Читать книгу Dudu - Karl Noordwyk - Страница 5
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ОглавлениеKann denn die Gegenwart ohne die weiter existierende Vergangenheit existieren?, fragt sich Karl. Wenn etwas unwiederbringlich verschwunden ist wie die Vergangenheit ist es dann überhaupt möglich Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen? Ist die Vergangenheit weg hat sie auch keinen Einfluss mehr auf die Gegenwart. Karl hat eine mögliche Antwort parat. Er denkt es existieren weder Zukunft noch Vergangenheit. Nur die Gegenwart; wenn überhaupt... Es kann nur die Gegenwart existieren, die Vergangenheit ist vorbei und die Zukunft kommt erst. Er weiß, dass das was er gerade gedacht hat, schon wieder die Vergangenheit ist, also nicht mehr existent ist. Wir können nur aus der Vergangenheit lernen, um in der Gegenwart unsere Zukunft zu formen. Wie bin ich nur auf sie gekommen? Zwar ist es wiederum keine Frage, dass unsere Vergangenheit als Menschheit sich als Tradition niederschlägt und in unserem geistigen Entwicklungsstand Ausdruck findet. und dennoch.... , ja, er glaubt, wir lernen nicht aus der Geschichte. insofern und insoweit, hat die Vergangenheit keinerlei wirklichen Einfluss auf die Gegenwart. die Geschichte zeigt jedenfalls, dass Menschen, Völker und Staaten ohne mit der Wimper zu zucken weiterhin munter und immer die selben Fehler begehen, die auf Grund der gemeinsamen Erfahrung hätten vermieden werden können und müssen. dass liegt möglicherweise daran, dass kollektive Entscheidungsfindung nach gruppendynamischen Spielregeln geschehen statt rationalen oder auch nur instinktiv-zweckmäßigen, wie das etwa bei einer Person der Fall wäre. Ein einzelner Mensch, ja ein einzelnes Tier lernt immer dazu. die Menschheit dagegen ist unbelehrbar, weil sie kein Individuum ist. so zu tun, zu reden, zu schreiben und zu denken als wäre sie eins, ist ein sehr verbreiteter dummer Fehler. Er nimmt an, dass er eine tiefere, soziologisch ontologische Fragestellung vorschwebt. Wie kann etwas , was nicht ist, ins Gewicht fallen, als ob es wäre? Wahrscheinlich kann es auch nicht. Der Volksmund scheint es zu wissen. Nicht umsonst heißt es ja, die Sache ist für mich gestorben.
Wie kommt Karl nur auf diese blöde Frage? Und diese Antworten, die ihm dazu einfallen. Er liegt auf der Couch, die Beine über der Lehne. Bequem ist das nicht, aber für die Füße angenehm. Er fühlt wie das Blut aus den Beinen zurückströmt und das gibt ihm ein gutes Gefühl. Es ist Frühling und endlich wird es warm. Karl wartet auf den Anruf von Dudu. Was wird sie ihm heute noch erzählen? Er ist unruhig, es liegt etwas in der Luft. Vielleicht ist es nur der Frühling! Endlich läutet das Telefon. Dudu! Sofort ist jedes schlechte Gefühl wie weggeblasen. Er kann wieder lachen, er hört diese Stimme und ein wohliger Schauer durchfließt seinen Körper. "Kann ich dich anrufen?", schreibt Dudu. "Du kannst!" Kurz darauf läutet das Telefon wieder. Dudu beginnt ein Videogespräch. Die Verbindung ist schlecht, er kann nichts verstehen und auch Dudu kann ihn nicht verstehen. Er blickt auf das Display seines Telefons und er ist von den Socken, es wirft ihn fast um. Was für eine Frau! Außer "Hallo" und "Ich kann dich nicht verstehen" gibt es keine Konversation. Schließlich legen sie auf. Es hat keinen Sinn zu telefonieren, wenn er nichts verstehen kann. Sie schreiben sich wieder. An diesen Tag trifft Karl eine Entscheidung: er muss sie sehen! Noch sagt er ihr nichts, er möchte noch überlegen, möchte nichts übereilen, noch einmal darüber schlafen. Fehler hat er in seinem Leben schon genug gemacht, einmal muss Schluss sein! Sie unterhalten sich, tauschen Neuigkeiten aus. Heute ist die Konversation irgendwie mühsam, findet Karl und auch Dudu dürfte es so empfunden haben, denn sie hat etwas wichtiges zu erledigen, verabschiedet sich. Er ist ganz froh darüber, heute ist nicht sein Tag. Morgen wird alles anders!
