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Samstag, 1. Juli

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In der Früh ertönte von der Pfarrkirche her Glockengeläut: Die größte, tiefste Glocke wurde als erste geschlagen, dann stimmten allmählich die anderen und schließlich die kleinste ein. Es dauerte fast eine halbe Stunde, drei mal sieben Minuten. Mit einem Mal erinnerte sich Kauz, was ihn seine Großmutter gelehrt hatte: Das war das Totengeläut für einen Mann. Jetzt wusste es das ganze Dorf, dass ein Einwohner gestorben war. Die Neugierigen würden den Sigristen anrufen, um zu erfahren, wer es war. Wer es nicht schon gestern erfahren hatte, wusste spätestens an diesem Morgen, dass Wendelin Imfang tot war.

Eigentlich hatte er den Eltern Imfang einen Kondolenzbesuch machen wollen, aber als er sich dem Hof auf dem Milifäld näherte, standen schon andere vor der Haustür. Da wollte er mit seinem Besuch lieber noch zuwarten.

Er entschied sich, mehr schweren als leichten Herzens, für eine erste kleinere Wanderung. Sein Vorhaben war, vorerst im Obergoms zu wandern und erst allmählich in die Ferne zu schweifen. Er ging zur Alpenrose zurück, packte seine Kamera und etwas Proviant ein und stieg auf sein Motorrad. Die Fahrt ging über Geschinen und Ulrichen, an der Abzweigung der Nufenenpassstrasse vorbei, nach Obergesteln und Oberwald. In gut zehn Minuten war er dort. Ganz zuhinterst, im Dorfteil Unterwasser, stellte er die Maschine ab und nahm den Wanderweg Richtung Furkapass unter die Füße.

Schutzhund bewacht die Herde, hieß es weiter oben auf einer Tafel. Gut so, dachte Kauz. Aber auf eine Diskussion über den Wolf würde er sich mit einem Gommer auf keinen Fall einlassen, nicht einmal mit einem Schutzhundehalter.

Er hatte nicht vor, bis ganz auf den Pass hinaufzumarschieren. Ihm genügte es, einen Aussichtspunkt zu finden. Nach einer guten Stunde kam er auf einer Alp an. Er setzte sich vor die Hütte. Keine Menschenseele war zu sehen. Ein Murmeltier stand aufrecht auf einem Felsbrocken, pfiff und verschwand. Weiter oben blökten Schwarznasenschafe.

Das war genau der Punkt, den er gesucht hatte. Die Aussicht war unbeschreiblich schön. Das Goms lag ihm in seiner ganzen Pracht zu Füßen. Die Sonne stand noch in seinem Rücken.

Kauz nahm seinen Fotoapparat hervor, fixierte ihn auf dem Ministativ, stellte Blende und Belichtung ein und prüfte das Bild auf dem Display, bevor er abdrückte. Farbbilder schoss er, wenn ihm danach war, mit seinem Handy. Aber mit seiner Spiegelreflexkamera wollte er sich in der digitalen Schwarzweißfotografie üben.

Sein Vater war Hobbyfotograf gewesen und hatte zu Hause im Keller eine kleine Dunkelkammer eingerichtet. Als Zehnjähriger hatte Kauz dort die geheimnisvolle Verwandlung vom simplen Papierstreifen in schwarz-weiße Bilder miterlebt. Vor Jahren hatte er einen Kurs in Schwarzweißfotografie besucht. Nur hatte er dieses Steckenpferd, wie so manches andere auch, später vernachlässigt. Jetzt hatte er endlich Zeit, seine bescheidenen Vorkenntnisse aufzufrischen.

Er war gespannt darauf, wie sich diese bunte Landschaft als Schwarzweißbild präsentieren würde: Wie ein Flickenteppich in verschiedenen Grüntönen breitete sich der Talboden aus – hellere und dunklere Gevierte, gemähte und noch ungemähte Wiesenparzellen –, der Länge nach durchzogen von einem blauen Band, dem Rotten. Daran reihten sich in regelmäßigen Abständen die sechs, sieben Dörfer des Ober- und des Mittelgoms, die man von hier aus sehen konnte. Die bewaldeten Bergflanken fassten diese Vignette von den Seiten her ein, geradeaus bildete das Weisshorn den grandiosen Abschluss. Darüber wölbte sich ein wunderbar blauer Himmel. Und mitten durch diese unbewegte Landschaft schlängelte sich, von ferne wie eine Spielzeugeisenbahn anzusehen, der aus fünf Waggons bestehende rote Zug der Matterhorn-Gotthard-Bahn.

Kauz fühlte sich wie in einer andern Welt.

