Читать книгу L(i)eber Bruder - Katharina Georgi-Hellriegel - Страница 7

DAS WARTEN

Оглавление

Es gibt zweifellos gewaltige und vielfältige Unterschiede zwischen den Ländern und Kulturkreisen dieser Erde, aber es gibt auch Dinge, über die weitgehend Einigkeit besteht. So gilt das Warten wohl überall auf der Welt als eine der zeitraubendsten Beschäftigungen, die es gibt. Ebenfalls kulturübergreifend scheint die Tatsache zu sein, dass das Kranksein bzw. das Gesundwerden fast immer beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt, und so ist es nicht verwunderlich, dass Arztpraxen und Krankenhäuser diejenigen Orte sind, an denen pro Person und Quadratkilometer am häufigsten und am längsten gewartet wird.

Diese Zusammenhänge waren mir zwar im Wesentlichen schon zu Beginn meiner Krankheit bekannt, es hat mich dann aber doch überrascht, dass auf dem Gebiet des Wartens auch kleinere, eher schlicht ausgerüstete Heilanstalten in der südhessischen Provinz Erstaunliches zu leisten vermögen. Ich denke da besonders an das Kreiskrankenhaus, welches ich zum Auftakt meiner Patientenkarriere für etwa drei Wochen besuchte – eine Zeit, die mir damals lang vorkam, heute in der Rückschau jedoch war sie nicht mehr als eine kleine Vorbereitung auf viele großartige und eindrucksvolle Warte-Erlebnisse, die mir noch bevorstehen sollten.

Immerhin erwiesen sich die drei Wochen im Krankenhaus als lang genug, um vergeblich auf eine zu meiner Krankheit passenden Diagnose zu warten. Einig waren sich die Ärzte am Ende dieses Zeitraums lediglich darüber, dass ich von einer schweren Leberzirrhose gekennzeichnet sei, die – auch das war weitgehend abgeklärt worden – dringend der Behandlung bedürfe. Darüber, wie eine solche Behandlung aussehen könnte, gingen die Meinungen schon deshalb auseinander, weil es keine Meinungen gab – wenigstens keine, die irgendwelche therapeutischen Konsequenzen für mich gehabt hätten.

Allerdings, dies sei der Gerechtigkeit halber angefügt, diagnostizierte man einige Schäden, die die schlecht funktionierende Leber in meinem Körper bereits angerichtet hatte, und man reparierte sie sogar, soweit dies möglich war. Die schwere Zirrhose hatte die Leber, die ja im Wesentlichen ein Blutfilter ist, nahezu undurchlässig gemacht, was zwei fatale Folgen hatte: Zum einen reicherte sich mein Blut zunehmend mit Gift- und Abfallstoffen an, zum anderen suchte sich das sonst die Leber frei durchströmende Blut andere Wege, wobei diese dann wesentlich intensiver als sonst beansprucht wurden. Dies hatte bereits im Magen- und Speiseröhrenbereich stattgefunden. Unter dem Druck des umgeleiteten Blutes hatten sich dort Krampfadern (Mediziner sprechen von Varizen) gebildet, die in G. im Verlauf mehrerer Magenspiegelungen zunächst festgestellt und anschließend verödet worden waren. Dies war fachgerecht und gründlich geschehen, so dass auch Monate später keine Nachbesserungen notwendig wurden. Vor allem aber blieb mir durch diese Eingriffe Folgendes erspart:

Nicht selten nämlich platzen solche Krampfadern in der Speiseröhre und lösen starke innere Blutungen aus, die dann dem Leberkranken die Möglichkeit eines raschen Todes eröffnen. Im Vergleich zu der Alternative, als zeitraubender Pflegefall zu enden, hat das zwar Vorteile, aber für den, der noch eine Weile leben möchte, stellt die Verödung dieser Krampfadern zumindest vorübergehend einen wertvollen Zeitgewinn dar.

