Читать книгу Warten auf Schnee - Karoline Menge - Страница 5

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Meine Mutter ging an einem Nachmittag im Januar. Der Rasen im Garten lag feucht unter einem tiefen grauen Himmel, und sein Grün war unter dem Grau noch intensiver als sonst. Ich schaute hinauf, konnte keine einzige Wolkenkontur ausmachen, folgte mit meinem Blick der Linie, die die stillen Baumwipfel vom Himmel trennte, sie waren ein wenig ausgefranst und bewegten sich nur sachte, dann hielten sie wieder ganz inne, und alles wirkte wie ein Bild, das jemand vor das Fenster gehängt hatte. In den Bäumen saßen Tauben. Und ein paar wenige kleine Vögel, vielleicht Spatzen oder Stare, unterbrachen den schwerfälligen Taubengesang von Zeit zu Zeit durch ein hohes Zwitschern, das in der dichten Luft klang, als käme es von weit weg. Alles andere war still.

Meine Mutter ging, nachdem wir ihr Kartoffeln mit Butter auf den Tisch gestellt hatten. Sie hatte fast nichts davon gegessen und uns angesehen, als täte es ihr leid, dass wir uns damit so viel Mühe gemacht hatten. Karine und ich saßen am Tisch und stocherten mit unseren Gabeln in den zerdrückten Kartoffeln. Karine legte ein kleines Stück Butter darauf und beobachtete, wie es langsam schmolz. Wir konnten meiner Mutter nicht in die Augen schauen, versuchten, ihrem Blick auszuweichen. Jetzt wünschte ich, ich hätte ihm standgehalten, hätte ihre Augen gesehen, vielleicht hätten sie mir etwas verraten, darüber, wohin sie gehen würde, wann sie wiederkommen würde. Sie hatte es uns versprochen. Sie stand auf und stellte ihren Teller auf die Anrichte neben die Spüle. Dann verließ sie die Küche. Wir blieben sitzen, unsere Gabeln bewegungslos in der Hand, den Blick starr vor uns gerichtet, um zu lauschen. Um zu lauschen, was sie tat, ob sie hinaufging, sich wieder schlafen legte; so oft schlief sie in diesen Tagen, verließ nicht einmal ihr Zimmer bis zum Abend, und am Abend ging sie aus dem Haus und kam stundenlang nicht zurück. Bevor meine Mutter im Januar das Haus verlassen hatte und nicht wiedergekommen war, war sie jeden Abend verschwunden, ohne ein Wort. Wir wussten nicht, was sie tat, wohin sie ging. Ich habe das Gefühl, dass wir meine Mutter zu dieser Zeit nicht mehr kannten, dass wir nichts über sie wussten. Und jetzt, da sie fort ist, weiß ich nicht, ob ich sie je wirklich gekannt habe. Ich sitze am Fenster, jeden Tag, und schaue und versuche, mich zu erinnern, wer sie gewesen ist.

Es sieht so aus, als würde bald Schnee fallen. Obwohl noch nicht mal November ist. Ich beuge mich über das Fensterbrett und stütze meine Ellbogen darauf. Das Fenster ist gekippt, draußen ist es windig, der Wind greift durch die schmale Lücke zwischen Rahmen und Scheibe und löst ein paar Strähnen aus meinem locker zusammengebundenen Zopf. Auf meiner Stirn kitzeln sie, als würde jemand mit einer Feder darüberstreichen. Ich kratze mich und bemerke, dass mein ganzer Kopf juckt. Ich beginne, überall zu kratzen, es hört nicht auf, aber das Kratzen tut gut, es tut so gut, dass ich damit weitermache, bis mein Arm schwach wird und ich ihn wieder auf das Fensterbrett lege. Eine gefühlte Ewigkeit habe ich mir nicht mehr die Haare gewaschen, die Stelle, an der ich den Zopf mit einem ausgeleierten Gummi zusammengebunden habe, brennt und juckt gleichzeitig, meine Haare sind schwer und fühlen sich fettig an. Meine Mutter konnte es nicht leiden, wenn ich am Abend von draußen hereinkam und, ohne meine Haare zu waschen, ins Bett ging. Sie meinte, man könne dann am Morgen einen ekligen Abdruck auf dem Kopfkissen sehen, manchmal würde sie kleine Käfer darauf finden, kleine, zerquetschte Käfer, die ich nachts unter meinem schweren, fettigen Kopf begraben hätte. Das stimmte natürlich nicht. Sie dachte es sich aus. Aber vielleicht glaubte sie auch wirklich daran. Meine Mutter glaubte an vieles. Meine Mutter erzählte unablässig Geschichten, sodass ich mich fragte, wie es möglich war, dass sie ihr ganzes Leben lang nur in diesem einen Dorf wohnte und niemals über seine Grenzen hinausgekommen war. Aber sie erzählte diese Dinge nicht nur, sie hielt sie für ganz und gar wahr. Das meiste davon konnte ich sofort entlarven, an anderem blieben meine Gedanken länger hängen, bis ich sicher war, dass es nicht stimmen konnte. Einige Dinge, an die meine Mutter fest glaubte, sind auch für mich wahr. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, erzählte sie mir von den Wesen im Garten. Sie sagte: Ist es dunkel und wälze ich mich im Bett hin und her, gehe ich hinaus in den Garten und dann sehe ich sie, wie sie Löcher unter den Gartenzaun graben und über die Wiese flitzen, bis nach hinten in die Büsche. Da hocken sie dann eine ganze Weile still und schauen mich an. Aus ihren leuchtenden Augen. Kleine, kreisrunde Augen sind das, sie sind ganz weiß, wie winzige Sternensplitter. Weißt du, wer sie sind, Pauli, fragte sie mich. Weißt du, woher sie kommen, was sie wollen? Sie flüstern es mir zu, man muss nur ganz genau hinhören. Sie sagen mir, warum ich nicht schlafen kann. Wenn man nämlich tief und fest schläft, dann kommen sie nicht, Pauli. Und wenn du dich hin- und herwirfst, wenn du lange wachliegst, dann musst du rausgehen und sie in den Büschen suchen.

Noch heute gehe ich nachts hinaus, wenn ich keinen Schlaf finde. Gerade jetzt. Jetzt, da ich gar nicht mehr einschlafen kann, die ganze Nacht wachliege, mich hin- und herwälze, aber das Zimmer voller Geräusche und Schatten ist. Dann gehe ich in den Garten und beobachte die Büsche. Wenn ich lange genug hinsehe, erkenne ich ihre kleinen Augen, höre sie flüstern, und dann weiß ich, wieso der Schlaf nicht kommt, wieso er schon so lange nicht mehr kommt, wieso ich jede Nacht im Dunkeln im Garten sitze und auf die Büsche starre. Sie sagen es mir, und ich weiß, dass sie recht haben.

