Читать книгу Wolken über Spanien - Kate O'Brien - Страница 10
LA MONTAÑA
ОглавлениеDa ich mich also auf den Weg mache, möchte ich ein paar mehr oder weniger zutreffende Worte über die verschiedenen Arten des Reisens auf der Halbinsel verlieren. Eigentlich sind es Ratschläge. Für lange Reisen auf gut erschlossenen Strecken sollte man natürlich den Zug nehmen. Und die Züge sind in Ordnung. Vielleicht nicht so schnell, aber praktisch. Es gibt Platz und große, schöne Fenster. Man kann in den Zügen gut essen – gut, das heißt, wie Zugmahlzeiten im Allgemeinen so sind. Ich halte es übrigens nicht für Zeitverschwendung, bei Tag zu reisen. Es ist nie Zeitverschwendung, die spanische Landschaft an sich vorüberziehen zu lassen. Ich empfehle, selbst dann bei Tag zu reisen, wenn es sehr heiß ist. Es wäre zu schade, Spanien im Dunkeln zu durchreisen. Wenn Sie sich nach einem schattigen Platz umschauen und still dort sitzen bleiben – die spanischen Züge sind selten überfüllt –, werden Sie nicht vor Hitze sterben. Und selbst, wenn das der Fall sein sollte, so wird der letzte Blick auf diese Welt ein sehr prächtiger gewesen sein. Aber der Schaffner wird Sie nicht umkommen lassen. Bei jedem Halt versorgt er Sie mit dem kühlsten, besten Bier, das Sie je getrunken haben. Sie müssen ihm aber eine Zigarette anbieten und durchblicken lassen, dass es Ihnen eine Ehre wäre, wenn er sie in Ihrem Waggon rauchen und ein wenig mit Ihnen plaudern würde. Denn unter den kultivierten Menschen der Halbinsel ist im täglichen Miteinander nichts von jener Verlegenheit zu spüren, die in anderen Teilen der Welt noch immer zwischen einer »Colonel’s Lady und Judy O’Grady«23 besteht. Soweit man feststellen kann, hat es das in Spanien nie gegeben. Daran ändern auch die Schwierigkeiten nichts, die es jetzt dort gibt – der Klassenkampf. Es ist tatsächlich ein Klassenkampf, ganz genau. Aber seine Ursache, seine Ursachen existierten Seite an Seite mit jener natürlichen Leichtigkeit, die ein jeder im Umgang mit jedem zeigt. Die Kriege und Ungerechtigkeiten, das Elend und die Rückständigkeit, die Spanien viel zu lange verrückt gemacht haben, konnten diesem tiefen individuellen Gefühl von Stolz und der damit einhergehenden Höflichkeit nichts anhaben, weder Unterdrücker noch Unterdrücktem würde es jemals einfallen, es anzutasten. Das lässt sich schwer erklären, aber es gibt viele dieser spanischen Paradoxe, die trotz allem wahr bleiben. In jedem Fall sollte der sozial gehemmte Nordländer auf die unkomplizierte Höflichkeit spanischer Portiers, Wäscherinnen und Zeitungsjungen vorbereitet sein. Ich habe einmal beobachtet, wie eine distinguierte englische Lady vor stotternder Verlegenheit fast erstickte, als sie von einer englischen Bäuerin, die sich während einer Autopanne eine improvisierte Mahlzeit zubereitete, gefragt wurde, »ob sie zu ihrem Tee vielleicht etwas Salat dazu haben wolle«. Warum es einem vernünftigen, gebildeten Engländer nicht gegeben sein soll, so einen guten Vorschlag anzunehmen, weiß ich nicht, aber es gibt Leute, die sich unter gar keinen Umständen überraschen lassen wollen. Seien Sie also gewarnt – denn wenn der schmutzigste und unkultivierteste Alte in Santiago de Compostela (und er wird schmutzig und unkultiviert sein) Ihnen die Tasche von Ihrer Unterkunft zum Bus trägt, wird er beim Abschied Ihre Hand ergreifen und sie voller Wärme und Herzlichkeit schütteln. Vorausgesetzt, Sie sind ihm sympathisch. Und ganz egal, wie vornehm oder elegant Sie aussehen, er wird Ihre Hand schütteln und Ihnen auf die Schulter klopfen – vorausgesetzt, Sie sind ihm sympathisch. Wenn der botones, der Boy Ihres Hotels, Sie gelangweilt auf der einsamen Veranda sitzen sieht, wird er sich zu Ihnen setzen und Ihnen interessante Dinge über sein Leben daheim und seine komische alte Großmutter erzählen und Ihnen Fragen über das Leben in England stellen. Und wenn Sie – wie es mir tatsächlich einmal passierte – erschüttert über den Inhalt eines Briefes, den Sie gerade postlagernd abgeholt haben, und so unvorsichtig sind, sich auf eine Parkbank zu setzen und in Tränen auszubrechen, so wird sich eine Frau, die Süßigkeiten verkauft, neben Ihnen niederlassen, Ihnen einen Kuss geben und ein Päckchen gebrannter Mandeln in die Hand drücken.
