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Sonntag, 2. Juli

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Die alte Frau saß mit verweinten Augen auf der Eckbank hinter dem Esstisch, ein Taschentuch mit umhäkelten Rändern in der Hand. Ihr Mann saß hilflos neben ihr. Die beiden waren bestimmt über achtzig. Kauz war unsicher gewesen, ob er am Sonntag seinen Besuch machen dürfe. Aber Frau Imfang sagte, alle Verwandten und Bekannten seien schon da gewesen. Sie hatte ihn ohne Umstände hereingebeten.

»Sie sind also der Herr Walpen aus Zürich«, stellte sie fest. »Das ist flott, dass Sie kommen. Äns flott. Wendel hat von Ihnen erzählt, wissen Sie. Er war stolz darauf, dass Sie Jahr für Jahr seinen Speicher mieten. Er hat sich darauf gefreut, dass Sie kommen.«

»Ich habe mich auch auf ihn gefreut.«

»Eben. Das wusste er. Und deshalb verstehen wir nicht …«

Sie schluchzte stumm. Ihr Mann wischte sich mit dem rauen Handballen die Augen.

»Hat er Sorgen gehabt?«, fragte Kauz.

»Sicher«, antwortete die Frau. »Wer hat keine? Aber deswegen …« Wieder hielt sie inne.

»Was für Sorgen?«

»Geldsorgen, wie die meisten. Aber deswegen …« Sie verstummte und fuhr sich über die Augen.

»Und sonst?«

»Der Wolf«, sagte Vater Imfang. »Der machte ihm Sorgen. Es wurden Schafe gerissen, oben auf der Alp.«

Seine Frau schüttelte unwillig den Kopf.

Wendel hatte Ziegen, dachte Kauz, keine Schafe. Und die Ziegen würden sich wehren, hat er mir einmal erklärt. Schafe würden vom Wolf gerissen, nicht Ziegen. Doch dies war nicht der Moment, mit den alten Leuten darüber zu debattieren.

»Wer schaut jetzt nach seinem Vieh?«, fragte Kauz.

»Ein tüchtige junge Frau. Eine ganz liebe. Anna heißt sie. Aus dem Berneroberland, da hatte Wendel Glück. Die meisten Sennen kommen sonst aus dem Ausland. Sie und ihr Gehilfe machen alles, oben auf der Geissalp, auch den Käse. Nicht nur für Wendel, auch für andere Bauern. Sie hüten dort oben über hundert Ziegen.«

»Und die Kühe?«

»Die sind auch auf der Alp.«

»Mit den Ziegen?«

»Nein, auf der andern Seite. Auf dem Chämibodä«, sie zeigte auf die Morgenseite des Tals. »Dort arbeiten den Sommer über zwei Sennen. Die meisten Bauern aus unserem Dorf sömmern die Kühe dort oben.«

»Und sonst?«, fragte Kauz weiter. Er konnte es einfach nicht lassen. Hatte er Feinde?, war er nahe daran zu fragen. Aber diese Polizistenfrage durfte er jetzt nicht stellen. »Gab es Leute, die ihm Schwierigkeiten machten? Oder Angst? Die ihn irgendwie bedrängten? So, dass er sich Sorgen machte?«

»Und sich deswegen das Leben genommen hat, meinen Sie?«, fragte Wendels Mutter zurück. »Ich weiß, Sie sind Polizist. Hat Wendel gesagt. Deshalb fragen Sie so, nicht wahr?« Aber ohne eine Antwort auf ihre Frage abzuwarten, fuhr sie fort: »Bedrängt vielleicht. Aber Angst? Ich weiß nicht. Geschimpft hat er darüber, das schon.«

»Worüber?«

»Dass ihm einer den Speicher abluchsen wollte.«

Kauz horchte auf.

»Das war doch nicht böse gemeint«, schaltete sich der alte Imfang ein.

»Wollte Wendel denn verkaufen?«

»Eben nicht«, gab Frau Imfang zur Antwort. »Auf keinen Fall. Er hat immer gesagt, er wolle den Speicher behalten. Damit wolle er nichts zu tun haben, hat er gesagt.«

»Womit?«

»Mit dieser Überbauung.«

»Ist ja nur ein Plan. Ein Projekt, sagen sie dazu«, fuhr der Alte dazwischen. »Mehr nicht. Geht uns eigentlich gar nichts an, Hermine.«

Seine Frau sah ihn stumm an.

