Читать книгу Das Dorf Band 20: Der Bürgermeister - Karl Olsberg - Страница 5
Оглавление3. Anon
Fasziniert betrachtet Primo die Landkarte vor sich auf dem Tisch. Er erinnert sich, dass er selbst darauf zu sehen war, als er sie an der Meeresküste zum ersten Mal in der Hand hielt. Die Karte ist offenbar magisch. Doch jetzt ist kein heller Klecks zu sehen, der sich bewegen würde, wenn Primo umher geht. Das Dorf am Rand der Schlucht ist zu weit vom Küstenabschnitt mit den Ruinen entfernt, um noch auf der Karte eingezeichnet zu sein.
Was wohl an der Stelle vergraben liegt, die mit einem X gekennzeichnet ist? Primo würde es zu gern herausfinden. Doch er weiß, dass es Golina nicht recht wäre, wenn er an diesen unseligen Ort zurückkehren würde, an dem er fast gestorben wäre. Und auch ihm selbst ist ein bisschen mulmig bei dem Gedanken. Die Ertrunkenen waren wirklich schreckliche Gegner. Wenn ihn damals nicht Flippa, der Delfin, vor dem Ertrinken gerettet hätte, dann säße er jetzt nicht hier.
Trotzdem kann er nicht anders, als darüber nachzudenken, was an der Stelle mit dem X versteckt sein mag. Eine Truhe voller Smaragde vielleicht? Hoffentlich nicht – seit seinem Abenteuer in Utopia, der Stadt der Golems, hat Primo für Smaragde nicht mehr viel übrig. Viel besser wäre es, wenn dort eine wertvolle magische Rüstung vergraben wäre, die ihn unverwundbar machen würde, oder ein Zauberschwert vielleicht, mit dem er jeden Gegner besiegen könnte. Oder noch besser ein Zaubertrank, den er Golina heimlich ins Essen schütten könnte, damit sie wieder lieb wird. In letzter Zeit ist sie immer ziemlich schlecht gelaunt, nicht so wie früher, als sie nur Augen für ihn hatte.
„Primo! Ich rede mit dir!“
Er blickt von der Karte auf. Golina wirkt ziemlich wütend. Was sie wohl schon wieder hat?
„Was hast du gesagt, Schatz?“
„Ich habe gesagt: Kannst du mir bitte mit dem Abwasch helfen, statt die ganze Zeit nur auf diese blöde Karte zu starren? Und danach kümmere dich bitte darum, dass Nano seine Hausaufgaben macht!“
Bevor Primo antworten kann, ist draußen ein gellender Schrei zu hören: „Alarm! Alarm! Räuber greifen das Dorf an!“
Erschrocken springt Primo auf, zückt sein Schwert und stürmt aus dem Haus. Olum, der Fischer, kommt ihm vom Flussufer entgegengerannt.
„Räuber!“, schreit er. „Sie kommen! Rette sich wer kann! Alarm! Alarm!“
„Beruhige dich!“, ermahnt Primo ihn. „Wo hast du denn Räuber gesehen?“
„Auf der östlichen Wiese, jenseits des Flusses. Ich war gerade beim Angeln, als ich sie entdeckt habe.“
„Wie viele waren es?“
„Glaubst du etwa, ich wäre dageblieben, um sie zu zählen? Außerdem habe ich jetzt keine Zeit zum Plaudern. Ich muss Alarm schlagen!“
„Warte noch. Ich will mir die Sache erst einmal ansehen.“
„Du?“, fragt Olum. „Du willst es ganz allein mit einer Räuberbande aufnehmen?“
„Ich bin immerhin der Dorfbeschützer, und ...“
Doch Olum lässt ihn einfach stehen und rennt zu dem Platz vor der Kirche, wo die Glocke steht. Kurz darauf erfüllt lautes Gebimmel das Dorf.
Primo marschiert zum Flussufer. Als er sich der schmalen Brücke nähert, sieht er tatsächlich in der Ferne Gestalten, die sich dem Dorf nähern. Als er genauer hinsieht, erkennt er, dass es nur eine Gestalt in einer braunen Robe ist, die ein Lama mit einer Kiste auf dem Rücken hinter sich herzieht. Wie eine gefährliche Räuberbande sieht das nicht gerade aus.
