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Montag

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Wie üblich war Ilona Hasleitner die Einzige im Kommissariat, die auch in der Nacht zu Hause zu erreichen war. Oder konnte es sein, dass die Kollegen von der Bereitschaft nur noch bei ihr anriefen? Wie auch immer – sie war wieder mal diejenige, die alleine um 2 Uhr nachts zum Tatort in den Münchner Hofgarten fuhr. Steinböck erreichte sie nicht, vermutlich war der Akku seines Handys leer, ein Dauerzustand bei ihm, und ihr Kollege Emil Mayer trat seinen Dienst erst ab Montag wieder an.

Ilona Hasleitner, Ende 20, stand kurz davor, ihre Ausbildung zum Kommissar abzuschließen. Seit drei Jahren bildete sie zusammen mit Emil Mayer und Hauptkommissar Steinböck ein Team. Emil Mayer junior, mittelstark pigmentierter Afro-Bayer, Rollstuhlfahrer und 60er-Fan, so stellte er sich seit Neuestem vor, hatte die letzten sechs Wochen in der Reha verbracht. Als er nach einem Sturz plötzlich Schmerzen in seinen gelähmten Beinen hatte, hofften alle, dass er seinen Rollstuhl bald verlassen könnte. Leider war diese Hoffnung verfrüht. Trotz einer spürbaren Besserung seiner Lähmung, würde er noch geraume Zeit im Rolli sitzen müssen.

Meistens war sie als Erste der dreien am Schauplatz des Verbrechens. Das lag vor allem daran, dass Emil oft Probleme hatte, mit seinem Rolli den Tatort aufzusuchen, und Steinböck im ewigen Clinch mit seinem Smartphone lag, zugleich aber Festnetztelefone als antiquiert betrachtete.

Kurz bevor Ilona Hasleitner am Tatort eintraf, entschied sie sich doch dazu, Emil anzurufen. Es wäre nicht gut für ihre Abteilung, wenn sie, die ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatte, als Einzige der Mordkommission am Tatort erschien. Zumindest war es eine laue Nacht. Als sie den Hofgarten erreichte, erkannte sie den mit Scheinwerfern erleuchteten Tatort schon von Weitem. Die Kollegen von der SpuSi waren vor ihr angekommen, und soeben verließ ein Rettungswagen mit Blaulicht den Platz.

»Servus, Hasleitner«, sagte der uniformierte Kollege, mit dem sie vor drei Jahren noch Streife gegangen war. »Hast jetzt den Laden übernommen, weil du mal wieder allein kommst?«, fragte er hämisch.

»Naa, naa«, lachte sie, »die andern sind auch gleich da.« Sie hoffte inbrünstig, dass Emil seinen Anrufbeantworter abhörte. »Also Simmerl, was ham wir denn?«

»Raubüberfall. Ein Toter und eine Schwerverletzte.«

»Die hat der Sanka grad weggefahren, oder?«

»Genau. Komm mit, der Mann liegt dahinten.«

Hasleitner hob die Aludecke hoch, mit der der Leichnam abgedeckt war. Sie pfiff überrascht durch die Lippen. Ein Mann im dunklen Anzug, weißem Hemd und Fliege lag vor ihr in einer riesigen Blutlache. Unterhalb der Brust waren zwei Einstiche zu erkennen. Sie erkannte sofort, dass es keine Einschüsse waren.

In diesem Moment kam Thomas Klessel, der Gerichtsmediziner, dazu, stellte seine Tasche ab und legte zwei Finger an den Hals des Toten. Dann sprach er kurz in sein altmodisches Aufnahmegerät und wandte sich schließlich an Hasleitner. »Und, Ilona, wo ist er?«

»Er kommt gleich.«

»Da bin ich gespannt.«

»Ist die SpuSi mit ihm fertig?«, schrie er laut.

»Ja, der g’hört jetzt dir«, schallte es irgendwo aus dem Dunkeln zurück.

»Ich befrag die Kollegen von der Streife, ob die schon was erfahren haben«, sagte Ilona mit fester Stimme und zog sich zurück. Unauffällig schaute sie auf ihr Smartphone, ob eine Nachricht von Emil da war.

»Scheiße«, murmelte sie. »Warum geht von denen keiner ans Telefon?«

»Koa Angst, Ilona, du schaffst des. Schließlich bist du mein bester Mann beziehungsweise meine beste Frau in unserem Team«, hörte sie plötzlich Steinböcks vertraute Stimme hinter sich.

»Koa Kunst, ich bin ja auch die einzige«, zischte sie grimmig. Dann lächelte sie und erwiderte sichtbar erleichtert: »Bin ich froh, dass du da bist. Die ham sich schon wieder über uns lustig g’macht.«

»Ist wohl an der Zeit, dass ich mal wieder laut werd. Horch du dich bei den Uniformtrachtlern um, und wenn dir einer blöd kommt, scheiß ihn zamma. Schließlich bist du in a paar Wochen fertig und dann a richtiger Kriminaler.«

»Dei Wort in Gottes Ohr«, raunte Hasleitner und wär beinahe über Frau Merkel gefallen, die zwischen ihren und den Füßen des Kommissars herumschlich.

»Mensch, Katz, pass auf, wo du hindappst«, sagte Steinböck und nahm sie auf seinen Arm. »Komm, lass uns schauen, was unser Schönheitschirurg für Verblichene zu erzählen hat.«

»Du solltest unseren Freund Klessel etwas ernster nehmen. Schließlich gleitet er gerade in eine eklatante Midlife-Krise hinein.«

»Er ›gleitet‹. Das hast du schön g’sagt. Du meinst, weil er sich die Augenbrauen rasiert und die Haare färbt?«

»Du kannst ruhig leiser reden, ich hör dich auch ohne dein Gemurmel.«

»Sag mal, was ist denn mit dir passiert? Seit wann bist du so rücksichtsvoll? Machst du dir wirklich über den Thomas Gedanken?«

»Nein, ich mach mir Gedanken über dich. Das ganze Revier spricht schon darüber. Du würdest mit deiner Katze reden«, sagte Frau Merkel von oben herab.

»Geh, schau, dass du weiterkommst, von dir lass ich mich nicht veräppeln«, zischte er und ließ sie zu Boden plumpsen.

»Na, Steinböck, redest schon wieder mit deiner Katz?«, fragte Thomas Klessel, der wohl etwas von dem imaginären Gespräch mitbekommen hatte. Langsam richtete er sich auf und zog sich die Latexhandschuhe von den Händen.

»Also, was kannst du mir sagen?«, wollte der Kommissar wissen.

»Tja, unser feiner Herr wurde eindeutig erstochen. Der Todeszeitpunkt liegt höchstens zwei Stunden zurück. So wie’s aussieht, war jeder der Stiche tödlich. Bestimmt kein Zufall. Da hat einer genau gewusst, was er macht. Ein Profi, wenn du mich fragst.«

»Wie meinst du des?« Steinböck war überrascht.

»Es ist nicht leicht, mit einem Messer jemanden in die Brust zu stechen, ohne eine Rippe zu treffen. Und wenn es gleich zweimal passiert und beide Male das Herz getroffen wird, dann riecht das eben nach Profi.«

»Woher weißt du, dass das Herz getroffen wurde?«

»So viel Blut, da gibt es kaum eine andere Möglichkeit. Ach übrigens, das steckte in der Brusttasche seines Sakkos.« Klessel reichte Steinböck eine verschlossene Plastikhülle.

»Was ist das?«

»Na, ja, da ist eine Menge Blut drauf, aber es sieht nach zwei Eintrittskarten für gestern Abend ins Cuvilliés-Theater aus. Und das andere scheint die Quittung eines Restaurants zu sein. ›The spice bazaar‹. Das ist gleich hier um die Ecke. Laut SpuSi hat er keinerlei Wertsachen bei sich. Und ansonsten, wenn du Näheres wissen möchtest, heute Nachmittag bei mir in der Gerichtsmedizin. Ich fahr jetzt nach Hause und hol meinen abgebrochenen Schlaf nach. Und vergiss nächsten Sonntag nicht: du und Horsti bei mir zum Abendessen. Und deine Katz kannst ruhig auch mitbringen.«

Steinböck betrachtete noch eine Weile den Toten. Zumindest kannte er ihn nicht. Da war er sich ganz sicher, denn sein Gedächtnis für Gesichter war ausgezeichnet.

»Wenn die SpuSi fertig ist, könnt ihr ihn in die Gerichtsmedizin bringen«, ordnete er dem uniformierten Kollegen an. »Der Klessel sagt, keine Wertsachen?«

»Nix, gar nix. Die Uhr hams auch mitgenommen, wenn er eine gehabt hat«, meinte der Beamte nachdenklich und starrte auf die Leiche. »Ich kenn den, aber ich weiß nicht woher.«

»Wenn’s dir einfällt, dann sagst mir Bescheid«, erwiderte Steinböck. Anschließend machte er sich auf die Suche nach Ilona. Er fand sie zusammen mit mehreren Streifenpolizisten. »Und, Männer, was gibt’s Interessantes zu berichten?«

»Des hama alles schon der Ilona erzählt. Wir müssen jetzt los, die Hasleitner möchte, dass wir uns in der Umgebung umschauen und Nachbarn befragen«, blaffte der Simmerl kurz angebunden und verschwand mit seinen zwei Kollegen in Richtung Odeonsplatz.

»Hat mich auch sehr gefreut, Herr Polizeiobermeister«, rief ihm Steinböck erbost nach. »Was hat er denn, der Simmerl?«

»Ach, der hat nicht verkraftet, dass ich mittlerweile bei der Mordkommission bin und er noch immer im Streifenwagen unterwegs ist.«

»Der alte Depp, war doch sei eigene Entscheidung. Egal, was hast du herausgefunden?«

»Der Tote heißt Renato Maucher, 42 Jahre alt, wohnhaft in der Prinzenstraße in Nymphenburg.«

»Noble Gegend«, raunte Steinböck.

