Читать книгу Warten auf Schnee - Karoline Menge - Страница 6

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Seit meine Mutter nicht mehr da ist, haben sich meine Erinnerungen an sie verändert. Als sie im letzten Jahr noch neben uns am Küchentisch saß, nebenan in ihrem Zimmer schlief oder im Garten die Wäsche aufhängte, war mir der Gedanke gekommen, wie es wäre, wenn sie verschwinden würde. Ich war zu dem Ergebnis gekommen, dass es mir nichts ausmachen würde. Ich wünschte mir den Tag sogar herbei, an dem sie einfach nicht mehr von ihren Ausflügen nach Hause käme. Damals waren meine Erinnerungen an sie verzerrt durch die letzten Jahre, die ich mit ihr, oder besser, an ihrer Seite, verbracht hatte. Ich konnte nicht mehr verstehen, wie wir uns einmal so nah hatten sein können und was uns zu Freundinnen gemacht hatte. Ich dachte, dass es eine Verblendung gewesen sein musste, die einem Kind eben anhaftet, eine Liebe, die ich ihr anspruchslos, und ohne irgendetwas in Frage zu stellen, entgegengebracht hatte. Aber dann war mir meine Mutter fremd geworden, so fremd, dass ich nachts vor ihrer Zimmertür stand und das Holz anstarrte, als läge dahinter ein mir unheimliches Wesen, das mir Angst machte, mir unbegreiflich war. Ich hatte alles andere vergessen.

Jetzt fällt es mir wieder ein. Wenn ich nachts wachliege, dann denke ich nicht an sie als ein unheimliches Wesen, sondern an ihr Gesicht, ihre rosigen Wangen, ihre lachenden Augen, die buschigen, dunklen Augenbrauen, ihre langen geflochtenen Zöpfe, ihr Lächeln. Ich erzähle mir wieder unsere Geschichten, die Geschichten aus einer Zeit, in der wir noch zusammen waren, in der sie meine Freundin war. Ich erzähle sie mir oft.

Ich sitze wach im Bett und starre auf meine Hände, die sich langsam aus der Dunkelheit pellen. Draußen höre ich das Rauschen. Drinnen ist es still. Karine schläft seit einer Stunde. Meine Hände sehen groß aus, so umgeben von Dunkelheit. Vor meinen Augen hängen zwei Haarsträhnen, abwechselnd sehe ich sie und dann wieder die Hände scharf. Die Hände meiner Mutter, denke ich. Wie meine Mutter die Wäsche im Garten abnahm, den frisch gewaschenen Stoff durch ihre Finger gleiten ließ, ihn zwischen den Händen rieb, sie darin einwickelte und wieder auswickelte, minutenlang ging das so, sie brauchte ewig mit der Wäsche. Ich saß neben ihr im Gras und sah ihr zu, sie bemerkte mich gar nicht, dabei wusste sie, dass ich da war, sie hatte mich mitgenommen und mich neben sich gesetzt. Als sie fertig war und mich sah, lächelte sie, streichelte mir über die Wangen, und ich roch das Waschmittel an ihrer Haut.

Ihre Hände, denke ich. Im Bad vor dem kleinen Spiegel, nach dem Duschen wischte sie den Dunst vom Glas, malte Augen, Nase und Mund in das hängen gebliebene Wasser, Herzen oder Tiere, selbst wenn sie nicht wusste, dass ich sie durch die angelehnte Tür beobachtete. Sie tat es so, für sich, für niemand anderen. Sie hielt ihre Hände danach lange unter das heiße Wasser aus dem Hahn, bis sie rot waren.

Sie schnitt Scheiben vom Brot, und es bildeten sich kleine blaue Adern auf ihren Handrücken, ich wollte sie nicht angucken, wollte ihre Hände nicht sehen, die mir die Brotscheiben auf den Teller legten.