Das Hauptproblem allerdings blieb am Ende meines ersten Krankenhausaufenthaltes so ungeklärt wie zuvor. Alle beteiligten Ärzte waren sich sicher, dass sie nicht wussten, welcher Auslösekrankheit ich meine Leberzirrhose zu verdanken hatte. Nachdem keinerlei Hepatitisviren festgestellt worden waren und ich auf wiederholte Fragen nach meiner Neigung zum Alkohol hartnäckig mit „Nein“ geantwortet hatte, einigte man sich schließlich auf diese Nicht-Diagnose. All dies hatte zwar einiges an Zeit erfordert, während der ich immer wieder Gelegenheit zu ausgiebigem Warten gehabt hatte, aber schließlich waren doch alle Hinhalte- und Vertröstungsmöglichkeiten erschöpft und ich wurde entlassen.

„Auf nach Hause“ hieß also nach 22 Tagen am 20. Juni 2001 die Devise, und so kam es, dass ich den Abend meines 52. Geburtstages bereits außerhalb der Klinikmauern erleben konnte. Es wurde eine ruhige Feier, da ich zu dieser Zeit fast immer müde und schlapp, also alles andere als gesund war. Das blieb auch so während der kommenden zwei bis drei Wochen, die ich deshalb zum größten Teil verdöste, verschlief oder eben auch verwartete. Zwar wusste ich nicht genau, worauf ich zu Hause wartete, aber dass es nicht um meine baldige und endgültige Genesung ging, das war mir klar, wenigstens soweit erinnere ich mich noch.

Darüber hinausgehende Gedanken schleppten sich damals nur zögernd durch mein Hirn, denn dieses befand sich wegen der ungenügend arbeitenden Leber in einem deutlich beeinträchtigten Zustand. Das einzig Angenehme an dieser Situation war, dass ich als Besitzer eines derart getrübten Bewusstseins meine eingeschränkte Leistungs- und Leidensfähigkeit damals kaum zur Kenntnis nahm.

So konnte es mich ein wenig später auch nicht grundsätzlich erschüttern, als ich anlässlich eines akuten Leberkomas zwar nicht gänzlich bewusstlos, aber noch weniger bei Trost als sonst in die Universitätsklinik Mainz eingeliefert wurde. Dort sollte ich während der kommenden Monate genug Gelegenheit bekommen, neue und wertvolle Erfahrungen auf dem Gebiet des Wartens zu machen; schließlich befand ich mich hier, auch wenn ich es damals noch nicht ahnte, in einer Hochburg europäischer Wartekultur und damit an einem Ort, an dem eigentlich nur der Geduldige auf Dauer existieren kann.

Unglücklicherweise bin ich nicht besonders geduldig, aber dass ich dort mit dem Überleben während der nächsten Monate meine liebe Not hatte, war natürlich nicht so sehr darauf zurückzuführen, sondern zunächst einmal auf die erneute Ratlosigkeit der Ärzteschaft, was meine Krankheit anging.

Die Mainzer Mediziner allerdings näherten sich dem Mangel an Erkenntnis eher wissenschaftlich – schließlich befand ich mich ja in einer Universitätsklinik. Es gab also von Neuem tatkräftige Versuche, eine Diagnose zu erstellen, und wenn auch das Ergebnis dem vorhergehenden im Kreiskrankenhaus am Ende in nichts nachstand, so benötigte man doch für mannigfaltige Untersuchungen wiederum viel Zeit, die von mir vor allem mit Warten ausgefüllt wurde. Manchmal aber sorgte das Klinikpersonal für kleine Auflockerungen in diesem langwierigen Prozess.

So konnte es zum Beispiel geschehen, dass ich nach schwierig verbrachter Nacht in eher trüber Stimmung die erste Mahlzeit des Tages erwartete. Zu diesem Zweck beobachtete ich vom Krankenbett aus mit einiger Schärfe die über der Tür angebrachte Uhr, übrigens eine gute Methode, wenn es darum geht, die Zeit des Wartens besonders lang werden zu lassen. Plötzlich gab es eine Unterbrechung – eine halbe Stunde vor der Frühstückszeit betrat eine morgenfrische Krankenschwester mein Zimmer und rief mir fröhlich zu: „Herr Georgi, Sie wissen ja, heute gibt’s kein Frühstück wegen der Magenspiegelung!“

