Читать книгу L(i)eber Bruder - Katharina Georgi-Hellriegel - Страница 5
ОглавлениеSamstag, 26. Mai 2001
Reinhard hat uns seit Weihnachten nicht mehr besucht, und so spreche ich ihn bei unserem heutigen Telefonat darauf an. Allerdings hat er gerade ganz andere Sorgen, denn er ist bei einer nächtlichen Fahrradtour gestürzt und offensichtlich überall grün und blau. Auch sein rechter Arm ist sehr in Mitleidenschaft gezogen, und ich empfehle ihm dringend, am Montag einen Arzt aufzusuchen, denn falls tatsächlich etwas gebrochen ist, helfen Hausmittelchen nicht. Seltsam ist allerdings, was Reinhard mir sonst noch erzählt: Obwohl er sich beim Essen sehr zurückhält und viel Sport treibt (deswegen auch der Radausflug in der Dunkelheit), nimmt er zu und hat einen aufgeblähten dicken Bauch. Sehr merkwürdig, mir fällt dazu keine plausible Erklärung ein, aber der Arzt sollte sich das auch mal ansehen.
Mittwoch, 30. Mai 2001
Meine Schwägerin Gabriela ruft an, um mir mitzuteilen, dass Reinhard heute ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Nicht etwa wegen seiner Sturzverletzungen, sondern wegen des Wassers im Bauch. Damit kann ich nun gar nichts anfangen, weil ich noch nie davon gehört habe, aber das Ganze klingt sehr ernst, denn offensichtlich funktioniert die Leber nicht so, wie sie eigentlich sollte. Diagnose: Leberzirrhose. Meine Schwägerin hört sich auch sehr besorgt an und fragt, ob ich nicht kommen kann, denn Reinhard ist ziemlich deprimiert. Ich verspreche meinen Besuch für das nächste Wochenende.
Pfingstsonntag, 3. Juni 2001
Am Nachmittag fahre ich mit dem Zug gen Norden und bin um 18.00 Uhr bei Reinhard im Krankenhaus. Ich habe ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen und erschrecke über seine Veränderung, denn abgesehen von dem dicken Bauch wirkt er viel dünner, obwohl er noch 88 kg wiegt, und die blauen und violetten Flecken vom Fahrradsturz ziehen sich über den rechten Arm und die gesamte rechte Körperseite. Die Leberprobleme haben sich verschärft, und nun wollen die Ärzte meinen Bruder durch die große medizinische Untersuchungsmangel drehen. Neben zahlreichen Blutentnahmen hat er bereits eine harmlose Ultraschalluntersuchung und eine weitaus belastendere, da ohne Betäubung vorgenommene Magenspiegelung hinter sich. Für die kommende Woche steht ihm auch noch einiges bevor, was sehr unangenehm klingt, aber dann wissen wir hoffentlich, was es mit diesem ominösen Wasser im Bauch auf sich hat. Er bekommt Entwässerungstabletten, damit die ca. 6-8 Liter Bauchwasser als Urin auf schonende Art und Weise ausgeschieden werden, denn vorher sind keine weiteren gründlichen Untersuchungen möglich.
Außerdem wurden in seiner Speiseröhre Varizen festgestellt, offensichtlich so eine Art Krampfadern, die bei Nichtbehandlung jederzeit platzen können und somit hochgefährlich sind, weil der Patient in einem solchen Fall schnell verblutet. Aber auch diese kann man erst abbinden und somit veröden, wenn das Wasser im Bauch zumindest reduziert wurde.
Reinhard, der bis auf seinen großen Autounfall vor 25 Jahren eigentlich immer der Gesündeste von uns drei Geschwistern war, kann sich mit der Krankenhaussituation nur schlecht abfinden, sieht aber ein, dass es besser ist herauszufinden, was dahinter steckt, denn so kann es auf keinen Fall weitergehen.
Ich versuche, Frohsinn zu verbreiten, aber angesichts seines Äußeren fällt es mir schwer. Die restliche Zeit meines ausgiebigen Besuches unterhalten wir uns über andere Dinge, denn im Augenblick ist es am wichtigsten, ihn aufzuheitern und dazu zu bewegen, im Krankenhaus auszuhalten, bis die endgültige Ursache sowie die Diagnose feststehen. Leider zeigt er deutliche Fluchttendenzen, weil auch die Aussagen der Ärzte nicht eindeutig sind. Es ist von einer Autoimmunerkrankung die Rede, aber das ist bisher wohl mehr ein Verdacht, weil die Ärzte ansonsten keinerlei Anhaltspunkte haben.
