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ОглавлениеKrawall am Kraweel
Von Karla Letterman
Polizeikommissar Peer Leichtfuß ärgerte sich. Nun war er so früh aufgewacht, obwohl er hätte ausschlafen können! Gestern Abend hatten sie seinen Einstand auf dem 1. Revier gefeiert, und für heute hatte er vorsorglich freigenommen. Als er das Plissee am Fenster ein Stück hochschob, um die Wetterlage zu peilen, war er schnell versöhnt: Blauer Himmel über Lübeck. Sonne! Das sah nach einem jener seltenen Tage aus, an denen es schon morgens um viertel nach sechs Spaß machte zu joggen. Sina würde er ausschlafen lassen. Er könnte ja ausnahmsweise sein Handy einstecken – falls sie Sehnsucht nach ihm verspürte.
Peer schlüpfte in die Sporthose, streifte sein blaues Motto-Shirt über und warf im Vorübergehen einen schnellen Blick in den Flurspiegel. ›Ein guter Käpt’n wird man nicht in ruhigen Gewässern‹, er lachte. Nein, er musste nicht ausschlafen.
Von seiner Wohnung in der Friedenstraße aus überquerte er die Schwartauer Allee und lief die Marienbrücke hinunter Richtung Stadtgraben. Kurz vor der Drehbrücke bog er links ab – er konnte eine Runde über die nördliche Wallhalbinsel drehen, bevor er zurück zur Brücke und dann an der Untertrave entlanglaufen würde. Heute hatte er Zeit und freute sich auf den Abstecher an den alten Hafenschuppen vorbei bis zur ›Lisa von Lübeck‹. Auf dem beeindruckenden Dreimaster hatte er als Mitglied des ›Hansevolks‹ schon an diversen Aufführungen historischer Szenen mitgewirkt und sich über den Andrang begeisterter Touristen gefreut. Manche hielten die ›Lisa‹ für ein echtes mittelalterliches Schiff und staunten nicht schlecht über das gelungene Vorhaben, ein Hanseschiff von 350 Menschen nachbauen zu lassen.
Kurz vor dem Restaurant am Yacht-Anleger sah Peer drei Gestalten wild gestikulieren, es schienen zwei Frauen und ein Mann zu sein – ungewöhnliche Aktivität zu dieser frühen Stunde. Na wartet, dachte er, ein frisch ernannter Polizeikommissar wird euch die Lust am Streit schon austreiben.
Als er sich näherte, verstummten die drei schlagartig. Es handelte sich um einen Mann um die 50, eine etwa zehn Jahre jüngere Frau sowie eine höchstens zwanzigjährige Blondine.
»Alles klar bei Ihnen, oder kann ich irgendwie helfen?« Peer stellte sich breitbeinig vor dem Mann auf, um den Frauen zu signalisieren, dass sie auf ihn bauen konnten, falls es darum ging, Zudringlichkeiten abzuwehren.
Der Mann und die junge Frau schüttelten die Köpfe; die Vierzigjährige, eine edel gekleidete rothaarige Schönheit, schien zu zögern. Ihre Wangen waren blass.
»Vertrauen Sie mir, ich bin Polizist«, sagte Peer und nickte ihr zu.
»Wir haben eine Dro …«
»Felicitas!« Der Mann betonte jede der vier Silben nachdrücklich. Mehr brauchte er nicht zu sagen, die Frau verstummte sofort.
»Sollte das vielleicht ›Drohung‹ heißen?«, hakte Peer nach. Er begann die Schultern kreisen zu lassen und mit den Füßen zu trippeln, denn nach dem Warmlaufen fröstelte er leicht.
Felicitas, deren Name in verschnörkelten Buchstaben den Rumpf der langen, weißen Yacht zierte, warf dem Jungkommissar einen flehenden Blick zu.
Ihr Mann trat neben sie. »Bei uns ist alles in Ordnung. Meine Frau regt sich schnell mal ein bisschen auf, dabei ist gar nichts passiert. Laufen Sie nur weiter, bevor Sie abkühlen und sich noch erkälten.« Er legte den Arm um die Frau.
