Читать книгу Das Bücher-Dekameron Eine Zehn-Nächte-Tour durch die europäische Gesellschaft und Literatur - Kasimir Edschmid - Страница 5
Die zweite Nacht
ОглавлениеHalten Sie die kleine Mannpistole gegen die Lampe auf den Fahnenmast, visieren Sie genau, so entdecken Sie einen hellen Punkt. Er bewegt sich. Es ist die Diva, die sich dem Schnee aussetzt.
Um acht Uhr öffneten sich die Türen zu dem Glasabschluß und in den Speisesaal kamen die Filmer, die seither, geschminkt in der Arbeitspause unter sich speisten. Man applaudierte ihren Einzug, zwischen den Damen in übermäßiger Toilette kamen die berühmten Allgeier und Schneeberger und Schneider-Sankt Anton und stampften mit den Füßen. Es schien, zwischen den sportliebenden Leuten der Gesellschaft, den Weltdamen des Films und den Schneeschuhheroen werde eine Stimmung sich entfachen von der leisen Heiterkeit des Kamins, aber es wurde nur Katastrophe. Es gab keinen gemeinsamen Ton, die Skiläufer waren zu laut, die Filmweiber ohne Gefühl für die ihnen provinziell scheinenden Damen der Gesellschaft und diese hatten von vornherein den Verdacht der Eingesessenen gegen das fahrende Volk. Die Musik rettete mit einer silbernen Kaskade neben der sie noch überzitternden Stimme einer italienischen Dame den Abend und gab mit dem wechselnden Überglänzen des Flügels und des Alts ihm einen gewissen Abschluß.
Sie hatten wohl alle die beste Absicht und suchten es sich zu bezeugen, aber sie gelangten alle nicht über die Grenze ihres Blutes, dessen vielfache Gehemmtheit Deutschland mehr zum Feldlager von Condottieri als zu einer Nation macht. Wen haßt der Deutsche mehr wie den Deutschen und wen kennt er weniger wie seinen Nachbarn? Wie nobel beweist sich manchmal sein Herz zu den Feinden und welche Voreingenommenheit und welche Ungeheuerlichkeit speit er dem Bruder ins Gesicht. Wenn Sie genau zusehen, werden Sie bemerken, daß die Diva in den roten Radius der Lampe geraten ist, und wenn Sie wollen, werden Sie spüren, mit welcher Bewegung sie in die Skiablage eintritt, denn sie reckt ihre Brust und den Nacken hoch und es ist als folgten geschmeidig die Hüften und die langen Schenkel, genau so, als bemühe sie sich in der liebenden Umklammerung einer Schlange aufzusteigen. Welche Rasse. Diese Filmbanden sind ein glänzender Nachzug jener wandernden Trupps in grünen Wagen, die Theater ins Land brachten, wenn auch das Tempo ihrer Automobile, der Schmuck ihrer Weiber und die Schecks ihrer Arrangeure andere Ansprüche dem Schicksal entgegenstellen als früher jene Lust geschundener Komödianten zu stellen hatte: nicht tiefer geachtet zu werden wie die Zigeuner, dafür aber Kunst machen, lieben und bieten zu dürfen. Die prächtigen Intelligenzbärte und alle Schleimsuppen des Geistes haben sich im Namen der Musen nicht zurückgehalten, „Stellung zu nehmen“ und den Film als unwürdig abzudonnern.
Die armen Schlauen haben ihr Geschütz falsch gerichtet und mit einem Mörser einen Sperling erschossen und triefen vor Zufriedenheit wie alle falschen Nimrods. Niemand hat die Behauptung so formuliert. Film ist keine Kunst. Aber er macht Vergnügen. Daher beschäftige ich mich mit ihm. Er ist die zweitgrößte Industrie des Landes und bewirtet die schärfsten Intelligenzen der Akteure, Regisseure, Techniker, daher interessiert er mich in seinen Möglichkeiten. Ich weiß, daß ein Husten Bassermanns mehr ist als die Film-Zauber des Nils. Aber es verlangt mich gelegentlich auf Seglern das Meer vor Nizza zu schauen, oder den Pullmanzug durch die Prärien rattern zu sehen und angewidert von der Arroganz und Erfindungslahmheit der zeitgenössischen Dichter eine Handlung in fabelhaften Kurven vor mir hinsurren zu spüren.
