Читать книгу Der Schneckenreiter - Katharina Fiona Bode - Страница 7
1. Der verbo(r)gene Schlüssel zum Königreich
Оглавление„Damals vor der großen Pforte Widewestwingtons fiel die Aufgabe ihrer Bewachung mehreren Wächtern zu. Ihrer Zahl drei, um genau zu sein. Man hatte sie erst kürzlich dazu auserkoren, weshalb sie einander nicht besonders gut kannten, geschweige denn leiden mochten. Umso schwerer fiel es ihnen folglich, sich auf eine Taktik der Bewachung zu verständigen. Von Einigung konnte gar nicht erst die Rede sein. Sie hätten nicht weiter davon entfernt sein können.
‚Ich sage, wir vergraben den Schlüssel und das Tor ist sicher.‘
‚Soso, und wer bist du, das zu sagen?‘
Der angesprochene Zwerg legte die Hand aufs Herz. ‚Nimrod Scriveldish, meines Zeichens oberster Schlüsselhüter.‘ Er griff an seine Rocktaschen und ließ sie gewichtig klimpern.
Der schnauzbärtige Kobold, der die Frage gestellt hatte, zog eine Grimasse und äffte ihn nach: ‚Oberster Blablabla. Und wenn du König Keksmeister von Marzipanien wärst, die Taschen voller Finkenfutter! Von einem Zwerg lasse ich mir gar nichts sagen! Pfeifen wir auf das krumme alte Klimperding!‘
Er beäugte den Schlüssel, auf den sich der Zwerg stützte und der etwa die Hälfte seiner Körpergröße maß. ‚Mein Schwert wird jeden Feind längst niedergestreckt haben, bevor der auch nur daran denken kann nach deinem Schlüssel zu greifen.‘
Das handelsübliche Kurzschwert, das er in die Luft reckte, überragte den strammen Schnauzbart um eine ganze Klingenlänge, und machte es somit bei der eigenen Körperkürze zu einem Überlangschwert. Nichtsdestotrotz wusste er es erstaunlich geschickt zu handhaben. Es fiel ihm nur ein einziges Mal herunter. Vor den folgenden zwei Malen jedenfalls.
‚Ach ja?‘, fragte der Zwerg und machte einen Schritt auf den Kobold zu, der seinerseits nun wieder gar nicht daran dachte zurückzuweichen. Schon standen sie einander Stirn an Stirn und Schlüssel an Schwert gegenüber.
‚Ja! So wahr ich Hogelgard heiße‘, grunzte Hogelgard.
‚Duuu!‘
Der Erdboden erbebte, als sich den Streitbolden von hinten schwere Schritte näherten. Große, haarige Arme schlossen sich um die beiden und drückten sie so fest aneinander, dass ihnen die Luft entwich, die Rippen knacksten und ihre Köpfe kirschreifrot anliefen. Sie strampelten mit den Beinen und versuchten sich bei Leibeskräften zu wehren, um sich aufeinander stürzen zu können, doch der Erdbebenverursacher wiegte sie in aller Ruhe hin und her und summte mit sonorer Stimme eine Schlafmelodie dazu.
Nach und nach erloschen ihre Kräfte und mit ihnen auch der Widerstand, den sie zu leisten vermochten. In dem Moment setzte sie der zottelige Yeti wieder ab. ‚Na bitte, ihr habt euch beruhigt. So ist’s recht. Seid eins mit den Krumen des Gerölls und atmet seinen Staub.‘
Beide verdrehten die Augen, wandten einander den Rücken zu und verschränkten ihre Arme vor der Brust. Dann schielten sie aus dem Augenwinkel zu dem Riesen. Mit einem weiteren Beben ließ der sich auf sein Hinterteil plumpsen und formte mit seinem gurkenlangen Zeige- und Mittelfinger ein V. ‚Hi! Ich bin Padalupwe.‘
‚Pfft‘, zischte der Zwerg.
‚Pah, was is’n das für’n beknackter Name?‘, grummelte Hogelgard.