Peer drehte sein Gesicht der Blonden zu, die seitlich von ihm stand. Auch sie sah ihn nun direkt an, nickte eifrig und strahlte. »Alles bestens hier, das können Sie meinem Vater glauben.« Peer kam ihr Lächeln wie Zähneblecken vor. Anspannung lag in der Luft, das spürte er. Doch wenn es sich um eine Familie handelte und niemand ihn um Hilfe bat, konnte er nichts weiter ausrichten.
»Kleiner Tipp noch«, sagte er, während sein Blick alle drei der Reihe nach streifte, »sollte es Ihnen später einfallen, dass Sie tatsächlich eine Drohung erhalten haben, dann melden Sie sich beim 1. Revier in der Mengstraße.« Damit drehte er ab und setzte seinen Weg fort.
Peer lief dicht an der Kaikante entlang, denn zu den Gebäuden hin war der Bodenbelag gefährlich uneben. Die Trave schimmerte undurchdringlich, trüb wie eh und je. Wenn jemand mal wieder etwas darin versenkt hätte, gäbe sie es nicht so schnell preis – sei es ein Fahrrad, eine Angelrute oder ein Revolver. Peer schüttelte sich. Kein Seemannsgarn am Morgen, komm mal lieber richtig im Tag an! Das Feuerschiff ›Fehmarnbelt‹ leuchtete vom gegenüberliegenden Ufer herüber, und Peer fragte sich, ob das ein Signal für ihn sein sollte.
Vorbei ging es am Lastenkran – und dann lag sie vor ihm, die ›Lisa‹. Am Abend würden sie auf dem Schiff und unten auf dem Kai ein Spektakel veranstalten; die Laienschauspieler des ›Hansevolks‹ waren beteiligt und würden eine Entladeszene nachspielen. Ausgerechnet heute musste Schwiegerpapa seinen Geburtstag nachfeiern! Peer würde in Stockelsdorf im Garten sitzen und sich nach dem dritten Bier und dem zehnten Polizistenwitz fürchterlich langweilen, da war er sich sicher.
Augenblick mal: Was baumelte denn da vom Bugspriet?
Peer griff nach der Papierrolle, die an einem dicken, gedrehten Band am Ende der Segelstange befestigt war. Weil kaum ein Lüftchen wehte, hingen Seil samt Rolle gerade herunter und waren vom Ufer aus nicht mit bloßen Händen zu fassen. Peer war sicher, dass die Rolle eine wichtige Botschaft offenbaren würde; warum er das annahm, wusste er selbst nicht. Er blickte sich suchend um. Da – neben dem Lastenkran lag etwas Längliches: eine kaputte Angelrute, wie es aussah. Schnell lief er hin und kehrte mit dem Stock zurück, der lang genug war. Er kaperte das Seil, knüpfte den Knoten an der Papierrolle auf und hielt einen großen Zettel in Händen. Die Nachricht war mittels Zeitungsbuchstaben zusammengestückelt: ›Aufruhr! Was passieren wird, steht nicht in den Sternen, sondern in der nächsten Nachricht. Sucht im Flying-P-Liner. Mast- und Schotbruch!‹
Peer schaltete sofort: Er musste mit dieser Felicitas sprechen. An ihrer Reaktion würde er merken, ob die Drohung, von der sie ihm zweifellos hatte erzählen wollen, eine ebensolche Nachricht war. Warum, zum Teufel, hatte er nicht gleich weiter nachgebohrt! Er, der frisch gebackene und hochmotivierte Polizeikommissar Peer Leichtfuß, hatte sich von einem alternden Freizeitskipper den Wind aus den Segeln nehmen lassen!
Am Yachtanleger rührte sich nichts. Peer betrat den Steg, an dem die ›Felicitas‹ vor Anker lag, und klopfte an die blank gewienerte Scheibe der Kajüte. Keine Reaktion.
»Felicitas!«, rief er, denn dies war der einzige Name, den er kannte. Stille. Er begann fester zu klopfen und, als das nichts nützte, an der Seitenwand des Bootes zu rütteln. Nichts passierte; auch auf den Nachbarbooten tat sich nicht das Geringste. Wo sollte er die Familie suchen? Das Restaurant am Anleger hatte noch geschlossen, wahrscheinlich waren die drei unterwegs in die Lübecker Altstadt. Groß konnte ihr Vorsprung noch nicht sein, vielleicht würde er sie einholen. Sollte er zurück zur Drehbrücke laufen und weiter, die Engelsgrube hoch? Er verwarf den Gedanken, denn sie konnten ebenso gut eine andere Richtung eingeschlagen haben. Jetzt nur keine Zeit verlieren! Er zog das Smartphone aus der Bauchtasche und wählte die Nummer seiner Vorgesetzten.