»Seine Frau Silke Maucher haben sie ins St.-Franziskus-Krankenhaus gebracht. Sie ist schwer verletzt, aber außer Lebensgefahr. Vor heute Mittag können wir sie nicht befragen.«

»Wer hat die beiden gefunden?«

»Niemand, die Frau hat noch einen Notruf übers Handy abgesetzt.«

»Gut, ich denk, des reicht für heut Nacht. Ich glaub, wir fahren jetzt nach Hause. Hast du die Saukatz irgendwo gesehen?«

»Die sitzt schon die ganze Zeit da vorn auf dem Weg. Wahrscheinlich will sie heim.«

»Dank dir schön, dann bis später.«

Als Steinböck bei seiner Katze ankam, brummte er: »Und, Frau Merkel, gibt’s was Besonderes an dem Fall?«

»Ich dacht schon, du kommst überhaupt nicht mehr. Ich sitz mir hier den Hintern platt.«

»So, so, also, was gibt’s?«

»Hier auf dem Boden ist was.«

»So weit weg vom Tatort? Was soll des sein?«

»Bin ich die Spurensicherung? Ein bisschen was müsst ihr auch selber machen.«

Steinböck beugte sich nach unten und leuchtete mit der Taschenlampe seines Smartphones den Boden ab. Er entdeckte etwas Klebriges. Es schien Blut zu sein, und mittendurch führte die Spur eines Fahrrads. Erst machte er ein Foto, dann richtete er sich auf und winkte Staller von der SpuSi zu, der wie üblich mit einem weißen Ganzkörperkondom bekleidet war. »Geh, Staller, schau dir des mal an. Sieht wie Blut aus. Könnte von unserm Opfer sein.«

Widerwillig kam der Kollege von der SpuSi näher. »Die Saukatz ist auch wieder da. Ich hab sie schon g’sehen.«

»Beacht sie ned, dann passiert auch nix«, rief er ihm zu, packte Frau Merkel mit der Hand unterm Bauch und machte sich davon.

»Schade, dass wir schon gehen. Ich hätte ihn gerne noch etwas geärgert.«

»Mei, jetzt lass doch den armen Kerl in Ruh. Reicht’s ned, dass du ihn damals für ein halbes Jahr in die Psychiatrische gebracht hast?«

»Das war ja wohl nicht meine Schuld, schließlich wollte er den Hundefänger auf mich hetzen.«

»Des war kein Hundefänger, des war der Amtsveterinärarzt.«

»Nein, nein, am Anfang war’s der Hundefänger«, insistierte Frau Merkel energisch.

»Von mir aus. Komm, lass uns heimfahren, damit ich mich noch ein paar Stunden aufs Ohr hauen kann.«

»Das könnte ich auch gleich hier erledigen.«

»Was?«, fragte er verwirrt und ärgerte sich dann, dass er auf diesen plumpen Witz hereingefallen war. »Ach geh, du wirst a immer depperter.«

*

An diesem Morgen war Emil Mayer junior früher als sonst aufgestanden. Man hatte ihm in der Reha eine ganze Reihe von Übungen gezeigt, die er täglich ausführen sollte. Er hatte gelernt auch kleine Fortschritte wie große Ereignisse zu feiern, und trotzdem würde er noch lange Zeit auf den Rollstuhl angewiesen sein. Natürlich hätte er sich auch vollkommen auf die Rehabilitation einlassen können, aber dadurch seinen Beruf zu vernachlässigen, oder gar ganz aufzugeben, war für ihn im Moment undenkbar. Außerdem ging ihm ständig Ilonas Nachricht durch den Kopf. Gestern im Zug hatte er sein Handy lautlos gestellt und erst spät zu Hause von dem Mord im Hofgarten erfahren. Dafür hatte er mit diebischer Freude den schnarchenden Steinböck vom Sofa geholt und zum Tatort geschickt.

Jetzt fuhr er mit seinem Rolli unter den Türstock und machte einige Klimmzüge. Zusammen mit Steinböck hatte er extra für diese Übung eine Stange angebracht.

Das Klappern der Katzentür schreckte ihn auf.

»Hallo, schwarze Schwester, was treibt dich so früh zu mir? Sollst du mich abholen? Sag bloß, der Sklaventreiber ist schon wach. Egal, ich hab eh keinen Kaffee im Haus. Lass uns schauen, was der ›große Vorsitzende‹ treibt.«

Frau Merkel sprang auf Emils Knie, legte die Ohren an, Blick nach vorne und gab damit unmissverständlich zu verstehen, dass er losfahren konnte. Emil verzog das Gesicht, öffnete die Balkontür und rollte nach draußen.

»Du, Merkel, mit deine Krallen musst a bisserl aufpassen. Ich hab jetzt a Gefühl in die Oberschenkel.«

Augenblicklich spürte er, wie der Schmerz nachließ.

»Bist halt doch a g’scheide Katz.«

»Aber hallo, man steigt ja auch nicht auf die Bremse, wenn man losfahren will. Schließlich halt ich mir einen Rollifahrer als Chauffeur.«

Als die beiden durch Steinböcks Wintergartentür rollten, schlurfte dieser gerade, nur mit einer Blümchen-Boxershorts bekleidet, in Richtung Bad.

»Servus, Emil, geh sei so gut und mach uns zwei Kaffee. Du kennst dich ja aus. Ich geh mich schnell duschen.« Dann verschwand er am Ende des Ganges.

Emil rollte inzwischen in die Küche, holte zwei Kaffeepads aus der Dose und schaltete die Maschine an. Frau Merkel sprang vorsorglich von seinem Schoß, sie wollte nicht mit heißem Kaffee übergossen werden. In Steinböcks Kühlschrank fand er außer drei vertrockneten Tortellini, die einsam auf einem Teller lagen, nichts Essbares. Es war wohl besser, im Büro zu frühstücken. Ilona hatte sicherlich schon für frische Butterbrezen gesorgt. Mayer junior nahm sich vor, heute nach Dienstschluss Einkaufen zu fahren, um seine Vorräte wieder aufzufüllen. Sechs Wochen Abwesenheit waren ganz schön lange. Die Tassen machte er nicht voll, trotzdem musste er jede gesondert in den Wintergarten bringen. Steinböck hatte Wort gehalten. Als Emil mit der zweiten Tasse anrollte, kam er, ein Handtuch um den Hals gelegt und jetzt mit groß karierten Boxershorts bekleidet, aus dem Badezimmer und nahm seinen Kaffee in Empfang.

»Mit diesen Unterhosen bekomm ich dich nie unter die Haube. Ich befürchte, ich werde dich auch in Zukunft alleine ertragen müssen«, stichelte Frau Merkel. Nachdem die Gefahr, mit heißem Kaffee überschüttet zu werden, gebannt war, machte sie es sich erneut auf Emils Knien bequem.

»Schön, dass du wieder da bist, jetzt werd ich die Nervensäge von Katz wenigstens ab und zu mal los.«

»Ich seh schon, es hat sich nix geändert. Ihr zwei seids immer noch ziemlich beste Freunde«, erwiderte Emil grinsend. »Sag mal, der Mord heut Nacht, weißt du da schon Näheres?«

Steinböck streifte sich ein Poloshirt über, nahm seinen Kaffeehafen wieder auf und setzte sich auf die Kante des Korbsessels. »Sieht nach Raubmord aus. Der Mann, Renato Maucher, wurde regelrecht abgeschlachtet. Seine Frau Silke hatte mehr Glück. Sie liegt zwar im Krankenhaus, wird aber durchkommen. Wir sollten sie heute noch vernehmen, sobald es die Ärzte zulassen.«

»Gut, ich fahr dann gleich los, Ilona sitzt bestimmt schon im Büro«, sagte Emil, schubste die Katz von den Knien und stellte seine leere Tasse auf dem Korbtisch ab. »Auf geht’s, Katz. Du fahrst mit deinem Chef.«

»Das glaub ich auch. Wir sollten nicht zu spät kommen, der Fall ist ziemlich heikel. So wie unser Opfer gekleidet war, kommt der aus den besseren Kreisen. Da wird sich die Presse drauf stürzen. Wahrscheinlich scharrt die Husup vor unserm Büro bereits mit den Hufen und geht der armen Ilona auf die Nerven.«

»Die Frau Hasleitner kann sich schon wehren. Und übrigens, a fesche Unterhosen hast an«, stellte Mayer junior feixend fest und rollte aus der Tür.

»Sag ich doch«, grinste Steinböck in Richtung Frau Merkel. »Der Bua weiß halt, was grad hip ist.«

»Bei dem Wort ›hip‹ in deinem Zusammenhang fallen mir eher Babynahrung und Altenheime ein.«

*

Steinböck saß schweigend am Steuer seines alten VW Käfers und versuchte sich auf den chaotischen Verkehr zu konzentrieren.

Berufsverkehr in München, des ist wie Wagenrennen bei Ben Hur, dachte er bei sich.

»Habe gar nicht gewusst, dass du solche cineastischen Klassiker kennst«, kommentierte Frau Merkel vom Beifahrersitz.

»Spionierst schon wieder in meinen Gedanken rum?«, schimpfte er.

»Ach wo, wollte nur wissen, ob du mir das mit dem Altenheim und den pürierten Brokkoligläschen noch nachträgst.«

Steinböck, der gerade auf den Parkplatz in der Ett­straße einbog, bremste den Käfer ruckartig ab und freute sich diebisch, als die Katze beinahe vom Sitz geschleudert wurde. Es folgte eine der üblichen Fehlzündungen und dann war der Wagen sauber eingeparkt auf seinem Platz. Vor dem Eingang zum Kommissariat stand ein Aufnahmewagen vom Bayerischen Rundfunk, aus dessen Kofferraum ein Mann soeben eine tragbare Kamera hervorzog.

»Vorsicht, Alarmstufe Rot: Wenn sogar die vom Fernsehen da sind, wird die ganze Eingangshalle voll sein. Ich schleich mich durch den Hintereingang rein. Du kannst dich ja mal umhören, aber machs net so auffällig«, bemerkte er in Richtung Frau Merkel.

Steinböck umrundete vorsichtig die Mauer und stellte fest, dass ihm niemand folgte. Erleichtert erreichte er einen der Nebeneingänge, zu dem er einen Schlüssel hatte. Plötzlich löste sich aus dem Schatten der Hauswand eine Person, eilte schnell auf ihn zu und erreichte ihn, bevor er die Tür aufgeschlossen hatte.

