan ganz enthusiastisch. »Und dieses Haar! Nein, so ein Haar! Wie Gold! Nein, noch viel goldener als Gold! Und dieser Kuß! Donnerwetter, ich wollte, den hätte ich bekommen an der Stelle der – hm! Ja! Was stehst du denn da und gaffst mich an? Schaffe Koffer und Schachteln nach dem Wagen und kümmere dich nicht um Dinge, für die du keinen Geschmack haben kannst.«

Der gute Alimpo hatte erst jetzt bemerkt, daß der Rosselenker mit weit aufgerissenem Mund bereitstand, seine zarten Gefühlsgeheimnisse zu verschlingen. Er schleuderte ihm einen vollständig vernichtenden Blick zu und wandte sich, um in der Nähe des Zimmers seiner Herrin auf die Befehle der letzteren zu warten.

Wer die beiden Mädchen jetzt hätte belauschen können, hätte wahrlich nicht gewußt, welchem von ihnen er den Preis der Schönheit zuerteilen sollte. Die Engländerin gehörte keineswegs in die Kategorie jener langen, dünnen, starkknochigen und langzähnigen Ladies, die den Kontinent unsicher zu machen pflegen. Sie hatte Schleier und Mantel abgelegt und stand nun da wie ein verkörpertes Märchenbild, wie eine Melusine, die geschaffen ist, ohne es selbst zu wissen alle Herzen gefangenzunehmen. Sie war eine Schönheit, an der sich der Pinsel des Malers und die Feder des Dichters vergebens versucht hätten.

Die Begrüßung war vorüber und die nötigen ersten Fragen und Antworten ausgetauscht. Nun standen die jungen Damen am Fenster, in heiterem Geplauder das rege Leben musternd, das der Jahrmarktsmorgen vor ihren Augen entfaltete. Da erhob die Engländerin den Finger und sagte, hinauszeigend:

»Sieh, Rosa, wer ist das?« – »Ah, ein Offizier! Ein Husar!« – »Kennst du ihn?« – »Nein. Es ist kein Spanier; der Uniform nach muß es ein Franzose sein.«

Es war Mariano, der auf seinem Weg nach Rodriganda jetzt durch Pons kam. Wer ihn in der kleidsamen Husarentracht und in so stolzer, sicherer Haltung auf seinem feurigen Hengst sitzen sah, hätte nie vermutet, daß dieser junge Mann das Ziehkind einer Räuberbande sei. Ein als Diener verkleideter Brigant folgte ihm in vorgeschriebener Entfernung.

Er ritt auf die Locanda zu, um sich und dem Pferd hier eine Erholung zu gönnen; aber gerade quer vor seiner Richtung stand ein ziemlich hoher Karren, auf dem der Besitzer desselben Apfelsinen verkaufte. Anstatt auszubiegen, nahm Mariano seinen Hengst empor und flog so graziös über den Karren hinweg, als sei dieser nur ein wenige Zoll hohes Hindernis gewesen.

»Herrlich!« rief Rosa, in die Hände klatschend. – »Welch ein Reiter!« meinte auch Amy, während ihre Augen bewundernd auf dem Jüngling ruhten.

Dieser musterte das Haus, in dem er einzukehren gedachte, und dabei schweifte sein Blick über das Fenster, an dem die beiden Mädchen standen. Sie sahen, wie er zusammenzuckte, als sei er auf das freudigste überrascht worden, sie sahen sogar, daß er ganz unwillkürlich den Zügel anzog, als ob er halten wollte, sich aber sofort zusammenraffte. Aber noch einen zweiten, blitzschnellen Blick warf er hinauf, und dann sprang er vom Pferd.