Die Augen des Yetis weiteten sich und wurden glasig. ‚Das ist der Name meiner Mutter. Paps hat mich nach ihr benannt‘, sprach der gegen einen Kloß im Hals an.
‚Oh, Verzeihung.‘ Hogelgards grimmige Miene glättete sich. So eilig ihn die kurzen krummen Beine trugen, stapfte er zu dem Yeti, um dessen muskulösen Unterarm zu tätscheln.
Nimrod schüttelte den Kopf und gestikulierte wild, dass das als Entschuldigung nicht ausreichte.
Hogelgard zuckte die Schultern und rang um weitere Worte. ‚Ich … ich meine, das ist natürlich ein außerordentlich ge… geschmackvoller Name. Habe ich beknackt gesagt? Also, du musst wissen‘, stammelte er, als ihm plötzlich ein Licht aufging, das in Form eines Lächelns über sein Gesicht huschte. ‚Also, beknackt heißt bei uns Kobolden gut: Du bist ja total beknackt! Das sagt man so. Ein größeres Kompliment gibt es gar nicht.‘
Stolz nickte er über seinen eigenen Einfall.
‚Ach, echt?‘, fragte Padalupwe, wischte sich die Schniefnase und zückte einen gigantischen Schnabelbecher.
‚Ja, ja, wirklich.‘ Hogelgard blickte hilfesuchend zu Nimrod, den nun auch Padalupwe fragend anglotzte.
Der Zwerg zog eine Augenbraue hoch, seufzte und gesellte sich dann näher zu den beiden. ‚Mhm, ja, das hab ich auch schon gehört. Die Kobolde sind eben ein … außergewöhnliches Völkchen.‘
Hogelgard kniff die Augen zusammen, blieb aber still.
‚Einen schönen Hammer hast du da, mein zotteliger Freund‘, lenkte Nimrod ab. ‚Mit dem könntest du Angreifern sicherlich ordentlich eins überbraten.‘
Wieder weiteten sich die Augen des Yetis. ‚Ich bin Pazifist. Das Hammerwerfen dient nur der Abschreckung. Hört mal!‘
Padalupwe schwang den Hammer über seinem Schädel, ließ ihn sirren, swooshen, zischen und schmoschen.
‚Beeindruckend‘, musste Nimrod gestehen.
Auch Hogelgard nickte. ‚Du bist ja ein Wahnsinnskerl, Padalumpur … Padaradauz … Pada …‘
‚… lupwe‘, beendete Nimrod den Satz des Kobolds und fing sich beinahe einen Fausthieb ein. Im letzten Moment konnte er ihm noch ausweichen und ballte nun seinerseits die Fäuste.
‚Nanana!‘ Wieder streckte der Yeti die Arme nach den beiden aus, doch als diese sie wie zwei behaarte Keulen auf sich zukommen sahen, hoben sie beschwichtigend die Hände.
‚Schon gut, schon gut, alles gut. Siehst du? Ich bin ganz ruhig‘, sagte Nimrod.
‚Die Ausgeglichenheit in Person‘, pflichtete Hogelgard ihm bei. ‚Aber dir verpassen wir vielleicht lieber einen Spitznamen. Wie wäre es mit … Shmosh?‘
‚Hmm, ja‘, nickte Nimrod, ‚klingt gut.‘
‚Klingt nach einem Hammer, der durch die Luft saust‘, korrigierte Hogelgard.
Padalupwe, fortan genannt Shmosh, lächelte und nahm einen großen Schluck Honigharz aus seinem Schnabelbecher. ‚Punkt eins hätten wir geklärt, bliebe da nur noch das Problem mit der Pforte und wie wir sie am besten verteidigen.‘
‚Kleinigkeit‘, seufzte Hogelgard und ließ sich auf einem Stein nieder. Shmosh reichte ihm den Becher, den der Kobold gerade so mit beiden Händen umklammern konnte.
Dann ließ auch Nimrod sich nieder und sah mit den anderen beiden dabei zu, wie sich das Sonnenlicht in dem Gold des Tores spiegelte und flirrend zurückgeworfen wurde, während er den Honigtrunk entgegen nahm.