»Kommissar Steinböck, Sie wollen mir doch nicht entkommen?«, rief Sabine Husup und schob sich samt ihrer riesigen Umhängetasche zwischen ihn und die rettende Tür.

»Doch, das hatte ich eigentlich vor.«

»Zu spät, Sie mussten doch wissen, dass ich Sie erwische.«

Steinböck zuckte resigniert mit den Schultern und musterte die kleine Reporterin. Sie war mit Jeans und einem überlangen grauen, vermutlich selbst gestrickten Pullover bekleidet. Wie üblich hatte sie die kurzen Haare gegelt. Die glichen dadurch mehr einem Käseigel als einer Frisur. Die runde Nickelbrille hatte ihr hier auf dem Revier den Spitznamen Harry Potter für Arme eingebracht. »Also, was wollen Sie?«

»Der Mord an Renato Maucher, war es ein Racheakt?«

»Renato Maucher? Racheakt?«, fragte er sichtlich überrascht.

»Jetzt kommen Sie schon, Herr Kommissar, der Kerl war ein ganz mieser Hund. Einen auf feinen Pinkel machen und dann die armen Schweine unter der Reichenbachbrücke um ihr Geld betrügen. Also, war das nun ein Rachemord?«

»Mensch, Husup, dazu kann ich ein paar Stunden nach dem Mord wirklich noch nichts sagen. Melden Sie sich morgen wieder, und ich will schauen, was ich bis dahin an die Presse weitergeben kann. Oder besser: Ich ruf Sie morgen Nachmittag an.«

»Morgen, morgen, das ist Ihr Lieblingswort. Ich warte auf Ihren Anruf! Wehe, wenn Sie mich dann erneut vertrösten.«

»Aber Frau Husup«, sagte er scheinheilig. »Das würde mir nie in den Sinn kommen.«

»Pharisäer«, zischte sie und gab widerwillig den Durchgang frei. »Ach, Kommissar Steinböck, hier mein Artikel, den ich letzte Woche über den Maucher geschrieben habe«, fuhr sie fort und klopfte mit einer zusammengefalteten Zeitung auf seine Brust.

Erleichtert lehnte sich Steinböck gegen die Tür, die hinter ihm ins Schloss gefallen war, und winkte mit der Zeitung in die an der Decke angebrachte Überwachungskamera. Ihm war klar, dass durch sein Öffnen der Hintertür oben in der Information ein Alarm ausgelöst wurde. Deshalb wartete er noch ein paar Sekunden, bis er sicher war, dass der Kollege Schneehofer ihn erkannt hatte. Es war ihm ein Rätsel, woher Husup all diese Informationen hatte. Und sie wusste schon wieder entschieden mehr als er. Er kramte sein Smartphone aus der Tasche und wählte die Nummer von Peter Obstler, seinem Informanten.

»Servus, Peter, sagt dir der Name Renato Maucher etwas?«

»Ist das der, den sie heut Nacht um’bracht haben?«

»Woher weißt du des?«

»Geh, Steinböck, Informationen sind meine Geschäftsgrundlage.«

»Eben, und solche brauche ich über den Maucher, und zwar des, was man hinter der Hand über ihn redet.«

»Versteh schon. Um 11 Uhr im Biergarten? Passt des?«

»Ich bin da.«

*

»Servus, Chef, wie bist du durch all die Reporter am Eingang durchgekommen?«, begrüßte ihn Ilona Hasleitner, als er das Büro betrat.

»Ich bin durch den Hintereingang reingekommen.«

»Sehr clever, den kennt wenigstens niemand.«

»Von wegen, die Husup hat mich da schon erwartet. Und was soll ich euch sagen, die weiß schon wieder mehr als ich«, antwortete er, warf die Zeitung auf den Tisch und füllte sich seinen Kaffeehafen.

»Deine Butterbrezen stehen auf deinem Schreibtisch«, sagte sie und rollte ein paar Blätter zusammen. »Und hier sind die bisher bekannten Informationen über die Mauchers.«

»Ilona, du bist a Schau. Wenn’s dich ned schon gäb, müsst man dich erfinden.«

»Wegen der Butterbrezen oder wegen meiner Arbeit?«

»Natürlich wegen der Butterbrezen«, tönte Emil und duckte sich hinter seinen Bildschirm. Der kleine Tumult war schnell vorbei und Emil rieb sich seinen Oberschenkel.

»Hey, du weißt schon, dass ich wieder was spür.«

»Eben deswegen, sonst hätt’s ja keinen Sinn«, antwortete Ilona lachend.

»Ihr seids zwei so Kindsköpf«, brummte Steinböck und schüttelte genervt den Kopf.

Emil rollte zur Tür und rief theatralisch: »Bloß weg hier, so viel Gewalt am Arbeitsplatz …«

»Was hat er denn?«, fragte der Kommissar genervt.

»Nix, wahrscheinlich muass er mal.«

»Ach so, für kleine Königstiger.«

»Eher für kleine Erdmännchen«, grinste sie.

»Gibt’s denn schon irgendwas Neues bei unserem Fall?«, wollte Steinböck wissen.

Ilona sammelte ihre Papiere zusammen, die nach dem kleinen Kampf mit Emil ziemlich ramponiert aussahen. »Also, der Maucher hat mehrere Baugeschäfte und Handwerksbetriebe. Eins für Trockenbau, eins für Fliesenleger, ein Maler- und Tapezierbetrieb et cetera. Er besitzt ein Haus am Gardasee und eines hier in München in der Prinzenstraße. Er ist in dritter Ehe mit Silke Maucher, 32 Jahre alt, geborene Semmelau, verheiratet.«

»Semmelau sagt mir irgendwas«, überlegte Steinböck und runzelte die Stirn.

»Sei schlau und bau dein Haus mit Semmelau«, flötete Ilona. »Alter Münchner Betonadel.«

»Da kommt ja einiges zusammen. Haben die Beamten noch etwas erfahren?«

»Nein, sie haben ein paar Obdachlose im Hofgarten befragt. Niemandem ist etwas aufgefallen. Sonst war zu dieser Zeit keiner mehr unterwegs.«

Während die junge Kommissarin ihre Notizen durchsah, versuchte Steinböck leise fluchend, mit der neuen Kaffeemaschine zurechtzukommen. Ilona hatte sich offensichtlich vorgenommen, sein Problem zu ignorieren.

Emil kehrte zurück und kurvte elegant durchs Büro. Vor Ilonas Schreibtisch hielt er kurz an und blickte auf sein Smartphone. »Ich möchte nur bemerken, dass Erdmännchen biologisch gesehen zu den Schleichkatzen gehören, aber eher mit den Bären oder Hyänen verwandt sind«, rezitierte er spöttisch. Dann rollte er weiter zu Steinböck.

»Für kleine Hyänen, passt auch«, kicherte Ilona leise.

»Also, Chef, was willst? An Cappuccino?«

»Naa, des im Glasl, mit der Milli obendrauf.«

»Aha, einen Latte macchiato. Schau her. Da nimmst jetzt so a Glasl, stellst es da drunter und druckst auf diesen Knopf, wo ein Glas abgebildet ist.«

Fasziniert schaute Steinböck zu, wie zuerst der Milchschaum hineinlief und dann durch den Schaum der Kaffee, der sich schließlich am Boden absetzte.

»Und vergiss nicht, dein Glas selber zu spülen«, tönte Ilona von hinten.

»Gibt’s schon einen Bericht von der SpuSi?«, fragte Steinböck und trug andächtig seinen ersten selbst gemachten Latte macchiato zu seinem Schreibtisch.

»Ich hab vorhin angerufen, Bericht kommt im Laufe des Vormittags. Der Fleck mit der Radelspur ist tatsächlich Blut. Es stammt aber nicht vom Opfer. Vermutlich von der Ehefrau«, erklärte Emil.

Steinböck stellte das Glas beiseite, kramte sein Smartphone heraus und hackte ungeduldig mit dem Finger darauf herum. »Kruzifix, scheiß modernes Klump«, grummelte er leise. Schließlich hatte er Erfolg und reichte das Gerät zufrieden an Emil.

»A bisserl mehr Geduld, Chef. Des Smartphone is a bloß a Mensch.«

»Geh, du Depp, schau dir lieber das Foto an.«

Emil vergrößerte mit Daumen und Zeigefinger das Bild und pfiff durch die Zähne. »Hoppla, a Fahrradspur ist des ned. Das sieht mir ganz nach einem Rollireifen aus, und so schmal wie der ist, war da keiner dring’sessen.« Dann reichte er das Handy dem verdutzten Steinböck zurück.

»Ilona, ruf im Krankenhaus an, ob wir die Maucher schon befragen können. Wir brauchen so schnell wie möglich eine Aussage von der Frau. Du fährst mit dem Emil dorthin und ich besuch den Klessel, und anschließend hab ich mit dem Obstler eine Verabredung im Biergarten. Die Husup hat so eine seltsame Andeutung gemacht. Mal schauen, was der Peter so erzählt.«

»Sag mal, Chef, wo ist eigentlich die Katz?«, wollte Hasleitner wissen.

»Auweh, die hab ich ganz vergessen, die baut bestimmt schon wieder Mist. Ich hoffe, ich find sie unterwegs.«

*

Eigentlich wollte er direkt zu Klessel in die Gerichtsmedizin, aber nun musste er wohl oder übel in der Eingangshalle vorbeischauen. Dort trieben sich immer noch ein Dutzend Journalisten und Kameramänner herum. Mitten drin Paul Mögele, der Dienststellenleiter, wie gewöhnlich mit einem seiner hochmodischen, schicken mausgrauen Trachtenanzüge gekleidet, der beschwichtigend die Hände hob. Plötzlich entdeckte er Steinböck und eilte auf ihn zu.

