Читать книгу Das Dorf Band 11: Der Graf - Karl Olsberg - Страница 4

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2. Der reichste Mann im Dorf

Nachdem der seltsame Besucher wieder verschwunden ist, wirkt Golina noch gereizter als zuvor. Gegen Mittag kommt Willert mit Nano zum Mittagessen. Er hat ihren Sohn mit in den Wald genommen, um ihm beizubringen, wie man sich in der Wildnis orientiert – eine sehr nützliche Fähigkeit, wie Primo findet. Golina allerdings ist nicht so begeistert von diesem Unterricht. Sie findet, der Junge sollte lieber etwas „Vernünftiges“ lernen, zum Beispiel Getreide anbauen und Brot backen wie ihre Eltern oder auch das Schmiedehandwerk seines Großvaters.

„Macht euch die Füße sauber, bevor ihr ins Haus kommt!“, ruft sie. „Ihr bringt ja den ganzen Dreck herein!“

„Was denn für Dreck?“, fragt Willert.

Primo kann nur mit den Schultern zucken.

„Was gibt’s heute zum Essen?“, fragt Nano.

„Pilzsuppe“, antwortet Golina.

„Och nö! Nicht schon wieder Pilzsuppe!“

„Tut mir leid, aber wenn ich ständig hinter euch herräumen muss, hab ich keine Zeit, etwas anderes zu kochen.“

„Du könntest doch ein gebratenes Hähnchen von Hakun kaufen“, schlägt Nano vor.

„Gebratenes Hähnchen? Hast du eine Ahnung, wie teuer das ist? Solange dein Herr Vater nur den ganzen Tag durchs Dorf stolziert, anstatt richtig zu arbeiten, können wir uns sowas nicht leisten!“

„Moment mal!“, protestiert Primo.

„Was meinst du denn mit ‚teuer‘?“, fragt Willert. „Normalerweise gibt einem Hakun doch ein Hühnchen im Tausch gegen irgendetwas, und manchmal auch einfach so, wenn er genug übrig hat.“

„Früher vielleicht. Aber die Zeiten haben sich geändert. Jetzt kostet ein einziges Ei schon einen Smaragd, und ein gebratenes Huhn wahrscheinlich drei oder vier. Smaragde haben wir aber nun mal nicht, im Unterschied zu anderen Personen im Dorf, die plötzlich reich geworden sind.“

Willert sieht Primo fragend an. „Wovon redet sie?“

Der erzählt ihm kurz, was geschehen ist.

„Das ist aber wirklich merkwürdig“, meint Willert. „Von einem Grafen habe ich noch nie gehört.“

Das bringt Primo auf einen Gedanken. „Vielleicht sollte ich mal mit Margi sprechen. Möglicherweise weiß sie, wer das ist, oder sie findet in einem von Nimrods Büchern etwas darüber.“

„Solltest du da nicht lieber Nimrod selber fragen?“

„Nimrod? Der weiß doch nicht mal, wo das Buch ist, das er gerade in der Hand hält. Aber Margi hat in der Bibliothek ein bisschen aufgeräumt. Sie kennt sich inzwischen ganz gut aus.“

„Wie du meinst. Na, ich geh dann mal wieder. Habt noch einen schönen Tag.“

„Willst du nicht noch zum Essen bleiben? Golina hat frische Pilzsuppe gekocht ...“

„Äh, nein danke, ich habe gerade keinen Hunger!“ Damit verabschiedet er sich.

Primo stochert lustlos in der faden Brühe herum. Sie schmeckt wirklich nicht besonders gut. Golina hat viele großartige Eigenschaften, aber ihre Kochkunst gehört nicht dazu.

„Ich mag nicht mehr!“, sagt Nano, nachdem er erst die Hälfte seines Tellers leergegessen hat.

„Der Teller wird aufgegessen!“, kommandiert Golina. „Sonst kommt Artrax und holt dich!“

„Das kann er gar nicht! Er ist nämlich im Ende in der Kreisbahn gefangen, das habe ich selber gesehen. Und da bleibt er bis in alle Ewigkeit und noch drei Tage länger, das hat Tante Ruuna gesagt.“

„Du isst jetzt auf!“, sagt Golina in wütendem Ton.

„Ich mag aber nicht! Immer nur diese blöde Pilzsuppe!“ Nano wirft den Teller auf den Boden, so dass Suppe in alle Richtungen spritzt.

„JETZT REICHTS MIR ABER!“, brüllt Golina.

Obwohl er weiß, dass das nicht sein kann, hat Primo Angst, sie könnte sich gleich in einen Nachtwandler verwandeln, so wie sein bester Freund Kolle, wenn er wütend wird.

„Du gehst jetzt sofort ins Bett und machst deinen Mittagsschlaf!“, befiehlt er Nano.

„Ich bin aber nicht müde“, protestiert der Junge.