Das Glück war von kurzer Dauer. Schon war der Gedanke an Wendel wieder da und ließ ihn nicht mehr los. Was war geschehen? Hatte ihn seine Intuition getäuscht? Hatte Wendel sich doch umgebracht? Er fühlte sich ohnmächtig. Wenn er gedurft hätte, so hätte er sich in den Fall verbissen, hätte alles getan, um Gewissheit zu erlangen. Aber er durfte nicht. Er musste sich ganz heraushalten.

Kauz stand auf und machte sich auf den Rückweg. Er nahm den Pfad über den Kummerberg. An einer Wegbiegung sah er ein Tier mit spitzen Ohren und langem Schwanz, vielleicht ein sehr dunkler Fuchs, über den Trampelpfad huschen. Zu seiner Verwunderung blieb das Tier in einiger Distanz stehen, drehte sich nach ihm um, duckte sich in einen Graben und schaute ihn aus schwarzen Augen an.

Kauz blieb stehen und kauerte sich auf den Boden.

Das konnte kein Fuchs, es musste ein Hund sein. Das Tier, nur wenig größer als ein Fuchs, hatte aber längere Beine, kam aus dem Graben gekrochen und bewegte sich in geduckter Haltung, immer fluchtbereit, aber verhalten mit dem Schwanz wedelnd, auf ihn zu.

»Komm her«, lockte Kauz.

Der Hund kam leise winselnd näher. Er sah ziemlich ausgemergelt und verwahrlost aus. Augenblicklich regte sich der Tierfreund in Kauz. Er kramte in seinem Rucksack, der Hund legte sich in einigen Metern Abstand auf den Boden und beobachtete ihn aufmerksam. Kauz brach etwas von seinem Sandwich ab und warf es dem Hund zu. Der schnappte sich den Bissen und schlang ihn hinunter.

Kauz rührte sich nicht.

Allmählich kam der Hund näher. Kauz richtete sich auf, sofort nahm der Hund Reißaus. Dann blieb er stehen, drehte sich um und kam, den Bauch fast am Boden, erneut näher. Schließlich legte er sich, aufgeregt wedelnd, vor Kauz auf den Bauch. Kauz streckte die Hand aus. Der Hund flüchtete erneut, und das Spiel begann von vorn.

Doch nach kurzer Zeit war es so weit: Der Hund leckte Kauz die ausgestreckte Hand und ließ sich den Kopf tätscheln. Er warf sich vor ihm auf den Boden, wälzte sich auf den Rücken, rappelte sich auf und versuchte, an Kauz hochzuspringen. Übermütig drehte er ein paar Runden, tollte wie wild durch den Wald hinunter und wieder herauf und blieb herausfordernd bellend vor Kauz stehen.

»Du bist mir einer«, lachte Kauz. »Wo gehörst du denn hin? Auf die Alp? Dann jetzt aber marsch, zurück«, sagte er nach einer Weile streng und schickte den Hund mit einer Armbewegung weg. Der Hund trollte sich, aber als Kauz weiterging und sich später umdrehte, sah er, dass der Hund ihm in respektvollem Abstand folgte. Wenn er sich entdeckt fühlte, legte er sich sofort platt auf den Boden. Kaum ging Kauz weiter, schlich ihm der Hund hinterher. Er gehörte wohl doch nicht auf die Alp. Den Eindruck eines Schutzhundes machte er jedenfalls nicht.

Auf einmal stand Kauz vor den Überresten eines Berggasthauses. Unterhalb der Ruine setzte er sich auf einen Stein und schaute ins Tal.

»Wunderbare Aussicht, nicht wahr?«, sagte eine Stimme.

Kauz drehte sich um und sah nach oben: Da stand eine sportliche Frau, vermutlich etwas jünger als er, mit markantem Gesicht und Kurzhaarschnitt, im dunklen Haar ein paar graue Strähnen. Ihr Outfit sah mehr nach Läufer- als nach Wanderkleidung aus. Sie stand auf den Brettern, die einst die Sonnenterrasse des Berggasthauses gebildet hatten, hielt ein Fernglas in der Hand und sah lachend auf ihn herab.

»Habe ich Sie erschreckt?«

»Ein bisschen. Ich war nicht darauf gefasst, hier jemanden anzutreffen«, sagte Kauz. »Ist das Ihr Hund?«

»Welcher Hund?«, fragte die Frau zurück.

Kauz blickte um sich. Aber da war kein Hund mehr. Er erzählte kurz von seiner Begegnung.

»Nein, ich habe keinen Hund. Er wird auf die Alp gehören«, mutmaßte die Frau und blickte durch das Fernglas.

»Was sieht man?«, fragte Kauz.

»Viel«, antwortete die Frau. »Wenn man weiß, wohin man schauen und wonach man suchen muss: Schwarznasenschafe, Murmeltiere, Steinböcke.«

Ob sie oft hierherkomme, wollte Kauz wissen.