»Sag mal, was ist des mit dem Mord am Maucher? Warum bin ich nicht informiert? Die Presse macht mir die Hölle heiß.«

»Dann schmeiß sie halt naus. Der Mord ist heut Nacht passiert, die Leiche ist noch nicht mal richtig kalt und da stehen die Aasgeier schon vor der Tür«, schimpfte Steinböck wütend. »Ich kann dir auch nicht mehr sagen, weil ich nicht mehr weiß. Sobald es Ergebnisse gibt, bist du der Erste, der es erfährt.« Er drehte sich um und ließ Mögele einfach stehen. Da er die Katze nirgendwo gesehen hatte, steuerte er direkt die Räume der Gerichtsmedizin an.

Thomas Klessel saß, immer noch im grünen OP-Dress mit Mundschutz und Haube, am Schreibtisch und tippte mit seinem berühmten Zwei-Finger-Adlersuchsystem den Obduktionsbericht in den Laptop. Als Steinböck den Raum betrat, blickte er kurz auf, um anschließend noch konzentrierter weiterzutippen.

»Ich hab’s gleich«, sagte er laut, bevor er mit dem Finger noch mal Zeile für Zeile über den Bildschirm fuhr und dabei vor sich hin flüsterte. Dann schob er die Maus ein paarmal hin und her und klickte demonstrativ die linke Taste.

»So, der Bericht ist soeben an dich abgegangen.« Klessel zog sich Kappe und Mundschutz von Kopf und Gesicht.

»Schön, kannst mir trotzdem sagen, was drinsteht?«

»Zwei Messerstiche direkt ins Herz, so wie ich es schon vermutet habe. Das Opfer war sofort tot. Ansonsten hat die Obduktion nichts ergeben. Der Mann war kerngesund. Trotzdem scheint er regelmäßig und vermutlich auch kurz vor seinem Tod gekokst zu haben. Dafür sprechen seine entzündeten Nasenschleimhäute und winzige Reste von Kokain in seinen Barthaaren.«

»Na ja, die Hälfte der feinen Gesellschaft in München kokst«, sinnierte der Kommissar. »Sag mal, gibt’s heut gar nichts aus deinem Flachmann?«

»Der Montag ist seit Kurzem mein alkoholfreier Tag.«

»Hoppla, wie kommst jetzt da drauf?«

»Ich muss abnehmen.«

»Aha, Nachtigall, ick hör dir trapsen«, ließ Steinböck einen seiner Lieblingssprüche los.

»Man muss schon was tun, um sich auf der freien Wildbahn zu behaupten«, fügte Klessel gestelzt hinzu und strich sich mit dem Finger über die gefärbten Augenbrauen.

»Bisher glich er nur äußerlich dem Glööckler, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Hat der nicht auch eine Diät durchgeführt?«, tönte es aus dem Hintergrund.

»Aha, bei dir ist die Katz. Ich hab mich schon gewundert, wo sie sich herumtreibt«, stellte der Kommissar fest, als er sich wie zufällig umdrehte.

»Du weißt ja, sie schaut gern bei der Obduktion zu«, sagte Klessel lachend.

»Gut, wenn’s sonst nichts Neues gibt, dann treff ich mich jetzt mit dem Obstler im Biergarten.«

»Deinen Job möcht ich haben. Ich hab noch nie a Leich im Biergarten obduzieren dürfen.«

»Oh weh, Professor Dr. Thomas Klessel, der Pathologe, den die Frauen liebten, live aus dem Augustiner-Biergarten.«

»Gibt es was Neues über die Ehefrau?«, wollte Klessel noch wissen.

»Sie kommt auf jeden Fall durch, aber befragt haben wir sie noch nicht«, antwortete Steinböck, packte die Katze unter dem Bauch und steuerte die Tür an.

»Denk dran, nächsten Sonntag bei mir daheim zum Abendessen, und vergiss den Horsti ned«, rief ihm Klessel nach.

»Kochen kann der Klessel ja ganz gut, da freu ich mich schon drauf«, murmelte der Kommissar, als er draußen war.

»Du vergisst, dass er gerade eine Diät macht. Wie ich ihn einschätze, ist das Essen bestimmt ovo-lakto-vegetarisch, gluten- und lactosefrei, fructosearm und –«

»Mensch, Katz, hör bloß auf. Mal den Teufel ned an die Wand.«

*

Diesmal leistete sich Steinböck ein Taxi bis zum Biergarten. Er erwischte es direkt vor dem Kommissariat.

Der Fahrer, vermutlich italienischer Abstammung, ließ das Beifahrerfenster herunter. »Wohin soll’s gehen?«, fragte er kurz angebunden.

»Augustiner-Keller.«

Der Taxler schien nicht begeistert ob der kurzen Fahrtstrecke, und als der Kommissar mit der Katz auf dem Arm einstieg, bemerkte er die skeptischen Blicke des Fahrers. Um eventuellen Meckereien vorzubeugen, ging er gleich in die übliche Offensive.

»Koa Angst, die ist stubenrein. Des ist nämlich eine ausgebildete Drogenkatz. Die hat sich perfekt unter Kontrolle. Komisch, a bisserl ang’spannt ist sie schon. Schau mal, wie die schnuppert.«

Jetzt wurde der Fahrer sichtlich nervös. »Augustiner-Keller, des hamma gleich. Ist ja nur ein Katzensprung«, sagte er mit einem gequälten Lächeln.

»Wie sagst du so treffend: Dem geht der Arsch auf Grundeis. Immer wieder ein Vergnügen, diesen Münchner Grantlern eins auszuwischen. Wir sollten das Spielchen viel öfter machen. Aber das mit dem Katzensprung hat er schön gesagt«, meinte Frau Merkel, und fing dann noch an, jämmerlich zu hecheln.

»Übertreib’s ned, der arme Kerl hat schon lauter Schweißperlen auf der Stirn«, murmelte Steinböck.

Die nächsten Minuten vergingen ohne weitere Konversation. Der Fahrer konzentrierte sich auf die Straße und der Kommissar überflog Sabine Husups Zeitung, die sie ihm so charmant überreicht hatte. Der Mann auf einem der Fotos erregte seine Aufmerksamkeit. Er trug einen gelben Strohhut mit einer großen weißen Feder und wurde als Philosoph von der Isar vorgestellt. Irgendwoher kannte ihn Steinböck. Aber bevor er sich näher mit ihm befassen konnte, wurde Frau Merkels Hecheln langsamer. Als sie aber zu röcheln begann, schnippte Steinböck mit dem Finger nach ihrem Ohr.

»He, Gewalt ist auch keine Lösung«, schnurrte sie.

»Aber ein Weg dorthin.«

Der Taxler war sichtlich froh, als der Kommissar und die Katze am Augustiner-Keller ausstiegen. Nachdem er dort in Gestalt dreier stark angetrunkener Chinesen auch noch eine Fahrt zum Flughafen aufnehmen konnte, war der Vormittag gerettet.

Steinböck überraschte, wie gut der Biergarten um diese Tageszeit bereits besucht war. Peter Obstler entdeckte er an einem der Tische im hinteren Teil des Gartens.

»Servus, Steinböck, heut ganz ohne Katz?«, begrüßte ihn dieser und blies eine kräftige Rauchwolke nach oben.

»Griaß di, Peter, die ist schon da, aber wahrscheinlich wartet sie darauf, dass sich der Nebel über dir verzieht«, antwortete er grinsend.

»Ich weiß ned, was die Katz gegen meine Zigarren hat.«

»Die hat sich halt die Petition von den 107 Lungenärzten zu Herzen genommen.«

»Die haben doch völlig falsche Werte angegeben«, erwiderte Obstler, der sich persönlich angegriffen fühlte.

»Schon, aber wen interessiert des denn? Unser verehrter Minister Scheuer nutzt des, um eine Überprüfung der Grenzwerte zu fordern, und die Autolobby reibt sich die Hände.«

»Du hast ja recht, von allen Fake News bleibt was hängen. Jetzt setz dich her und bestell dir etwas zu essen. Ich lad dich ein.«

Steinböck starrte Obstler völlig entgeistert an und selbst Frau Merkel, die inzwischen auf der Bierbank saß, war für einen Moment sprachlos.

»Du lädst mich zum Essen ein? Hast du im Lotto gewonnen?«

»So ähnlich. Zwei Amis haben mich für eine Woche gemietet. Sie wollen einen Fremdenführer der anderen Art.«

Obstler war in Steinböcks Alter. Hätte er keine abrasierten Haare gehabt, wäre er als Inspektor Colombo durchgegangen. Statt Trenchcoat trug er zwar eine abgewetzte braune Lederjacke, dafür hatte er das entsprechende Glasauge, nur der Schnauzer passte nicht dazu. Im Grunde genommen reduzierte sich seine Ähnlichkeit mit dem Fernsehdetektiv auf das Glasauge.

»Fremdenführer der anderen Art? Was bitte soll des sein?«, fragte Steinböck neugierig.

»Na, ja, die zwei wollen mehr die Unterwelt und die einschlägigen Lokale kennenlernen. Sozusagen die dunklen Seiten von München.«

»Mensch, da musst du ihnen den Ferdel Bruchmayer vorstellen, die schwärzeste Seite der ganzen Stadt.«

Daran hatten beide ihren Spaß. Bruchmayer, seines Zeichens Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und ehemaliger Klassenkamerad von ihnen, war ein typischer Vertreter für hinterfotzige Klientelpolitik in Bayern.

»Ich will die zwei doch ned vergraulen. Sie sind angeblich auf Recherche für ein Buch da. Ich hab 1.000 Euro für die Woche verlangt und sie haben mir 2.000 geboten, wenn ich versprech, nicht über Donald Trump zu reden. Da kann ich ihnen doch nicht den Ferdel vorstellen.«

»Sie haben dir das Doppelte geboten, wenn du nicht vom Trump redest?«, erkundigte sich Steinböck verblüfft.

»Stimmt, da hätt ich ihnen am liebsten was nachgelassen. Aber man muss ja schauen, wie man über die Runden kommt. Also, du bist heut mein Gast und wenn du willst, kannst du auch was für die Katz bestellen.«

»Ich wär schon zufrieden, wenn er seinen Stinkstengel ausmachen würde«, meckerte sie und sprang demonstrativ neben Obstler auf die Bierbank.