Am nächsten Morgen erwachten Hogelgard und Shmosh beinahe zeitgleich, nur um festzustellen, dass der verbogene Schlüssel samt seines Hüters verschwunden war.
‚Ha, wusst’ ich’s doch! Der Zwerg hat uns ausgetrickst‘, schimpfte der Kobold sogleich und wirbelte so schnell mit seinem Schwert herum, dass kein Auge ihm folgen konnte.
Shmosh gähnte. ‚Und was, wenn ihm etwas passiert ist? Wir sollten ihn suchen.‘ Er rieb sich die Augen.
‚Und unseren Posten verlassen? Das will er doch nur, dieser durchtriebene …‘
Ein Liedchen pfeifend, trat Nimrod hinter einem Gebüsch hervor und zog seinen Gürtel straff. ‚Na? Gut geschlafen?‘
‚Was hast du mit dem Schlüssel gemacht?‘ Hogelgard drückte ihm die Schwertklinge gegen die Kehle, noch ehe Nimrod sie kommen sah.
‚Ruhig Blut. Ich habe ihn vergraben. An einer sicheren Stelle.‘
‚Ich sagte doch, das würde nicht nötig sein‘, erwiderte Hogelgard und ließ widerstrebend die Klinge sinken, als er Shmoshs schockierten Gesichtsausdruck bemerkte.
‚Und ich gehe lieber auf Nummer sicher‘, antwortete der Zwerg.
‚Sicher, was soll das überhaupt heißen? Ist sie etwa unter dem Gebüsch.‘ Der Kobold ruckte mit dem Kopf in die Richtung, aus der Nimrod zuvor erschienen war.
Der schürzte die Lippen und sah in die Luft. ‚Wer weiß?!‘
‚Also ist sie dort. Ist ja lächerlich. Sicher.‘
‚Von wegen. Ich geb’ dir gleich lächerlich.‘ Aus seinem Stiefel beförderte Nimrod einen länglichen Gegenstand hervor. Seinem Glänzen zufolge musste er aus Metall sein. Er zog ihn auseinander wie ein Fernrohr und deutete schließlich mit der verlängerten Spitze auf Hogelgards Hals. Zumindest hatte er dorthin gezielt, aber wieder einmal die fixen Bewegungen des Kobolds mit seinem Schwert unterschätzt. Statt auf ihn zu deuten, steckte der Gegenstand nun mit der Spitze voran im sandigen Boden. Nimrod starrte noch auf seine leeren Hände, während Hogelgard laut lachte. ‚Eine Klapplanze! Nicht dein ernst! Die sind so von gestern! Die Qualität taugt auch nichts. Typisch Zwerg.‘
In Nimrods Augen loderte Zorn. ‚Wenn mich nicht alles täuscht, stammt deine Klinge ebenfalls aus Zwergenschmieden. Als wäre ein ritterlich mittelalterliches Schwert der neueste Schrei unter den Waffen.‘
Hogelgard ließ die Knöchel knacken, bis sie weiß anliefen und taub wurden. Zwischen zusammengebissenen Zähnen zischte er hervor: ‚Nimm deine schäbige Rostlanze und stell dich dem Duell, von Zwerg zu Kobold.‘
‚Jungs‘, versuchte Shmosh sich einzumischen.
Nimrod zog die Lanze aus dem Sand und ging in Angriffsposition. ‚Irgendwelche letzten Worte, Hogelbart?‘
‚Ich heiße Hogelgard!‘
‚Juhungs!‘
Nimrod machte eine wegwerfende Handbewegung. ‚Morgen wird dein Name ohnehin vergangen sein. Vom Sande verweht!‘
‚Grrr. Nein, deiner!‘
‚Also Jungs, bitte, wenn ihr …‘
‚Das wollen wir ja mal sehen.‘
Die beiden begannen sich zu umkreisen wie Wespen im Bikini bei einem Ringerduell, als der Yeti jeden von ihnen mit jeweils einer Hand packte und von der Pforte fort in Richtung Horizont drehte. ‚Jungs, wir bekommen Besuch, und der wirkt reichlich unerfreut auf mich. Bestimmt hat ihm seine Mutter niemals Kekse zum Geburtstag gebacken.‘
‚Ja, das wird’s sein‘, knirschten Hogelgard und Nimrod. Sie verstärkten den Griff um ihre Waffen und wappneten sich für den Kampf, während die Staubwolke unaufhörlich näher rückte. Einige Lanzenlängen entfernt verlangsamte sie sich und blieb unvermittelt stehen. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, erkannten die Wächter endlich, was sich ihnen näherte. Das, was da auf spindeldürren Beinen auf die drei zuwankte, sah aus wie eine Mischung aus Stabheuschrecke und zerlumpter Steppdecke.