Ich ziehe es vor, ein Drama in Verfolgung und Erschießen im Ballon und die Maskierung von Verbrechern atemlos zu verfolgen als im Theater erleben zu müssen, wie Gerhart Hauptmann sich die seelischen Konflikte der Azteken Mexikos vorstellt — und ich achte staunend lieber darauf, wie von Häusern herabgeklettert wird und mit welchem Anstand man heute doch noch irgendwo scheinbar lebt und Haltung behält, reitet und schießt und das Ganze im Bildflimmern zusammensetzt, als daß ich schlafmohnumwunden die Dreizehn Bücher der Deutschen Seele von Wilhelm Schäfer lese. Wer Saphire in ein Zahnrad schmeißt, ist ein Idiot, wer Kunst in den Film trichtert, den weise man aus der guten Gesellschaft. Ich bin für den Film, wenn es mir Lust macht, und dagegen, wenn ich Unbehagen habe. Ich tue ebenso tausend andere Dinge, die mit Kunst nichts zu tun haben, ich reise, ich spiele Croquet, ich beschäftige mich mit meinem Hund und niemand wird mit mir über Kunst dabei diskutieren, sondern höflich bei seinem Thema bleiben. Es blieb den deutschen Dichtern vorbehalten, die so weltunwissend wie abgründig in ihrem Ausdruck sind, daß sie, die unter maßloser Überschätzung ihres Berufes leben und Welt und Wolken und Schicksal nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Verse und Szenen erbärmlich zu sehen wissen, es blieb ihnen vorbehalten, Bannstrahle „gegen Unbekannt“ zu schleudern und da von Kunst zu reden, wo es ums Geldverdienen geht.
Als Friedrich der Große, der sein Leben lang eifersüchtig auf Voltaires besseres Hirn war, Rapporte las, die ihn veranlaßten loszuschlagen oder zu verlieren, sagte er, beschwingt von dem schöpferischen Atem, der ihn beim Handeln endlich gegen den geistigen Nebenbuhler bevorzugte, ein wenig spöttisch vergleichend: „Was würde Voltaire tun?“, und schlug los. Er meinte, die Dinge im Leben gehörten sauber auseinander und er wäre gewiß der Ansicht gewesen, daß das Erlernen der Filmtechnik für deutsche Autoren wegen ihres Tempos und ihrer belebenden Form und auch für das Einkommen der Guten förderlicher sei, als daß man in dem Gebiet der Kunst für Geld erschreckliche Dinge tue von Balzacs Anfangsromanen bis zu Hauptmanns „Lohengrin“ und dem Kriminalbuch der waffenfrohen Amazone Huch. Um etwas anderes kann es sich beim Streit um den Film nicht handeln, denn das wäre nicht nur dumm, es wäre schon gefährlich.
Näher läge jetzt in die Halle zu gehen, die Diva zu laden und mit ihr über neue Seiden, Crêpe marocain, über ihren Fiat-Wagen und wie sie aus dem Flugzeug springt, zu reden, widerspräche es nicht unserem Abkommen, die Nächte nicht zu unterbrechen und hätte ich nicht einen Frisson gegen Weiber mit Beruf. Näher liegt, vom Theater zu reden, aber auch das ist keineswegs in der Abwechselung mondän. Wo anders geht der Mensch in Frack oder Smoking oder selbst weichem Kragen, de rigueur oder wie es ihm beliebt, ins Theater, erheitert sich und geht sodann zum Speisen. Der Autor des Stücks illustriert die Gesellschaft, und wo er dramatisch wird, hilft ihm die Ironie zu unbeschwertem Takt. Der beste Dichter dieser Art seit Molière ist Shaw. In seinen Stücken ist keine Frage, kein Leid und keine Sehnsucht, die einen Menschen unserer Tage angeht, ungelöst und unbesprochen, trotzdem verläßt jedermann vergnügt das Haus.