»Ich bin’s, Leichtfuß. Nein, ich habe keine Sehnsucht nach den Kollegen. Aber hier auf der Walli … äh, ich meine: auf der Wallhalbinsel … gibt’s eine Drohung gegen einen Yachtbesitzer. Wir müssen nach Travemünde … Ich weiß nicht … ja, kommt am besten schnell her. Gleich vorn bei der Drehbrücke.«
Peer setzte seine Chefin Viola Vorrath, kaum dass sie fünf Minuten später aus dem Auto gesprungen war, mit knappen Worten in Kenntnis. Dann fotografierte er den Text auf der Rolle, übergab das Papier dem kurz nach Vorrath eingetroffenen Techniker, erklärte ihm, wo das Tau zwecks Sicherung von Fingerabdrücken zu finden sei und ließ sich neben seiner Chefin in den Beifahrersitz fallen.
»Flying-P-Liner«, murmelte Vorrath. »Ich kenne mich mit historischen Schiffen nicht aus, aber gehört habe ich den Namen auch schon. Wir müssen nach Travemünde, sagen Sie?«
»Ich hoffe, dass ich richtig liege.« Peer seufzte. »Von den P-Linern gab es acht, alle waren auf Namen mit Anfangsbuchstaben P getauft. Die ›Passat‹ auf dem Priwall ist einer davon.«
»Na, dann ab auf die Autobahn!« Vorrath startete den Wagen. Unterwegs verständigte sie den Leiter der Travemünder Polizeistation, der versprach, umgehend auch die Wasserschutzpolizei zu informieren.
Peer überlegte. »Vielleicht sollten wir außerdem für alle Fälle die Kollegen in Hamburg alarmieren, wo die ›Peking‹ liegt. Wer weiß, was für ein perfides Spiel die hier treiben.«
»Sie haben Recht, rufen Sie dort an. Und geben Sie vorher noch unseren Kollegen eine Personenbeschreibung der Yachtbesitzer durch. Die sollen als erstes die Altstadt um den Koberg herum nach den Leuten abklappern, dann die Untertrave.«
Als sich auf der A 226 vor einer Baustelle ein Stau bildete und sie gefühlt nur noch im Schritttempo voranzockeln konnten, drehte sich Vorrath zu ihrem neuen Mitarbeiter. »Und Sie sind sicher, dass es sich um eine ernstzunehmende Drohung handelt?«
»Ich kenne den Text nicht, den die Familie erhalten hat, insofern ist es Spekulation«, erwiderte Peer. »Aber die Ehefrau war definitiv eingeschüchtert. Und die Tochter …«
»Explosion auf der Walli!«, schrie jemand über Funk. »Sind an der Untertrave, sehen Qualm. Dichte Rauchentwicklung in Höhe des Restaurants!«
Viola Vorrath stöhnte auf. »Genau da, wo die Yacht liegt. Und wir trödeln hier rum. Verflixt!« Sie zögerte kurz. »Wir fahren trotzdem auf den Priwall, sind ja schon fast da. Die Kollegen vor Ort schaffen das.« Sie erteilte einige Anweisungen über Funk, während sie, am Ende der Baustelle angelangt, wieder Gas geben konnte. »Und Sie halten bitte den Kontakt zum 1. Revier.«
An der Travemünder Lotsenstation angekommen, sahen sie, dass sie Glück hatten: Die Priwallfähre wartete am Anleger und hatte noch Platz für ihren Wagen. Sie setzten auf die andere Traveseite über.
Am Passathafen hatten sich bereits fünf Polizisten eingefunden. Vorrath hielt auf einen großen, schweren Mann mit rundem, gutmütigem Gesicht zu. »Sören, danke für die schnelle Unterstützung. Das hier ist übrigens unser neuer Kollege Leichtfuß.«
Sören. Peer überlegte schnell: Das musste Sören Schwarzkopf sein, der Leiter der Travemünder Dienststelle.
»Neuer Kollege – und auch neue Dienstkleidung, was?« Schwarzkopf griente.