‚Ich glaub es nicht! Eine Steppschrecke‘, flüsterte Nimrod, und die drei Wachen rückten enger zusammen.
Ihr reichlich ramponierter Aufzug erklärte sich hauptsächlich aus Brandlöchern und jeder Menge loser Fäden, die von vielen vergangenen Kämpfen kündeten. Einer der Fäden diente zudem als Leine für das blutrünstigste Wesen aller Königreiche. Ein … weißes Kaninchen. Die Steppschrecke musste ein Magier sein! Nur jene wagten es diese Wesen mit ihrem Alltag unter einen Hut zu bringen. Das Kaninchen zog und zerrte an der Leine um seinen Hals und entblößte seine mümmelnden Schneidezähne. Sein Herr warf ihm zwei Möhren vor und die Wächter mussten mit ansehen, wie das Kaninchen das arme Gemüse binnen Sekunden zu Tode raspelte. Ein Tropfen Möhrensaft triefte von seiner weißen Schnauzen. Orange funkelte er in der steigenden Sonne.
Schließlich ertönte eine dumpfe Stimme aus den Eingeweiden der Steppdecke. Sie klang als habe der Sprecher sich ein Kissen auf die Zunge gelegt und Wattebäuschen in die Nase gestopft.
‚Schrecklich! Grauenvoll!‘, bibberte Shmosh und versuchte hinter dem winzigen Hogelgard in Deckung zu gehen, den Hammer vor die Augen gehoben.
‚Ich bin Ma Gier!‘
Hogelgard schnaubte und stieß Nimrod den Ellenbogen in die Seite. ‚Kein besonders einfallsreicher Name für einen Magier, oder?‘ Nur mit Mühe unterdrückte er ein Lachen.
‚Und ich komme“, fuhr Ma Gier fort, „die Herrschaft über das verborgene Königreich zu beanspruchen. Zunächst die Gewalt über das goldene Tor!‘
Shmosh vernahm eines seiner Stichworte und reagierte sofort. ‚Hey, Meister, Gewalt is’ nicht. Niemand tut dem Tor weh!‘
‚So, meinst du?‘, nuschelte Ma Gier zwischen ausgespuckten Flusen, beugte sich vor und ließ das Kaninchen von der Leine.
Vor Schreck verharrten die Wächter einen Moment lang wie gelähmt. Erst als sie das plüschige Tier mit seinem Puschelschwänzchen rasend auf sich zu hoppeln sahen, kam wieder Bewegung in ihre Glieder.
Nimrod reagierte als erster und präsentierte dem Kaninchen die Klapplanze, doch Ma Gier entriss sie ihm blitzartig wie ein Peitschenhieb mit einem seiner losen Fäden. ‚Wo ist der Schlüssel?‘, wisperte er halb erstickt.
‚Verrat es ihm nicht!‘, brüllte Hogelgard. ‚Alles, was er sieht, kann er mit den fiesen Fäden schnappen! Die sind verdammt wendig.‘
‚Was du nicht sagst‘, schrie Nimrod zurück und flüchtete vor dem Kaninchen einen Baum hinauf, der eher ein Beerenstrauch war und sich unter dem Zwergengewicht gefährlich durchbog. Mümmelnd und mit der Nase wackelnd drehte das Kaninchen seine Runden um den dürren Ast, starrte mit seinem bohrenden Hasenblick zu ihm herauf und hielt ihn so in Schach.