Golina wirft ihm einen wütenden Blick zu. Nano zuckt zusammen und geht mit hängendem Kopf in sein Bett.

In diesem Moment öffnet sich die Tür und Kolle und Margi treten ein.

„Oh, entschuldige, ich sehe, ihr seid gerade beim Mittagessen“, sagt Golinas Freundin. „Wir kommen später wieder.“

„Nein, ihr könnt ruhig bleiben“, sagt Golina. „Hier mag sowieso keiner mein Essen!“ Dann bricht sie in Tränen aus.

„Was hast du denn?“, fragt Margi und setzt sich zu ihr.

„Komm, wir gehen lieber ein bisschen spazieren“, sagt Primo zu Kolle.

„Was ist denn bloß auf einmal im Dorf los?“, fragt Kolle. „Alle sind plötzlich so gereizt. Vorhin habe ich gehört, wie Hakun sich mit Jarga gestritten hat. Er hat ihr erzählt, dass er jetzt der reichste Mann im Dorf sei und ihr alle ihre Schafe abkaufen könne, wenn er nur wolle, und sogar immer noch Smaragde übrig hätte. Da ist sie wütend geworden.“

„Das kann ich verstehen.“

„Aber ich verstehe es nicht. Wieso hat Hakun auf einmal so viele Smaragde?“

„Das ist wegen dieses seltsamen Besuchers“, sagt Primo und erzählt, was geschehen ist.

Kolle schüttelt den Kopf. „Das ist wirklich merkwürdig. Meinst du, da steckt vielleicht Artrax dahinter?“

„Glaubst du ernsthaft, Artrax würde uns für Smaragde Eier und Fische abkaufen?“ Primo lacht. „Außerdem sitzt er im Ende fest, und Seine Singularität hat mir versprochen, uns zu warnen, falls er aus irgendeinem Grund freikommen sollte. Nein, mit Artrax hat das ganz bestimmt nichts zu tun.“

„Trotzdem“, sagt Kolle. „Mir gefällt das nicht. Dass jetzt auf einmal einige Dorfbewohner Smaragde haben und andere nicht, führt bestimmt zu noch mehr Streit.“

„Ach was“, meint Primo. „Die beruhigen sich schon wieder.“

Doch da irrt er sich. Schon am nächsten Tag kommt es während des Notchdienstes zu einer heftigen Auseinandersetzung.

Es beginnt mit Magolus‘ Predigt: „Notch, der Herr, spricht: Wer arm ist, wird eingehen ins Himmelreich. Wer aber reich ist und die Gaben des Herrn nicht mit den Bedürftigen teilt, der wird im Nether schmoren.“

„Was ist denn das für ein Unfug?“, ruft Hakun. „Ich soll meine Smaragde mit anderen teilen?“

„Unfug?“, brüllt Magolus. „Du wagst es, das Wort Notchs als Unfug zu bezeichnen? Raus aus meiner Kirche!“

„Das ist nicht deine Kirche“, widerspricht Hakun. „Sie gehört dem ganzen Dorf. Du kannst froh sein, dass du hier drin wohnen darfst! Und außerdem hast du mir gar nichts zu befehlen. Immerhin bin ich jetzt der reichste und wichtigste Mann im Dorf, und ...“

„He, Moment mal!“, ruft Olum dazwischen. „Der reichste Mann im Dorf bin ja wohl ich!“

„Quatsch! Der Fremde hat mir zehn Smaragde gegeben und dir nur ein Dutzend!“

„Aber ein Dutzend ist nun mal mehr als zehn, du Dummkopf!“

„Ist es nicht! Und außerdem habe ich ein Dutzend Hühner, und jedes von denen legt jeden Tag ein Ei, und wenn ich jedes Ei für einen Smaragd verkaufe, dann habe ich nach einer Woche ... ganz schön viele Smaragde!“

„Ich finde, Magolus hat vollkommen recht!“, meldet sich Jarga, die Schäferin, zu Wort. „Ihr solltet uns allen von euren Smaragden etwas abgeben, sonst kommt ihr alle in den Nether!“

„Kommt ja überhaupt nicht infrage!“, gibt Hakun zurück. „Wenn du Smaragde haben willst, dann kannst du dem Fremden ja ein paar von deinen Schafen verkaufen!“

„Das mache ich auch!“, schreit Jarga. „Ich werd’s dir beweisen: Meine Schafe sind viel mehr wert als deine doofen Hühner! Die geben nämlich Wolle!“

„Sind sie überhaupt nicht! Sie können ja nicht mal Smaragde ... ich meine, Eier legen!“

„Aber meine Fische, die können ...“, beginnt Olum.