»Siehst, sie hat sich schon dran gewöhnt«, grinste der und versuchte, Frau Merkel hinter dem Kopf zu kraulen.

Untersteh dich, dachte der Kommissar intensiv, als er sah, wie die Katz ihre Pfote hob und die Krallen ausfuhr. Unter seinem strengen Blick hüpfte Frau Merkel von der Bank und kletterte auf die mächtige Kastanie.

»Also, was wollts ihr essen?«, bohrte Obstler nach und verfolgte mit seinen Blicken die Katze, ohne zu ahnen, dass er gerade knapp einer blutigen Schramme entgangen war. »Ihr habt ja jetzt auch vegetarische Gerichte«, bemerkte er zu der jungen Kellnerin, die an den Tisch trat.

»Die ham mir schon lange, neu sind die lakto-vegetarischen Gerichte.«

Steinböck musste an Klessels Abendessen am kommenden Sonntag denken und fragte nach: »Was ist des?«

»Lakto-Vegetarier meiden Fleisch, Fisch und zusätzlich auch Eier.«

»Zum Beispiel?«

»Mir hätten heut a Pfifferling-Blumenkohl-Curry mit Tofu.«

»So, des haut aber nicht hin. Pfifferling sind doch Eierschwammerl.«

»Bei die Ösis schon«, warf Obstler grinsend ein.

»Da müsst ich jetzt in der Küche nachfragen«, sagte die Bedienung verunsichert.

»Naa, lass nur. Ich möchte gern einen veganfreien Schweinebraten mit viel Kruste und einen Kartoffelknödel. Dazu bringst mir a leichtes Weißbier.«

»Wegen dem veganfrei muss ich auch nachfragen, ob mir des ham.«

»Mach des«, antwortete Steinböck verschmitzt.

»Was ist mit der Katz?«, wollte Obstler wissen.

»Die macht grad eine strenge Diät«, stellte der Kommissar fest und blickte dabei hämisch nach oben. »Jetzt erzähl, Peter, was hast du über den Maucher rausgefunden?«

Der Freund zog seinen Benzinkocher aus der Tasche seiner Lederjacke, klappte ihn auf, entzündete ihn und brachte durch wildes Saugen die ausgegangene Zigarre wieder zum Glühen. »Also, der Maucher ist bekannt in der Münchner Society. Er hat sich auch nicht besonders zurückgehalten. Wenn die Bussi-Bussi-Herde unterwegs war, dann war er meistens mit von der Partie. Früher hat er nichts ausg’lassen, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Aber seitdem er wieder verheiratet ist, gab’s angeblich keine Affären mehr. Der Hauptgrund soll seine jüngere Frau sein, die nicht nur besonders hübsch, sondern auch sehr reich ist. Sie ist die Alleinerbin und Chefin von Semmelau, einer der größten Baufirmen in München. Der Maucher hat da als eine Art Bauleiter gearbeitet. Aber viel zu sagen hat er nicht gehabt, munkelt man. Andererseits besitzt er selbst einige kleine Baufirmen, die besondere Arbeiten durchführen. Darunter einen Spezialkran und Ähnliches. Außerdem vermittelt er Subunternehmen. Das Ganze ist etwas dubios. Es soll Probleme mit einem Geschäftsführer gegeben haben, den er aber inzwischen entlassen hat. Unsere kleine Reporterin, du weißt schon, die mit der Harry-Potter-Brille, hat einen interessanten Artikel veröffentlicht. Danach soll Renato Maucher über die Machenschaften seines Geschäftsführers Bescheid gewusst haben. Aber sie wurde von ihrem Onkel, dem Chefredakteur, zurückgepfiffen und die Zeitung musste teilweise widerrufen.«

»Was für Machenschaften sollen das sein?«

»Leiharbeiter aus Bulgarien und Rumänien. Nichteinhaltung des Mindestlohnes, unzumutbare Zustände in den Unterkünften. Warum interessierst du dich dafür? Des mit dem Maucher war doch eindeutig Raubmord oder etwa ned?«

»Doch, doch, aber die Husup hat so eine komische Andeutung gemacht. Jetzt weiß ich auch warum. Die will mich vor ihren Karren spannen.«

Inzwischen war der Koch persönlich gekommen. Er stellte eine Portion Schweinebraten unsanft auf den Tisch.

»So, a garantiert veganfreie, bayerische Sau. Ich hätt’s mir ja denken können, dass ihr des seids. Müsst ihr des arme Madel so verunsichern? Es ist eh schwer, heute noch anständiges Personal zu bekommen.«

»Du hast recht, Schorsch, mir alte Deppen sollten a bisserl g’scheiter sein. Der Peter wird des heut mit einem fürstlichen Trinkgeld ausgleichen.«

»Ich werd’s ausrichten«, brummte der Koch und schlurfte zurück in Richtung Küche.

Steinböck machte sich über den Schweinebraten her, während Obstler wenigstens versuchte, den Rauch seiner Zigarre seitlich wegzublasen.

»Also, was ist jetzt mit deinem Fall? Hast du nicht mehr als Harry Potters Verdächtigungen?«

»Ganz seltsam«, flüsterte Steinböck und hob dabei die Gabel, auf der ein großes Stück Knödel steckte, senkrecht nach oben. »Wir haben die Spur eines Rollstuhlreifens sicherstellen können.«

»Die kann doch auch schon früher da gewesen sein.«

»Kaum, die führt nämlich genau durch eine Blutlache.«

»Und der Emil?«

»Der war nicht am Tatort.«

Obstler zog wild an seiner Zigarre, ein Zeichen, dass er angestrengt nachdachte. Kurz darauf hing eine dichte Wolke über dem Tisch. »Es hat in den letzten Jahren a paar Mal Überfälle gegeben, die von einem Rollifahrer ausgegangen sind. Vor einem halben Jahr in Starnberg und vor zehn Monaten in Grünwald. Ich weiß des deswegen so genau, weil es am Ostersonntag war.«

»Bist du dir da sicher? Warum weiß ich nichts davon?«

»Vielleicht weil du dich seit Jahren weigerst, an den morgendlichen Briefings teilzunehmen, und somit keine Ahnung hast, womit sich die anderen Kollegen herumschlagen müssen«, lästerte Frau Merkel, die sich inzwischen wieder auf der Bierbank niedergelassen hatte, nachdem Obstlers Wolke jetzt in Schwaden zwischen den Ästen der Kastanie hing.

»Mensch, Steinböck, vergiss nicht, Wissen ist mein Geschäft.«

»Wenn die Fälle wirklich miteinander zu tun haben: Warum bringt der seine Opfer plötzlich um?«, fragte Steinböck und schob den leeren Teller von sich.

»Ich denk, dazu solltest du die Ehefrau befragen«, brummte Obstler verwundert, der es gewohnt war, dass Steinböck mindestens die Hälfte seines Essens übrig ließ.

»Das denk ich auch. Bin gespannt, was die uns zu erzählen hat«, resümierte der Kommissar und erhob sich von der Bank. Wie gewöhnlich langte er nach seinem Geldbeutel, um einen 50er für Information und Essen auf den Tisch zu legen. Als er sah, wie Obstler entrüstet die Hand hob, steckte er ihn zurück. »Stimmt, ich bin ja heute dein Gast. Ich wünsch dir noch einen schönen Tag. Komm, Saukatz, wir müssen was tun.«

»Es gibt Huhn?«, äffte sie eine der Werbungen aus dem Vorabendprogramm nach.

Fernsehverbot für die Katz, des wär’s, dachte Steinböck. Dummerweise ist sie die Einzige, die den neuen Fernseher bedienen kann.

*

Als Ilona Hasleitner und Emil Mayer junior gegen 11 Uhr im St.-Franziskus-Krankenhaus ankamen, bemerkten sie eine Gruppe Reporter, die in der Eingangshalle herumlungerten. Zwei kräftige Pfleger versuchten die Journalisten zurückzuhalten. Ilona und Emil erreichten unbemerkt den Lift und fuhren direkt in den dritten Stock.

»So eine Schande, da fehlt es hinten und vorne an Pflegepersonal und die müssen hier zwei Mann abstellen, um die Presse abzuwimmeln«, maulte Hasleitner.

»Dieselben, die sich dann in irgendwelchen Artikeln recht polemisch über die Pflegesituation auslassen.«

Inzwischen hatten sie den dritten Stock erreicht. Kurz überlegte Hasleitner, ob sie ihren Kollegen über die Fahrstuhlschwelle schieben sollte, verzichtete aber darauf. Bei solchen Sachen war der Emil sehr eigen. Helfen lassen ja, aber nur, wenn er es wirklich nicht alleine schaffte.

Vor der Tür von Silke Mauchers Krankenzimmer saß eine junge uniformierte Beamtin, die auf ihrem Smartphone spielte. Hasleitner und Mayer erreichten sie, ohne dass die Polizistin die beiden bemerkte. Als Emil an die Tür klopfte, zuckte sie zusammen und ließ das Handy auf die Knie sinken.

»Hallo, Sie können da nicht rein«, rief sie energisch.

»Schon gut, Kollegin, wir sind von der Mordkommission«, sagte Ilona und zeigte ihren Ausweis.

»’tschuldigung, hab euch ned gleich erkannt«, antwortete sie verlegen.

»Ganz schön spannend, des Candy Crush«, schmunzelte Ilona. »Aber a bisserl mehr aufpassen musst schon. Die Frau Maucher hat nicht umsonst Personenschutz.«

Die junge Polizistin wurde rot und steckte ihr Handy hastig in ihre Hosentasche. »Es war halt so langweilig.«

»Ist okay, aber denk dran, du hast a ordentliche Verantwortung.«

Emil hatte inzwischen die Tür zum Krankenzimmer geöffnet und grinste die Kollegin an. »Ilona, du hast alles, um ein großer Chef zu werden.«

»Grüß Gott, Frau Maucher, wir sind von der Mordkommission. Mein Kollege Mayer, und ich bin Ilona Hasleitner. Die Ärztin hat uns benachrichtigt, dass wir Sie befragen können.«

Silke Maucher trug einen Kopfverband und ihr rechter Arm war angewinkelt an ihren Körper gebunden. Trotz der Schramme über ihrem Auge war nicht zu übersehen, dass sie eine sehr hübsche Frau war.