Peer, der völlig vergessen hatte, dass er sein Jogging-Outfit trug, lachte verlegen. »Na ja, war eigentlich privat unterwegs.« Oje, sein Shirt! Ein guter Käpt’n wird man nicht in ruhigen Gewässern.
Schwarzkopf schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Das können Sie ja man gleich unter Beweis stellen.«
Peer betrat die majestätische Viermastbark. 39 Mal hatte sie das berüchtigte Kap Hoorn umrundet, das erste Mal gleich bei ihrer Jungfernfahrt 1911. Er wusste, dass die ›Passat‹, Frachtschiff und einer der legendär schnellen Flying-P-Liner, im Südamerika-Einsatz gewesen war, und dennoch hatte er sie bisher nie besichtigt. Die Schiffe der Hansezeit flößten ihm noch mehr Respekt ein. Koggen und Kraweelboote hatten 500 Jahre vor der ›Passat‹ Handelswege bis nach Russland zurückgelegt und Pelze und Bernstein nach Lübeck eingeführt. Peer atmete tief durch, als er an das geplante Spektakel des ›Hansevolks‹ am Abend dachte.
»Kollege Leichtfuß übernimmt das Brückendeck.« Die Worte seiner Vorgesetzten ließen ihn wieder in der Realität anlanden. Sofort begab er sich auf die Suche nach Nachrichten jeglicher Art. Doch so sehr er auch nach unauffällig angebrachten Graffitis suchte, nach in die Ecke geschobener Flaschenpost oder Lücken in der Beplankung, in denen eine weitere papierne Nachricht versteckt sein mochte – er fand nichts. Zwanzig Minuten später rief Viola Vorrath alle Suchenden zusammen. »Was gefunden?«, schnarrte sie, und ihr Gesichtsausdruck ließ erahnen, was sie zu erwarten schien. Tatsächlich antworteten alle mit ›nein‹.
Der Travemünder Dienststellenleiter nahm Vorrath zur Seite. Er ließ sich die Nachricht zeigen, die Leichtfuß an der ›Lisa von Lübeck‹ gefunden hatte. »Meine Güte!«, rief er, »ihr habt doch den Teil eines P-Liners in der Jakobikirche!«
Peer schlug die Hand gegen die Stirn. Natürlich, das Rettungsboot der ›Pamir‹!
Sie jagten zurück in die Stadt; diesmal nahm Vorrath die B 75 und hupte sich die linke Spur frei. Peer informierte den Küster, der alle Besucher der Seefahrerkirche höflich, aber schnell hinauskomplimentieren sollte. »Aber sagen Sie bloß nichts von einem Polizeieinsatz, sonst haben wir wieder eine Horde Schaulustiger, die uns den Weg versperren.«
Vorrath parkte auf dem Koberg, um kein Aufsehen zu erregen; sie liefen die 150 Meter und waren froh über ihre Zivilkleidung; auch Vorrath trug keine Uniform. Peer kam sich deplatziert vor – im Sportdress in die Kirche zu gehen erschien ihm wie ein Sakrileg, auch wenn sich vermutlich kein Beobachter etwas dabei denken würde. Für ihn jedoch war die Jakobikirche mit ihrer Gedenkstätte etwas ganz Besonderes, ihre Atmosphäre erfüllte ihn mit Ehrfurcht. Sein Großvater war zur See gefahren, sein Vater arbeitete als Lotse, und auch Peer fühlte sich als Lübecker mit der Schifffahrt verbunden.
Kaum hatten sie den Kirchenraum betreten, vibrierte Peers Mobiltelefon. Die Kollegen hatten den Auftrag erhalten, den Kontakt zu Vorrath über ihn aufzunehmen. Judith Grasland vom 1. Revier rief an, um ihn über die Situation auf der Wallhalbinsel zu informieren. Die Ursache der Explosion war inzwischen ermittelt: es handelte sich nicht wie befürchtet um einen Anschlag. Stattdessen hatte jemand versucht, den Fettbrand eines Gasgrills unsachgemäß zu löschen – nämlich mit Wasser –, was in einer Verpuffung geendet hatte. »Wahrscheinlich ein Azubi des Restaurants, der einen Brunch vorbereiten sollte«, erklärte Grasland. »Zum Glück hatten wir vorher die Willy-Brandt-Allee abgesperrt, sodass nicht viel los war.« Sie seufzte. »Das ist jetzt natürlich kaum noch machbar.« Peer konnte sich den Andrang der Schaulustigen lebhaft vorstellen.