Ich übernachte bei Gabriela, und wir unterhalten uns bis 2 Uhr morgens über die dramatische Entwicklung von Reinhards Gesundheitszustand, die auch meiner Schwägerin Angst macht. Ich versuche sie zu beruhigen, aber mir muss ich eingestehen, dass mir das Ganze überhaupt nicht gefällt und ich mir große Sorgen mache.
Pfingstmontag, 4. Juni 2001
Den Vormittag verbringe ich wieder bei Reinhard. Der Disc-Player, den ich ihm gestern mitgebracht habe, hat ihm nachts schon gute Dienste geleistet und ihn etwas ablenken können.
Auf der Rückfahrt überlege ich mir, Dr. H. anzurufen. Er ist Spezialist auf dem Gebiet von Hepatitis und Lebererkrankungen und ich hatte vor kurzem zufällig seine Bekanntschaft gemacht. Vielleicht kann er uns raten, was zu tun ist. Das Kreiskrankenhaus, in dem Reinhard liegt, erscheint mir trotz des neuen und tadellosen äußeren Zustands nicht das Richtige, wenn es über die üblichen und landläufigen Erkrankungen hinausgeht. Reinhard braucht einen Fachmann, der nicht nur blind im Nebel stochert, sondern weiß, was er tut und wo er ansetzen muss.
Dienstag, 5. Juni 2001
Dr. H. kann auf Grund der Blutwerte (Gabriela hat mich mit allen möglichen diesbezüglichen Unterlagen bestens ausgerüstet) und der Tatsachen, die ich ihm schildere, keine eindeutige und schlüssige Diagnose stellen, meint aber, es wäre sicher besser, wenn mein Bruder nach Mainz in die Uniklinik ginge, denn dort arbeiten anerkannte Leberspezialisten, die sich auskennen und sicher die Ursache der Erkrankung herausfinden werden. Auf jeden Fall handelt es sich wohl um eine ernsthafte Sache, denn ohne Grund bekommt man nicht Aszites, wie Bauchwasser medizinisch heißt.
Reinhard nimmt meine Informationen zur Kenntnis, strebt aber momentan nur eine Entlassung aus dem Krankenhaus an und will mit den gewonnenen Untersuchungserkenntnissen lieber zu einem niedergelassenen Spezialisten gehen, um das Ganze ambulant weiter abzuklären.
Freitag, 15. Juni 2001
Telefonat mit Reinhard. Inzwischen hat er weitere unangenehme Untersuchungen und Behandlungen hinter sich, so z.B. die Leberpunktion und die Varizenabbindung im Rahmen einer erneuten Magenspiegelung. Mir wird ganz schlecht, wenn ich an die geschilderten Prozeduren auch nur denke, und ich würde Reinhard so gerne helfen, weiß aber nicht, wie. Noch immer tappen die Ärzte im Kreiskrankenhaus im Dunkeln und haben keine Erklärung für diese dramatische Entwicklung!
Sonntag, 17. Juni 2001
Besuch von Conrad, mit dem ich natürlich auch wieder vor allem über die plötzliche Erkrankung unseres Bruders spreche. Während eines gemeinsamen Telefonanrufs bei Reinhard erzählt der davon, dass die Varizenabbindung vorgestern stattfinden soll, korrigiert sich dann auf übermorgen, aber natürlich meint er, dass sie bereits stattgefunden hat. Ich bin sehr beunruhigt über diese offensichtliche Verschlechterung seines Befindens nach einer so genannten Bewusstseinsstörung, die dazu führte, dass er nicht mehr richtig schreiben kann und offensichtlich auch Wortfindungsprobleme hat. Mit Conrad, der nach mir mit ihm spricht, verläuft die Unterhaltung etwas besser und ohne größere Ausfälle, aber auch er hält Reinhards Zustand für sehr ernst.
Beim anschließenden Gespräch mit Dr. H., den ich in meiner Verstörtheit trotz Wochenende anrufe, erfahre ich, dass Ammoniak, das bei Aszites freigesetzt wird, das Gehirn vergiftet und deshalb Aussetzer wie gerade bei Reinhard ganz normal sind. Aber Dr. H. macht mir Hoffnung, dass diese Bewusstseinsstörungen nach erfolgreicher Behandlung wieder vergehen und nichts zurückbleibt. Da er so gelassen bleibt, werde auch ich wieder etwas ruhiger.