„Was ist denn los, Papa?“, fragt Nano, der zusammen mit Golina aus dem Haus geeilt ist.
Als Primo sich umdreht, sieht er, dass auch die anderen Dorfbewohner von Olums Gebimmel aufgeschreckt wurden und sich in sicherem Abstand hinter ihm versammelt haben, offensichtlich hin- und hergerissen zwischen Neugier und Furcht.
„Das ist bloß ein einsamer Reisender“, beruhigt Primo. „Kein Grund zur Panik.“
„Ich sehe aber zwei Gestalten!“, widerspricht Hakun, der sich die Hand über die Augen hält, um besser sehen zu können.
„Die zweite Gestalt ist ein Lama“, erklärt Primo. „Ihr wisst schon, so eines wie das, auf dem Schörlock damals ins Dorf geritten ist.“
„Und wenn es Räuber sind, die sich als Lama verkleidet haben?“, fragt Olum, der inzwischen mit dem Gebimmel aufgehört hat und ebenfalls hinzugekommen ist.
„Oder wenn sie sich unsichtbar gemacht haben?“, spekuliert Kaus, der Bauer. „Was dann?“
„Das Lama hat eine Kiste auf dem Rücken“, stellt Hakun fest. „Wer weiß, was da drin ist.“
„Räuber wahrscheinlich“, vermutet Olum.
„Oder, noch schlimmer, heiliges Brot oder heiliger Kürbis oder andere Ketzereien“, befürchtet Priester Magolus. „So etwas kommt mir nicht ins Dorf!“
„Nun beruhigt euch!“, ruft Primo. „Lasst uns doch erst einmal warten, bis er hier ist, dann werden wir ja sehen. Ich bin sicher, das ist bloß ein reisender Händler.“
„Ein Händler?“, ruft Olum. „Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich hol schnell die Fische, die ich letzte Woche gefangen habe. Für zwei Smaragde pro Stück kann er sie mir abkaufen.“
„Vergiss deine Fische“, meint Hakun. „Wenn das ein Händler ist, dann will er viel lieber Rindfleisch und gebratenes Huhn von mir kaufen.“
„Ich hol schnell das alte Brot von letztem Jahr, das ich noch in meiner Vorratskiste habe“, ruft Kaus.
Während die drei losrennen, um ihre Waren zu holen, beobachten Primo und die anderen, wie sich die einsame Gestalt langsam dem Dorf nähert. Sie geht mit gesenktem Kopf und schleppenden Schritten, so als sei sie erschöpft oder traurig.
„Wer bist du und was willst du hier?“, ruft Magolus unfreundlich, als der Unbekannte das andere Flussufer erreicht.
„Mein Name ist Anon, werter Priester“, erwidert er. „Ich musste meine Heimat verlassen und bin nun auf der Suche nach einem Ort, wo ich mich niederlassen kann.“
„Fische!“, brüllt in diesem Moment Olum. „Frisch gefischte Fische! Nur zwei Smaragde das Stück!“
„Rindfleisch nur heute im Sonderangebot!“, ruft Hakun noch lauter. „Ein Smaragd pro Stück.“
„Was?“, erwidert Olum. „Sonderangebot? Meine Fische sind auch im Sonderangebot! Jetzt noch billiger! Nur ein Smaragd für zwei Stück!“
„Mein Brot ist aber am billigsten!“, behauptet Kaus. „Letztes Jahr frisch gebacken! Nur ein Smaragd für drei Laibe, nur solange der Vorrat reicht.“
„Es tut mir leid, aber ich habe keine Smaragde, werte Herren“, sagt Anon.
„Und was ist da in deiner Kiste?“, fragt Olum misstrauisch.
„Das sind nur ein paar Habseligkeiten, die ich aus meiner Heimat retten konnte.“
„Was für Habseligkeiten?“, will Magolus wissen. „Doch nicht etwa ein heiliger Kürbis?“
„Aber nein, werter Priester. Ich bin nur ein einfacher Dorfbewohner und habe nichts Heiliges oder Wertvolles bei mir.“
„Dann ist es ja gut“, meint Magolus.