Ob Karine diese Geschichte meiner Mutter auch kennt, weiß ich nicht. Sie redeten nicht so miteinander, wie ich mit meiner Mutter redete. Ihre Beziehung war anders, ich fand es immer seltsam, wie sehr sie aufeinander schauten. Wenn meine Mutter im Haus war, ließ Karine sie nicht aus dem Blick, und wenn Karine hinausging, den Sandweg hinab zum Spielplatz, dann sah meine Mutter ihr lange nach.

Karine hat nicht immer bei uns gewohnt, sie ist dazugekommen. Meine Mutter hat sie ins Haus geholt, als ich gerade neun Jahre alt war. Einen Tag bevor Karine kam, sagte meine Mutter ganz beiläufig zu mir, dass es Kinder gebe, die keine Familie hätten, die weggehen müssten aus ihrem Zuhause, weil sich niemand um sie kümmere. Dass nicht jeder ein so großes Glück hätte wie ich. Mehr sagte sie nicht. Kurze Zeit später stand ein Auto vor unserem Gartentor, und eine Frau, die ich niemals zuvor gesehen hatte, brachte Karine in unser Haus.

Seit meine Mutter fort ist, hält sich Karine an mich.

Sie glaubt, weil ich zwei Jahre älter bin als sie, hätte ich alles im Griff. Aber das stimmt nicht. Wir wandern durch das leere Dorf, über die Felder, in den Wald, doch weiter als bis zu den Hügeln wagen wir uns nie. Wir laufen den Raum zwischen ihnen und unserem Haus ab, die Wege, die Wiesen, die Dorfstraße, und versuchen, eine Erklärung für alles zu finden, für alles, was passiert ist. Natürlich haben wir keine Erklärung, und vielleicht wird es nie eine geben, aber wir wandern immer weiter, wie zwei Tiger im Zoo an unseren unsichtbaren Gitterstäben entlang, drehen unsere Kreise, ohne zu wissen, was sich dahinter befindet.

Karine schläft nicht gut, seit wir nur noch zu zweit sind. Sie grunzt, dreht und windet sich, ich höre sie weinen. Karine weinte vorher fast nie. Jetzt höre ich sie nachts schwer in ihr Kissen atmen, sie fiept ein bisschen. Nachdem sie sich lange genug hin- und hergewälzt hat, schläft Karine wieder ein, und es wird still im Zimmer.

Ich bleibe wach, liege stundenlang auf dem Rücken und lausche dem Feld vor unserem Fenster. Das Korn wurde seit Jahren nicht mehr gemäht, es ist wirr und hoch, Unkraut hat sich dazwischengedrängt. Ein paar knallrote Mohnblumen strecken ihre Köpfe zwischen dem Gestrüpp empor und zittern, sobald der Wind stärker wird. Ich lausche, versuche, jeden einzelnen Kornstängel herauszuhören und das Rauschen auseinanderzunehmen, jeden Laut für sich. Ich bilde mir ein, dass es klappt, für eine Sekunde, dann ist das große Rauschen wieder da, und ich bekomme es nicht mehr klein.

Ich gehe in den Keller und setze mich neben die Waschmaschine, ich stelle mir vor, wie ihre Trommel scheppert – doch das Rauschen vom Feld bleibt in meinen Ohren.

An kühlen Herbsttagen, der Nebel hing dick über dem Feld, weckte uns meine Mutter früh am Morgen, es war noch beinahe dunkel. Sie nahm uns mit nach unten, zog uns warme Jacken und Stiefel an, und dann rannten wir hinaus, über den Sandweg in das Feld. Dort spielten wir Verstecken, riefen uns durch die dichte weiße Luft, wie verirrte Ozeantanker; mit dunklen Stimmen ahmten wir ihre Nebelhörner nach, und fanden wir uns, kreischten und sprangen wir im Kreis.

Manchmal habe ich das Gefühl, verrückt zu werden. Ich glaube, das liegt in der Familie. Karine ist davon ausgeschlossen, aber wer weiß, was in ihrer Familie schiefgelaufen ist. Seit ich das Rauschen nicht mehr wegbekomme, bin ich mir sicher. Es muss eine Krankheit in unserer Familie geben, in jeder einzelnen Frau, denn nur die Frauen werden verrückt. Meine Mutter erzählte mir oft von unseren Vorfahrinnen. Außer meiner Oma kannte ich keine von ihnen. Meine Mutter sprach von ihrer Großmutter, und die erzählte ihr von ihrer Mutter und so fort. Es sind Geschichten über seltsame, manchmal sogar wahnsinnige Frauen. Jede einzelne wurde von ihrem Mann in diesem Dorf zurückgelassen. Jede einzelne hat in unserem Haus gewohnt, bis zum Ende. Meine Mutter ist die Erste, die dem Fluch entflohen ist. Jedenfalls ist sie dem Dorf entkommen. Ob sie den Fluch mit sich genommen hat, kann ich nicht sagen.

In der Schule zogen mich die Kinder auf, sie nannten mich »Das Mädchen aus dem Irrenhaus«. Ich wusste, was man sich über meine Mutter und unsere ganze Familie erzählte. Dass ein Unheil über uns schwebe, dass jeder, der in unser Haus hineinginge, nicht mehr normal herauskäme. Ich hörte nicht auf das Geschwätz. Ich konnte damals noch nicht nachvollziehen, was alle anderen von uns fernhielt, wieso die Kinder ihre Köpfe zusammensteckten, sobald sie mich mit meiner Mutter im Dorf sahen. Als ich noch zu klein war, um die Dinge zu durchschauen, so wie man es erst schafft, wenn man aus dem Dunst der ewigen Kindheit herausgewachsen ist, lag ein Zauber über allem: über den Apfelbäumen in unserem Garten, dem verrosteten Zaun, dem Feld, den Steinstufen der Eingangstreppe. Auch in den Zimmern, vor allem im Wohnzimmer, in dem wir oft vor dem Kaminofen saßen und den Geschichten meiner Mutter lauschten. Wir wickelten Brot in Folie und legten es in die heiße Asche, wir legten Schokolade in kleinen Stückchen auf die warmen, dampfenden Scheiben. Sie zerfloss langsam und tropfte an allen Seiten herunter, machte unsere Hände klebrig. Aus den Fenstern des Wohnzimmers können wir auf der einen Seite die Kuhweide sehen, auf der anderen den Sandweg und die Wiesen, und ganz hinten, weit in der Ferne, die ersten Häuser des Dorfes. Der Fußboden ist mit weichem Teppich ausgelegt, meine Mutter behauptete, er sei aus der Wolle von ganz besonderen irischen Schafen gewebt, die es nur in Irland gebe und die ausschließlich mit Butter und den Blättern von grünem Tee gefüttert würden. Wie dieser Teppich gerade in unser Haus gelangt ist, konnte sie nicht beantworten. Schon die Großmutter ihrer Großmutter hätte von den Schafen erzählt, und einmal muss eben eine Frau unserer Familie nach Irland gereist sein und den Teppich mitgebracht haben.