Mittwoch, 20. Juni 2001
Reinhards 52. Geburtstag. Sein schönstes Geschenk ist wohl, dass er heute aus dem Krankenhaus entlassen wird. Wir alle hoffen natürlich, dass das Schlimmste hinter ihm liegt, aber irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl und glaube nicht, dass dies schon alles gewesen ist.
Montag, 25. Juni 2001
Reinhard ist sehr schwach und müde, liegt viel im Bett, darf kein Salz und keine Milchprodukte zu sich nehmen und nur wenig trinken. Er hat sehr abgenommen und wiegt nur noch 75 kg (bei einer Größe von immerhin 1,83 m), und doch werten wir dies als positive Nachricht, denn es bedeutet, dass das Bauchwasser besiegt ist. Fast täglich erfolgen Kontrollen beim Gastroenterologen, doch ich habe den Eindruck, dass nur wenig vorangeht. Das ist auf jeden Fall kein Zustand, der lange andauern kann, sondern bestenfalls eine Zwischenlösung.
Eine positive Nachricht gibt es jedoch, denn Gabriela hat die Bürokratie ausgetrickst, indem sie gegenüber dem obigen Arzt behauptet hat, bereits einen Termin für die Lebersprechstunde in Mainz erhalten zu haben – der wundert sich zwar, denn eigentlich ist dort kaum ein Termin zu kriegen, aber er schreibt eine Überweisung aus. Und in Mainz sagt sie, sie habe bereits die Überweisung vom Facharzt – und bekommt prompt einen Termin.
Mittwoch, 27. Juni 2001
Reinhard fährt mit Gabriela zur Lebersprechstunde nach Mainz, und sie kommen mit einem Termin für den 13. Juli zur stationären Aufnahme auf der NSK9 wieder raus. Hoffentlich finden sie dort endlich die Ursache für all die seltsamen Beschwerden und Vorkommnisse.
Montag, 9. Juli 2001
Brief von Dr. H. nach Übergabe der uns zur Verfügung stehenden Blutwerte Reinhards:
Sehr geehrte Frau Georgi-Hellriegel,
anbei einige Anmerkungen zu den Unterlagen bezüglich der Erkrankung Ihres Bruders, die Sie mir übersandt haben: Endgültige Schlüsse lassen sich allerdings nicht daraus ziehen. Insgesamt zeigen die Werte, dass die Leberfunktion beeinträchtigt ist. Das erhöhte Volumen (MCV) der roten Blutkörperchen ist ein Merkmal einer Reifungsstörung, der erniedrigte Gerinnungswert deutet ebenfalls in die selbe Richtung und auch der einmalig erhöhte und dann nicht wieder bestimmte Ammoniakwert zeigt, dass die Syntheseleistungen gestört sind. Den Gallenstau repräsentiert der erhöhte Bilirubinwert und die erhöhten Werte für Serum-Transaminasen (Enzyme, die in der Leber lokalisiert sind) sind Merkmale der Schädigung der Leberzellen. Die Tatsache, dass es hier vom 30.5. bis zum 6.6. zu einem deutlichen Rückgang gekommen ist, deutet auf eine Verbesserung der Situation auf Grund der Abnahme des Staus hin. Auf Grund der Gabe von entwässernden Medikamenten, die offensichtlich fortgeführt wird, ist die Leber insgesamt entlastet worden. Die feingewebliche Untersuchung der Leber deckt sich insgesamt mit den Laborwerten. Allerdings kann man aus den mir vorliegenden Befunden nicht endgültig auf eine Ursache der Lebererkrankung schließen. Telefonisch haben Sie mir gegenüber ja auf einige weitere Werte hingewiesen, so unter anderem auf Anti-HCV, Anti-HAV (an Hepatitis-B-Marker kann ich mich nicht erinnern). Ich denke, dass man hier ja noch weiter suchen wird.
Für heute Grüße aus Wuppertal
Professor Dr. Dr. F. H.