‚Einen Wächter hätten wir. Wer ist der nächste?‘, versuchte Ma Gier zu kreischen, verschluckte sich aber an den Daunenfedern, die aus einem der Brandlöcher quollen.
Ohne Vorwarnung rannte ihm Hogelgard entgegen. Das Schwert wirbelte in seiner Hand ungesehen von links nach rechts und wieder zurück. Ein loses Fadenende der Steppschrecke bekam es dennoch zu fassen, worauf ein erbitterter Kampf entbrannte. So schnell Ma Gier dem Kobold auch die Waffe entriss, so schnell zauberte der sein Ersatzschwert hervor, und während ein weiterer Faden nun nach jenem schnappte, sauste der Kobold nach vorn und holte sein altes zurück. Wieder schnappte ein Faden danach, bekam es zu fassen und zog es zu sich. Schon hatte Hogelgard wieder das vorherige in Händen. Die Gegner umwirbelten einander, bis wieder eine dichte Staubwolke aufwallte und sie vollständig vor den Blicken der anderen verbarg. Nur Stöhnen, Ächzen und Klirren in reger Abwechslung verrieten, dass beide noch lebten und weitere Schläge austauschten.
Unterdessen bog sich der Hauptzweig des Strauchs immer weiter unter Nimrods Last durch und knackte verdächtig. Der Schlüsselhüter zog die Füße ein, um den schnappenden Kiefern des Kaninchens zu entgehen.
Es hätte wohl ewig derartig weiterlaufen können – Decke gegen Kobold, Zwerg auf Zweig, Kaninchen geifernd darunter – oder zumindest solange, bis der Zweig des Zwerges endgültig brach, da spitzte das Kaninchen plötzlich die Löffel und wandte sich ab. Nimrod atmete auf, stutzte jedoch mittendrin und verschluckte sich beinahe am eigenen Atem.
Shmosh versuchte seinen Hammer über dem Kopf ins Schwingen zu bringen, doch das Sirren und Swooshen hatte die Aufmerksamkeit des weißen Ungetüms geweckt und seine mümmelnden Zähne auf den Plan gerufen. Es setzte zu einem weiten Hoppelhüpfer an, als sich Nimrod einem kleinen Schlüsselbund in seiner Tasche entsann.
Die eine Hand fest um den Zweig geschlungen, fummelte er es mit der anderen heraus und klimperte damit. Wieder drehte sich der Kopf des Kaninchens, und es hoppelte zu ihm zurück.
‚Gut, es funktioniert! Oh je, es funktioniert.‘
In diesem Moment gab der Strauch mit einem Knacken unter ihm auf und Nimrod fiel zu Boden. Jetzt war Schnelligkeit gefragt. Seine Hirnwindungen ratterten. Das Kaninchen war nahe, die rot glühenden Augen hielt es starr auf den Schlüsselbund gerichtet. Schlüssel, ja richtig, das musste funktionieren, überlegte der Zwerg noch, als sein Arm bereits ausholte. Nimrod warf den Schlüsselbund in hohem Bogen von sich und schrie: ‚Hol‘ das Schlüsselchen! Sei ein braves, Ninchen, na los! Hol’s!‘
Das Kaninchen hoppelte hinterher. Seine Schneidezähne schlugen gegen das Metall, und es kehrte um.
‚Oh nein, es kommt zurück.‘ Nimrod begann erneut zu rennen, doch das Kaninchen war schneller. Kaum hatte es ihn erreicht, ließ es den Schlüsselbund vor seine Füße klimpern, setzte sich auf die Hinterbollen und wackelte mit dem Stummelschwänzchen. Nimrods Augenbrauen wanderten nach oben. Zitternd streckte er eine Hand an der Kaninchennase vorbei, griff nach den Schlüsseln und schleuderte sie noch weiter fort. Wieder hoppelte das Kaninchen hintendrein.