Geht man aus dem Wohnzimmer in den Flur und dann die leicht geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock, dann knarrt überall der Holzboden. Als meine Mutter noch hier war, als sie noch nicht ihre matten Augen, ihre raue, beängstigende Stimme hatte, spielten wir Krimi. Einer war der Einbrecher, die anderen mussten sich verstecken. Wenn der Böse sich heranschlich, gaben die Holzdielen unter seinen Schritten Geräusche von sich, die einem Gänsehaut die Arme und den Rücken hinunterjagten. Meine Mutter konnte die Bretter am gruseligsten knarren lassen. Sicher lag es daran, dass sie schwerer war als wir – sie behauptete dagegen jedes Mal, dass sie eine geheime Taktik anwandte, die nur die ganz großen Bösewichte kannten.

Von meinem Platz aus hinter dem Wohnzimmerfenster kann ich über die Weide blicken, die direkt an unseren Garten grenzt, dahinter beginnt ein kleines Waldstück. Auf der anderen Seite des Hauses liegt der richtige Wald, der sich an das Dorf schmiegt und unendlich groß ist.

Ich kann den Sandweg sehen, der vor unserem Haus liegt, und das Feld dahinter, an der anderen Seite vom Feld die dunklen Bäume und danach die Hügel. Jetzt, am Abend, verschwindet das alles ganz langsam, erst legt sich ein blauer, später ein schwarzer Schleier darüber. Und wenn es schneit, bleibt es auch nachts blau, hellblau, eisblau.

Noch wird es keinen Schnee geben. Und obwohl ich das weiß, bleibe ich am Fenster sitzen und lasse die Wolken nicht aus dem Blick. Das erste und das letzte Mal, dass wir den ersten Schnee verpasst haben, war an Neujahr.

Und auch das neue Jahr kam unbemerkt. Erst zwei oder drei Tage später ist es uns aufgefallen. Meine Mutter lag eine ganze Woche lang auf dem Sofa und stand nicht auf, und Karine und ich brachten ihr Brote zum Frühstück, Kartoffeln und Ei zum Mittag und wieder Brote zum Abend. Wir stellten ihr ein Wasserglas auf den Couchtisch und wechselten das Wasser, wenn sie es bis zum Abend nicht angerührt hatte. Ich kochte Tee und brachte ihn ihr, hielt ihr die Tasse an die Lippen. Sie war wie ein Kind, wie ein kleines, krankes Kind. Ich sagte zu ihr, dass sie einen ekligen, fettigen Fleck auf dem Kissen hinterlassen würde, wenn sie nicht aufstünde und sich waschen ginge. Aber sie blieb liegen, starrte an die Decke und sagte kein Wort.

Ende Dezember hatte sie sich auf das Sofa gelegt und war erst am dritten oder vierten Januar wieder aufgestanden. Wir hatten kein Radio, und wir trafen keine Leute aus dem Dorf. Es kam auch niemand, um uns zu besuchen. Viele waren sowieso längst weg, und die, die noch da waren, hockten am Silvesterabend genauso wie wir in ihren Häusern. Niemand zündete Feuerwerk oder ließ Böller knallen. Dieses Mal blieb das Dorf am letzten Abend im Dezember ganz still. Deshalb bemerkten wir auch nicht, wie das neue Jahr anbrach. Ganz heimlich schlich sich der Januar ins Dorf, blieb zögernd vor den verschlossenen Häusern stehen, legte sich stumm auf die Felder, die Wege, aber wir erkannten ihn erst, als wir an einem späten Nachmittag, an einem der ersten Tage des neuen Jahres, hinausgingen, um unter der Eingangstreppe Holz für den Ofen hervorzuholen.

Es hat geschneit, sagte Karine, als sie nach draußen trat. Ich stand hinter ihr, sah die Bäume und das Feld gegenüber, den schwachen weißen Flaum, der sich auf alles gelegt hatte, und ich wusste, dass etwas Neues begonnen hatte und etwas anderes zu Ende gegangen war. Aber selbst jetzt, beinahe ein Jahr später, kann ich nicht sagen, was genau damals endete und was neu angefangen hat.

Sehr lange ist es her, dass am Silvesterabend das Dorf hell erleuchtet, in Blau-, Grün-, Rot- und sogar Goldtönen strahlte, dass es so laut war, dass man schreien musste, um sich zu sagen, wie schön der Himmel aussehe, und dass man den Goldregen am allerschönsten finde. Ich mochte es, wie er hinaufflog, oben mit einem lauten Knall zerplatzte und Millionen kleiner goldener Sterne über die Felder regnen ließ; dabei ertönte ein Geräusch, als würden für einen kurzen Moment Tausende winziger Hagelkörner auf ein Glasdach prasseln. Wenn die Raketen nach oben geschossen wurden, waren alle plötzlich ganz still, hatten den Blick steil nach oben gerichtet, die Münder schon geöffnet, um im nächsten Moment, würde das Feuerschauspiel beginnen, ein langgezogenes Aaaaah! oder Ooooh! auszurufen. Auch ich machte das so, ich hatte es mir von den Erwachsenen abgeschaut. Ich war gerade vier oder fünf Jahre alt, oder vielleicht ist das Silvester, an das ich mich am besten erinnern kann, auch früher gewesen, als mein Vater noch hier war, als meine Mutter noch keine Angst hatte, als alles noch ganz leicht war. Ich stelle es mir gerne so vor.

Mein Vater hatte mich auf seine Schultern genommen, und ich glaubte, ich müsste meine Hand nur weit genug ausstrecken, um die vielen kleinen Sterne, die auf uns herabregneten, greifen zu können. Er hatte meine Beine fest umschlungen, mit einer Hand hielt ich ein Büschel seiner lockigen Haare, mit der anderen versuchte ich, wenigstens einen Stern zu packen. Meine Mutter stand dicht neben uns, mein Vater hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, sie schmiegte ihren Kopf an ihn, war ganz still und glich von oben in ihrem Wintermantel, mit ihrer Wollmütze und ihren dicken Fausthandschuhen, mit denen sie sich immer wieder die Haare aus dem Gesicht strich, einem großen, trägen Eisbären.