Dienstag, 10. Juli 2001
Als Gabriela vom Einkaufen zurückkehrt, findet sie Reinhard verwirrt und desorientiert und mit Sprechschwierigkeiten vor. Der von ihr benachrichtigte Notarzt schreibt sofort eine Einweisung für die Klinik. Dort wird eine Darmreinigung per Klistier vorgenommen, da wegen schlechten Stuhlgangs zu viele Gifte im Körper zurückbleiben, die für die erneute Störung des Gehirns verantwortlich sind.
Dank des Internets, das heutzutage viele Nachforschungen erleichtert, habe ich mich bereits vor Tagen schlau gemacht über die Leber, entsprechende Störungen, Leberzirrhose und deren Folgen bzw. Behandlungsmöglichkeiten. Es ist erstaunlich, welche wichtigen Aufgaben die Leber in unserem Körper leistet, aber leider ist ein Ausfall bzw. eine Beeinträchtigung dieses Organs dann auch sehr dramatisch und einschneidend.
Meine Freundin Angela, mit der ich am Abend über unsere Sorgen spreche, erzählt mir von einer Fernsehsendung über eine Leberlebendspende, die vor Kurzem gelaufen ist – leider habe ich sie verpasst. Aber über die Internetadresse, die sie mir gibt, erfahre ich Hochinteressantes:
Die erste Leberlebendspende bei einem Kind wurde 1989 in Australien vorgenommen, bei einem Erwachsenen 1994 in Japan. 1991 wurde in Hamburg die erste Leberlebendspende bei einem Kind in Europa durchgeführt und bis heute wurde 102 Kindern ein Leberteil lebender Spender, d.h. ihrer Eltern transplantiert. Jedoch ist die Leberlebendspende zwischen Erwachsenen offenbar ein relativ neuer Zweig der Transplantationschirurgie, zumindest bei uns in Deutschland, der erst an wenigen deutschen Kliniken durchgeführt wird, wodurch aber für den Empfänger die durchschnittliche Wartezeit von einem Jahr bei einem Spenderorgan auf herkömmlichem Weg verringert werden kann. Anfang dieses Jahres wurden in Hamburg erstmals Leberlebendtransplantationen zwischen Erwachsenen vorgenommen, und in beiden Fällen verliefen die Operationen für Empfänger wie Spender komplikationslos. Das Tolle an dieser Geschichte ist – und nur deshalb ist es überhaupt möglich – dass die Leber offenbar das einzige Organ im menschlichen Körper ist, das sich innerhalb weniger Wochen wieder vollständig regenerieren, also zu seiner ursprünglichen Größe heranwachsen kann. Transplantiert, d.h. vom Spender zum Empfänger übertragen wird dabei der rechte Leberlappen, da er den größeren Teil der Leber ausmacht und man so individuell den Anteil bestimmen kann, der je nach Größe und Gewicht des Empfängers variiert. Das Risiko für den Spender beträgt ungefähr 0,4 %, und als Spender kommen nur Personen in Frage, die erwachsen sind, keine ernsthaften Erkrankungen hatten und über eine gesunde Leber verfügen. Auch die genetische und emotionale Verwandtschaft ist offenbar sehr wichtig und natürlich die Freiwilligkeit der Spende, d.h. niemand darf den Spender unter Druck setzen, sondern er muss sich unabhängig und frei für diese Spende entscheiden. Wichtig für eine erfolgreiche Transplantation sind weiterhin:
Blutgruppenverträglichkeit,
ausgewogenes Größenverhältnis zwischen rechtem und linkem Leberlappen,
psychologische, morphologische und anatomische Eignung.
In einer anderen Publikation finde ich den Hinweis, dass „trotz ausgiebiger vorbereitender Untersuchungen die Lebendspende ein hohes Risiko für den Spender“ bedeutet – offensichtlich sind sich die Ärzte und Verantwortlichen noch nicht so recht einig darüber, denn die oben genannten 0,4 % finde ich nun nicht so rasend hoch.
In der Schweiz hat eine Frau ihrem Mann durch eine Leberlebendspende geholfen, und die Operation verlief trotz einer speziellen Komplikation erfolgreich. Obwohl sowohl Spenderin wie Empfänger bereits über 50 Jahre alt sind, geht es beiden gut.
Ich verbringe den Abend vor dem PC, staune über die heutigen medizinischen Möglichkeiten, drucke vieles aus, markiere das Wichtigste und schicke es Reinhard. Irgendwie tröstet es mich ein wenig, dass es noch eine Hilfsmöglichkeit gibt, wenn alle Stricke reißen und es zum Allerschlimmsten kommen sollte.