„RUHE JETZT!“, brüllt Magolus dazwischen. „Während des Notchdienstes redet nur einer, und das bin ich! Und wenn hier drin noch einmal einer was von Smaragden sagt, wird der Zorn Notchs über ihn kommen, und meiner auch!“

„Wenn das so ist, dann gehe ich!“, ruft Hakun. „Ich habe es nicht nötig, mir dieses Gequatsche über das Teilen anzuhören. Ihr seid ja bloß neidisch!“ Damit steht er auf und verlässt die Kirche. Nach kurzem Zögern folgen ihm Kaus und Olum.

Einen Augenblick lang herrscht Stille. Es ist noch nie vorgekommen, dass Gemeindemitglieder einfach so mitten während des Notchdienstes gegangen sind. Magolus, der normalerweise nie um ein schlaues Zitat aus seinem Heiligen Buch verlegen ist, wirkt ratlos und geknickt.

„Nun, äh, ich wollte den Notchdienst ohnehin gerade beenden“, sagt er. „Gehet hin in Frieden!“

Draußen bilden sich Grüppchen, die über die neue Entwicklung im Dorf diskutieren. Hakun, Olum und Kaus streiten sich lautstark darüber, wer der reichste und wichtigste Mann im Dorf ist. Magolus tuschelt mit Birta und Jarga. Primos Vater steht mit Kolles und Golinas Eltern beieinander. Sie alle haben sorgenvolle Gesichter und blicken immer wieder zu den drei Neureichen herüber. Nur die Kinder scheinen unbekümmert: Sie spielen mit Asimov fangen.

Primo diskutiert mit Golina, Margi und Kolle, was das alles zu bedeuten hat. „Wir müssen herausfinden, was es mit diesem Grafen auf sich hat“, beschließt er.

Zu seiner Überraschung widerspricht ihm Golina nicht. „Ich würde auch gern mehr über ihn erfahren“, sagt sie mit verträumtem Blick. „Es muss toll sein, so reich zu sein ...“

„Mir gefällt das nicht“, meint Kolle. „Diese Smaragde haben unser Dorf entzweit. Was, wenn dieser seltsame Fremde wiederkommt und noch mehr kauft?“

„Darüber wären Hakun, Kaus und Olum bestimmt froh“, sagt Golina. „Die haben jedenfalls etwas, das sie dem Herrn Grafen verkaufen können. Und Kolles Vater hat immerhin Bücher anzubieten. Ein so vornehmer Herr liest bestimmt gern. Wir dagegen haben nichts ...“

„Deine Eltern haben doch auch Getreide, so wie Kaus“, sagt Primo.

Golina zuckt nur traurig mit den Schultern.

„Margi, hast du denn irgendetwas über diesen Grafen herausgefunden?“, fragt Primo.

„Leider nicht. In keinem der Bücher in der Bibliothek steht etwas über einen Grafen.“ Sie runzelt die Stirn. „Das einzige, was mir einfällt, ist eine alte Geschichte, die ich mal als Kind gelesen habe. Aber die hat sicher nichts mit diesem Besucher zu tun.“

„Was denn für eine Geschichte?“, fragt Primo.

„Sie handelte von einem bösen Mann, der Graf Drakulus hieß und in einem fernen Land lebte“, erzählt Margi. „Es war ein ziemlich gruseliges Buch, und ich habe davon Alpträume bekommen. Aber mein Vater, der damals noch lebte, hat mir erzählt, dass es bloß eine ausgedachte Geschichte ist und ich keine Angst haben muss, weil es diesen Graf Drakulus in Wirklichkeit gar nicht gibt.“

„Und was, wenn es ihn doch gibt?“, fragt Primo.

„Muss denn jeder, der reich ist, gleich böse sein?“, fragt Golina. „Dieser Besucher war doch einfach bloß großzügig. Er hat den Reichtum seines Herrn mit uns geteilt, indem er Olum, Kaus und Hakun ihre Waren abgekauft hat. Dafür sollten wir dankbar sein!“

„Vielleicht hast du recht“, meint Margi. „Es ist auf jeden Fall nicht seine Schuld, dass die drei auf einmal so eingebildet und überheblich sind. Und ich glaube auch nicht, dass diese alte Geschichte irgendetwas damit zu tun hat. Selbst, wenn sie nicht ausgedacht wäre, haben wir nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass der Besucher und sein Herr böse sind.“

„So oder so, wir sollten versuchen, mehr über diesen Grafen herauszufinden“, sagt Primo.

„Und wie willst du das machen?“, fragt Kolle.

„Wenn der Besucher das nächste Mal kommt, werde ich ihn fragen, wo sein Herr wohnt, und dann gehe ich hin und schaue mir diesen Grafen mal genauer an.“

„Wahrscheinlich sehen wir den nie wieder“, bemerkt Golina. „Was sollte ein so vornehmer und reicher Mann wie der Graf denn schon von einfachen Dorfbewohnern wie uns wollen?“

Doch mit dieser Einschätzung liegt sie falsch, wie sich schon bald herausstellt.

Das Dorf Band 11: Der Graf

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