Natürlich lag mir sogleich die Frage „Welche Magenspiegelung?“ auf der Zunge, aber ich begnügte mich mit einer zustimmenden Kopfbewegung, weil ich mittlerweile gelernt hatte, dass Lücken im Kurzzeitgedächtnis von Leberkranken an der Tagesordnung sind. Allerdings hatte ich manchmal den Verdacht, dass man sich dies in meiner Umgebung zunutze machte, indem man locker und wider besseres Wissen behauptete, man habe mir dies oder jenes doch erst kürzlich deutlich gesagt, und jetzt wüsste ich mal wieder nichts mehr.

In diesem Fall aber hätte mir ein Hinweis darauf gar nichts genutzt, weil es ja schließlich keinen Grund zur Veranlassung gab. Ich brauchte, nachdem die Schwester wieder gegangen war, einfach nur weiter zu warten, lediglich das Ziel meines Strebens hatte sich geändert: Statt „Frühstück“ hieß es jetzt eben „Magenspiegelung“.

Die Stunden kamen und gingen, meine Mitpatienten hatten sich längst das Frühstück, welches übrigens noch die am ehesten genießbare Mahlzeit des Tages war, einverleibt; ich dagegen harrte aus, mit leerem und nach wie vor ungespiegeltem Magen.

Im Verlauf des Vormittags unterbrach ich mein Warten, indem ich durch das Anlesen einer langweiligen Geschichte einen Leichtschlaf provozierte – eine innovative Technik, die ich noch nicht oft und noch nie mit Erfolg erprobt hatte. Diesmal gelang sie auf Anhieb, und so weckten mich erst die klappernden Geräusche wieder, die beim Austeilen des Mittagessens entstanden. Nicht dass ich auf diese bescheidene Mahlzeit besonders scharf gewesen wäre, aber um mich zu vergewissern, ob ich als medizinisches Untersuchungsobjekt überhaupt noch von Interesse war, erkundigte ich mich beiläufig aus dem Bett heraus nach der anberaumten Untersuchung.

„Das kann jetzt jeden Moment passieren!“, überraschte mich der freundliche Pfleger und fügte in vertraulichem Ton hinzu: „Wissen Sie, am Montag ist ziemlich viel los in der Gastroskopie, da kann es schon mal ein bisschen länger dauern!“

Nach einer weiteren halben Stunde, ich hatte gerade erst so richtig mit dem Weiterwarten begonnen, erschreckte mich fast die plötzliche Aufforderung der Stationsschwester, eben sei angerufen worden, und ich solle mich jetzt ganz schnell in den ersten Stock begeben. Sie drückte mir meine Krankenakte in die Hand und ich trabte los.

Acht Stockwerke tiefer sprach ich bei einer weiß bekleideten jungen Dame vor, die offensichtlich mit meinem Kommen gerechnet hatte. Flink entnahm sie mir die mitgebrachten Papiere und gab mir im Gegenzug einen wertvollen Hinweis: Ich möge doch einfach das nächstgelegene Wartezimmer aufsuchen, was ich dort zu tun hätte, wüsste ich ja sicher.

Normalerweise wäre nun stundenlanges weiteres Warten mein Schicksal gewesen, aber diesmal hatte ich, durch Erfahrung klug geworden, heimlich vorgesorgt. Kaum dass ich in dem nur schwach besetzten Raum Platz genommen hatte, schlug ich auch schon demonstrativ mein mitgebrachtes Buch auf und signalisierte den Wartegöttern auf diese Weise, dass mich erneuter Zeitverzug keineswegs schrecken könne, weil ich auf alles vorbereitet sei. Tatsächlich trat nach wenigen Minuten die von mir beabsichtigte Wirkung ein. Etwa so, wie ein mitgenommener Regenschirm die Verantwortlichen davon abzuhalten vermag, Regen zu produzieren, brachte es das beschwörend aufgeschlagene Buch zustande, nach wenigen Minuten einen Arzt vor mich hin zu zaubern, der mich sogleich tatendurstig begrüßte. Gleich anschließend begann er, ohne das Wort „warten“ auch nur in den Mund zu nehmen, mit Hilfe einer mitgebrachten Assistentin die Spiegelung meines Magens nicht nur vorzubereiten, sondern auch durchzuführen.