Shmosh hatte die Ablenkung genutzt, um den Hammer in Schwung zu bringen. Nun ließ er ihn über seinem Kopf kreisen und stimmte im Takt des Stöhnens und Ächzens der Kontrahenten im Staub ein Schlaflied an. Er schmetterte aus voller Kehle, während der Hammer munter summte. Auf halber Strecke zurück zu Nimrod kippte das Kaninchen um und fiel auf die Seite. Die Schlüssel schepperten zu Boden. Auch das Ächzen und Stöhnen verstummte schlagartig. Stattdessen drang ein Schnarchen aus der Staubwolke, die sich allmählich legte und eine zusammengerollte Steppdecke mit gekräuselten Fäden und Fühlern enthüllte. Hogelgard war über und über von einer Dreckschicht bedeckt. Den Bart braun verfärbt wie vom Wetter gegerbt, stand er achsel- wie schwertzuckend neben der schlummernden Steppschrecke. ‚Sie muss vor lauter Erschöpfung umgefallen sein‘, sagte er mit knirschenden Sandpartikeln zwischen den Zähnen und spuckte staubigen Belag aus.
Doch Nimrod widersprach sogleich. ‚Damit hattest du nichts zu tun. Ausnahmsweise.‘
Er deutete auf Shmosh, doch sein Blick glitt an jenem vorbei zum Tor. Im Sand davor lag ein schlafender Hirschkäfer, der im Traum ab und an ein Grunzen vernehmen ließ. Nimrod eilte sofort darauf zu. Bei dem Insekt angekommen, begann er die Pforte in Augenschein zu nehmen und begutachtete jeden Millimeter. Am Schloss entdeckte er schließlich, wonach er gesucht hatte: Kratzspuren. Er nahm den Käfer auf die Hand. ‚Seht euch das an, natürlich eingebaute Knackwerkzeuge. Ma Gier, Das Kaninchen; alles ein Ablenkungsmanöver für ihren dritten … Mann, wenn man so möchte.‘
Shmoshs Stimme bebte. ‚Puh, dann war’s aber ganz schön knapp.‘
‚Wir haben ihn nicht mal bemerkt‘, brummte Hogelgard.
‚So sollte es ja auch sein.‘ Nimrod rieb sich die Nase. ‚Wenn Shmosh nicht …‘
‚Ich weiß.‘ Hogelgard legte Nimrod eine Hand auf die Schulter, die jener dankbar ergriff. Als sie die Nähe bemerkten, rückten sie voneinander ab und blickten verlegen zu Boden.
‚Ähm‘, druckste Nimrod, als ihm eine Ablenkung einfiel. ‚Schlussendlich war es doch gut, dass ich den Schlüssel vergraben habe, nicht wahr?‘, stichelte er.
‚Ja‘, stimmte Hogelgard knurrend zu. ‚Der wäre sonst sofort in den Fäden gelandet.‘
Nimrod nickte zufrieden.
‚Aber es war auch gut, dass ich mein Schwert so …‘, er fuchtelte damit herum, ‚… behände und fix gebrauchen kann.‘
‚Ja, in der Tat‘, musste nun wiederum Nimrod zugeben. ‚Das ist wahr.‘
Dann sahen die beiden einander an. ‚Aber ohne Shmoshs Schlaflied begleitet vom singenden Hammer hätten wir ganz schön alt ausgesehen‘, sprachen sie wie aus einem Munde.
Shmosh grinste breit. Eine Träne im Augenwinkel funkelnd, drückte er die beiden Wächter an sich, und dieses Mal strampelten sie nicht. Ein jeder drückte den Yeti so fest zurück wie er konnte, auch wenn sie das vor einander niemals zugeben würden.
Plötzlich prustete Hogelgard. ‚Kriege … keine … Nuft.‘
‚Oh, Verzeihung.‘ Shmosh ließ Zwerg und Kobold wieder frei.
‚Warum sind wir eigentlich nicht eingeschlafen?‘, fragte der Kobold und rieb sich die Rippen.