Er folgte seiner Vorgesetzten in die Pamir-Kapelle. Vorrath war gerade dabei, einen roten Zettel unter der vorderen Sitzbank des Rettungsbootes hervorzuziehen. Sie schnaubte. »Ein Wunder, dass den noch niemand bemerkt hat.«
Peers Telefon vibrierte erneut – wieder Judith Grasland. »Jemand vom Hansevolk hat sich gemeldet. Er will dringend mit dir reden.« Peer notierte die Nummer und versprach einen baldigen Rückruf.
Vorrath hatte den roten Zettel auseinandergefaltet. Er war ebenso groß wie das Papier, das Peer am Bugspriet der ›Lisa‹ sichergestellt hatte. Vorrath zog die Augenbrauen zusammen. »Will uns jemand veräppeln? Oder verstehe ich hier was nicht?« Sie reichte Peer die Nachricht weiter. Auch dieser Text war aus Zeitungsbuchstaben zusammengeklebt: ›Und weiter geht’s: Wo Klosterräume zum Gefängnis wurden, da befreie die nächste Botschaft.‹
»Klingt nach Schnitzeljagd oder Rallye. Und das im Zusammenhang mit einer Drohung …« Peer schüttelte den Kopf. »Das Ganze erinnert mich irgendwie an diese Horrorclowns vor einiger Zeit. Gruselig.«
»Oder es ist ein ganz, ganz schlechter Scherz.« Vorrath sah auf ihre Armbanduhr. »Der Hinweis auf den Ort ist jedenfalls klar: die nächste Anweisung ist in einer der Gefängniszellen im Hansemusum versteckt. Laufen Sie hin; ich fahre jetzt zurück zur Walli.«
Peer trippelte ein paarmal auf der Stelle und machte vier Kniebeugen, bevor er die Kirche verließ und über den Jakobikirchhof auf die Königstraße lief. Oder es ist ein ganz, ganz schlechter Scherz. Konnte das sein? Womöglich wollte jemand der Felicitas-Familie nur einen gehörigen Schrecken einjagen. In diesem Fall konnte man kombinieren, wie die erste, die fehlende Botschaft lauten müsste. Er stoppte seine Schritte in Sichtweite des Museumseingangs und zückte das Smartphone. »Habt ihr inzwischen die Yachtbesitzer gefunden?«, wollte er von Judith Grasland wissen.
»Fragt sie, ob die Drohung einen Hinweis auf die Nachricht an der ›Lisa von Lübeck‹ enthielt.«
Peer betrat den ehemaligen Gefängnistrakt im ersten Stock, in dem jetzt Räume eines Jugendzentrums untergebracht waren. Zwei der Zellen waren jedoch erhalten und zur Besichtigung freigegeben.
Er fand den Zettel im Inneren der linken Zelle, wo er hinter einen Metallwinkel am oberen Ende der Tür geklemmt war. ›Nun suche das Zöllnerhaus, um vom Krawall zu erfahren, der am Abend den Kai erschüttern wird.‹
Peer atmete auf, dann wählte er Vorraths direkte Nummer. »Ich weiß noch nicht, was genau passieren wird. Aber was immer es ist, es soll erst am Abend stattfinden. Wir haben also etwas Zeit.« Er berichtete von der neuen Botschaft. »Ich werde hier noch das Aufsichtspersonals befragen, dann jogge ich rüber zum Zöllnerhaus. Das scheint die letzte Station zu sein, und dort ist die Chance vielleicht am größten, dass einer der Bewohner eine verdächtige Gestalt beobachtet hat. Verdammt, irgendwem muss doch was aufgefallen sein!«
»Das bleibt zu hoffen,« erwiderte Vorrath und atmete hörbar aus. »Denn weder in der Kirche noch auf der Walli will jemand etwas Ungewöhnliches bemerkt haben.«
Während Peer das Handy wieder in der Bauchtasche verstauen wollte, vibrierte es. Er nahm das Gespräch an. »Tobi hier, vom Hansevolk. Deine Kollegen hatten eigentlich gesagt, du rufst zurück …«
