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Über die Wirklichkeit

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Um mich her keine Möbel, kein Gegenstand. Nur etwa hundert Grünpflanzen an den Wänden meines Studios. Am Ende des Raums geht eine Glaswand auf den Horizont Richtung Westen hinaus. So weit das Auge reicht, tausende Wohnwürfel.

Zwischen der Glaswand und mir befindet sich meine Mutter.

Sie wendet mir den Rücken zu. Das ist mir recht.

Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal meine Intimsphäre mit ihr teilen würde.

Ich weiß wohl, dass wir bei meiner Geburt gemeinsam isoliert waren. Vermutlich verbrachten wir einige Zeit damit, auf nichts zu warten, nichts anderes zu tun, als uns unvoreingenommen zu entdecken, ohne jeglichen Argwohn. Ich betrachtete sie über den Nuckel des Babyfläschchens hinweg, das sie zwischen unseren Gesichtern im Gleichgewicht hielt. Bestimmt flüsterte sie mir all ihre Mutterliebe ins Ohr. Und bestimmt vergötterte ich sie mit der absoluten Ausschließlichkeit der allerersten Liebe.

Das erklärt vielleicht, warum ich es nicht geschafft habe, sie hinter mir zu lassen.

Jedenfalls nicht ganz.


Heute schneit es. Von da, wo ich sitze, mitten in meinem Studio, nehme ich draußen nichts anderes wahr als eine weiße Oberfläche und ihr Rauschen, wie vor einem halben Jahrhundert der Fernsehbildschirm zum Sendeschluss.

Ich schaue nie nach draußen, aber die Gegenwart meiner Mutter zwingt mich dazu, automatisch immer wieder den Blick zu heben, als registrierten meine Sinne ein bedrohliches Insekt ganz in der Nähe.

Lange, wenn ich als Kind wie angewachsen vor dem Fernseher hockte, konnte sich meine Mutter nähern, ohne dass ich ihre Anwesenheit bemerkte. Und damit ich in das zurückkehrte, was sie »die Realität« nannte, musste sie meinen Namen drei, vier Mal ungeduldig wiederholen.


Jeden Tag desinfiziere ich meine Maske und meine Arbeitshandschuhe. Dass ich Handschuhe sage, ist reine Gewohnheit, eigentlich sieht das mehr nach ganz dünnen Saugnäpfen aus, die auf meinen Fingerspitzen sitzen. Die ebenso dünne Maske deckt das Sichtfeld ab wie eine Schutzbrille und ist hinter den Ohren fixiert, mit dem Unterschied, dass die beiden Bügel hier für die Übertragung des Tons sorgen. Das Ganze wiegt unter drei Gramm. Wollte ich das Gesicht komplett frei haben, könnte ich auch Verbindungs-Kontaktlinsen tragen; regelmäßig probiere ich aus, was an neuen Modellen auf den Markt kommt, aber ich ertrage nicht den geringsten Fremdkörper auf der Hornhaut.

Jeden Tag pflege ich Gesicht und Hände mit Feuchtigkeitscreme; ich mache Stretching. Ich nehme einen Eiweißriegel mit einem halben Liter Wasser zu mir. Ich vergewissere mich, ob der Boden im Studio sauber ist; ich breite meine Expeditionsmatte darauf aus. Ich ziehe Maske und Handschuhe über.

Dann folgt der Übergang.

Ich betrete die virtuelle Realität, wo ich Anouk wiedertreffe, meinen Avatar, der aus Drahtgitternetz und einem Patchwork fotografischer Texturen in 16K-Auflösung besteht und die ganze Zeit vor mir schwebt. Anouks Haut erscheint wirklicher als meine eigene. Ihr Blick leuchtender. Sie atmet stets gleichmäßig. Tief. In der Grundposition verlagert sie stetig ihren Schwerpunkt mit einer leichten Bewegung des Beckens von einem Fuß auf den anderen. Sie nickt, blinzelt, verschränkt die Hände vor dem Bauch. Dann lässt sie mit einer fließenden, anmutigen Bewegung die verschränkten Arme sinken und stellt sich ein paar Sekunden lang auf die Zehenspitzen. Und unweigerlich beginnt die Animation von neuem. Oft, wenn sie in meinem Blickfeld auftaucht, bekomme ich Lust, ihr Gesicht oder ihren Körper zu verändern und suche mir etwas Entsprechendes.

Heute installiere ich meine Mutter im Studio, da habe ich viel zu tun.

Aber erst mal muss ich mich wieder initialisieren.

Ich will eine minimalistische Umgebung schaffen, Anouk ausziehen, ihre derzeitige Haut beibehalten, ihre Augen und sogar das Tattoo, das seit einer Woche ihre Schulterblätter ziert – ein Traumfänger, dessen längste Feder bis zu ihrem Steißbein reicht. Ich werde ihre schwarze Mähne durch einen klassischen Haarknoten ersetzen, vielleicht silbrig getönt. Sie in einer weißen Umgebung installieren, mit nur einer einzigen, strahlenden Lichtquelle. Etwas Schlichtes. Damit ich hoffentlich wieder zur Ruhe komme.

Ich werde alle Modifikatoren auf null stellen, mit denen ihr Gesicht Stimmungswechsel ausdrücken kann. Sie von sämtlichen Emotionen reinigen. Bis auch meine verschwunden sind.

In den letzten Wochen habe ich zu viel Zeit offline verbracht, fern des digitalen Kosmos; ich fing schon an zu ersticken.

Ich muss wieder zum Bild werden, so schnell wie möglich.

Synthese

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