Später, als das Feuerwerk beendet war, traf sich eine Gruppe von jungen Leuten im Alten Pferdestall, so nannten sie eine verlassene und heruntergekommene Scheune mitten im Dorf, in die man Tische und Bänke gestellt und wo man in großen Tonnen Feuer entfacht hatte, und bald fanden sich zwei oder drei Männer und Frauen zusammen, die ihre Instrumente auspackten und laute, schnelle Tanzmusik spielten. Meine Eltern gingen zu diesem Silvesterfest und nahmen mich mit. Sie tanzten, wie alle anderen, und ich saß unter einem der Tische und sah ihnen dabei zu. Sah, wie meine Mutter ihren Mantel abstreifte und in eine Ecke warf, wie sie ihre Mütze mit einer Hand durch die Luft wirbelte und ihre langen braunen Haare um ihren Kopf flogen, sah meinen Vater, der ihre Hände nahm, sie unter seinen Armen drehte, bis meine Mutter nicht mehr wusste, wo sie war, und beinahe über die Bänke stolperte. Sah, wie das Stroh unter ihren schnellen Schritten aufstob, wie Staub unter ihren Füßen schwirrte, wie die Funken aus den Fässern sprühten, fast als würde das Feuer von ihrem wilden Tanz angeschürt, die Flammen von der Musik zum Schwingen gebracht.

Die Silvesternächte im Dorf gingen sehr lange, das weiß ich, weil sich alle davon erzählten, von den legendären Nächten zwischen den Jahren, und ich erinnere mich nur an diese eine, diese eine lange Nacht, als ich noch so klein war, dass ich unter einer Sitzbank einschlafen konnte und es keiner bemerkte, bis zum Schluss nicht, und man mich wegbringen musste, früh am Morgen, weil alle glaubten, ich hätte mich verkühlt da unten auf dem Heuboden. Mein Vater hielt meine Hand, als Herr Alminack, der Dorfarzt, mich abtastete und seine Frau, die längst geschlafen hatte und nur ein langes weißes Nachthemd trug, mir eine Tasse dampfenden Tee reichte. Mein Vater strich mir die vom Heuschlaf wirren Haare aus der Stirn und summte ein Lied, während meine Mutter auf einer Krankenliege an der Wand eingenickt war. Vielleicht war es so. Vielleicht war aber mein Vater schon längst nicht mehr im Dorf in dieser Nacht und dieses Silvester viel später und ganz anders.

Am Neujahrsmorgen schliefen wir dann so lange, bis die Sonne schon wieder dicht über den Baumwipfeln an der anderen Seite des Feldes angekommen war, so lange, dass der erste Tag im neuen Jahr gerade noch wenige Stunden dauerte, bis sich ein kühles Blau über den Garten legte. An diesem Tag gingen wir nicht hinaus, meine Mutter saß, in eine dicke Decke gehüllt, auf dem Sofa und las in einem Buch, mein Vater spielte seine Schallplatten, und ich lauschte dem Knacken der Nadel auf dem Vinyl, wenn eine Platte zu Ende war. Draußen begann es zu schneien, und es sah aus, als fielen blaue Flocken herab, es war schon spät, und niemand schien es zu bemerken, niemand außer mir. Meine Eltern sahen müde aus, sie hatten bis in die frühen Morgenstunden getanzt, und nun bewegten sie sich kaum noch, als lebten sie für diesen einen Tag in Zeitlupe. Sie waren zufrieden, das weiß ich, ihre Gesichter waren weich, ihre Blicke sanft, und hin und wieder warfen sie sich ein kurzes Lächeln zu. Wir schliefen im Wohnzimmer ein, ich lag auf dem weichen Schafwollteppich, mein Vater neben mir, und meine Mutter auf dem Sofa, mit dem Buch in einer Hand.

Damals gab es eine Wärme zwischen uns, die nun völlig verschwunden ist. Es ist kalt. Ich stehe auf und schließe das Fenster, draußen dämmert es, der Schnee lässt noch auf sich warten. Hinter mir tritt Karine in die Küche. Sie versucht, kein Geräusch zu machen, aber ich bemerke sie.

Lass uns Holz holen, sage ich und drehe mich zu ihr um, blicke in ihr verwundertes Gesicht. Karine hat noch nie geschafft, leise zu sein. Selbst wenn sie barfuß ganz vorsichtig ihre Schritte setzt, immer ist etwas an ihr in Bewegung, ihre vielen Locken, die um ihr Gesicht springen, oder ihre Augen, die unruhig von links nach rechts wandern, weil sie alles erfassen wollen, weil sie Angst haben, etwas zu verpassen.

Was hast du gemacht, fragt sie mich, als ich aufstehe und an ihr vorbei aus der Küche gehe.

Nichts, sage ich, und, um noch etwas hinzuzufügen: Vielleicht schneit es bald.

An dem Tag, als meine Mutter uns verließ, ging sie vor Anbruch der Dunkelheit aus dem Haus. Es war ein Tag, der schon mittags wirkte, als würde er sich gleich wieder schlafen legen. Das Dorf ruhte unbewegt und stumm unter dem Wolkengrau, das sich wie eine Decke darübergelegt hatte. Und es schlief weiter, schlief, bis die Nacht kam, schlief weiter, bis es Morgen wurde.

Als wir am Morgen erwachten, war meine Mutter noch immer verschwunden. Obwohl ich wusste, dass es zwecklos war, suchten wir sie im ganzen Haus. Alles schien wie am Abend zuvor: Die Decke auf dem Sofa lag zusammengefaltet über der Lehne, die Vorhänge vor den Fenstern hingen in gleicher Position, die Asche in dem kleinen Schlafzimmerofen war kalt, die Luke stand halb offen – so, wie wir sie am Vortag gelassen hatten.

Wir gingen vor die Tür, liefen den Sandweg hoch und runter, spähten über das Feld. Mutter war nirgends zu sehen.

Die abendlichen Wanderungen meiner Mutter, die bis tief in die Nacht dauerten, begannen im letzten Jahr, im Spätsommer, als die Tage schon kürzer wurden. Als sie nach dem Abendbrot in die Dunkelheit verschwand, liefen Karine und ich auf den Sandweg vor das Haus und sahen ihr lange nach, und als sie nachts noch nicht zurückgekehrt war, gingen wir noch einmal hinaus und beobachteten das Feld, bis uns die Augen zufielen und wir uns nicht mehr auf den Beinen halten konnten.