»Ich hab Sie erwartet«, sagte sie mit fester Stimme.

»Sie wissen, dass –«, fing Emil an, wurde aber von ihr unterbrochen.

»… mein Mann tot ist. Ja, die Ärztin hat es mir gesagt.«

»Frau Maucher, glauben Sie, dass Sie uns über die Vorkommnisse heute Nacht bereits Auskunft geben können?«

»Ich werd’s versuchen. Möchten Sie mir Fragen stellen, oder soll ich erzählen, was passiert ist?«

»Erzählen Sie einfach drauf los.«

»Also, mein Mann hatte gestern Geburtstag. Ich hatte ihm Karten für ein klassisches Konzert im Cuvilliés-Theater geschenkt. Ich wäre lieber zu den ›Toten Hosen‹ gegangen, aber er wollte, warum auch immer, dorthin. Normalerweise steht mein Mann nicht auf Klassik. Oder muss ich sagen: stand? Ich weiß, das klingt alles nicht nach trauernder Witwe. Wir hatten uns auseinandergelebt und es erschreckt mich selbst, wie wenig betroffen mich das Ganze macht.«

»Frau Maucher, können wir jetzt auf die Geschehnisse heute Nacht zurückkommen?«, unterbrach Ilona sie ungeduldig.

Emil warf ihr einen bösen Blick zu und sagte sanft zu Frau Maucher: »Bitte erzählen Sie.«

Hasleitner verdrehte im Hintergrund die Augen.

»Also, wie gesagt. Erst besuchten wir das Konzert und anschließend gingen wir im ›spice bazaar‹ eine Kleinigkeit essen. Es war gegen Mitternacht, als wir das Lokal verließen. Die Nacht war lau, und mein Mann wollte unbedingt noch durch den Hofgarten laufen. Dort bemerkten wir dann am Wegrand den Mann im Rollstuhl. Im Schatten eines Baumes war er kaum zu erkennen. Der Mann hatte den Kopf gesenkt und schien zu schlafen. Ich wollte möglichst schnell an ihm vorbei, aber Renato meinte, wir sollten nachfragen, ob er Hilfe braucht. Das war eigentlich gar nicht seine Art. Er beugte sich zu dem Rollstuhlfahrer runter und sprach ihn an. Dieser hob seinen Kopf und antwortete ihm. Sie unterhielten sich eine Weile.«

»Konnten Sie verstehen, um was es ging?«

»Nein, ich stand zu weit weg. Sieben oder acht Meter. Einmal glaubte ich, das Wort ›Geld‹ zu hören. Renato griff nach seiner Brieftasche, und in diesem Moment sah ich, dass der Rollstuhlfahrer ein Messer in der Hand hielt. Er packte meinen Mann, der sich nach vorne gebeugt hatte, am Nacken und zog ihn zu sich nach unten. Dann stach er zu. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen, hab auf den Fremden eingeschlagen, ihn gekratzt und bespuckt. Dabei hat er mich mit dem Messer am Arm verletzt. Er sprang plötzlich aus seinem Rollstuhl, ergriff mich von hinten und hielt mir die Klinge an den Hals. Er war unwahrscheinlich stark«, murmelte sie und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das neben ihr auf dem Nachttisch stand.

»Was ist dann passiert?«, hakte Ilona nach.

»›Heute ist dein Glückstag, weil ich es so will‹«, sagte sie nachdenklich. »Genau das waren die Worte, die er mir ins Ohr geflüstert hat, bevor er mir mit dem Messerknauf gegen den Kopf schlug und ich ohnmächtig wurde.«

»Können Sie den Mann beschreiben?«

»Nein, er trug die ganze Zeit eine Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte.«

»Hatte er einen Bart, oder ist Ihnen etwas anderes aufgefallen?«

»Er stank nach billigem Parfüm«, murmelte Silke Maucher nach kurzer Überlegung. »Und er war ziemlich groß. Ich denke, mindestens 1,90 Meter. Mehr weiß ich nicht.«

»Seine Stimme? Hatte er einen Akzent?«

»Ja, tatsächlich, aber nur ganz leicht, slawisch oder etwas in die Richtung. Es kam mir irgendwie bekannt vor. Als ich wieder zu mir gekommen bin, stellte ich fest, dass er meinen gesamten Schmuck mitgenommen hatte, nur das Handy hat er mir gelassen.«

»Ist das Ihr Handy?«, fragte Ilona und deutete auf den Beistelltisch.

Silke Maucher nickte.

»Seltsam, warum nimmt er dieses sündhaft teure iPhone nicht mit?«

»Vermutlich, weil er es nicht gefunden hat. Es steckte hinten in meinem Hosenbund. An diesem Abend war ich froh, dass ich es dabei hatte.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Ich bin kein Freund von diesen Dingern. Meistens liegt es bei mir zu Hause rum. Außer meinem Mann hat auch niemand die Nummer.«

»Die Antwort passt eher zu meiner Oma, und die ist 85 Jahre alt«, kommentierte Emil spitzbübisch.

»Ich bin halt a bisserl oldschool«, gab sie lächelnd zurück.

»Gut, Frau Maucher, ich denke, wir lassen Sie jetzt in Ruhe. Erholen Sie sich gut. Kann sein, dass wir in den nächsten Tagen erneut vorbeikommen, falls wir weitere Fragen haben«, beendete Ilona Hasleitner ziemlich abrupt die Befragung.

Silke Maucher nickte und wandte sich dann Emil zu. »Kann ich Sie vielleicht noch alleine sprechen?«

»Mich?«, fragte er verdutzt.

»Okay, ich warte unten im Auto«, säuselte Ilona und verschwand grinsend durch die Tür.

»Sag mal, Emil, kennst du mich wirklich nicht mehr?«, fragte Silke Maucher schroff und rutschte im Bett nach oben.

Er sah sie fragend an und schüttelte unsicher den Kopf.

»Vor zehn Jahren in Herrsching. Wir sind zusammen Regatta gefahren.«

»Sunny, bist du des?«, fragte er jetzt aufgeregt. »Mensch, ich hab dich tatsächlich nicht erkannt.«

»›Sunny‹, seit damals hab ich den Namen nicht mehr gehört. Nur du hast mich so genannt.«

»Du warst ja auch mein Sonnenschein«, lachte Emil.

»Und warum bist du dann von heute auf morgen verschwunden?« Silke Mauchers Stimme nahm einen bitteren Ton an.

»Des wär eh nichts mit uns geworden.«

»Also hast du mich doch ned geliebt.«

»Mehr als jemals einen anderen Menschen.«

»Und warum bist du dann weg, ohne ein Wort?«

»Du weißt es ganz genau. A schwarzer Polizist und die Tochter aus gutem Haus, des wär auch heute noch ein absolutes No-Go in Bayern.«

»Weil du dunkelhäutig bist? Mich hat des nie gestört.«

»Aber dafür deinen Alten umso mehr. Er hat mir ausrichten lassen, dass er dich enterben wird, wenn wir heiraten. Und einiges mehr.«

»Du feiger Hund, du hast dich einfach verdrückt. Ich hätte meinen Vater schon im Griff gehabt. Er hätte mich nie enterbt. Nachdem du verschwunden warst, hab ich ihn zur Rede gestellt. Er hat mir alles gestanden und ich hab meine Sachen gepackt, bin für fünf Jahre nach England gegangen und hab dort fertig studiert. Ich war nicht ein einziges Mal in Deutschland, um ihn zu besuchen. Erst als ihn der Krebs fast aufgefressen hatte, bin ich zurückgekommen.«

»Ich weiß, eigentlich wollt ich zurück zu dir, aber da warst du schon weg. Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis ich endlich herausgefunden hatte, wo du warst«, erklärte Emil.

»Und warum bist du dann nicht gekommen?«

»Sunny, ein halbes Jahr war vorbei. Du warst in England auf einer Elite-Uni. Wie blöd wär des gewesen, wenn ich da plötzlich aufgetaucht wäre?«

»Vielleicht wäre vieles anders geworden. Ich würd nicht hier im Krankenhaus liegen und du nicht seit fünf Jahren in diesem Rollstuhl sitzen.«

»Du hast davon gewusst?«, fragte Emil überrascht.

»Es stand ja in allen Zeitungen. Außerdem hab ich damals den zweitgrößten Fehler in meinem Leben begangen.«

Emil sah sie fragend an.

»Ich hab Roberto geheiratet. Er war ein Blender, und ich bin auf ihn reingefallen. Nach einem Jahr hab ich ihn als Geschäftsführer wieder entlassen. Er hatte mir die Lieferanten vergrault, und meine besten Leute kündigten. Von da an kümmerte er sich um seine eigenen Firmen und wir beschränkten unsere Ehe darauf, zusammen in der besseren Gesellschaft aufzutreten.«

»Und was war dein größter Fehler?«

»Dass ich dich hab laufen lassen und nicht um dich gekämpft hab. Mein falscher Stolz. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es für dich auf Grund deiner Hautfarbe noch Probleme geben konnte. Ich hab diesen Rassismus erst an der Uni in England richtig kennengelernt. Diese arroganten Schnösel aus den reichen Familien. Sie haben mich angekotzt. Aber zu meinem Vater zurück wollte ich auch nicht.«

»Tja, einmal der Neger, immer der Neger. Aber es gibt auch andere Menschen, und des macht Hoffnung«, stellte Emil lakonisch fest.

»Deine Kollegin, die ist nett, oder?«

»Ja, die Ilona ist ein Pfundskerl. Ich muss jetzt weiter, sie wartet unten auf mich.«

»Sehen wir uns wieder?«, fragte sie ängstlich.