»Hi, Tobias, falls du wegen heute Abend anrufst: ich kann leider nicht. Und ich hab’s gerade ein bisschen eilig.«
»Ich weiß, ich weiß, das ist es ja. Ich rufe nicht wegen des Spektakels an. Ich war auf der Walli, weil ich zur ›Lisa‹ wollte. Und da habe ich mitbekommen … Peer, ich glaube, ich muss was beichten.«
Spektakel. Krawall. Aufruhr. In Peers Hirn veranstalteten die Wörter Randale. Er atmete dreimal tief ein und aus, um sich zu beruhigen. »Werden wir deine Fingerabdrücke auf gewissen Zetteln finden?«
»Ja doch. Das ist es ja, was ich dir die ganze Zeit sagen will. Ich habe heute eine Gruppe aus Stralsund zu betreuen, und ich dachte, ich bereite eine Art Hanse-Rallye für die vor.«
»Das hast du doch hoffentlich meinen Kollegen erzählt?«
»Ähm – weißt du … also, nicht wirklich. Ich hatte Angst, dass sie …«
Peer ließ Tobias nicht ausreden. Er klickte auf das rote Hörersymbol und rief sofort darauf Vorrath an. »Keine Bombe«, rief er in den Hörer. »Und keine Horror-Clowns.« Er verschluckte sich fast. »Die Nachrichten haben überhaupt nichts mit der Yachtfamilie zu tun!«
»Ich weiß«, dröhnte Vorrath am anderen Ende, sodass Peer sich fragte, ob seine Chefin auf Krawall gebürstet oder einfach nur erschöpft war. »Wir haben die drei gefunden. Kommen Sie aufs Revier!«
»Aye, Ma’am. Bin in dr-sm-sm Minuten da.« Peer nuschelte die Zahl 30, um zu verschleiern, dass er vorher nach Hause joggen, sich umziehen und vor allem Sina informieren wollte. Seine Frau hatte mittlerweile sicher längst eingekauft, vermisste ihn und machte sich bestimmt Sorgen. Sie konnte ja nicht ahnen, dass er heute zum Joggen sein Mobiltelefon eingesteckt hatte.
Als er zu Hause eintraf, saß Sina beim Kaffee. Sie hatte beide Flügel des großen Küchenfensters geöffnet und schien entspannt die warme Luft zu genießen.
»Espresso, der Herr?« Sie stand auf und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann rümpfte sie die Nase. »Allerdings erst nach dem Duschen …«
»Sorry, ich war …«
»… zum Sporttreiben in der Kirche. Sehr apart.«
Peer hob fragend die Augenbrauen.
»Ach, wolltest du das geheim halten?« Sina lachte. »Davor hat der Herr Facebook gestellt.«
»Was, das hat jemand gepostet? Etwa auf der Stadtnews-Seite? Wer war das?«
»Einer von den Besuchern, die der Küster aus der Kirche rauskomplimentieren wollte. Dem kam das seltsam vor, also hat er sich in einer Bankreihe versteckt und euch beobachtet.«
»Dieser Schw …«
»Pscht.« Sina legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich find’s großartig. Denn so wusste ich nicht nur, dass dir nichts passiert ist, sondern konnte stolz auf meinen frisch gebackenen Kommissar sein. Das roch ja nach wichtigem Einsatz.«
Peers Blick wanderte zum Fenster hinaus.
Sina tippte ihn an. »Es war doch ein wichtiger Einsatz, oder?«
»Ich weiß noch nicht, was ich darüber sagen darf. Muss auch gleich noch mal aufs Revier.« Peer erhob sich. »Ich wasche mich schnell. Und ja: dann hätte ich gern einen Espresso. Doppelt, mit Zucker.«
Peer schwang sich aufs Fahrrad, um in die Mengstraße zu radeln.
Keine fünf Minuten später traf er an seinem neuen Arbeitsplatz ein.
»Kann ich mit diesem Hobby-Skipper reden?«, fragte er Vorrath direkt.