Von diesem ersten Tag im Spätsommer an liefen wir meiner Mutter jeden Abend hinterher, wenn sie ohne eine Ankündigung ihren Mantel nahm, ihre Schuhe anzog, die Tür öffnete und die steinerne Treppe hinabstieg. Wir warteten, bis sie durch das Gartentor gegangen war und wir sie aus dem Verandafenster nicht mehr sehen konnten. Dann zogen wir hastig unsere Schuhe an, warfen die Jacken über und liefen aus dem Haus, aus dem Garten, auf den Sandweg. Stellten uns mitten auf den Weg und sahen meine Mutter nur noch klein an seinem Ende, und dann, dann bog sie plötzlich ab und verschwand zwischen den dicht stehenden Tannen.

Es war immer dasselbe, meine Mutter nahm jedes Mal den gleichen Weg, und wir blieben zurück, weil wir nicht wagten, ihr zu folgen. Wir wussten, dass sie wiederkommen würde, wir gewöhnten uns daran, dass sie nun jede Nacht durch den Wald und über die Felder wanderte und uns nie erzählte, was sie dort tat. Wenn sie am nächsten Morgen wieder zurück war, schien es uns, als hätten wir uns ihre Abwesenheit nur eingebildet, als wäre sie nie weg gewesen. Sie machte uns Frühstück, sprach nur das Nötigste, zu dieser Zeit redete sie nicht mehr viel, und schickte uns in die Schule. Karine und ich beschlossen, niemandem davon zu erzählen. Es hätte nichts geändert, die Leute aus dem Dorf hielten sich ohnehin von meiner Mutter fern.

Es passierte an einem Mittwochabend im Winter, der letzte Winter, den meine Mutter mit uns verbrachte. Jeden Mittwoch fand ein Markt im Dorf statt, und meine Mutter schickte mich los, um den guten Käse und das Bauernbrot zu kaufen, das wir auf dem Teppich im Wohnzimmer vor dem Ofen aßen. Ich weiß noch, dass ich an diesem Tag das letzte Stück Käse ergattert hatte und dass das Brot trocken schmeckte, nicht so wie sonst. Es gab nur zwei Stände auf dem Platz vor dem Rathaus, einer gehörte dem alten Holm, von ihm bekamen wir den Käse, am anderen verkaufte Linde Hannemann Gebäck und Brot – sie war die einzige Bäckerin im Dorf, ihr gehörte die kleine Backstube am Marktplatz, und normalerweise nahm sie nur das beste Brot für den Markt, alle wussten das. An diesem Mittwoch war das anders. Es kam niemand mehr, seit Wochen verkauften sich die Produkte so schlecht, dass sie am Abend in die Kammer gepackt und am nächsten Tag wieder angeboten werden mussten. Alles andere rentiere sich nicht, erklärte mir die Linde, als sie mir das Brot vom Vortag in Papier packte und über die Theke reichte. Es sind schlimme Zeiten, Kindchen, sagte sie und schüttelte immer wieder den Kopf. Sie gab mir das Wechselgeld, sogar noch ein bisschen mehr, so viel solltest du nicht für ein altes Brot bezahlen, Kindchen. Als ich ging und mich noch einmal zu ihr umdrehte, stand sie wie erstarrt an ihrem Stand, den Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.

Meine Mutter biss in das trockene Brot, auf dem eine dünne Scheibe Käse lag. Karine und ich sahen sie an, das flackernde Licht aus der Ofenluke warf Muster auf ihre Wange, und bis heute ist das Gesicht meiner Mutter in dieser Erinnerung fürchterlich entstellt, die Nase baumelt über ihrem Mund, der Mund ist grimassenhaft verzogen, ihr eines, dem Feuer zugewandtes Auge, zuckt auf und ab. Wir sagten nichts, wir hielten unsere Käsebrote in den Händen und sahen meine Mutter an, keine von uns wagte einen Bissen. Draußen war es längst dunkel geworden, es war so still, dass mir die Stille unheimlich wurde. Die Angst aber kam erst später.

Ihr Zimmer halten wir jetzt verschlossen. Manchmal setzen wir uns vorsichtig auf ihr Bett, das wir nicht verändert haben, seit sie gegangen ist. Die Bettdecke liegt noch zurückgeschlagen, das Kissen ist in der Mitte eingedrückt – die Form ihres Kopfes; das Laken schlägt Falten, dort, wo sie gelegen hat. Auch die Vorhänge vor dem Fenster hängen noch genauso, wie sie sie hinterlassen hat, der eine unordentlich von einem Stoffband gehalten, der andere halb zugezogen. Das Fenster ist geschlossen, wir wagen nicht, es zu öffnen und die Luft hinauszulassen. Die Luft, die sich gesammelt hat, als meine Mutter noch hier war; ihr Duft, ihr Atem, alles bleibt im Zimmer. Wir versuchen, die Tür so schnell es geht zu öffnen und wieder zu schließen, damit so wenig wie möglich von ihr entweicht.

Karine schreit, ich denke, es hat mit dem Zimmer zu tun. Sie wirft sich auf den Boden und trommelt mit ihren Fäusten auf die Holzdielen. Ihr Gesicht wird so rot, dass ich Angst bekomme, ihr Kopf könnte platzen. Ich versuche, sie aufzuheben, nehme sie unter den Achseln und rede auf sie ein. Es ist zwecklos, so zu schreien, es hilft ja nichts. Nach ein paar Minuten ist alles vorbei, Karine setzt sich ruhig auf ihr Bett, ihr Gesicht nimmt langsam wieder seine normale, blasse Farbe an. Ich setze mich neben sie und halte kurz ihre Hand, nur, damit sie nicht gleich wieder anfängt.

Heute stapeln wir das Holz neben dem Ofen, ich nehme zwei Scheite und lege sie in die Asche, zünde sie mit einem langen Streichholz an, puste vorsichtig ins Feuer und sehe zu, wie die Funken durcheinanderfliegen und die Flammen aufsteigen und wieder kleiner werden, bis sie stark sind und sich oben halten, das Holz erfassen und sich darumlegen wie ein leuchtend oranges Gewand.

Karine setzt sich auf den Teppich mitten in das Wohnzimmer und sieht ins Feuer. Ihr Gesicht leuchtet im Schein der Flammen, ihre Locken noch röter als ohnehin schon, das Licht flackert über ihre Wangen. Ich beobachte sie einen Moment, drehe mich weg, setze mich auf den Stuhl, den ich mir vors Fenster gestellt habe, und schaue nach draußen.

Einige Wochen nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, hörten Karine und ich auf, jeden Abend vor das Haus zu gehen, uns an die morschen Zaunlatten zu setzen und darauf zu warten, dass wir sie zwischen den Tannen hervorkommen sehen würden.

An jenem Mittwochabend im Winter, als wir trockenes Brot und alten Käse auf dem Schafwollteppich vor dem Ofen aßen, sagte meine Mutter, sie würde wiederkommen. Zu der Zeit hatte der Laden am anderen Ende des Dorfes längst geschlossen, und wir konnten nur noch übrig gebliebene Waren aus dem Lager kaufen, das nur einmal in der Woche öffnete.