Viel später, als ich nach vollbrachter Untersuchung immerhin noch vor Anbruch der Dunkelheit auf die Station zurückgekehrt war und zufrieden in meinem aufgewärmten Mittagessen herumstocherte, war ein Kliniktag zu Ende gegangen, der – gemessen an manch anderen – durchaus das Prädikat „erfolgreich“ verdient hatte.

Dieser Bericht über das Warten an der ehrwürdigen Universitätsklinik Mainz wäre nicht vollständig, wenn die Schilderung einer wahrhaft erhabenen Szene unterbleiben würde, die sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis eingegraben hat. Sie spielte viele Monate nach meiner Transplantation, in einer Zeit also, in der mein Gedächtnis wieder gut funktionierte, und ich kann sie deshalb detailliert und authentisch wiedergeben.

Schauplatz ist die Hautklinik, ein nicht mehr ganz neues Hochhausgebäude auf dem weitläufigen Klinikgelände, äußerlich eher unscheinbar, aber das halbdunkle, geräumige Innere enthält alles, um auch den verwöhnten Freund des besonderen Warteerlebnisses jederzeit und vollständig zufriedenstellen zu können.

Wäre es nicht vom Baujahr des Hauses her ausgeschlossen, so würde es mich nicht wundern, wenn in einem der vielen spärlich beleuchteten Flure neben all den farbenprächtigen Hinweisschildern eine Messingtafel daran erinnern würde, dass hier einst auch Franz Kafka behandelt worden sei oder wenigstens versucht habe, zu einem der vielen, in schwer zugänglichen Behandlungsräumen verborgenen Hautärzten vorzudringen.

Genau das war jetzt meine Aufgabe. Ich wurde von meiner Stammklinik, in der ich diesmal nur für ein paar Tage blieb, mit einem Überweisungsschein hierher geschickt, der einen Arzt dieser Klinik zu einer Untersuchung meiner Körperoberfläche berechtigte. Es sollte nachgesehen werden, ob sich irgendwelche Hautveränderungen nach der Transplantation zeigten, die mittlerweile schon fast ein Jahr zurücklag.

Dementsprechend betrat ich das weit verzweigte Innere des gewaltigen Gebäudes in gutem physischen Zustand – eine günstige, wenn nicht sogar notwendige Voraussetzung, denn das, was mir jetzt bevorstand, erforderte den ganzen, möglichst gesunden Mann.

Die vielfältigen, durchweg in hübschen Signalfarben gehaltenen Orientierungshilfen waren mit ihrer überwiegend fachlichen Diktion leider nur schwer für mich zu durchschauen; wahrscheinlich, so dachte ich mir, sollten sie dem hier beschäftigten Personal das tägliche Auffinden des Arbeitsplatzes erleichtern und waren weniger für herumirrende Patienten wie mich gedacht. Zögernd verharrte ich gerade, um den Sinn eines besonders prächtigen Exemplars zu entschlüsseln, während ständig vorbeihuschende Weißkittel beiderlei Geschlechts dem Hindernis, das ich darstellte, geschickt auswichen. Als ich endlich beschloss, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, stellte ich fest, dass die schnellen Geschöpfe zwar nicht leicht zu bremsen waren, jedoch – einmal gestellt – durchaus freundlich darauf zu reagieren vermochten, zum Beispiel mit der Frage „Wo wollen Sie denn hin?“.

Ich präsentierte mit bittendem Lächeln mein Überweisungspapier, das vom Personal geschickt interpretiert wurde und zu Wegbeschreibungen führte, die mich nach wenigen Fehlversuchen schließlich ans Ziel brachten: einen gut gefüllten Wartesaal, aufgehellt sogar durch einige Fenster, wenn es auch nur ein düsterer Innenhof war, auf den der Blick freigegeben wurde.