»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte sie nach einer Weile. »Er war am Donnerstagabend nicht anders als sonst. Das haben wir schon der Polizei gesagt. Ich habe ihm noch die Sachen parat gemacht, die er für Sie in den Speicher bringen wollte. Den Heidelbeerlikör und all das, wissen Sie.«

»Ich weiß. Hausgemacht, nicht wahr?«

»Ja. Und eigener Alpkäse. Den hat er extra vom Chämibodä heruntergebracht. Er hat mir am Donnerstag aufgetragen, noch Roggenbrot, Trockenfleisch und Bier für Sie einzukaufen. Das hab ich gemacht und alles für ihn bereitgestellt.«

Kauz stutzte. Roggenbrot und Trockenfleisch war nicht dabei gewesen.

»Am Freitag in der Früh, wir waren noch im Bett, hat er die Sachen mitgenommen. Er hat am Vorabend gesagt, er würde vor dem Mähen im Speicher vorbeischauen, alles für Sie herrichten und den Schlüssel parat legen.«

Wieder trocknete sie sich die Augen.

»Er wartet auf uns«, sagte sie plötzlich.

»Wie?«, entfuhr es Kauz.

»Wendel ist in Brig aufgebahrt. Beim Bestatter. Wir könnten ihn dort sehen. Morgen, haben sie gesagt. Oder auch heute, obschon Sonntag ist, hat man uns gesagt. Aber …«

Sie hob hilflos die Hände.

»Ich komme mit, wenn Sie wollen«, sagte Kauz rasch. »Ich möchte ihn auch noch einmal sehen.«

»Wirklich? Das wäre flott«, sagte Frau Imfang. »Äns flott«, wiederholte sie. »Valentin, der Sohn vom Nachbarhof, wissen Sie, hat angeboten, mit uns hinzufahren. Aber wir haben ihm gesagt, er soll lieber Wendels Wiesen mähen. Muss man doch, bei diesem Wetter. Damit ist uns mehr geholfen. Haben Sie ein Auto?«

»Nein. Am besten, wir fahren mit der Bahn. Sollen wir morgen fahren? Oder heute noch?«

»Lieber heute«, sagte Frau Imfang, mit einem Blick auf ihren Mann.

Der Alte nickte.

»Der Zug fährt immer zwanzig nach«, sagte sie. »Um zwanzig nach zwei, geht das?«

Kauz blickte auf seine Uhr. Sie zeigte halb eins. »Gut. Wir treffen uns um Viertel nach zwei am Bahnhof.«

Er ging ins Dorf zurück, dann in die Lange Gasse hinein. Der Speicher war noch immer mit einem rot-weißen Klebeband abgesperrt: Police stand darauf. Er ging weiter zur Alpenrose, legte sich aufs Bett und dachte nach.

Um zwei Uhr stand er auf und ging zum Bahnhof.

Der Zug fuhr pünktlich ein. Die zwei alten Leute sahen im Stehen noch kleiner aus als im Sitzen. Frau Imfang im schwarzen Kleid und Mantel, eine Handtasche am Arm und einen Regenschirm in der Hand, ihr Mann im Sonntagsanzug mit schwarzer Krawatte, einen speckigen, alten schwarzen Hut auf dem Kopf.

Sie stiegen ein. Im Abteil setzten sie sich Kauz gegenüber. Sie schwiegen lange.

»Alois«, hob die Frau unvermittelt an, als der Zug nach einem kurzen Halt in Niederwald wieder anfuhr.

Kauz zuckte zusammen. Er hasste es, bei seinem Vornamen angesprochen zu werden. Er konnte ihn nicht ausstehen und hütete sich, ihn preiszugeben. Er stellte sich immer mit Kauz vor, wenn er nach seinem Vornamen gefragt wurde.

Die Frau wandte den Kopf. Kauz realisierte, dass sie ihren Mann, nicht ihn, ansprach. »Alois, hast du die Adresse?«

»Nein, aber ich weiß noch, wo es ist«, erwiderte der Alte. »Vom letzten Mal.«

Frau Imfang seufzte.

Vorsichtig erkundigte sich Kauz nach dem letzten Todesfall. Wendels ältere Schwester, die einzige Tochter des Paars, war vor zwölf Jahren ganz plötzlich erkrankt und nach wenigen Tagen im Spital von Brig gestorben.