Donnerstag, 12. Juli 2001
Reinhard wird aus dem Krankenhaus entlassen – wir alle hoffen, dass dies die letzte Bewusstseinsstörung war, denn die Auswirkungen sind katastrophal. Aber morgen muss er sowieso in die Uniklinik Mainz, und dort sollten die Ärzte endlich die Ursache für das ganze Übel herausfinden!
Freitag, 13. Juli bis Samstag, 28. Juli 2001
Stationärer Aufenthalt Reinhards in der Uniklinik Mainz. Der Befund Leberzirrhose wird erhärtet. Die Ärzte untersuchen Reinhard noch einmal gründlich und kümmern sich um das Bauchwasser, das noch immer – wenn auch nicht mehr in den vorherigen Mengen – vorhanden ist. Doch nun scheint die Lage unter Kontrolle zu sein, die Leberwerte sind stabil und gut und es scheint besser zu gehen. Außerdem kontrollieren sie die in G. vorgenommene Verödung der Varizen, was offensichtlich gut geklappt hat.
Bei der Entlassung bekommt Reinhard Kortisontabletten, die er nehmen soll, um die diagnostizierte Autoimmunerkrankung in den Griff zu bekommen. Keine schöne Therapie, aber wenn sie hilft... Außerdem muss er sehr streng Diät halten und darf praktisch nichts mehr essen, was ihm schmeckt. Auch das eigenhändige Autofahren ist verboten – was keiner von uns versteht, denn er ist stabil und eine Bewusstseinsstörung ist zum Glück nicht mehr aufgetreten. Natürlich ist Reinhard von all den Ereignissen, die seit fast zwei Monaten ihn und die ganze Familie beunruhigen und auf Trab halten, ziemlich geschwächt. Er hat noch einmal Gewicht verloren und wiegt jetzt nur mehr 72 kg. Doch seine Willenskraft ist ungebrochen, und er ist wild entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Im Krankenhaus hat er täglich per Treppentraining – sein Krankenbett steht im 9. Stock! – seine Muskeln trainiert, und er ist stolz, dass er das trotz der belastenden Vorfälle schafft. Man bezeichnet ihn im Krankenhaus auch als „halbkrank“, was uns Hoffnung gibt, denn wenn die Ärzte das alles als nicht so dramatisch einschätzen, sollten auch wir uns keine zu großen Sorgen machen. Trotzdem sitzt das ungute Gefühl über die rasche Entwicklung tief in mir, doch ich will daran glauben, dass Reinhard bald wieder auf dem Damm ist!
Montag, 30. Juli 2001
Keine Reaktion auf meinen Brief mit den Informationen wegen der Lebertransplantation. Bei einem Telefonat mit Reinhard höre ich nur: „Nein, das kommt nicht in Frage!“ Gabriela erklärt mir später, sie habe mit ihm darüber gesprochen, und er habe die Materialien durchaus gelesen, aber er wolle weder mich noch sonst jemanden aus seiner Familie mit hineinziehen! Auch mir ist es natürlich viel lieber, wenn es überhaupt nicht so weit kommt, aber ich habe ein schlechtes Gefühl und mir wäre es Recht, wenn er sich mit diesem Thema wenigstens theoretisch auseinandersetzen würde!
Da Reinhard nicht Auto fahren darf, hat er seinen geleasten Vectra an Opel zurückgegeben und ist jetzt viel mit dem Fahrrad unterwegs. Außerdem geht er schwimmen und steigt Treppen und läuft spazieren, um bald wieder seine frühere Fitness zurückzuerlangen.
Mittwoch, 1. August 2001
Reinhard fühlt sich einigermaßen wohl, hält sich brav an seine Diätvorschriften, achtet auf regelmäßigen Stuhlgang, um eine neuerliche Vergiftung des Körpers und damit eine Bewusstseinsstörung zu vermeiden, und wir sind alle erleichtert, dass es den Ärzten offensichtlich gelungen ist, seine Erkrankung in den Griff zu kriegen. Ich habe diese Autoimmunerkrankung im Stillen zwar immer angezweifelt, aber ich hatte wohl Unrecht. Sie ist zwar sehr selten, aber dafür umso unangenehmer, doch mit Hilfe von Kortison kann man mit ihr fertig werden. Allerdings macht uns das auch nicht gerade froh, denn Kortison ist ein hochwirksames Medikament mit oft üblen Nebenwirkungen, und wir hoffen, dass es nicht auf Dauer genommen werden muss. Aber im Augenblick bleibt uns keine Wahl, denn die Alternative ist noch schlimmer.