Meine Aufmerksamkeit galt allerdings zunächst einer Glastüre an der entgegengesetzten Stirnseite des Raumes, auf der ein großes Schild mit dem Wort „Anmeldung“ befestigt war. Neben diesem auffordernden Hinweis fand sich jedoch auf dem Mauerwerk neben dieser Türe ein weiteres, wertvoll-gläsernes Schild mit der Aufschrift „Bitte warten“, und zwar leuchteten hier prächtige weiße Buchstaben auf rotem Grund. Eine solche eher widersprüchliche Schilderkombination war mir bisher noch nicht untergekommen; als erfahrener Patient weiß ich jedoch, dass manche Gebote der Klinikbürokratie eine Ignorierung nicht nur vertragen, sondern ihrer sogar bedürfen. Deshalb öffnete ich nach kurzem Anklopfen die Tür, um den dahinter liegenden Raum zwecks Anmeldung zu betreten.

Es blieb bei dem Versuch, denn eine hochkorpulente Frau hinter dem hüfthohen Tresen empfing mich mit derart nachhaltigem Widerstand, dass ich den Rückzug antreten musste, verfolgt von lautstark vorgetragenen Formulierungen, die eine proletarische Herkunft der fülligen Dame nahe legten. Während ich verdattert die Tür schloss, flammte sogar das gläserne „Bitte warten“-Schild per elektrischer Hintergrundbeleuchtung auf, die Wächterin des Anmeldebezirks feuerte also sozusagen aus allen Rohren.

Manche der zahlreichen Wartenden, denen ich mich nun wieder zuwenden musste, konnten ein schadenfreudiges Lächeln nicht ganz unterdrücken und bedeuteten mir durch körpersprachliche Signale, dass sie mich für einen hielten, der sich vorzudrängeln versuchte und dafür seine gerechte Strafe erhalten hatte.

Noch war ich mir kaum einer Schuld bewusst, und bevor sich das eventuell änderte, beschloss ich, den Stier bei den Hörnern zu packen, und mimte den Überraschten: „Muss man denn hier auch auf das Anmelden warten? Das gibt’s aber sonst nicht!“

„Ja, so ist das“, gab mir ein älterer, rotgesichtiger Herr Bescheid und fügte mit leisem Vorwurf hinzu: „Ich bin jetzt der Nächste, und dann kommt vor Ihnen noch diese Dame!“ Damit wies er auf eine schwarz gekleidete Frau zu seiner Linken, die bestätigend nickte.

Eine glatte Niederlage für mich also, aber ich war noch nicht soweit, ihr eine bedingungslose Kapitulation folgen zu lassen, deshalb wandte ich mich von Neuem an die Runde: „Dann gibt es hier also zweierlei Wartende – die, die auf die Anmeldung warten, und diejenigen, die bereits angemeldet sind und auf die Behandlung warten?“

Zögernd wurde mir das bestätigt, ganz so, als ob manche der Anwesenden sich dies bisher selbst noch nicht so ganz klar gemacht hätten. Ich spürte, dass das Eis zu schmelzen begann, und nutzte die etwas entspanntere Atmosphäre, um für weitere Zustimmung zu werben und gleichzeitig mein „Vordrängen“ vergessen zu machen.

„Dieses abgestufte Warten ist ja ein wirklich pfiffiges System“, begann ich ein falsches Lob, „aber es ist nicht ganz einfach für den, der neu hinzukommt. Er muss den bereits Wartenden an der Nasenspitze ansehen, wer sozusagen in der ersten Stufe wartet und wer schon in die zweite Stufe aufgerückt ist!“

Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass manche den Ironieversuch begriffen hatten, während andere nach wie vor dumpf und ungerührt vor sich hin starrten. Um möglichst auch sie für die im Entstehen begriffene Partei der Systemkritiker zu gewinnen, überlegte ich gerade, wie ich noch mehr aufhetzendes Gedankengut formulieren könnte, da kam mir der Zufall zu Hilfe.