Ansonsten bekamen wir einiges vom alten Holm, von der Linde und von wenigen anderen Bauern aus dem Dorf, die weiter ihre Höfe bewirtschafteten, obwohl beinahe niemand mehr da war, um etwas zu kaufen. Viele Häuser waren leer, die großen Geräte, mit denen sie ihre Felder bearbeitet und ihre Waren hergestellt hatten, standen einsam auf den Höfen. An den Gartenzäunen hingen kleine Schilder: Zu verkaufen. Es war fast lächerlich, wie sie dort quietschend im Wind hin- und herschwangen, eine Telefonnummer darauf, als ob irgendjemand hier ein Haus oder einen Hof kaufen würde. Nur noch drei, manchmal vier Kinder, unter ihnen Karine und ich, bekamen Unterricht von der einzigen Lehrerin, die geblieben war. Wir wussten aber, dass das nicht für lange sein würde, auch an ihrem Gartenzaun baumelte schon ein Schild. Fragten wir sie, wann sie wegziehen würde, schüttelte sie nur den Kopf, drehte sich zu der kleinen Tafel und kritzelte mit Kreide eine Aufgabe auf das matte Grün. Ich hatte das Gefühl, dass das Kopfschütteln zu einer Krankheit im Dorf geworden war. Auch meine Mutter schüttelte den Kopf an diesem Abend vor dem Ofen. Sie sagte uns, sie wolle gehen, sie wolle es den anderen gleichtun und etwas Neues finden, irgendwo hinter den Hügeln.

In meiner Erinnerung wirkt es, als wären wir alle wie im Tiefschlaf gewesen; wie wir dort saßen, Karine und ich, wie wir meiner Mutter zuhörten und nichts zu sagen wagten, wie wir die Käsebrote in den Händen hielten und keinen Bissen nahmen, während meine Mutter uns erklärte, dass wir hierbleiben müssten, dass sie uns nachholen würde, sobald sie einen sicheren Ort für uns alle gefunden hätte. Wir hätten sie zurückhalten sollen, hätten ihr sagen sollen, dass es schon irgendwie ginge, wir zu dritt in diesem verlassenen Dorf. Wir wären zusammen, und das musste etwas zählen. Aber das sagten wir ihr nicht. Stattdessen sahen wir ihr dabei zu, wie sie den Kopf schüttelte.

Nach diesem Abend warteten wir stumm darauf, dass sie gehen würde. Es dauerte noch einige Wochen, bis es Januar wurde. Während dieser Wochen verließ sie wie gewohnt abends das Haus, und immer fürchteten wir, sie am nächsten Morgen nicht in ihrem Bett zu finden.

Es ist inzwischen dunkel geworden, die Bäume auf der anderen Seite des Feldes sind beinahe vom Abend verschluckt. Ich drehe mich zu Karine. Sie ist auf dem Teppich eingeschlafen. Ich nehme die Decke vom Sofa und lege sie über ihren zusammengerollten Körper. Es wird schon kalt in den Nächten.

Ich setze mich neben den Ofen und sehe mich im Raum um, betrachte die Bücher im Regal, die wir mit meiner Mutter gelesen haben, die Bände des Brockhaus, die sie regelmäßig hervorholte und aus denen sie einzelne Artikel vortrug. Neben den Regalen an der Wand mir gegenüber hängen die vielen kleinen Bilder, die sie dort angebracht hat, mindestens fünfzig müssen es sein.

Wenn meine Mutter nicht gerade durch die Nacht wanderte, saß sie am Küchentisch, bastelte Collagen und verteilte sie im ganzen Haus. Bilder von Blumentöpfen, Gartengeräten, Wurst- und Käseprodukten, lächelnden Frauen mit einem Klecks Creme auf der Nase, Männern in grünen Latzhosen und Harken oder Spaten in den Händen und so weiter. Meine Mutter schnitt die Bilder aus Werbeprospekten und Katalogen aus, klebte sie auf Papier und rahmte sie ein. Auch in der Küche über dem Tisch sind sie mit kleinen Nägeln an der Wand befestigt.

Einmal in der Woche ging sie ins Dorf, um kleine Holzrahmen zu kaufen. Im Laden legte man ganze Pakete davon für sie zurück. Wenn ich sie begleitete, öffneten wir vorher die große Truhe im Keller, die vor der Vorratskammer an der Wand steht, und suchten uns passende Kostüme aus. Meine Mutter wagte sich nie ins Dorf, ohne sich zu verkleiden, und früher hielt ich das immer für ein lustiges Spiel. Wir trugen lange Kleider, die mit bunten Perlen bestickt waren und Rüschen an Saum und Ärmeln hatten, legten uns Seidentücher um die Schultern und setzten Masken mit Federn und goldenen Pailletten um die Augen auf. Meine Mutter sagte, so würde man uns nicht erkennen, und wir könnten ungestört und sicher durch das Dorf laufen. Niemand würde uns etwas tun. Wenn ich sie fragte, wer uns denn etwas tun wollte, sah sie mich fest an und sagte, man wisse es nie. Ich bestand aber darauf, dass wir doch alle Dorfbewohner kennen würden und niemand uns etwas Böses wollte. Niemand aus dem Dorf, sagte sie, und dann nichts weiter. Ich sah ihre Maske, die sie aufgesetzt hatte, die blauen und grünen Federn und die silbernen Perlen um ihre Augen. An ihrem festen Händedruck spürte ich, dass sie Angst hatte, sprach sie von dem, was sich hinter den Hügeln befinden musste. Sie kannte es genauso wenig wie ich. Seit ihrer Geburt lebte meine Mutter in diesem Dorf, und niemals, soweit ich wusste, war sie weiter als bis zu den Hügeln gegangen. Ihre Stimme veränderte sich, wenn sie darüber sprach. Und versuchte sie, mich zu beruhigen, und sagte sie mir, dass wir in unserer Verkleidung sicher seien und ich keine Angst zu haben brauche – auch dann klang etwas falsch daran.

Sobald wir ins Dorf kamen, wurde meine Mutter still, fasste meine Hand fester und ging mit strengem Blick geradewegs zum Laden. Sie grüßte die Leute, an denen wir vorübergingen, mit der immer gleichen leisen, gefassten Stimme, sah sie dabei aber nie direkt an. Ich beobachtete die Blicke der Vorbeikommenden, bemerkte, dass meine Mutter nervös wurde, kaum dass sie im Dorf war, doch ich konnte nicht begreifen, woran es lag. Mir war, als wüsste niemand so recht, was man zu ihr sagen sollte. Einige beschleunigten sogar ihren Schritt, wenn sie an uns vorübergingen.