Dieser Kelte hat es ihm ergötzlich serviert und den Weg, statt unterirdisch zu brodeln, von der heiteren Oberfläche her zu allen Tiefen gemacht und ist wieder zur Oberfläche zurückgekehrt, weltmännisch, groß, überlegen und wahrhaft modern. Die Schauspieler wirken daher in der Distinktion ihres Talentes lediglich wie geschmackvoll bewegte Landsleute dieses Iren, die der Franzosen aber sind überhaupt schon Gottes natürliche Schauspieler, die Zuschauer erblicken in ihnen nichts als besonders kultivierte Exemplare ihrer Rasse und Gewohnheit. Ähnliches hat, kann man überhaupt vergleichen, nur Wedekind bei den Deutschen, nur daß er lediglich infolge Fehlens einer Gesellschaft die Sünden seiner Zeitgenossen zu einer schief und lahm gelachten Zeitbande zusammenwarf.
Alles andere ist bei uns problematisches Zeug, Edelschmus und monologisierende Vorgänge, die, meist unverständlich, geredet werden, während man sie viel gemütlicher läse. Ohne Eindrillen der Jugend auf die Klassik, würde Goethes „Faust“ im Theater genau so als verquollen abgelehnt wie der Wechselbalg, in dem irgendein Jüngling sich auf seine Weise unklar mit der Welt ausdisputiert. Faust ist keine Rolle, und Gretchen, in dessen Lyrik Erhebliches an Dichtung steckt, wirkt auf der Bühne als alberne Gans. Niemand geht letzten Endes erlöst, kein Mensch erheitert aus dem Theater, die Bühne als moralische Anstalt ist ein Schlagwort der Verlegenheit unter den Gebildeten, das ihre Hilflosigkeit aber auch ihre Feigheit, gegen den dramatischen Theaterwust zu protestieren, schwülstig drapiert. Nie hat das Theater jemanden gebessert, niemand hat das gewünscht, das antike Theater ist kein Vergleich, weil es aus den Kulten kam und religiös verankert lag.
In Deutschland hat Theater mit dem Volk nichts zu tun, es hat überhaupt mit nichts etwas zu tun, sondern hängt wie ein Kunstwitz der Semiramis in der Luft. Wie soll Theater, in dem ein Volk stets am deutlichsten gespiegelt ward, zusammenhängen mit einer Nation, die Architekten aber keine neuen Städte, Künstler aber keine Kunst, erstklassische Revolutionäre aber nie eine anständige Reaktion besitzt . . . wo durch die Trümmerhaufen wohl geniale Irrlichter fahren, aber die Malerei sich nicht in die Wohnungen geschmiegt hat, die Plastik sich zu keinen Kathedralen fand, die Dichtung keine Nabelschnur zur Seele der Masse gewann. Das Witzkarnickel der Literaturgebildeten, Herr Sudermann, wollte viel mehr, als diese Dummlinge glauben, denn er suchte Gesellschaft zu geben, aber er gab Wasser und Leim. Er hatte tatsächlich nur das Mißgeschick kein Künstler zu sein, denn sonst wäre er Wedekind geworden. Jeder von ihnen suchte Gesellschaft zu schildern, der eine die, welche er sich vormogelte, der andere die, welche sein auf Disharmonien eingestelltes Jägerauge in das Vakuum bannte, wo diese Gesellschaft sein sollte, aber, sapristi, nicht bestand.
Mit den Verzückungen der Hrotsvita begann etwas Leben im deutschen Schauspiel, geistliche Herren setzten es fort, indem sie Weiber darstellten, die Rabbi Jesus salben wollten und den Engel trafen am Ostermorgen. Langweilige Sachen wurden daraus in den Osterspielen und Passionen, wo tagelang hunderte Menschen paradierten von Benediktbeuren bis Innsbruck, bis man schließlich mit Zoten die Angelegenheit würzte und Christus den Stuhl wegzog, als er sich setzten wollte. Die Rosenblüt und Sachs und die ihren brachten in die verdrießlichen Bibelszenen wenigstens Charaktere und feuerten um sich gegen Ritter und Papst, vor einigen Jahrhunderten spielten sie in Uri bereits nationalistisch den Tell. Die Kleriker riefen die Jesuiten zu Hilfe und diese erfanden den bewegten Rhythmus kolossaler Barockmassen und den sensationellen Klamauk musikalischer Aufzüge.
Es war an der Zeit, daß englische Akteure mit Marlowe und Shakespeare nach Deutschland kamen und dort den Stand der Schauspieler erstmalig gründeten. Sie lehrten die Deutschen ihr Gesicht zu mimischen Grimassen überhaupt erst zu verziehen, man lernte, was Tragödie war, und neben den italienischen Lazzis, neben Jean Potage und dem Pickelhäring der Holländer zog in der Komödie Hanswurst in Deutschland ein.