»Hast du gesehen«, fragte Amy, deren Wangen sich gefärbt hatten, »daß er nach dir blickte?« – »Nach mir? O nein. Dieser Blick galt dir. Ich habe es ganz genau gesehen.« – »Das ist unmöglich!« lächelte die Engländerin, beinahe ein wenig befangen. »Du bist so schön, so stolz, auf dich muß jedes Auge fallen.« – »Weißt du, meine gute Amy, daß du noch viel schöner bist als ich? Du glaubst es nicht? Nun gut, so werde ich es dir beweisen.« – »Womit, Rosa? Du machst mich neugierig.« – »Durch einen Schiedsrichter.« – »Ach, das ist ja herrlich!« lachte die Engländerin. »Wer soll dieser Schiedsrichter sein? Doch nicht etwa dieser gute Señor Alimpo, der mich Miß Señorita Amy Doña Lady Lindsay nennt?« – »Nein, dieser nicht, meine Liebe. Unser Alimpo ist ein sehr treuer Diener, den ich deiner Freundlichkeit empfehle, aber für das schwierige Amt eines Schiedsrichters ist er nicht geschaffen, er hat ohne ›seine Elvira‹ kein Urteil. Aber wir haben jetzt jemand auf Schloß Rodriganda, der dir sagen wird, daß du schöner bist als ich.« – »Wer ist das?« – »Unser Arzt.« – »Ein Arzt? Ach, was versteht ein Arzt von Schönheit? Er hat seine Tinkturen, Mixturen und Salben. An ihnen übt er sein Urteil.«

Amy sagte das mit einem so hübsch gelungenen, allerliebsten Rümpfen ihres feinen, zartbeflügelten Näschens, daß Rosa lachen mußte, dann aber schnell entgegnete:

»Oh, ein Arzt braucht nicht stets an seine Salben zu denken; Doktor Sternau ist …« – »Sternau?« wurde sie von der Freundin unterbrochen. »Sternau ist ja ein deutscher Name. Hast du mir nicht einmal erzählt, daß euer Arzt Cielli heißt? – »Allerdings; aber dieser Cielli ist verabschiedet worden. Denke dir, meine liebe Amy; mein Vater wird wieder sehend werden.«

Die Engländerin blickte schnell empor und sah einen Strahl aus dem Auge der Freundin leuchten, der mehr als Freude, der Begeisterung bedeutete.

»Wäre es möglich?« fragte sie. »Oh, welch ein Glück! Erzähle, erzähle mir schnell, Rosa!« – »Ja, ich erzähle es dir, aber nicht hier, sondern während der Fahrt im Wagen. Wir dürfen Vater nicht warten lassen, er freut sich sehr, dich begrüßen zu können.«

Rosa gab Alimpo den Befehl, anzuspannen, und nur wenige Minuten später verließen sie das Zimmer, um einzusteigen.

Draußen vor der Einfahrt standen die beiden Pferde des Husaren. Mariano war in die Gaststube getreten und hatte sich Wein geben lassen; aber er trank ihn nicht, er dachte gar nicht an das Trinken, denn er sah nur die beiden wunderbaren blauen Augen vor sich, die so voll offener Bewunderung auf ihn niedergeleuchtet hatten. Sie hatten ihn so verwirrt, daß er nicht einmal die herrschaftliche Equipage bemerkte, die draußen stand.

Jetzt hörte er Pferdegetrappel vor der Tür. Er erhob sich leicht und warf einen Blick durch das Fenster. Da sah er die Equipage, vor welche der Kutscher soeben die Pferde spannte. Es war ihm, als ob ein elektrischer Schlag seinen Körper durchbebe, und mit zwei raschen Schritten stand er unmittelbar am Fenster, um mit weitgeöffneten Augen den Wagenschlag anzustarren, an dem er die Gold in Weiß gemalte Grafenkrone und darunter die beiden Buchstaben R und S erblickte.

Er fuhr sich mit der Hand an die Schläfe, wo er den Puls laut hämmern fühlte. Da sah er ja das verkörperte Bild seiner Träume! Und diese Träume waren doch nicht Träume, sondern Wirklichkeit gewesen. Es wogte und wallte in ihm wie ein unendliches Entzücken; aber er faßte sich und winkte den Wirt herbei.