Wann immer es gehe, war die Antwort, wenn möglich jede Woche einmal, steige sie zu diesem Aussichtspunkt hoch. Im Sommer wie im Winter. Im Winter mit Schneeschuhen. Das müsste eigentlich jeder Gommer tun. Und die Auswärtigen erst recht.

»Dann wohnen Sie im Goms?«

»Ja, in Münster. Und Sie?«

»Ich mache in Münster Ferien.«

»Das freut mich«, sagte die Frau. »Hotel oder Ferienwohnung? Entschuldigen Sie, wenn ich so neugierig frage. Aber mir liegt es am Herzen, dass sich die Leute bei uns wohl fühlen.«

»Arbeiten Sie für den Verkehrsverein?«

»Sozusagen«, lachte die Frau.

»Ich wohne in der Alpenrose. Aber übermorgen kann ich hoffentlich in den Speicher ziehen, den ich gemietet habe.«

»Ach, Gott«, sagte die Frau. »Etwa in Wendelin Imfangs Speicher?!«

Kauz brauchte nicht zu antworten, die Frau wusste, dass sie richtig kombiniert hatte. Kleine Welt, dachte Kauz.

»Sein Tod macht uns alle traurig«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben trotzdem schöne Ferien. Ich steige direkt ab, aber wenn ich Ihnen einen anderen Rückweg empfehlen darf: Gehen Sie über Lärch. Dort hinunter, zur Kapelle, dann bei den baufälligen Ställen links abbiegen«, sagte sie und zeigte mit dem Arm die Richtung.

Kauz bedankte sich und nahm den Weg über Lärch.

Als er sich den halb verfallenen Ställen und Stadeln näherte, war der Hund plötzlich wieder da. Offenbar hatte er einen weiten Bogen um die Gasthausruine gemacht, vielleicht weil er merkte, dass Kauz dort nicht allein war. Kauz blieb wiederholt stehen und schickte den Hund mit strenger Stimme weg. Doch er ließ sich nicht mehr abschütteln. Zwar machte er jedes Mal zum Schein kehrt, doch kaum ging Kauz weiter, kam er wieder und folgte ihm im Abstand von zehn, zwanzig Metern, bis ins Tal.

Bei seinem Motorrad angekommen, wurde es Kauz weh ums Herz: Der Hund schnüffelte mit Inbrunst am Motorrad und an den Satteltaschen, setzte sich, als Kauz sich den Helm überstülpte, vor ihm auf den Boden, wedelte mit dem Schwanz und guckte ihn, mit schräggelegtem Kopf, die Ohren gespitzt, erwartungsvoll an. Auf seiner Brust leuchtete ein kleiner weißer Fleck.

Was soll ich bloß tun?, dachte Kauz.

Er konnte den Hund unmöglich mitnehmen. Bestimmt gehörte er auf einen Hof im Oberen Goms, oder es gab einen Feriengast, der ihn vermisste und schon längst auf ihn wartete.

Er tätschelte den Hundekopf und gab ihm einen Klaps auf den Hintern.

»Geh nach Hause!«, sagte er halbherzig und schickte ihn mit einer Handbewegung weg. Dann kickte er seine alte BMW an, schwang sich in den Sattel und fuhr los. Es brach ihm fast das Herz, als er, über die Schulter zurückblickend, den Hund hinter dem Motorrad herrennen sah. Er rannte sich fast die Seele aus dem Leib. Kauz gab Gas.

Wieder in der Alpenrose, musste er sich den Rest des Tages ausruhen. Die Wanderung dauerte laut Wegweiser zweieinhalb Stunden. Er hatte gut und gern dreieinhalb gebraucht. Den Gedanken an den Hund versuchte er zu verdrängen. Doch es gelang nicht: Was, wenn er vielleicht doch herrenlos war? Ausgesetzt oder einem Tierquäler entlaufen? Nun hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er das Tier gefüttert und dann seinem Schicksal überlassen hatte.

Am frühen Abend machte er immerhin noch einen Spaziergang durch das Dorf. Er kehrte im Chäsgadä ein, vor welchem Das ganze Jahr Raclette angepriesen wurde. Raclette im Sommer?, fragte er sich. Wieso auch nicht? Er setzte sich an einen der drei kleinen Tische, holte sich eine Walliser Zeitung und bestellte eine Doppelportion, dazu einen Dreier Johannisberg. Er blätterte die Zeitung durch. In den Lokalnachrichten wurde über den Verkehrsunfall in Münster am Vortag berichtet. Es war von einem achtundvierzigjährigen Unfallopfer die Rede, das in Lebensgefahr schwebte. Die Polizei suchte Zeugen des Unfallhergangs und erhoffte sich Hinweise auf das Unfallfahrzeug. Eine Nachricht über den Tod von Wendelin Imfang stand erwartungsgemäß nicht in der Zeitung.

Gommer Sommer

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