Nun kam Molière. Um Stil, koste es was es wolle, zu kriegen, krampfte sich Gottsched, der klüger war als die ihn verlachen, an Boileau und Aristoteles und schlug den Hanswurst übers Maul. Klopstock fürwahr brachte mit seinen sechs Dramen kein Theater auf die Höhe einer Gesellschaft, worauf Lessing wieder englisch auf Natur die Le Nôtre’sche Pallisade säuberte. Dann ging die Führung von den Dichtern völlig zu den Akteuren über, wo der Schauspieler Schröder die neue Nüchternheit mit seinem Organ beschwingte, Iffland die Schauspielerei wieder vom Kothurn ins Aufgeregte und Mimische zurückriß, Devrient das Zerblätterte ins Feurige des Eindrucks wieder hineintrug. Grillparzer floh zwischendurch ins Griechische und Uhland verfaßte „Herzog Ernst.“ Da Sie ihn nicht auf der Schule lasen, sind Sie einen Faden näher der Seligkeit wie ich. Wir sind in der Gegenwart.
Was sahen Sie? Entwicklung des deutschen Dramas? Sie sehen einen Raubzug. Man brach aus nach allen Seiten, plünderte Stoffe, holte Stile, suchte ein nationales Schauspiel. Man ging in freiem Ringkampf, catch as catch can, in die Arena der Völker, um ein Theater zu erwerben und eroberte die interessantesten Dinge. Aber was die Deutschen nicht besaßen, ließ sich nicht erwerben. Ihr Theater war immer das von anderen und von anderen nicht das Beste. Und war wie eine photographische Platte höchstens genial in der Kolportage von Fremdem, auf unserem Boden aber nie ein Stamm und ein Wuchs.
Das große heutige dramatische Theater der Deutschen um Fürsten und ältere germanische Herrschaften und unverständliche Riesenleidenschaften ist, wo man Gesellschaftliches und Zeitgemäßes will, nunmehr nur komisch. Das alltäglichste Wort „Wie geht es?“ heißt russisch: „kak poživaješ“ und schwedisch: „hur står det till?“ Was hält so irrsinnig andersredende Menschheit zusammen außer der Geste überkommener Sitte und Gesellschaft und ihre Mimik. Ihren Gesichtsausdruck mußten die Deutschen aber von den Engländern lernen, ihre Sitte von den Franzosen, es gibt heute weniger wie je ein Theater, das von der Oberfläche her die deutsche Zeit und Gegenwart aussagt. Die schweren in dramatischer Form gebotenen abstrakten und längst abgetakelten Mammute, mit denen die Dichter immer noch am Zaum erscheinen mit der Bitte um gefälliges Interesse, ersetzen nichts, sondern machen den Zwiespalt grotesk. Unruhs Schick, ihnen eine messianische Predigt an die Gegenwart am Schwanz prophetisch anzuhängen, ist die unkluge Geste eines sehr begabten Kopfes.
Solches Theater mit Weltausmaß, ehernen Ewigkeitsfiguren, Muskeldramen, Heroen mit Lotosblättern um die Gelenke, solches Theater: die Welt in tausend Personen, aber den Gigantenapparat in genialer Hand wie geölt, das hat der Shakespeare nur gekonnt. Aber er fügte auch die atemlose Spannung hinzu, schuf Menschen, nicht verkrampfte zu Lebewesen zerboxte Ideen und hatte Rollen von solcher Vielfalt, daß er sie gleich wie aus einem Füllhorn durch seine Schöpferzunge meteorhaft über die Erde blies. „Shakespeare enfant“ sagte Hugo zu Rimbaud, es war ein Kompliment an dessen lyrische Wildheit. Für unsere Dramatiker gesagt ist es ein Witz. Aber auch für den britischen Hünen war seine Urwelt, die er schuf, nur die Epoche seiner Fürsten, seiner Kriege und seines Adels. Weiter nichts. Aus diesem Humus, nicht aus seinen Fingern gesogen kam ihr Mark und Menschtum. Im Knochen unserer Titanen ist Tinte, Wasser und etwas Idee.