»Wem gehört dieser Wagen?« fragte er denselben. – »Das ist die Equipage des Grafen Emanuel de Rodriganda«, lautete die Antwort. – »Rodriganda?« erklang es langsam und leise. »Und was bedeutet das S?« – »Der Graf heißt Emanuel von Rodriganda-Sevilla. Die Dame, die soeben einsteigt, ist seine Tochter Condesa Rosa.« – »Ah! Und die andere?« – »Eine Fremde. Der Kastellan, Señor Juan Alimpo, hat mir gesagt, daß sie eine Freundin der Condesa sei, eine Engländerin, die nach Rodriganda zu Besuch kommt.«

Der Wirt trat zurück; Mariano blieb stehen. Er wußte nicht, worauf er seinen Blick richten sollte, auf das jetzt noch unverschleierte Gesicht der Engländerin oder auf das Wappen, dessen Züge ihm wie die Schriftzeichen eines Evangeliums entgegenglänzten. Jetzt hatten die Damen im Wagen Platz genommen; und eben war der Wirt hinausgeeilt, um sich zu empfehlen, da traf Amys Auge das Fenster, an dem der Husar stand. Eine tiefe Glut zog über ihre wunderbaren Züge. Die Pferde zogen an, und der Wagen rollte davon.

Mariano griff sich abermals an den Kopf. Wachte oder träumte er? Nein, er wachte, und nun wollte er auch nicht träumen und säumen. Er warf ein Geldstück auf den Usch und eilte hinaus.

»Vorwärts!« sagte er, sich auf den Rappen schwingend. – »Schon?« fragte der Diener, sich über die Eile wundernd.

Er bekam keine Antwort und mußte sich sputen, den Leutnant, der im Galopp die Gasse hinunterjagte, nicht aus den Augen zu verlieren.

Erst dann, als Mariano die Stadt weit hinter sich hatte und die Equipage in einiger Entfernung vor sich erblickte, zügelte er den Lauf seines Pferdes. Die Aufwallung seines Bluts legte sich, und er begann ruhiger nachzudenken. Konnte diese Begegnung nicht ein einfacher, ganz und gar bedeutungsloser Zufall sein? Konnte es nicht mehrere Familien geben, welche die Buchstaben R und S in ihrem Wappen trugen? Warum jagte er wie unsinnig hinter dem Wagen her? Rodriganda war doch sein Ziel, und er sah die beiden Damen jedenfalls wieder, auch wenn er sie jetzt hier aus den Augen verlor!

Er ritt also langsamer und sah die Equipage hinter einer Krümmung der Straße verschwinden. Im nächsten Augenblick aber horchte er erschrocken auf; es war ein Schuß gefallen und noch einer! Gerade hinter jener Krümmung kräuselten sich zwei Rauchwölkchen empor. Hatte man auf die Equipage geschossen?

Mariano gab dem Pferd die Sporen und sauste vorwärts. Kaum eine Minute nach den beiden Schüssen hatte er die Krümmung erreicht und sah nun, was geschehen war.

Der Wagen der Gräfin hielt mitten auf der Straße, und vor jenem lagen die beiden Pferde, die durch die Köpfe geschossen waren. Hinter dem Wagen kauerte der Kutscher, vor Angst an allen Gliedern zitternd, und von dem tapferen Kastellan Juan Alimpo war keine Spur zu sehen. Auf dem Tritt des Wagens aber stand ein mit einer Kapuze verhüllter Mann, der den beiden Damen ein Pistol entgegenstreckte, und neben ihm am Boden stand ein zweiter, der das Gewehr angelegt hielt.

Bei den lauten Hufschlägen seines Pferdes drehten sich die beiden Vermummten herum.

»Verdammt!« murmelte Henrico, der Mariano sofort erkannte. – »Was geht der uns an!« rief Juanito. »Herunter vom Pferd mit ihm.«

Darauf legte er seine Büchse auf Mariano an und drückte los. Der junge Mann war aber vorsichtig gewesen. Als der Schuß krachte, warf er seinen Leib zur Seite, und die Kugel flog an ihm vorüber. Im nächsten Augenblick riß er den Säbel aus der Scheide.

»Fahre dahin, Schurke!«

Zugleich als er diese Worte rief, hieb er den Räuber mitten über den Kopf, daß jener zusammenbrach. Der Hieb war so furchtbar, daß der Säbel zerbrach; daher zog Mariano das Pistol, sprang vom Pferd und hielt es dem anderen Räuber entgegen. Dieser, anstatt sich zu ergeben, erhob die eigene Waffe, da krachte Marianos Schuß, und Henrico stürzte zu Boden. Die Kugel war ihm in die Stirn gedrungen.

Waldröschen I. Die Tochter des Granden

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