Aber zurück zu meinen Ansichten über die verschiedenen Arten des Reisens. Für Strecken, die man in zwei, drei oder auch vier Stunden zurücklegen kann, nehmen Sie in Spanien am besten den Bus. Busse fahren überall hin, und sie kosten nicht viel. Die meisten sind recht komfortabel und, wie die Züge auch, selten überfüllt. Sie werden dort amüsante Bekanntschaften machen, obwohl Ihnen das natürlich auch im Zug passiert. Aber um von Santander nach Burgos zu kommen: Auf direktem Weg ist es mit dem Bus, soweit ich mich erinnere, eine Sache von drei Stunden und kostet erster Klasse etwa achtzehn Peseten. Zehn Schilling. Den Fahrpreis für den Zug habe ich vergessen, aber die irrwitzige Distanz, die man zurücklegt, macht die Fahrt um ein gutes Stück teurer – und Sie sind den ganzen Tag unterwegs. Neun Stunden – oder vielleicht auch zehn. Sie zuckeln dahin, Stunde um Stunde, bis Sie zu einem erstaunlich uninteressanten Ort namens Venta de Baños kommen. Dort verlassen Sie den Zug – aber nicht etwa, um ein Bad zu nehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass je jemand so unbekümmert war, um in Venta ein Bad zu nehmen. Sie verbringen drei, vielleicht auch vier Stunden in einem heruntergekommenen kleinen Gartencafé gegenüber vom Bahnhof. (Venta besteht nur aus diesem Café und einer Tanksäule.) Mit Sicherheit findet in diesem Café gerade eine Hochzeitsfeier statt. Dort fotografieren Sie auf Wunsch die ganze Gesellschaft und notieren die einzelnen Adressen der Porträtierten. Wenn es damit genug ist, gehen Sie zum Bahnhof hinüber und fragen Ihren freundlichen Gepäckträger noch einmal nach Zügen nach Burgos. Er schüttelt nur belustigt den Kopf. Sie probieren eine manzanilla in der Bahnhofskantine und überlassen sie nach dem ersten Schluck den Fliegen. Sie fragen nach dem Schlüssel für die »Señoras« (oder die »Caballeros«, je nachdem). Ein hoher Beamter mit goldenen Tressen überquert mit Ihnen die Gleise, den Schlüssel in der Hand. Der lässt sich nicht im Schloss drehen. Ein paar nicht ganz so hohe Beamte kommen hinzu und machen Vorschläge. Ein paar Frauen eilen zu Hilfe. Ein paar Kinder versuchen es auch. Ihr Gepäckträger verrät Ihnen stolz, dass es sich um seine Kinder handelt. In dem Moment, wo die Tür zu den »Señoras« aufspringt, fährt Ihr Zug ein. Zum Glück, muss man sagen. Sie kommen mitten in der Nacht in Burgos an – zu spät, um zu sehen, wie sich die hübschen mädchenhaften Turmspitzen sanft zwischen zitternden Bäumen erheben.