Im Laden fragte meine Mutter nach den Rahmen, und die Frau an der Kasse stand auf, bat sie, einen kurzen Augenblick zu warten, und verschwand hinter den Regalen. Wenn wir dort standen und warteten, hörte ich ein Flüstern, spürte Blicke auf mir. Drehte ich mich dann aber um, starrten die Leute auf die Waren im Regal vor sich.

Ab einem gewissen Punkt mochte ich diese Ausflüge nicht mehr, und doch ging ich mit. Es gab mir ein komisches Gefühl, zu Hause zu bleiben und meine Mutter nicht an ihrer Hand ins Dorf zu begleiten.

Ich kenne alle Wege, die durch das Dorf führen: die große Dorfstraße und ihre Häuser, die kleinen Feldwege und Pfade hinauf in den Wald. Seitdem die Kühe weg sind, redet Karine darüber, wie es wäre, ebenfalls fortzugehen. Die große Straße entlang, hinter die Hügel, Richtung Stadt. Aber Frau Rosamunde ist noch da, und unser Haus steht noch fest, hält jedem Sturm und Regen stand. Es hat Fenster, die aussehen wie Augen und eine Tür wie ein dümmlich verzogener Mund. Seltsame Hütte, sagt Karine, sie schaut so schief. Frau Rosamunde ist die Einzige, die außer Karine und mir im Dorf geblieben ist. Sie wohnt, seit ich sie kenne, in ihrem kleinen, alten Heim am Fuß des Wasserturms, und mehrmals in der Woche gehen wir zu ihr, um ihr etwas von unseren Vorräten zu bringen. Wenn wir uns ihrem Grundstück nähern und der Wasserturm sich über uns erhebt wie eine riesige, dunkle Wache, wird mir mulmig zumute. So lange steht er schon leer, und niemand weiß, was sich hinter seinen schwarzen Mauern verbirgt. Er thront über dem Dorf und beobachtet uns, jeder Schritt, den wir setzen, wird von seinem düsteren Blick begleitet. Selbst in unserem Zimmer spüre ich seine Präsenz, aber nicht so stark wie draußen – unser Haus ist für mich der sicherste Ort im ganzen Dorf, darüber nachzudenken, es bald zu verlassen, macht mir Angst.

Ich versuche mich zu erinnern, wie es früher ausgesehen hat. Es ist nicht mehr dasselbe, seit meine Mutter gegangen ist. Es sieht jetzt so alt aus, das ist mir vorher nie aufgefallen. Das Gras steht hoch, die Büsche im hinteren Teil des Gartens wuchern über den rostigen Drahtzaun. Früher, ganz früher, als Karine noch nicht hier war, standen dort prächtige Blumen in allen Farben. Meine Mutter sang während der Gartenarbeit aus voller Kehle, sie hörte sich an wie ein alter Seemann, wenn ihre Stimme tief und kratzig wurde. Im Sommer flocht sie beinahe jeden Tag große, wirre Kränze aus den Gräsern und Blumen und dekorierte damit die Fenster. Wenn kein Fenster mehr frei war, hängte sie zwei oder drei Kränze in ein und dasselbe, sodass es schwierig wurde, hinauszuschauen. Während sie das tat, pfiff sie vor sich hin, Melodien, die ich nicht kannte, die mir ein bisschen Angst machten.

Wenn meine Mutter im Garten arbeitete, saß ich oft etwas entfernt von ihr im Gras und sah ihr dabei zu, wie sie das wirre Gestrüpp aus den Beeten riss. Sie fluchte dabei, und wenn sie lauter wurde und wildere Schimpfwörter benutzte, begann ich, sie dabei zu unterstützen, mir die schlimmsten Schimpfereien auszudenken.

Meine Mutter sagte später, dass ich mit sieben Jahren schon wie eine Weltmeisterin fluchen konnte und dass sie das unglaublich stolz gemacht hatte.

An diesen Tagen lauschte ich wie gebannt ihren Geschichten, die sie mir, nachdem sie genug Unkraut gerupft hatte, auf der Wiese vor dem Phlox erzählte. Sie wusste allerhand, und zu der Zeit glaubte ich ihr noch jede Einzelheit. Ich baute mein Weltbild um ein Haus, um die Wiesen und Felder, die darumlagen, und um ein Neunundsechzig-Seelen-Dorf, plus einundfünfzig Kühe. Beweise, die ihre Geschichten widerlegten, gab es für mich nicht, es wäre also ohnehin schwierig gewesen, etwas anderes zu glauben.

Eine ihrer Geschichten war die vom grünen Mond, sie berichtete mir davon, als wir vor vielen Jahren im Keller hockten und Feuerkäfer einsammelten. Wir setzten sie auf die Stämme unserer Apfelbäume, mindestens hundert rote Käfer suchten wir zusammen. Meine Mutter sagte, sie seien nützlich, auch wenn sie so hässlich aussähen. Man dürfe hässlich nicht mit unnütz verwechseln. Sie würden dem Borkenkäfer und den Blattläusen den Garaus machen und unsere Äpfel schützen. Während wir Käfer in Blechdosen einfingen und sie auf die Stämme setzten, sagte mir meine Mutter die Zukunft voraus. Sie behauptete, dass eines Tages der Mond und der ganze Himmel und alles, was darunterlag, grün sein würden. In ihrer Zukunft aber waren die Kühe noch da, und der Kiosk an der Ecke, und die Frisörin war noch nicht vom Stromschlag getroffen worden.

Diese Geschichte holte sie immer wieder hervor, auch als Karine schon bei uns im Haus war. Sie erzählte sie in keinem besonderen Zusammenhang, sagte, der Mond würde grün werden und wir sollten keine Angst davor haben. Ich weiß noch, wie ich, nachdem ich diese Geschichte das erste Mal gehört hatte, die ganze Nacht kein Auge zutat. Ich mochte ihre Visionen nicht, mochte nicht, wie sie sie wie ein Mantra wiederholte, uns immer wieder beteuerte, wir müssten keine Angst haben. Ich begriff, dass eben nicht alles gut werden würde, weil meine Mutter zitterte, wenn sie diese Geschichten fantasierte, schneller als sonst die Lider hob und senkte und mit den Fingern nervös an ihren langen Haaren zupfte.