Die Nacht ist lang, er kann nicht schlafen. Dudu geht ihm nicht aus dem Kopf. Er dreht sich hin und her, kann keine Ruhe finden. Am morgen ist er nicht ausgeschlafen, die Augen sind gerötet. Gut fühlt er sich nicht! Es beginnt das Warten auf eine Nachricht von Dudu. Karl versucht die Zeit zu überbrücken, er sucht einen Flug nach Südafrika. Er muss Dudu sehen! Nach langer Suche hat er einen Flug gefunden. Er kauft das Ticket online. Gibt seine Daten ein, möchte die letzten Eingaben machen, da läutet das Telefon. Dudu! "Ich bestelle gerade ein Ticket. Ich komme! Stör mich jetzt nicht! Rufe zurück." Seine Nerven sind zum zerreißen gespannt. Die letzte Eingabe funktioniert nicht, voller Zorn, schmeißt er das Telefon zur Seite. Zuerst einmal beruhigen, denkt er sich. Laut schreit er es hinaus: "So eine Scheiße!" Er muss von neuem beginnen. Er ist so aufgeregt, dass er kaum das Formular sieht. Fast mechanisch schreibt er seine Daten hin. Diesmal funktioniert es! Er hat das Ticket! Er lässt es sich ausdrucken, fotografiert es. Voller Befriedigung lehnt er sich zurück, zuerst muss er tief Luft holen. Als er sich etwas beruhigt hat, kontaktiert er Dudu. "Dudu!", schreibt er, "ich hab's"
"Was hast du!", fragt Dudu erstaunt.
"Das Ticket!"
"Wirklich!"
"Ja, ich komme!" Karl ist so voller Freude. Er sendet Dudu das Bild vom Ticket. Nach einigen Minuten dann die Antwort: "Ich kann's nicht glauben!"
"Was kannst du nicht glauben!"
"Das du wirklich kommst!"
"Ich komme!"
"Hast du schon eine Unterkunft?", fragt Dudu.
"Noch nicht." Auf die hat er vergessen! Aber es ist ha noch Zeit. Noch drei lange Wochen. Die Tage ziehen sich dahin wie ein Brotteig. Es ist nicht einfach auf den Abflugtag zu warten. Die Sehnsucht überkommt ihm. Der Tag wird plötzlich lang, nur die tägliche Kommunikation unterbricht die Eintönigkeit des Tages. Da ist noch etwas anderes, dass ihm gerade jetzt Sorgen bereitet: eine Operation, die gemacht werden muss! Und der Abflugtag rückt näher! Plötzlich kommt dieser so herbeigesehnte Tag wie ein Ferrari auf ihn zu. Voller Angst fragt er sich: "Kann ich das schaffen!" Und gleichzeitig ist er sich auch ganz sicher, dass er es schaffen wird.
Die Untersuchung für die bevorstehende Operation steht an. Wieder einmal sitzt er im Spital. Seine Nerven sind angespannt, was wird entschieden werden? Welche Art der Operation wird a gewendet werden? Er muss lange warten. Endlich kommt er an die Reihe. Ein junger Arzt begrüßt ihm. Nach einer kurzen Begrüßung sieht sich der Arzt das Karzinom an. "Das ist ziemlich groß", meint er nach der Untersuchung.
"Ja", antwortet Karl, "dass kommt von den Medikament, das ich einnehmen muss." Karl versucht zu erklären, der Arzt sieht auf seinem Bildschirm ohne ihn anzusehen. "Wenn es weg ist und es ordentlich gemacht wurde, habe ich eine gute Chance, dass es nicht wiederkommt", fügt Karl noch hinzu.