»Die Spitalärzte haben sich alle Mühe gegeben, aber sie haben einfach nicht herausfinden können, was sie hatte. Nur, dass es eine schwere Krankheit war. Sie waren drauf und dran, sie nach Bern oder Lausanne zu verlegen. Aber da war es schon zu spät.«

Sie klang nicht einmal verbittert.

»Das ist schlimm«, sagte Kauz. »Traurig. Tut mir leid.«

»Gottes Wille«, sagten die beiden Alten, wie aus einem Mund.

Antonia, so hatte Wendels Schwester geheißen, hatte vor ihrem Tod in Naters gelebt. Sie war mit einem Mann aus Brig verheiratet gewesen.

»Hatte sie Kinder?«

»Eine Tochter, Vanessa«, antwortete Frau Imfang knapp. »Aber die ist bald nach Antonias Tod ausgewandert. Nach Kanada. Wir haben sie nie mehr gesehen.«

»Hatte Wendel auch einen Bruder?«

Nein, weitere Geschwister gebe es nicht, lautete die Antwort. Es gebe noch die Schwägerin, aber die sei ein besonderer Fall. Und Vanessas Vater, ihren Schwiegersohn. Der wohne aber nicht mehr im Wallis. Und er zeige sich nie im Goms.

»Dann gibt es kaum Angehörige. Eigentlich sind Sie ganz allein, nicht wahr?«, fragte Kauz.

Beide nickten stumm.

»Nur wir zwei«, bestätigte der alte Imfang. »Ganz allein sind wir aber nicht. Wir haben unseren Glauben.«

Inschä Glöübä, das hatte Kauz im Goms schon oft gehört.

*

Im Bestattungsinstitut Kenzelmann wurde das Trio mit gedämpfter Höflichkeit empfangen. Die Eheleute bedankten sich bei Herrn Kenzelmann, dass er sich am Sonntag extra für sie Zeit nahm. Das sei doch selbstverständlich, meinte dieser und geleitete die drei in die kleine Aufbahrungshalle. Weiße Kerzen brannten. Wendel lag, in ein weißes Hemd gekleidet, im offenen, mit Damast ausgekleideten Sarg, die Augen scheinbar friedlich geschlossen, die Hände über einem Kruzifix auf der Brust gefaltet. Kauz staunte über die Kunst des Bestatters, das blau aufgedunsene Gesicht des Erhängten so herzurichten, dass er wie ein Schlafender aussah.

Kenzelmann ließ die drei allein und Kauz zog sich in eine Ecke des Aufbahrungsraums zurück, um den Eltern am Sarg den Vortritt zu lassen. Wie er es erwartet hatte, näherten sie sich dem Leichnam ohne Scheu. Sich bekreuzigend und halblaut betend, stellten sie sich neben den Sarg. Lange standen sie so, dann streichelte die Mutter stumm die Wangen ihres Sohns und küsste ihn auf die Stirn, der Vater legte seine Hände auf die des Toten.

Im Vorraum wartete Kenzelmann. Auf einem Tischchen lagen, in ein graues Tuch eingeschlagen, das er jetzt auseinanderfaltete, die persönlichen Sachen des Toten: Militärschuhe, Stallhose und -jacke, Mütze. Auf der Hose lagen in einer transparenten Plastiktüte Wendels Armbanduhr, sein Portemonnaie, ein zerknülltes Taschentuch, ein Ledergürtel, ein Schlüsselbund und ein einzelner, größerer Schlüssel.

»Das ist der Speicherschlüssel«, stellte Frau Imfang fest. »Nehmen Sie den«, sagte sie, griff in die Tüte, nahm den Schlüssel heraus und streckte ihn Kauz hin. »Den zweiten haben wir bei uns zu Hause.«

Kauz nahm den Schlussel und steckte ihn ein.

Die Militärschuhe standen auf einem weißen Plastiksack, wie er in Hotels für gebrauchte Wäsche bereitliegt, die man gewaschen haben will.

»Was ist da drin?«, fragte Frau Imfang und nahm den Plastiksack in die Hand.

»Das sind nur …«, sagte Kenzelmann und wollte sie diskret davon abbringen, den Inhalt hier und jetzt zu sichten.