»Ich bin ein Krüppel, ich sitz im Rollstuhl.«

»Das ist mir scheißegal. Es war mir auch immer scheißegal, dass du ein Schwarzer bist.«

»Das stimmt«, nickte Emil. »Ich werd darüber nachdenken.«

*

Als Steinböck zurück ins Büro kam, kontaktierte er als Erstes Bachstenzel vom K21. Sie verabredeten sich in der Kantine, und der Kollege vom Raub versprach, die Akten über die Rollstuhl-Überfälle mitzubringen. Frau Merkel ließ er im Büro zurück, da Tamara die Katze schon mal mit dem Besen aus ihrer Kantine gejagt hatte. Die ostpreußische Schnitzeldesignerin war der einzige Mensch im Revier, vor dem das Viech Respekt hatte.

»Servus, Steenbeck, wo warst du heit Mittag. Hab ich dein Leibgericht gekocht. Frischee Pfifferlinge mit bähmische Knedel«, schallte es dem Kommissar entgegen, kaum dass er die Kantine betreten hatte.

»Du bist halt ihr Liebling«, sagte Bachstenzel feixend, der neben ihn an die Ausgabe trat.

»Warste wieder auf der Straße, bei diesem jottlosen Berliner und hast Kerrywirst jefressen.«

»Geh, sei so nett und bring mir a leichtes Weißbier mit. Ich setz mich da hinten an den Tisch«, sagte Steinböck genervt zu dem Kollegen aus dem K21.

Gerade hatte er den Tisch erreicht, da schallte es durch den ganzen Speisesaal: »Ach nee, der Heerr Kommissar is wieder mal beleidigt.«

Wenig später setzte sich Bachstenzel zu ihm. »Des ist ja das reinste Spießrutenlaufen.«

»Ach, lass ihr doch ihr Freud. Erzähl mir lieber von den Raubüberfällen. Meine Leut haben mich angerufen und mir mitgeteilt, dass der Überfall heut Nacht von einem Mann im Rollstuhl ausgeführt wurde, der aber laufen konnte.«

»Bei uns verhält sich die Sache anders. Es sind zwei Täter. Der Mann im Rollstuhl lockt die Opfer an. Er bedroht sie mit einem Messer, jetzt kommt der zweite Täter, der sich versteckt hat, dazu und nimmt ihnen alle Wertsachen ab. Anschließend binden sie das Opfer mit einem Kabelbinder irgendwo fest und verschwinden. Dabei hat der zweite Mann den Rollifahrer immer weggeschoben.«

»Wie viele Fälle habt ihr?«

»Fünf Fälle. Immer liegen mindestens vier Monate und etliche Kilometer dazwischen. Starnberg, Grünwald, Herrsching, Tutzing und Stadtmitte.«

»Was habt ihr herausgefunden?«

»Beide Männer sind sehr groß. Zwischen 30 und 40 Jahre alt. Gesprochen hat nur der im Rollstuhl. Er hat vermutlich einen slawischen Akzent. Alle Opfer haben ausgesagt, dass er stark nach Knoblauch roch. Mehr haben wir nicht. Hier ein Foto von einem Reifenabdruck des Rollstuhls. Das ist alles.«

»Seid ihr an dem Fall noch dran?«

»Ehrlich gesagt: nein. Wir sind da nicht weitergekommen. Ich habe zu wenig Leute.«

»Kannst du mir die Akten überlassen, vielleicht hilft es ja bei unserem Fall.«

»Kein Problem, aber ich seh wenig Parallelen. Wir haben zwei Täter, wobei einer wirklich auf den Rollstuhl angewiesen ist. Einer von ihnen stinkt extrem nach Knoblauch. Außerdem haben die Zeugen den Mann im Rolli nie als brutal beschrieben. Das hört sich nicht nach einem eiskalten Mörder an.«

»Klingt logisch, aber wir sind noch am Anfang. Nichtsdestotrotz sprechen alle Opfer davon, dass der Mann einen slawischen Akzent hat«, stellte Steinböck fest.

»Sorry, ich muss los«, brummelte Bachstenzel und erhob sich. »Ich wünsch dir viel Glück mit deiner Tamara. Vielleicht macht sie dir ja noch ein paar Pfifferlinge.«

*

Gegen 15 Uhr trafen sich alle drei wieder im Büro. Steinböck reichte Mayer junior die Akten von Bachstenzel.

»Geh, Emil, schau dir die mal durch und vergleich des mit der Aussage von der Silke Maucher.«

»Es gibt da ein Problem«, druckste Emil herum.

»Worum geht’s?«

»Ich bin befangen.«

»Und?«, fragte Steinböck weiter. Mayer junior zögerte und schaute Hilfe suchend Ilona an.

»Jetzt erzähl’s ihm schon.«

»Ich kenn die Silke Maucher von früher.«

»Na und, wie lang ist des her?«

»Ungefähr zehn Jahre.«

»Und deshalb willst du dich aus dem Fall rausnehmen?«

Emil nickte.

»Spinnst jetzt? Ich kenn den Bruchmayer schon seit 40 Jahren, und er platzt mir alle paar Monate in meine Ermittlungen rein. Hab ich mich deswegen schon mal aus einem Fall rausgenommen?«

»Du wolltest den Bruchmayer aber nie heiraten.«

Steinböck schaute verdutzt und amüsiert zugleich. »Des stimmt allerdings. Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»Warum eigentlich nicht? Gleichgeschlechtliche Ehen sind jetzt sogar in Bayern möglich«, bemerkte Frau Merkel höhnisch.

»Wie gesagt, vor zehn Jahren.«

»Hast du seither auf andere Art Kontakt mit ihr gehabt?«

Emil schüttelte den Kopf.

»Und möchtest du sie jetzt heiraten?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Also, dann mach deine Arbeit. Und wenn dir des was hilft, führen Ilona oder ich eventuelle weitere Befragungen der Frau Maucher durch. Falls du weiteren privaten Kontakt mit ihr haben möchtest, wartest halt, bis die Sache abgeschlossen ist. So, und jetzt erzählts mal, was die Zeugin ausgesagt hat.«

*

Ohne eine Miene zu verziehen, ließ sich der Mann mit dem Schnauzbart von dem Justizbeamten abtasten.

»Er ist sauber«, sagte dieser und übergab ihn an seinen Kollegen, der ihn in den Besucherraum führte. An zwei Tischen saßen bereits Personen, die sich angeregt unterhielten. Ein älterer Mann mit einem grauen Bürstenhaarschnitt hatte sich weit weg von den anderen in der hintersten Ecke niedergelassen. Sein rechter Fuß war an einem der Tischbeine angekettet. Der Mann mit dem Schnauzer ging auf ihn zu und küsste ihm ehrfürchtig die Hand. Dann setzte er sich nieder und der Grauhaarigen ergriff seine Hände.

»Ned ohlanga«, knurrte der Justizbeamte.

»Und, verläuft alles nach Plan?«, flüsterte der Alte und zog seine Hände zurück.

»Ja, du kannst dich auf uns verlassen.«

»Und warum bist du dann heute schon hier?«

»Es ist wegen Milan. Du musst mit ihm reden.«

Das Gesicht des Älteren verzog sich zu einer Grimasse. »Was ist es diesmal?«

»Er hält sich nicht an deine Anweisung. Er macht Geschäfte auf eigene Faust. Er gefährdet unseren Plan.«

»Erzähl es mir«, flüsterte der Ältere.

Der Mann mit dem Schnauzbart beugte sich nach vorne und verbarg seinen Mund hinter der hohlen Hand, während er Bericht erstattete.

Das Gesicht seines Gegenübers wurde immer ernster. Schließlich sagte er: »Ich möchte, dass er zu mir kommt.«

Der Mann mit dem Schnauzer erhob sich und wieder küsste er dem Alten zum Abschied die Hand. »Ich werde es ihm ausrichten«, murmelte er und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Raum.

*

Als Steinböck am späten Nachmittag zu Hause ankam und seinen Einkaufskorb aus dem Wagen holte, begegnete ihm eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die ihm freundlich zulächelte.

»Guten Tag«, sagte sie. »Ich bin Morana, die Nichte von Aurelia, und wohne gerade bei ihr. Sie sind bestimmt der berühmte Kommissar.«

Steinböck fühlte sich zwar ein bisschen gebauchpinselt, aber Komplimente von so jungen hübschen Mädchen waren ihm meistens suspekt. »Da hat die Aurelia wohl stark übertrieben, trotzdem herzlich willkommen bei uns im Haus.«

Sie lächelte kokett und verschwand mit ihren prall gefüllten Einkaufstüten durch die Haustür. Steinböck nahm den Weg über die Wiese zum Wintergarten, dessen Tür wie immer offen stand. Frau Merkel hatte bereits am Supermarktparkplatz den Käfer verlassen, um auf ihren eigenen Wegen nach Hause zu kommen. So überraschte es ihn nicht, dass sie bereits vor dem neuen Fernseher hockte und einen Film ansah.

»Ist des jetzt Internet oder Fernsehen?«, wollte er wissen, während er den Korb mit den Einkäufen auspackte.

»Genial, die Fernbedienung hat eine YouTube-Taste. Unbeschreiblich, was für einen Mist sie dort zeigen.«

»Warum schaust du dir den Schmarren dann an?«

»Man muss schließlich auf dem Laufenden bleiben, was sich die Kiddies so reinziehen. Auch dir würde es ganz guttun, wenn du wenigstens etwas Ahnung davon hättest, was in der digitalen Welt vor sich geht.«

»Dafür hab ich ja dich«, stellte er lapidar fest und füllte die Katzenschüssel mit Trockenfutter.

»Denk daran, alter Mann, ich kann nicht immer auf dich aufpassen«, antwortete sie, sprang auf den Boden und schnupperte am Futter. »Heute keinen Thunfisch?«, fragte sie verschnupft.

»Du schimpfst doch dauernd, dass die Meere überfischt sind. Also beklag dich nicht.«

»Und was isst du heut Abend, nachdem du bereits einen veganfreien Schweinebraten verdrückt hast?«

»Ich denk, ich werd mir ein paar Steinpilztortellini aufwärmen, dazu ein feines Bärlauchpesto. Wie du siehst, absolut vegetarisch«, schmunzelte der Kommissar und verschwand in den Wintergarten. Dort hockte er sich in seinen Korbsessel, legte die Füße auf der Topfkante der Marihuanapflanze ab und drehte sich eine Zigarette.