„Nichts Wertvolles?“, meint Hakun. „Was willst du dann hier?“
„Ich habe eine weite Reise hinter mir und dachte, ich könnte bei euch vielleicht Unterschlupf für die Nacht finden, bevor ich weiterziehe“, erklärt Anon.
„Wir haben aber keinen Platz“, behauptet Birta.
Anon nickt. „Ich verstehe. Dann entschuldigt bitte die Störung.“
Er wendet sich zum Gehen.
„Halt, bleib hier, Anon“, meldet sich Golina zu Wort. „Bitte verzeih uns, aber nicht alle Bewohner unseres Dorfes wissen, was Gastfreundschaft bedeutet.“ Sie wirft einen finsteren Blick zu Hakun und Birta. „Selbstverständlich kannst du heute bei uns übernachten. Wir haben Platz genug.“
„Das ist überaus freundlich, werte Dame“, sagt Anon. „Aber ich möchte euch wirklich nicht zur Last fallen.“
„Du fällst uns nicht zur Last“, sagt Primo. „Im Gegenteil, wir freuen uns immer über Besucher, die uns interessante Geschichten aus fernen Ländern erzählen können.“
„Das ist sehr nett von euch. Dann nehme ich das Angebot dankend an.“
Anon überquert mit seinem Lama die Brücke. Die anderen Dorfbewohner beäugen ihn misstrauisch, doch sie behalten ihre Meinung für sich und kehren in ihre Häuser zurück.
Golina, Primo und Nano führen Anon zu der kleinen Schmiede. In diesem Moment kommt Asimov den Dorfweg entlang. Paul trottet brav hinter ihm her. Primo hätte erwartet, dass der Wolf das Lama anbellt oder zumindest beschnüffelt, doch er ignoriert die Neuankömmlinge und blickt immerzu zu der Katze auf dem Kopf des Golems hinauf, die ihn jedoch nicht beachtet.
Beim Anblick des stählernen Kolosses zuckt Anon zusammen. „Ihr ... ihr habt einen Golem?“, fragt er sichtlich erschrocken.
„Das ist Asimov“, erklärt Primo. „Er ist harmlos.“
„Seid ihr da ganz sicher?“, flüstert Anon.
„Ja, das sind wir“, gibt Primo zurück, obwohl er sich noch gut daran erinnern kann, wie Asimov unter dem Namen Nummer Null das Dorf tyrannisiert hat.
„Du kannst bei uns übernachten“, sagt Golina, als sie die Schmiede erreichen.
„Habt ihr denn auch genug Platz?“, fragt Anon.
„Nano kann heute in der Bibliothek übernachten. Normalerweise wohnen dort Freunde von uns, doch die sind zurzeit im Urlaub.“
Golina wirft Primo einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Ich will aber nicht in der Bibliothek übernachten!“, protestiert Nano. „Ich will lieber hierbleiben.“
„Ich kann auch draußen schlafen“, sagt Anon.
„Das kommt überhaupt nicht infrage!“, widerspricht Golina. „Du schläfst im Bett unseres Sohnes.“
„Aber ich will auch die interessanten Geschichten aus fernen Ländern hören“, quengelt Nano.
Anon lächelt ihn an. „Meine Geschichte ist leider ziemlich traurig. Ich fürchte, du bist noch ein wenig zu jung dafür.“
„Bin ich gar nicht!“, protestiert Nano. „Ich war schon zweimal im Nether und sogar im Ende. Außerdem bin ich praktisch schon so gut wie erwachsen!“
„Schluss jetzt!“, beendet Golina die Diskussion. „Du übernachtest heute in der Bibliothek.“
Sie wirft Nano einen strengen Blick zu, so dass er es nicht wagt, zu widersprechen.
„Ihr seid überaus freundlich“, sagt der Besucher.
„Woher kommst du?“, fragt Primo, als sie später zu dritt beim Abendessen sitzen.
Anon beginnt zu erzählen.