Frau Imfang ließ sich nicht abhalten, sie nahm den Sack und leerte den Inhalt auf die Stalljacke: gebrauchte Unterwäsche, Socken, Hemd. Wendels in ein Plastikbehältnis verpacktes Gebiss. Und, wiederum in einem transparenten, jedoch verschweißten Plastiksack: ein zerschnittener Kälberstrick, das eine wie das andere Ende zu einer Schlaufe verknotet.

Kauz erschrak.

Das gibts doch nicht!, dachte er. Den Strick, an dem er gehangen hatte, zu den persönlichen Sachen zu legen! Was haben sich die Leute bloß dabei gedacht?

»Entschuldigen Sie«, stammelte Kenzelmann und versuchte, den Strick unauffällig beiseitezulegen. »Das hätte nicht passieren dürfen. Das war ein Fehler.«

Doch der alte Imfang hatte die Plastiktüte schon in der Hand und sah sich den Strick an.

»Ja«, bestätigte er. »Allerdings, da ist ein Fehler passiert. Das ist nämlich keiner von unseren Stricken. Solche haben wir gar nicht. Wohl eine Verwechslung.« Er deutete mit seinem krummen Zeigefinger auf das eine Ende des Stricks, in welchem, quasi als Markenzeichen, ein roter Zwirn eingeflochten war. »Das ist keiner von unseren«, wiederholte er und legte die versiegelte Tüte mit dem zerschnittenen Strick auf das Tischchen zurück.

Kauz war sprachlos. Meint er wirklich, der Strick sei verwechselt worden?, dachte er.

Frau Imfang schluchzte.

Noch ehe der verdatterte Kenzelmann reagieren konnte, packte Kauz anstelle der Eltern Wendels Sachen zusammen und versorgte alles in einer großen Tragtasche aus festem schwarzem Papier, die neben dem Tischchen bereitstand.

»Ich trage das«, sagte Kauz zu den Alten. »Bis Sie mit der Besprechung fertig sind, warte ich hier auf Sie.« Er schaute Kenzelmann fragend an.

Dieser nickte, deutete auf einen der Sessel im Vorraum. Kauz setzte sich. Kenzelmann führte Wendels Eltern zum Besprechungszimmer, ließ sie eintreten und schloss die Tür.

Kauz wartete eine Weile, dann stand er auf, nahm den versiegelten Kälberstrick, steckte ihn in seine Jackentasche und setzte sich wieder. Als er sicher sein konnte, dass die Besprechung über die Einzelheiten der Bestattung im Gang war, stand er wieder auf und schlich sich noch einmal in die Aufbahrungshalle.

Auf der Rückfahrt mit dem Zug brach plötzlich ein Gewitter los. Es donnerte und blitzte, bald darauf begann es wie aus Kübeln zu schütten. Damit hatte Kauz nicht gerechnet. Im Gegenteil, beim Einsteigen in Münster hatte er sich noch gewundert, dass Frau Imfang einen Regenschirm dabeihatte.

Unauffällig studierte er das zerfurchte Gesicht der alten Frau, die wie versteinert dasaß und den Rest der Fahrt über kein Wort mehr sagte.

Wieder in Münster, verabschiedete er sich von den beiden alten Leuten und ging zur Alpenrose. Morgen würde er sein Zimmer räumen und in Wendels Speicher ziehen.

Kauz hatte seine alte BMW vor dem bescheidenen Hotel abgestellt. Als er dort ankam, traute er seinen Augen nicht: Der Hund mit dem weißen Fleck auf der Brust lag neben seinem Motorrad, den Kopf auf den Vorderpfoten. Er stand sofort auf, als er Kauz erblickte, winselte freudig, drehte sich wie toll um sich selbst, ließ sich von Kauz tätscheln und leckte seine Hände. Diesmal brachte es Kauz nicht übers Herz, den Hund wieder wegzuschicken. Er schmuggelte ihn ins Hotelzimmer, holte sich im Restaurant eine Schüssel und setzte ihm Wasser vor. Dann stellte er ihn unter die Dusche. Das nasse Fell stank fürchterlich, sogar als Kauz mit der Hundewäsche schließlich fertig war. Er bestellte sich unten im Restaurant ein einfaches Nachtessen mit viel Fleisch und packte die Hälfte des Menüs in eine Papierserviette. Der Hund, der im Zimmer gewartet hatte, ließ sich nicht zweimal bitten. Kauz beschloss, den Hund über Nacht zu beherbergen und am nächsten Tag nach seinem Besitzer zu suchen.

Gommer Sommer

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