"Das kommt immer wieder", meint der Arzt. Das ärgert ihn, denn diese Aussage stammt nicht von ihm selbst, die stammt von HIV-Spezialisten, er hat sie nur wiederholt. Karl ist klar geworden, dass der Arzt ihn nicht einmal ernst nimmt! Offenbar hört er gar nicht zu. Es kommt eine andere Ärztin, auch jung, in Ausbildung, es ist ihr erster Tag heute, auch sie sieht sich das Karzinom an. Karl sagt nichts mehr, er hat schon zu viel gesagt.
Einen Tag noch zur Operation. Alle Unterlagen hat er zusammen. Er hat sich gut vorbereitet, hat die Unterlagen kopiert, die er braucht, um nachweisen zu können, dass dieses Karzinom eine Nebenwirkung der Medikamente sind, und wenn es gut gemacht wird, dass es eine berechtigte Hoffnung gibt, dass dieses Karzinom nicht wieder auftritt.
Er ist ganz alleine im Krankenzimmer. Die junge Ärztin kommt, beginnt mit der Untersuchung. Sie macht Bilder vom Karzinom. "Morgen früh werden Sie operiert", erklärt ihm die Ärztin.
"Hoffentlich wird das gut gemacht, drei Mal bin ich schon operiert worden und drei Mal hat es nicht gepasst", sagt Karl.
"Wir werden das schaffen!", antwortet die Ärztin. "Das haben die anderen auch gesagt und ..."
"Die anderen! Wir machen das! Kommt das bei Ihnen öfter vor, dass so ein Karzinom wächst?", fragt die Ärztin. Und Karl erklärt ihr, dass dieses Karzinom eine Nebenwirkung der Medikamente sind die er einnehmen muss. Zum Schluss fügt er noch hinzu, dass er entsprechende Unterlagen mitgebracht hat, die er ihr gerne zur Verfügung stellt, damit die Chirurgen auch wissen, was sie erwartet und was er von ihnen erwartet. Die Ärztin bedankt sich und geht. "Morgen früh, sehen wir uns im OP wieder!"
Die Operation ist vorbei, er wacht auf. Ihm ist schlecht. Vielleicht etwas zu viel Narkosemittel. Sein ganzer Kopf und seine Schultern sind eingebunden. Er kann den Kopf nur schwer bewegen. Schmerzen! Das macht ihm alles nichts aus, es ist vorbei, morgen kann er nach Hause gehen. In einigen Ragen ist es soweit, der Flieger geht! Er wird Dudu sehen! Was ein Gefühl! Schmerzen hin oder her, was macht das schon aus? Dudu in die Augen sehen zu können, dass ist es was er möchte! Er macht einige Fotos von sich, sendet sie Dudu.
"Du siehst ja schrecklich aus!", antwortet sie.
In einigen Tagen wird das abgeheilt sein und dann wird er - mehr oder weniger - wieder normal aussehen. Die Nacht ist lang, er kann nicht schlafen. Am Nachmittag sind noch andere Patienten gekommen, die liegen in ihren Betten und schnarchen. An nächsten Tag wird er entlassen.
Noch zwei Tage bis zur Abreise! Jetzt wird die Zeit knapp. Er muss noch alles vorbereiten, da gibt es noch einiges zu tun. Aber er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine Gedanken sind nicht hier, sie sind bei Dudu. Er ist geistig gar nicht mehr hier, er ist schon in Kapstadt. Hier ist es Frühling, in Kapstadt ist es Winter. Noch schnell alles überprüfen, einpacken, noch einmal überprüfen, dass er ja nichts vergisst.
Es ist soweit, die Turbinen laufen, die Stewardess säuselt durch den Lautsprecher: "Bitte anschnallen!" Das Flugzeug setzt sich in Bewegung. Zwölfstunden muss er hier nun sitzen. Der Weg nach Kapstadt ist weit. Er weiß nur eines, solange es gedauert hat, dauert es nicht mehr. Dudu wird ihm nicht abholen, dass weiß er schon. Sie geht lieber arbeiten. Auch nicht schlecht, denkt sich Karl, soll sie doch. Das Flugzeug ist voll besetzt. Kein Platz ist frei. Die Sitze relativ gemütlich, soweit von Gemütlichkeit gesprochen werden kann. Das Flugzeug hebt ab, schwingt sich in die Lüfte.