‚Beim Staub des Gerölls, ihr habt in friedlicher Verbundenheit von meinem Honigharz der Wildwaldwiesen gekostet und seid damit immun.‘
Sie nickten, aber irgendetwas stimmte nicht. Es erschien den drei Wächtern auf einmal so still um sie herum. Etwas schien zu fehlen, auch wenn ihnen im ersten Moment nicht klar war, was. Dann fiel es ihnen wie Schuppen von gegrillten Fischen. Das Schnarchen hatte ausgesetzt. Genau wie das Grunzen.
‚Sie werden wieder wach‘, rief Nimrod aus.
‚Na, warte! Gezähmtes Spürkaninchen, dressierter Einbrecherkäfer, faselnde Steppdecke …‘
‚Meinst du nicht fasernd?‘, verbesserte Nimrod.
‚Auch das. Jedenfalls hab ich genug für heute.‘ Damit sammelte Hogelgard Käfer und Kaninchen ein, legte sie neben die Steppschrecke und wickelte alle drei in die losen Fäden, deren Enden er sorgfältig miteinander verknotete. Dann rieb er sich die Hände. ‚So, das Paket wäre fachmännisch verschnürt. Shmosh nutz deinen Hammer doch mal, um Hilfe herbeizusingen. Die soll das Pack abtransportieren.‘
Nimrod Scriveldish hielt sich den Bauch.
‚Das ist gut, ein sirrender Hammer als … Sirene.‘
Hogelgard rollte mit den Augen und zuckte die Achseln, während der Yeti seine Muskeln spannte. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, schniefte Nimrod und wischte sich Tränen aus den Augen. ‚Schade eigentlich. An das Ninchen hätte ich mich gewöhnen können. Vielleicht behalten wir es.‘ Er griff nach dem Schlüsselbund und steckte ihn wieder in die Tasche.
‚Ist das Kritik an mir? Fängst du schon wieder einen Streit an? Soll ich meine Löffel wetzen?‘
‚Solange es nur deine sind, würd’ ich’s gern sehen, aber du hast recht, für heute reicht es.‘
Schlussendlich konnten die drei Wächter das Königreich bewahren. Nicht zum letzten Mal, aber immer gemeinsam.“
* * *
Die Fruhr- wie Kuhrlinge klatschten, während die Muhrlinge so taten, als klatschten sie nicht und einander verstohlene Blicke zuwarfen.
„Die drei Typen waren aber ganz schön schräg, so verbogen wie der komische Schlüssel“, warf Rohfuß ein.
„Manchmal trennt eben nur ein kleines R verbogen von verborgen“, sagte Guinee. „Und es ist ja wohl klar, worin hier eigentlich der verborgene Schlüssel bestand.“
Sie stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Oder etwa nicht?“ Sie warf einen Blick in die Runde. „Der Schneckenreiter hat es sogar selbst gesagt.“
„Aahhh“, rief da Raffnuss aus. „Jetzt verstehe ich. Es ist egal, wer von uns die Uhr kaputt gemacht hat. Vielleicht trifft auch niemanden die Schuld.“
Ein zustimmendes Raunen ging durch die Menge der Zuhörerschaft, die während der Erzählung noch weiter angewachsen war und folglich nun nebst der ganzen Stadt auch sämtliche Vögel der umgebenden Nistkreise umfasste. „Hauptsache“, fuhr Raffnuss fort, „wir sind uns einig …“
Der Schneckenreiter zwinkerte Guinee zu und die lächelte zurück.
„… einig, dass ich der Erste bin, der sie reparieren darf.“ Ob seiner brillanten Schlussfolgerung strahlte Raffnuss in die Runde und kassierte von Rufus prompt einen Stupser mit dem Schraubenschlüssel.
„Also wenn einer der Erste ist, dann jawohl ich! Das geht doch eindeutig aus der Geschichte hervor. Ich bin der Schlüsselträger!“ Er hob den Schraubenschlüssel über den Kopf und begann das Gehäuse der großen Uhr zu erklimmen.
Dem Schneckenreiter blieb nichts anderes übrig als zu seufzen. Er strich sich durch den Bart. Guinee schüttelte bloß den Kopf, während das Kabbeln und Raufen der drei Uhrwerker in eine neue Runde ging.