Ihre Hände kraulten in der Dunkelheit meine Arme und meinen Rücken, fühlten sich an, als wären es drei oder vier, durch die Berührungen, durch das Kitzeln, das ich überall am Körper spürte.

Draußen legt sich der Wind, der seit dem Abend die Baumkronen durchwühlt und Furchen durch die dicht stehenden Büsche an unserem Gartenzaun gezogen hat. Das Fenster hört auf zu knarzen. Karine schnarcht.

Ihre geflochtenen Zöpfe, denke ich. Wenn sie abends neben mir an meinem Bett saß, von den Bienen draußen im Feld erzählte, ihre Zöpfe löste. Ihre Haare trugen kleine Wellen davon, sie fuhr mit den Fingern durch die verfilzten Strähnen. Erzählte von den Bienen.

Sie behauptete, dass sie aus einem Dorf weit weg kämen, denn bei uns gebe es keinen Imker, und es wären so viele, dass sie aus einem großen Bienenstock, aus einer Zucht, kommen mussten. Es waren so viele, dass wir Marmeladenfallen aufstellen mussten, aßen wir hinten im Garten. Ein abgeschnittener Plastikflaschenhals, den wir auf ein Brettchen stellten, auf das wir vorher Marmelade geschmiert hatten. Sie krochen hinein, weil sie das Süße rochen, und fanden den Weg nach draußen nicht mehr. Sie erzählte, dass die Bienen unser Kornfeld liebten, obwohl sie dort keinen Nektar bekämen, sie liebten seine Farbe, denn es war golden, wie ihre Königin.

Ich lausche dem Feld, sehe es vor mir, ohne aus dem Fenster zu schauen. Es ist nicht mehr wirklich golden. Hier und da noch ein paar matte Kornflecken. Längst hat das Unkraut überhandgenommen, hat nicht nur das Korn, sondern auch die Bienen verjagt.

Ihre Wangen, denke ich, wenn wir Bilder ausschnitten. Sie suchte sich am liebsten Frauen und Kinder als Motive, klebte sie in den unmöglichsten Positionen auf die Pappe. Die Mutter mit nur einem Bein, das Baby verkehrt herum auf ihrem Kopf. Ein Baby rutschte der Mutter den Rücken herunter. Ein anderes trug seine Mutter auf dem Arm. Ihre Wangen, verfiel sie in ihr klimperndes Lachen, wurden beinahe dunkelrot. Sie drückte die kalte Schneide der Schere daran, an ihre heiße Haut, damit das Rot verschwände. Sie mochte es nicht, wenn ihre Wangen sich so verfärbten. Musste sie ins Dorf, röteten sich ihre Wangen schon am Morgen und wurden dunkler und dunkler, je näher der Moment ihres Aufbruchs kam. Sie presste sich Tiefgekühltes ins Gesicht, Erbsen in Tüten oder Speiseeis in Kartons. Sie wusch ihre Wangen mit kaltem Wasser, doch es nützte nichts.

Auf dem Boden liegt ein graues Lichtquadrat, draußen wird es hell. Das Zimmer ist noch eingehüllt in einen graublauen Schein, die Gegenstände in den Regalen treten langsam aus ihrem Schattendasein. Karine ist ganz unter ihrer Bettdecke verschwunden, nicht einmal ihr Schopf schaut hervor. Ein Knäuel aus weißer Decke, ein paar matte Lichtmuster auf ihrem Stoff. Karine steht erst mit mir auf. Noch nie hat sie sich allein in das unberührte Haus am Morgen gewagt. Ohne Geräusche, ohne Schritte, ohne Gerüche von Leben. Früher, wenn meine Mutter vor uns aufstand, hörten wir am Morgen das Klirren in der Küche, rochen frischen Toast und manchmal heiße Schokolade.

Karine schnarcht nicht mehr, liegt reglos und still. Schaue ich genau hin, sehe ich, wie ihre Decke sich auf und ab bewegt. Draußen schreit eine Krähe.

Warten auf Schnee

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