Während ich hier Ratschläge erteile, rumpelt mein Bus weiter. Die Hügel hinauf und hinab, durch Dörfer, bitter geadelt durch Jahrhunderte des Hungers, über den Fluss Paz, wo man, wie ich erfahre, köstliche Forellen fangen kann. Die Maisfelder sehen größtenteils öde und hässlich aus, was Kohlfeldern mit ihren unendlichen Rosetten nie passieren kann. Seltsam schräg zur Sonne geneigt, erscheinen sie hier und da wie Felder aus blauen Schwertern. Eukalyptuswälder klettern elegant über die Hügel, und Pinienhaine stehen sehr ansehnlich und gelassen da, alle parat für John Nash24. Regenwolken jagen von Norden, vom Meer auf uns zu. Weit vor mir, im Westen und Süden, glitzern die schneebedeckten Spitzen der großartigen Picos.
Die Architektur der kantabrischen Häuser zählt zu Spaniens kleineren Errungenschaften. Jeder, der die Straße von Irún nach Oviedo nimmt, oder die nach Vigo, wird von der Schönheit, der harmonischen Vielfalt und Funktionalität der alten Bauernhäuser, Landsitze und Katen, an denen er vorüberkommt, beeindruckt sein. Die baskische Architektur weist ganz besondere Eigenheiten auf, und hier in Montaña, wo sich das Wetter von der regnerischen, unsicheren Seite zeigt, was den Weiden und der gemischten Landwirtschaft gut bekommt, scheint es vernünftig gewesen zu sein, sich treu wie die Pfarrkirche an handfeste romanische Strenge und Robustheit zu halten und sie durch gezielte Vorschläge des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Form von Balkonen, Arkaden und geschützten Höfen zu mildern, denn die Sonne, so oft sie sich hier zeigt, muss genutzt und genossen werden. Wie makellos erweist sich doch in diesen Dörfern die jahrhundertealte Geschicklichkeit, mit der die Bauern dem Grau, Blaugrau und Blaugrün des Landes, dem toten Putz der parroquia mit einer Mischung aus bläulicher Kalkfarbe und weißlichem Blau begegnen! In dieser Gegend kann man Hofeinfahrten sehen und an den Bauernhäusern Veranden, die einen so vollkommenen und schönen Eindruck machen, dass man angesichts ihres Alters, weswegen sie in absehbarer Zeit unweigerlich ersetzt werden müssen, besorgt aufstöhnt. Denn auch hier in Spanien ist man vom obligaten Baufieber befallen und zwar genauso schlimm – ich benutze absichtlich dieses Wort – wie anderswo. Auf der ganzen Halbinsel baut man erbärmliche Häuser –, und selbst dort, wo noch einigermaßen ordentliche Häuser entstehen, sind sie nicht das Gelbe vom Ei, wenn man mich fragt. Wir reden heutzutage ständig von Funktionalismus, als ob wir ihn erfunden hätten – um Himmels willen –, wo wir nichts anderes tun, als ihn uns unter den Nagel zu reißen. Wir denken, dass eine 1936 in Wladiwostok gebaute Schuhfabrik, vorausgesetzt, dass sie so aussieht und arbeitet, wie man es von einer Schuhfabrik erwartet, nicht anders sein sollte, wenn sie in Torquay gebaut wird, angenommen, man bräuchte dort eine Schuhfabrik. Wir trennen die Funktion völlig von ihren äußeren Bedingungen. Und damit hoffen wir, die Welt internationaler und einheitlicher zu machen, und sie, wie ich meine, in eine Zwangsjacke zu stecken. Um Himmels willen! Im achtzehnten Jahrhundert wussten die Engländer eine Menge über die Funktion eines Hauses, bezogen auf England. Ebenso wie die spanischen Feudalherren der Renaissance, bezogen auf Kastilien. Und auch wie viele Amerikaner des zwanzigsten Jahrhunderts, und wenn die Welt noch eine Weile durchhält, werden sicher ein paar weitere gute Methoden gefunden, um Häuser für spezielle Bedingungen zu bauen. Ich bin aber der Meinung, dass es für die Vielzahl der Möglichkeiten, ein Haus, einen Laden oder eine Garage zu gestalten, eine Grenze geben muss. Und daher fürchte ich die Konsequenzen, wenn man zulässt, dass friedliche Regionen auf der ganzen Welt durch Armeen von Massenware produzierenden Kitschfabrikanten ihres traditionell guten Geschmacks beraubt werden, Fabrikanten, die den Ängstlichen und Ahnungslosen im Laufe einer Generation ungeniert Grundvorstellungen nehmen, die sich ganz selbstverständlich über Hunderte von Jahren gehalten haben, um ihnen dafür ein paar Ideen zu geben, die höchstwahrscheinlich überall verfehlt wären und zehn zu eins so, wie und wo sie zur Anwendung kommen, schlicht unsinnig sind.