Eine weitere Tür, die in den Warteraum mündete, wurde von einer jungen Ärztin mit den klassischen Worten „Der Nächste, bitte!“ geöffnet, während die Anmeldungsglastür nach wie vor geschlossen blieb. Ich wartete nicht ab, bis der von der Ärztin aufgerufene Patient die freundlich aufgehaltene Tür erreicht hatte, sondern meldete mich erneut zu Wort: „Kann es sein, dass hier die Anmeldung länger dauert als die Behandlung?“ fragte ich in den Raum hinein und erntete dafür die ersten Lacher, während die Ärztin leicht verunsichert mit ihrem Patienten verschwand.

Die Stimmung wurde nun spürbar lockerer, und als ein weiterer Neuankömmling erschien und zielstrebig auf die Anmeldungsglastür zusteuerte, da redeten schon, anders als bei meiner Ankunft, alle durcheinander: „Nicht reingehen! – Sie müssen hier warten, bevor Sie sich anmelden! – Halt, da kommen noch einige andere vor Ihnen dran!“ Es gelang nach einiger Zeit, den komplizierten Sachverhalt klar zu machen, und der Neue setzte sich erst einmal hin, nicht ganz zufrieden zwar, aber er haderte zumindest nicht laut mit seinem Schicksal.

Anders verhielt es sich wenig später bei einem jungen Farbigen, der zwar ebenso vielstimmig angesprochen wurde, aber – des Deutschen offenbar nicht ausreichend mächtig – lediglich verwirrt um sich blickte, dabei aber weiter die verbotene Tür ansteuerte. Erwartungsgemäß empfing ihn ein lauter Schwall maßregelnder Worte, so dass er die Klinke erschrocken fahren ließ, ganz so, als wäre sie elektrisch geladen. Er taumelte geradezu in den Warteraum zurück, während die sich selbst schließende Tür den unfreundlichen Wortschwall dämpfte. Als er sich ratlos hingesetzt hatte, versuchten ein paar Hilfsbereite, ihm die komplexe Struktur von primären und sekundären Wartezuständen und deren Konsequenzen zu erläutern, was aber trotz des guten Willens scheitern musste, und zwar nicht nur wegen mangelnder Sprachkenntnisse: Dem Afrikaner fehlten ganz einfach einige Jahrzehnte solider deutscher Bürokratie-Erfahrung, um sein Erlebnis auch nur ansatzweise richtig einordnen zu können.

Immerhin: Der weitere Prozess lief nun wie vorgesehen ab, nach angemessener Zeit durfte ich mich tatsächlich anmelden und drang nach weiterem Warten schließlich sogar zu einer Ärztin vor, die mich rasch und mit günstigem Ergebnis untersuchte. Als ich gleich darauf den Warteraum wieder betrat, war offenbar auch der junge Afrikaner einen bedeutenden Schritt weiter gekommen. Er war gerade im Begriff, den Anmeldebereich zu verlassen, schien aber mit dem Erreichten nicht ganz zufrieden zu sein. Das wiederum hing vielleicht mit dem Hinweis zusammen, den ihm die vorhin so Ungnädige freundlich mit auf den Weg gab: „Sie müssen jetzt erst mal zur Ambulanz-Aufnahme in den sechsten Stock, und wenn Sie dort fertig sind, dann kommen Sie wieder hierher!“

Der Mann guckte jetzt fast ein wenig wütend, aber ich fand, das musste nicht sein: Immerhin hatte er doch jetzt ein neues Ziel, und außerdem würde er, wenn schon nicht jetzt, dann vielleicht später, dafür dankbar sein, dass er hier einen fast einmaligen Höhepunkt deutscher Wartekultur miterleben durfte, gekennzeichnet durch alle drei Grundelemente, wie sie seit alters her in der im Grundgesetz verankerten Warte-Charta niedergelegt sind:

Langwierigkeit des Wartens, die eindeutige Vergeblichkeit desselben, und nicht zuletzt die Tatsache, dass der ganze Vorgang jeder vernünftigen Erklärung unzugänglich sein und bleiben muss.

L(i)eber Bruder

Подняться наверх