Da wir so viele Solostimmen aber kein Orchester besitzen, ist jedoch immer viel Lärm derer dagewesen, die den Stil erzwingen wollen. Da die Scharfschützen nicht von der Mitte aus schießen können, zielen sie von der Peripherie nach der Mitte. Nirgends wird daher der zeitgemäße Ausdruck übertriebener gesucht wie in Deutschland, kein Land färbte den Naturalismus so widerlich, spitzte die Stilzeiten so nadelscharf, walzte den Impressionismus so plump und gellte jede Kunstrevolte so exotisch in das friedliche Land. Wir sind bei Gott auch in Dingen der Kunst ein freudiges Negerlager, während sonstwo man versucht ein Haus zu bauen und Vater und Sohn statt ewigen Racheschwüren sich befriedigt nach dem Kampf die Hand schütteln. Sie fahren sonstwo alle im selben Schiff und wissen es, reden im gleichen Parkett, tauchen im selben Sumpf. Die Akteure spielen wie ihresgleichen, die nicht diesen Beruf erwählt haben, wenn sie im Métro, in Hasselbaken, in der City, am Lido, in Kopenhagen sich bewegen. Sie haben daher Theater. Wir haben nur Regisseure. Sie haben die bessere Schauspielerei. Wir haben die amüsanteren Kerle. Die Ausländer spielen auf das Menschliche hin durch das Medium ihrer nationalen Gebärde, die Deutschen aber spielen für den Mond. Das heißt, daß unsere Ensembles nichts taugen, daß wir aber manchmal vortreffliche Schauspieler haben.
Ich habe Schauspieler fast der ganzen Welt gesehen, ich fand Bassermann besser als Coquelin, Kraus amüsanter als Anders de Waal, die Durieux größer als die Bosse. Aber was sie boten, waren Leistungen, die man bestaunte und waren nicht vorzügliche Selbstverständlichkeiten. Als die Sarah Bernhardt mit französischen Kolonialleoparden über den Boulevard fuhr, tat sie es, um in zehn Roben bei fünf Gerichtsverhandlungen erscheinen zu können und die Quittung an den Abenden ihres Spielens vom Publikum zu erfahren, nicht für ihre Reklame, sondern für ihren Mut und ihre Phantasie, Nationaltugenden, die das Publikum bei ihr akklamierte. Wenn sie aber, die vollendetste Tragödin, an der Rampe sterbend und grün schon, während das Publikum vor Rührung weinte, ihrem Nachbar zuflüsterte „Merde“, so bewunderte ihr Publikum in diesem Zwischenfall, wenn es ihn später erfuhr, nicht die Unanständigkeit der reizenden Gebärde, sondern die Ironie der Überlegenheit, die selbst das Sterben meistert, und in der es eine der besten Eigenschaften des Volkes sieht. Das ist Theater und das ist Gesellschaft. Man kennt und bestätigt sich gegenseitig.
Es gab einen Deutschen, der auch diesen Zusammenhang herzustellen vermochte, wenn auch auf seine Weise: Wedekind. Ich sah ihn, sehr jung und wenig auf Kunst eingestellt, und war d’accord mit der Masse, die sich krumm über ihn lachte. Ich lachte herzlich und begriff nach Jahren, daß ich unbewußt das beste Deutsche damit verraten hatte. Aus seiner dilettantischen Spielerei reckte sich mit der ganzen Größe dichterischer Gewalt die Inbrunst des größten deutschen Dramatikers mit barocker, wenn auch unglücklicher nationaler Gebärde. Ich begriff das, nachdem ich von den Niggern bis zu den Japanern und den Provençalen Theater gesehen habe. Es ist natürlich Schwindel, schauspielerische Kunst als heroisch oder lyrisch, naturgemäß oder gotisch flankieren zu wollen, da es nur darauf ankommt, ob ein Bursche Blut hat und sich aus einem Körper in den andern zu schmeißen versteht. Ach Wedekind verstand keines, denn er war hilflos wie ein Kind auf der Bühne, aber er suchte, mit der Klarheit seiner Dichtung im Auge, die Figur dazustellen, die ihm, wenn auch anklagend, das Zeitbild schien. Der besessene, barocke, ringende und zu wundervoller Plastik sich bildende Mensch, mit Grübelei und Glanz um das Haupt, wuchs über ihn hinaus, denn je mehr sein Schauspielertum versagte, um so gewaltiger stieg die Kraft des Dichters aus ihm, ein berückendes Sinnbild deutscher Art.