Ein zwölf stunden Flug ist schon lang. Eintönig. Das Kabinenpersonal lässt sich Zeit, Eile ist nicht notwendig. Die Aufregung des Starts ist bald verflogen, Langeweile macht sich breit. Karl schaltet das Display ein, das vor ihm im Sitz des Vordermannes eingebaut ist. Zwölfstunden Filme schauen! Bis die Augen die Kontur des Displays angenommen haben.
Er wird müde, vom vielen Filme schauen beginnen die Augen zu brennen. Er schließt die Augen um sie etwas ausruhen zu lassen. Ein Gedanke kommt in seinen Kopf: was ist das "Ich"? Und er fragt sich, wie er denn auf solche Gedanken kommt. Gibt es nicht andere Gedanken? Wieso kann er nicht an Dudu denken? Warum stellt er sich solche Fragen? Er denkt nach, an Dudu kann er jetzt nicht denken, es ist besser er denkt an das "Ich". Er muss lange nachdenken. Nüchtern betrachtet besteht das "Ich" aus: 60 Proteine, 16 Lipide, 10 Kohlenhydrate, 1.2 Nukleinsäuren, 1 Mineralstoffe. Was das "Ich" ausmacht ist der Geist, stellt er fest. Nur der Geist fehlt meistens. Die chemische Zusammensetzung ist bei allen gleich, der Unterschied besteht im Geist, auch wenn er fehlen sollte. Der Geist fehlt meistens! Das ist auch der Unterschied zwischen uns Menschen.
Die Turbinen brummen, das Licht in der Kabine wird ausgemacht, nur das Nachtlicht bleibt an. Die Gespräche verstummen. Einige sehen sich noch einen Film an, viele sind schon eingeschlafen oder versuchen es zumindest. Manchmal wird Karl durchgeschüttelt, es ist als wäre das Flugzeug in ein Schlagloch geraten. Auch Karl versucht es sich gemütlich zu machen, was nicht einfach ist. Er streckt sich aus, versucht eine Position zu finden, in der er etwas schlafen kann, und wenn es nur eine halbe Stunde ist. Er macht die Augen zu, sie brennen sowieso. Er versucht an nichts zu denken, auch nicht an Dudu! Das ist nicht einfach, Gedanken schießen ihm durch den Kopf, Erinnerungen an früher. Erinnern, das ist nicht einfach. Die Frage, ob er seine Erinnerung beherrscht oder die Erinnerung ihm beherrscht, ließ ihm zu einer doppelten Reise aufbrechen: der Reise durch sein Leben, zurück zu den Momenten, in denen die Ereignisse geschahen. Und er erinnert sich an vieles, er erinnert sich an Dinge, die er schon längst vergessen glaubte, die plötzlich wieder da sind. Je länger er in doppelter Hinsicht reist, desto klarer wurde ihm, dass Erinnern kein Buch mit sieben Siegeln. Schließlich stellt er sich die Frage, inwieweit Erinnerungen überhaupt wahr sein können und warum das Erinnern der einzige Mechanismus ist, mit dem die Gesetze der Natur überlistet werden können. Das einfachste Erinnern ist das episodische Erinnern. Im episodischen Erinnern ist sich der Mensch bewusst, dass er sich erinnert, und kann das Nacherleben des Films als Fiktion von der Realität unterscheiden. Und allein in der episodischen Erinnerung wird er sich subjektiver Zeit bewusst. Ohnehin wird Zeit als objektive Kategorie nur durch Erinnerung sinnvoll: Könnte er sich nicht erinnern, gäbe es keinen Sinn für Vergangenheit, wäre alles Gegenwart, hätte er kein Gefühl für Zukunft. Schließlich wurde ihm klar, dass die mit Schmerz codierte Erinnerung, die jahrelang unbewusst im Archiv lagerte, bis heute sein Verhalten anderen Menschen gegenüber steuert. Trotz der Angst vor der Zurückweisung entscheidet er sich jedes Mal wieder für Offenheit und Vertrauen.
Schließlich ist er eingeschlafen.