»Nein, wir hatten zwar noch auf Sie gewartet …« Seine Vorgesetzte richtete den Blick demonstrativ zur Wanduhr. »Doch mittlerweile wurde der Mann an die Kollegen von der organisierten Kriminalität übergeben.«
Peer pfiff durch die Zähne. »Nach so einer großen Nummer sah er mir gar nicht aus.« Er bemerkte Vorraths Blick. »Äh – ich weiß natürlich, dass man nicht nach dem Aussehen gehen kann. Was hat er denn angestellt?« Vorrath räusperte sich. »Also – wir sprechen bisher natürlich nur von Verdacht. Steuerhinterziehung und Geldwäscherei in großem Stil … zusammen mit seiner Stieftochter übrigens. Die Frau dagegen scheint unschuldig zu sein.«
»Und die Drohung?«
»Stammt nach bisheriger Erkenntnis von einem geprellten Geldanleger. Die Frau, diese Felicitas, sprach von einem Geschäftsfreund, der ihr schon immer verdächtig vorkam.«
Peer schüttelte den Kopf. »So, so, da hatte sie also den richtigen Instinkt. Bei ihrem Mann ja wohl leider nicht.« Er dachte an die Szene, als der Kerl den Arm wie eine eiserne Klammer um Felicitas gelegt hatte – eine klare Warnung, der Polizei nichts zu erzählen.
»Weiß man inzwischen, wie die Drohung lautete?«
»Geld in bar zurück, oder die Steuerhinterziehung fliegt auf. Sowas in der Art, ein bisschen verschlüsselt.«
»Dann hatte die gar nichts mit der Yacht zu tun? Keine Bombendrohung?«
»Nein.« Viola Vorrath schwieg eine Weile, die Peer unerträglich lang erschien. Dann fuhr sie fort. »Sie haben alles richtig gemacht, Peer. Sie haben Zusammenhänge hergestellt und schnell gehandelt.«
Peer sah auf den Boden. »Zusammenhänge, die gar nicht da waren.« Vorrath erhob sich. »Gewöhnen Sie sich das bloß nicht ab, diesen Blick über die Reling. Bei uns zu Hause sagte man immer: den Blick über den Tellerrand.«
Peer sah auf und lächelte. »Danke.«
»Die Firma dankt.« Vorrath lächelte zurück. »Und übrigens pflege ich jedem, mit dem ich an einer Rallye teilnehme, das Du anzubieten. Ich bin Viola.« Sie streckte Peer die Hand hin.
Peer radelte pfeifend nach Hause. Er würde Sina, die sich heute ebenfalls freigenommen hatte, ins Café einladen. Erdbeertorte und Prosecco, das würde ihr gefallen.
»Bis wir nachher nach Stockelsdorf fahren, ist der Alkohol längst verflogen«, erklärte er ihr.
»Ach, apropos die Feier. Mein Dad hat vorhin angerufen, er hat sich was Besonderes für den heutigen Abend einfallen lassen.« Sina legte eine Kunstpause ein. »Er möchte mit allen Gästen die Aufführung der mittelalterlichen Entladeszene an der ›Lisa von Lübeck‹ anschauen. Und danach ins Fischrestaurant.«
Peer griff sein Smartphone.
»Tobi? Pass auf, ich kann heute Abend doch mitmachen. Aber du musst mir einen Gefallen tun – sozusagen als Wiedergutmachung für die vermeintlichen Drohungen: ich will den Stoffballen an Land tragen. Ja, darin verstecke ich eine Überraschung für jemanden. Bitte, nur heute, nur ausnahmsweise.«
Er würde Tobias nachher einen dicken Gutschein für seine Lieblingspizzeria überreichen. Denn Tobi war ihm keinen Gefallen schuldig, nicht den klitzekleinsten.
Anmerkungen
Das Kraweelschiff ›Lisa von Lübeck‹ wird von der ›Gesellschaft Weltkulturgut Hansestadt Lübeck e.V.‹ betrieben und kann zu bestimmten Zeiten besichtigt werden. Manchmal werden sogar Fahrten darauf angeboten. Informationen findet man unter hanseschiff-luebeck.de.
Wer mehr über die Geschichte der Hanse erfahren möchte, sollte das Hansemuseum besichtigen: www.hansemuseum.eu.
Die Viermastbark ›Passat‹ gilt als Wahrzeichen Travemündes. Sie kann ebenfalls besichtigt werden: www.travemuende-tourismus.de/entdecken/sehenswuer-digkeiten/die-passat.html.
Das Rettungsboot 2 der ›Pamir‹ befindet sich in der Jakobikirche in der Lübecker Innenstadt: www.st-jakobi-luebeck.de.
Szene beim Hansemuseum, Lübeck
Foto: Thomas Schmitt-Schech