Meine Mutter ging oft mit uns auf Wanderschaft, über die Wiesen, durch die Felder, und wir sangen Lieder und sammelten Kräuter und Blumen, die sie zu Hause zu Tee und Salben verarbeitete. Sie nannte es Zaubertrunk und Zaubertunke, füllte die getrockneten Teekräuter in kleine verschließbare Gläschen und die Salbe in alte Zahnpastatuben, die sie aufschnitt, auswusch und, waren sie befüllt, mit dem gleichen dicken Klebeband verschloss, mit dem sie auch ihre Sandalen reparierte. Ihre Zauberei stellte sie ordentlich in das deckenhohe Regal mit den schmalen Böden, das noch immer in der hintersten Ecke der Küche steht. Die Salben und Teekräuter sind nicht mehr da. Meine Mutter hörte auf, sie herzustellen, als sie nicht mehr fähig war, hinauszugehen und ihre Zutaten einzusammeln.

An manch spätem Abend holte meine Mutter uns aus unseren Betten, setzte uns auf die untere Stufe der Treppe, steckte unsere Füße in unsere Schuhe und nahm uns mit nach draußen.

Lasst uns noch zu den Feldern vom alten Holm, wir sollten morgen einmal wieder Kartoffelstampf zum Mittag machen, sagte sie zu uns.

Wir klauten die Kartoffeln vom Feld, und meine Mutter machte Stampf und Kartoffelküchlein daraus. Der alte Holm hatte uns schon mehrmals erwischt und verwarnt. Meine Mutter nannte er verrückt. Er schrie es ihr hinterher, als wir, Karine an ihrer einen, ich an der anderen Hand, über den staubigen Kartoffelacker davonliefen. Meine Mutter behauptete, dass er nur wütend werde, weil er ein gesetzestreuer Trottel sei, und dass er uns ganz bestimmt nichts Böses tun würde. Sie hatte etwas gegen Gesetzestreue, sie meinte, es gäbe Menschen, die ihr Leben verpassten, weil sie sich an jede noch so kleine Regel hielten. Als der alte Holm uns wieder einmal zurechtgewiesen hatte, ging sie vor uns in die Hocke, packte uns an den Armen und sah uns abwechselnd tief in die Augen.

Regeln sind für die gemacht, die nichts mit der Welt und sich anzufangen wissen, sagte sie ernst. Haltet euch bloß niemals an Regeln, nur weil man es euch vorschreibt. Es gibt gute Regeln und schlechte Regeln.

Meine Mutter hatte sich nie mit den Dorfbewohnern anfreunden können, niemand von ihnen wüsste, was die guten Regeln seien, sie alle folgten den schlechten.

Das Dorf zählte neunundsechzig Einwohner: vierzehn Kinder und Jugendliche, ihre Eltern und Großeltern und Frau Rosamunde, die schon immer alleinstehend war. Außerdem gab es einundfünfzig Kühe, acht Kühe standen auf der Weide neben unserem Haus. Alle Kinder gingen in dieselbe Klasse, für eine Unterteilung war nicht genug Personal da. Die Schule bestand nur aus einem winzigen Raum, in den sich alle vierzehn Kinder jeden Morgen quetschten. Es gab eine Molkerei, einen Kiosk, einen Festplatz. Und einen Spielplatz, auf dem tagsüber die Kinder spielten und am Abend die Jugendlichen saßen, wenn sie es geschafft hatten, ihren Vätern ein paar Flaschen Bier zu stehlen. Und über allem thronte, und thront noch immer, der Wasserturm.

Im Sommer war es heiß und trocken, und über den Feldern flirrte die Luft. Die Winter waren sehr kalt, und die Felder lagen plan und starr. Ansonsten wuchs immer irgendetwas, das im Jahr davor noch nicht gewachsen war. Als es in einem Jahr Klatschmohn gab, standen in allen Fenstern die roten Blumen, und an den Türen hingen rote Kränze, und wir spielten so lange in den feurigen Feldern, bis wir müde wurden. Man sagte, dass der Mohn die Kinder schläfrig machte, und so ließen uns die Eltern den ganzen Abend auf den Feldern. In diesen Nächten schliefen wir wie noch nie und erwachten erst am Nachmittag aus unserem Steinschlaf. Jeder Versuch, uns zu wecken, war vergebens. Im Dorf sprach man vom Mohn, der die Kinder verschwinden ließ. Nicht ein Kind war an diesen Tagen mehr auf der Dorfstraße, zwischen den hohen Gräsern oder in den Gärten zu sehen.

Ich schaue nach Karine. Sie liegt zusammengerollt unter ihrer Decke, den Kopf auf ihrem Ellbogen. Ich kann erkennen, wie sich ihr Körper langsam hebt und senkt. Ich überlege, sie vorsichtig zu wecken und hochzubringen, sie ins Bett zu legen. Aber es ist dunkel und kalt im Haus, und ich habe keine Lust, das aufgeheizte Wohnzimmer zu verlassen. Ich lege mich neben den Ofen auf den Teppich und schließe die Augen. Ich schlafe nicht, schon lange schlafe ich nicht mehr richtig, ich tue einfach so, damit mein Körper am Morgen nicht völlig schwach ist.

Ich stelle mir etwas vor. Ich tauche ab und merke gar nicht, wie die Nacht vergeht, wie es Mitternacht, ein Uhr, zwei, drei, vier Uhr wird. Ich höre nichts mehr im Haus, und auch von draußen dringt nichts an meine Ohren. Ich bin unter Wasser, und alles glitzert in Türkis oder Tiefblau, kleine Lichtflecke tanzen vor meinen Augen, die Bäume, die Sträucher und Pflanzen schunkeln langsam von einer zur anderen Seite, die Luft ist dick und schwer, die Dinge passieren träge, alles zögert, alles wandelt wie im Traum. Nur dass ich nicht träume. Anfangs ist es noch sehr ungewohnt. Es ist schwer, zu gehen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, es ist fast unmöglich, zu sprechen und zu verstehen. Wenn die anderen mir etwas sagen wollen, vernehme ich nur ein Glucksen, ihre Stimmen klingen, als kämen sie aus einer Büchse, leise und blechern. Nach und nach aber höre ich besser, bewege mich leichter vorwärts, beginne sogar zu rennen, klettere auf die Bäume und rufe ihre Namen. Sie reagieren, und ich verstehe, was sie mir sagen wollen. Die Bilder werden klarer, das Schwanken nimmt ab, aus dem tiefen Blau lösen sich einzelne ungetrübte Farben. Ich springe von meinem Ast, gehe die Wege entlang, an den Häusern vorbei, über die Felder und schaue zurück. Ich kneife die Augen zusammen, um weiter zu blicken, kann den Wasserturm und seine kleinen, dunklen Fenster sehen, die kurz aufzublitzen scheinen, wie die bedrohlichen Augen eines lauernden Tieres. Ich kann die Wiesen und die Hügel dahinter erkennen und das Sonnenlicht, das in breiten Säulen zwischen den Wolken hervorbricht.

Warten auf Schnee

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