Freitag, 3. August 2001
Heute Nachmittag wurde Reinhard zu Hause von einer neuerlichen Bewusstseinsstörung getroffen, die zwar im Vergleich zu den vorhergegangenen relativ harmlos mit einer leichten Desorientierung begann, sich aber furchtbar entwickelte. Gabriela fuhr Reinhard sofort nach Mainz, aber bereits auf der Fahrt dorthin verschlechterte sich sein Zustand dramatisch – wir alle haben große Angst um Reinhard.
Sonntag, 5. August 2001
Liebe Silvia,
mein Bruder liegt seit Freitag wieder im Krankenhaus in Mainz – diesmal wirklich schlimm! Er ist nicht mehr ansprechbar und sein Zustand sehr ernst. Die Ärztin hat meine Schwägerin getröstet, dass sie schon öfter Patienten in diesem Zustand hatten und dass er wieder in Ordnung kommt, aber eine Transplantation ist offenbar unvermeidlich. Das Problem ist, dass bis dahin mindestens ein halbes Jahr vergehen wird, und wir wissen bisher nicht, wie die Ärzte ihn so lange stabilisieren wollen und wie das Ganze überhaupt funktionieren soll. Wir können momentan nur warten und das Beste hoffen – ich mache mir große Sorgen!
Think of us!
Traurige Grüße von Deiner Katharina
Montag, 6. August 2001
Reinhard ist nach drei Tagen Koma endlich wieder ansprechbar, und offensichtlich hat er diese dritte und schwerste Bewusstseinsstörung gut überstanden, wenn er jetzt natürlich auch immer mit dem Schlimmsten rechnet und sich ständig vergewissert, dass er noch „normal“ ist. Die vergangenen Tage waren furchtbar, denn mein Bruder war völlig weggetreten, hatte überhaupt keine Kontrolle über seine Körperfunktionen und wurde sogar im Bett festgeschnallt, um nicht hinaus zu fallen. Wir sind heilfroh, dass er sich wieder so gut erholt hat. Ich spreche ihn bei einem Telefonat noch einmal auf die Lebendspende an. Zwar versichert mir Reinhard, dass er die Informationen gelesen hat, aber er will nach wie vor nichts davon wissen, sondern lehnt diese Art der Hilfe kategorisch ab. Auch Gabriela kann nichts ausrichten, obwohl sie sich natürlich zunehmend Sorgen macht, worauf das alles hinauslaufen wird. Die Diagnose Autoimmunerkrankung ist seit den jüngsten Ereignissen hinfällig, denn offensichtlich hat das Kortison überhaupt nichts bewirkt. Nun verstehen wir auch das Fahrverbot, denn die Ärzte rechneten wohl damit, dass wieder eine Bewusstseinsstörung auftreten könnte, falls die Diagnose nicht zuträfe, und das wäre am Steuer natürlich noch fataler gewesen.
Ich rufe Reinhards besten Freund an und bitte ihn, mit Reinhard wegen der Lebendspende zu reden, denn langsam weiß ich nicht mehr, wie ich ihn dazu bewegen könnte, und bei dieser rapiden Entwicklung seiner Krankheit sollten wir uns auf alles vorbereiten. Ich will mich wirklich nicht vordrängeln und bin keineswegs scharf auf eine Operation, aber ich muss mir eingestehen, dass meine Angst um Reinhard kontinuierlich größer wird, zumal die Ärzte noch immer – oder wieder – völlig im Dunkeln tappen, was die Ursache von Reinhards Erkrankung betrifft.
Mittwoch, 8. August 2001
Seit Montag sind mein Sohn und ich bei meinem ältesten Bruder Conrad und Familie zu Besuch, und heute morgen rief Gabriela sehr aufgeregt hier an, um zu fragen, ob ich schnellstmöglich nach Mainz kommen könne. Bei der heutigen Visite hat Reinhard, der wohl langsam einsieht, wie ernst sein Zustand ist, mit dem Arzt über die theoretische Möglichkeit einer Lebendspende gesprochen und meine Person ins Spiel gebracht. Natürlich kann und werde ich kommen, möchte aber einen konkreten Termin mit dem behandelnden Arzt, um nicht ins Blaue hinein zu fahren und möglichst viele Informationen über das ganze Procedere zu erhalten. Später meldet Gabriela sich noch einmal und nennt mir den kommenden Montag als festen Termin mit dem Oberarzt.