Er ließ den neuen Fall noch einmal an sich vorüberziehen. Handelte es sich wirklich um dieselben Täter wie bei diesen Raubdelikten? Silke Maucher hatte nur von einem Täter gesprochen, der laufen konnte und den Rollstuhl vermutlich benutzte, um die Opfer in Sicherheit zu wiegen. Anders bei Bachstenzels Überfällen. Dort waren es eindeutig zwei Täter, von denen einer immer im Rollstuhl saß. Vielleicht ergab der Vergleich der beiden Rollstuhlprofile etwas Neues. Viel mehr Sorgen machte ihm Mayer junior. Ihr Team war zu klein, um ohne ihn zu arbeiten. Andererseits: Sollte sich herausstellen, dass Frau Maucher mehr als nur Opfer war, müsste er ihn wohl oder übel von dem Fall abziehen.

Steinböck entschied nach einem kurzen Blick zur Uhr, sich etwas zu essen zu machen. Es war weniger der Hunger als die ungewohnte Ruhe, die ihn dazu brachte, den Wintergarten zu verlassen. Frau Merkel schaute um diese Zeit ihre Quizsendung, und ihr ständiges Gemecker über Elton war normalerweise unüberhörbar. Umso erstaunter war der Kommissar, als er sie im Wohnzimmer schweigend auf der Couch entdeckte, wo sie einem jungen Mädchen im Fernsehen zusah, die sich gerade Silberpapier in die Haare eindrehte. Kopfschüttelnd ging Steinböck weiter in die Küche. Jetzt spinnt sie komplett, dachte er und machte sich, während er das Essen zubereitete, ernsthafte Sorgen. Irgendetwas war da, was ihn beunruhigte und durch seinen Kopf schwirrte. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er stolperte fast über die Türschwelle, als er ins Wohnzimmer zurückeilte.

»Des Madel, die mit der Alufolie aufm Kopf, war des auf YouTube?«, fragte er aufgeregt. »Kann ich die noch mal sehen?«

»Jetzt erstaunst du mich doch ein bisschen, obwohl ich gestehen muss, dass dir ein Paar Beauty-Tipps nicht schaden würden. Aber Strähnchen dürften bei deiner Haarpracht ziemlich wirkungslos verpuffen.«

»Kann man des noch mal anschauen oder nicht?«

»Wenn du unbedingt willst.«

Es dauerte einen Moment, dann lief die Szene erneut ab.

»Da schau her, die Morana. A bisserl viel Make-up im Gesicht, aber sonst unverkennbar.«

»Du kennst sie?«

»Du etwa nicht?«

»Jetzt red scho, alter Mann.«

»Sag mal, seit wann sprichst du Dialekt?«

»Ich spreche keinen Dialekt, ich wollte dich nur zurück in die Gegenwart holen. Also, wer ist das Mädchen?«

»Das ist die Nichte von der Aurelia, die wohnt oben im zweiten Stock. Ich hab sie vorhin kennengelernt. Sie sah bloß a bisserl anders aus.«

»Hier bei uns im Haus? Wie konnte mir das entgehen? Ich muss das sofort überprüfen«, antwortete Frau Merkel, sprang vom Sofa und verschwand durch den Wintergarten.

»Bleib doch da! Was ist mit deiner noblen Zurückhaltung?« Genervt drückte Steinböck auf der Fernbedienung herum. »Wie komm ich jetzt aus dem YouTube zu meinem Fernsehprogramm? Typisch Merkel, erst Mist bauen und dann verschwinden.«

*

Der Mann mit der Wollmütze parkte den VW-Bus so vor der Einfahrt, dass noch genügend Platz war, um mit einem Auto daran vorbeizukommen. Der Beifahrer, der einen dunklen Kapuzenpulli trug, zog eine junge Frau aus dem Wagen und schob sie vor sich her durch den Torbogen.

»Sie, ist des Ihr Bus?«, keifte eine alte Frau und versuchte, sich dem Kapuzenmann mit ihrem Gehwagen in den Weg zu stellen. »Der muss da weg, des is a Feuerwehrzufahrt.«

Der Mann schüttelte verneinend den Kopf und drängte sich an der Alten vorbei, die junge Frau hinter sich herziehend.

»Ich kenn dich doch. Glaubst, ich bin bled, ich hab euch doch da aussteigen sehn«, zeterte sie, bis sie bemerkte, dass sie alleine in dem hohen Durchgang stand und ihre Stimme ungehört verhallte.

Unerbittlich schob die Kapuze die junge Frau vor sich her, die Treppe hinauf. In den Händen des Mannes schien sie wie eine Marionette, keine Gegenwehr, kein Widerwort. Ihr schönes Gesicht war blass und ihre großen dunklen Augen wie in Trance. Immer wieder strauchelte sie. Jetzt zog er sie mehr hinter sich her, als dass sie auf ihren eigenen Füßen lief. Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Der Mann streifte die Kapuze zurück und stülpte sich eine Gummimaske über den Kopf. Auf der großen hölzernen Eingangstür befand sich ein goldenes Messingschild, auf dem lediglich das Wort »Praxis« stand. Sie war halb geöffnet, und in dem weiten Flur dahinter standen einige Stühle. Mehrere Türen führten in andere Räume. An einer der Wände hing ein leerer Bilderrahmen.

Ein untersetzter Mann mit Vollglatze trat aus einer der Türen. Er blickte die beiden verdutzt an und eilte dann auf das Mädchen zu, das inzwischen nur noch mit Hilfe des Maskierten einigermaßen aufrecht stehen konnte.

»Mein Gott, Melanie! Was ist mit ihr?«, fragte er und griff nach ihrem Arm. Erst jetzt bemerkte er das Messer in der Hand des Mannes. Mehr als einen höhnisch grinsenden Mund konnte er hinter der Gummimaske nicht erkennen.

Ein kurzer Schnitt am Hals des Mädchens, dann drückte der Maskierte dem völlig verdatterten Glatzkopf das Messer in die Hand. Gleich darauf verließ er die Praxis. Unten am VW-Bus angekommen, wechselte er ein paar Worte mit dem Fahrer und warf die Gummimaske auf den Rücksitz. Anschließend fuhr der Bus mit quietschenden Reifen davon, und der Mann mit der Kapuze kehrte in die überdachte Toreinfahrt zurück.

*

Inzwischen war die Katze zurückgekehrt. Steinböck lag auf dem Sofa und schlief. Neben ihm auf dem Tisch stand ein halb leeres Glas Whiskey.

»Ist das Mädchen nicht ein bisschen zu jung für dich?«, bemerkte Frau Merkel und deutete in Richtung Bildschirm, auf dem in Großaufnahme das Gesicht von Morana zu sehen war, eine Puderquaste auf ihrer Backe.

Irgendwie hatte es Steinböck geschafft, den Film anzuhalten und dabei den Vollbildschirm zu aktivieren.

»Kruzifix, wo bleibst denn? Seit über einer Stunde schau ich dem Madel zu wie sie an ihrem Pickel rumdrückt.«

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Exit-Taste drücken, wenn du nicht mehr weiterweißt. Das gilt übrigens nicht nur für den Fernseher.«

»Sehr witzig. Und, hast du sie gesehen?«

»Nein, die Vorhänge waren zugezogen, aber ich bleib dran.«

»So, so, jetzt wirst auch noch zum Spanner«, kommentierte Steinböck süffisant, erhob sich und goss sich ein weiteres Glas Whiskey ein. Ein paar Tropfen Wasser drauf und zurück aufs Sofa.

»Es gibt eine neue Jesse-Stone-Verfilmung.«

»Ich weiß, ist heute angekommen.«

»Dacht ich mir doch, dass in diesem Kuvert eine DVD ist.«

»Bloß gut, dass du noch nicht die Post aufmachen kannst.«

»Das ist nur eine Sache der Evolution.«

»Stimmt, bei euch Katzen geht des ja alles viel, viel schneller«, bemerkte er höhnisch und leerte sein Glas.

»Und, sehen wir uns die DVD an?«

»Heut nimmer, die letzte Nacht war kurz. Ich glaub, ich geh früh ins Bett.«

»Gut dann zieh ich noch um die Häuser. Ein bisschen gehobenes geistiges Niveau ab und zu schadet nicht«, pöbelte Frau Merkel und verschwand durch den Wintergarten nach draußen. Steinböck winkte gönnerhaft ab und noch bevor er sich vom Sofa erheben konnte, war er eingenickt.

Er starrte auf sein Spiegelbild und stellte fest, dass er mit einem Friseurumhang bekleidet war. Eine weiße Pampe bedeckte sein ganzes Gesicht und auf den Augen hatte er zwei riesige Gurkenscheiben liegen. Es war ihm ein Rätsel, wie er sich trotz allem selbst sehen konnte. Aber da er wusste, dass es sich um einen Traum handelte, ignorierte er diesen Umstand. Dann tauchte plötzlich das Gesicht von Morana neben seinem Kopf auf. Mit einer Häkelnadel pflanzte sie ihm eine Haarsträhne nach der anderen in die Kopfhaut. Weil er dabei keinerlei Schmerz empfand, wartete er erst mal ab, was weiter passieren würde. Jetzt erschien auch noch Ilona Hasleitner, die ihm mit einer Pinzette die Haare aus den Ohren zupfte. Anschließend wurde sein gesamter Kopf mit einem warmen Wasserstrahl abgeduscht. Seine Gesichtshaut war so glatt wie ein Kinderpopo und die nassen Strähnen hingen ihm über die Stirn. Die überdimensionierten Lockenwickler, auf die diese nun aufgewickelt wurden, erschreckten Steinböck ein wenig, aber die Aussicht, anschließend mit einer vollen Lockenpracht zu erwachen, zauberte ein Lächeln auf sein glattes Gesicht. Morana schob die pinke Trockenhaube über seinen Kopf und stellte eine rosafarbene Zeituhr. Nicht unbedingt die Farben des Kommissars, aber:

»Wenn’s schee macht«, dachte er und schloss die Augen.

»Nicht vergessen, wenn’s klingelt, ausschalten, sonst fallen die neuen Haare wieder aus«, hörte er Morana, bevor er endgültig einschlief.

Grantlkatz

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