Die Leute der Montaña könnten ihre neuen Häuser jetzt gut selber bauen, so wie es ihre Vorfahren getan haben, wenn man sie nur machen ließe. Nicht in sklavischer Nachahmung, sondern indem sie aus sich selbst heraus, ohne Getue, ihre Idee eines angemessenen Hauses für die Montaña umsetzen. Es gibt jedoch keine Spur von Hoffnung, dass es dazu kommen wird. Gräuel sprießen überall hervor – unsere scheußlichen neuen Ideen sind weit verbreitet –, Gräuel und Bastarde, ohne Stabilität und Bestand oder eine Spur von Grazie oder Frische. Überall sieht man Gemäuer aus allen möglichen absurden Backstein- und Ziegelarten, die von Gott weiß woher in das Land des Granits und Sandsteins geschafft wurden.
Gerade fahren wir durch Torrelavega – eine kleine, wüste Industriestadt in einem ausgedehnten, schlammfeuchten Tal. Praktisch im Besitz eines belgischen Unternehmens, das die ein oder andere Chemikalie aus dem Flussbett gewinnt. Das belgische Unternehmen hat hier Häuser für seine belgischen Angestellten und Vorarbeiter gebaut. Damit sie sich mehr wie zu Hause fühlen. Komische kleine Reihen flacher, schmaler Häuser aus rotem Backstein, mit schieferfarbenen Fensterläden. Genau dieselben kleinen flachen Häuser, wie man sie vom Zug aus in den eintönigeren Vororten von Brüssel und Antwerpen sieht. Häuser, die ordentlich an einer ordentlichen Straße in einem ordentlichen kleinen Land stehen. Sie wirken exiliert und machen einen kläglichen Eindruck, hier in diesem lehmigen, fruchtbaren spanischen Tal. Torrelavega selbst ist ein armer und verlorener Ort, doch stabil gebaut, geräumige Arkaden umsäumen den großen Platz, seine Arbeitercafés sind großzügig bemessen und warm. Und wenn im Winter der Regen über das offene Terrain fegt und Platanen auf die Dächer schlagen, wird, so nehme ich an, bei den Belgiern, die durch den Schlamm in ihre kleinen, gebrechlichen Häuser schleichen, der Verdacht aufkommen, dass die wilden Spanier in ihren alten, schäbigen Gebäuden mit den dicken Mauern, den ausladenden Vorbauten und tiefliegenden Fenstern mehr Wärme und Geborgenheit vorfinden als sie.
Sei’s drum – in einer Minute sind wir in Santillana, wo seit Langem kein Stein mehr auf den anderen gesetzt wurde.
23Letzte Zeile aus Rudyard Kiplings Gedicht The Ladies (1922): »For the Colonel’s Lady an’ Judy O’Grady / Are sisters under their skins!«
24John Nash (1752–1835), ein englischer Architekt, entwarf zunächst Landhäuser, arbeitete mit Landschaftsarchitekten zusammen und erhielt 1811 vom späteren König George IV. den Auftrag, das heutige Stadtgebiet Marylebone Park in London neu zu gestalten.