Donnerstag, 9. August 2001
Gemeinsam mit Conrad erarbeite ich eine ausführliche Frageliste, damit ich für das Gespräch am Montag gut präpariert bin. Wir diskutieren bis spät in die Nacht über die ganze Thematik, und Conrad ist meiner Ansicht: Wenn die Lebendspende möglich und relativ risikolos für mich ist, bietet sie eine gute Chance, Reinhard zu helfen. Conrad selbst würde es auch für unseren Bruder tun, aber da ich die Gesündere und Jüngere von uns beiden bin, eigne ich mich sicher besser. Mein Gefühlszustand schwankt zwischen Euphorie, weil endlich etwas vorangeht und sich eine Lösung abzeichnet, und aufsteigender Unruhe, denn natürlich habe ich auch Angst vor einer Operation und den damit verbundenen Begleitumständen. Glücklicherweise habe ich in Conrad einen Gesprächspartner, der mit mir zusammen Für und Wider erwägt, mich zu nichts drängt, aber mich unterstützt, wo es nötig ist. Conrad spendiert einen guten trockenen Weißwein, denn ich habe beschlossen, dass dies bis auf Weiteres mein letzter Alkohol sein soll, damit meine Leber rein vorsorglich in möglichst gutem Zustand ist.
Samstag, 11. August 2001
Rückkehr nach Hause. Abends spreche ich mit Gerd über die neuesten Entwicklungen – mit leichten Bauchschmerzen, denn ich habe wirklich keine Ahnung, wie er auf meinen Entschluss reagieren wird. Was soll ich machen, wenn er mich für verrückt erklärt und mit dem Hinweis auf unseren 5-jährigen Sohn das Ganze als unmöglich betrachtet?! Würde ich es schaffen, mich über seine Ablehnung hinweg zu setzen und das Ganze trotzdem durchzuziehen?
Glücklicherweise reagiert er wunderbar und sagt sofort, nachdem er sich Risiken etc. hat erklären lassen: „Natürlich machst du das, wenn du damit deinen Bruder retten kannst. Und wenn deine Blutgruppe nicht passt, lasse ich mich auch untersuchen, ob es vielleicht mit meiner funktioniert.“ Ich bin sehr erleichtert, denn so einfach hatte ich es mir nicht vorgestellt, auch wenn er sich schon immer sehr gut mit Reinhard verstanden hat. Sein Angebot, sich selbst zur Verfügung zu stellen, wenn meine Blutgruppe nicht geeignet ist, rührt mich sehr, denn das ist noch weniger selbstverständlich als mein eigener Entschluss – schließlich ist Reinhard nur sein Schwager!
Sonntag, 12. August 2001
Liebe Silvia,
heute Nachmittag fahre ich nach Mainz, um Reinhard zu besuchen und am Montag mit seinem Arzt ein Gespräch zu führen. Es wird jetzt wohl ernst, und ich hoffe, mehr über die Leberlebendspende zu erfahren. Ich habe mich schon so gut es geht per Internet informiert und in der Zeit in Augsburg mit Conrad viel darüber diskutiert, aber einige Fragen bleiben noch. Ich hoffe, dass alle nötigen Faktoren kompatibel sind und ich meinem Bruder so aus der Patsche helfen kann. Natürlich habe ich auch Angst davor, aber ich denke, 0,4 % Risiko (für mich, für den Empfänger liegt es bei 7-9 %) kann man beruhigt eingehen. Es ist wirklich ziemlich furchtbar, aber ich will meinen Bruder nicht verlieren! Drück uns die Daumen! Mir wächst gerade alles ein wenig über den Kopf und ich schlafe schlecht.
In diesem Zusammenhang habe ich noch Fragen an Dich, denn meines Wissens besitzt Du ja keine Gallenblase mehr. Kannst Du mir bitte baldmöglichst Nachteile, Probleme, Beschwerden, Diätvorschriften etc. zu diesem Thema zukommen lassen? Danke im Voraus!
Ansonsten hoffe ich, dass wenigstens bei Euch alles in Ordnung ist.
Eilige Grüße von Deiner Katharina