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Katharina Joanowitsch Zuckersüß

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Sein Geburtsdatum ist ihm heilig, warum wirkt es heute bedeutender als sonst?

Dreiundzwanzigster, Dresselstraße 3, 9:00 Uhr

Sachte lehnt Herlind ihre Stirn an die Fensterscheibe. Warm wie ein Hefekloß quillt eine Rührung in ihr auf. Ihr langes Starren auf die endlosen rot-weißen Lichterketten des Stadtring-Verkehrs unter ihrem Fenster, auf das wachturmartige Gebäude des RBB und den im Dunst seiner Spitze beraubten Funkturm hat die erlösende Idee gebracht: das Geschenk für Frau Kesserowja.

»Everything must change« – summend wendet sie sich vom Fenster ab, durchstöbert ihre Vorräte und trägt auf einem Zettel die fehlenden Teile zusammen: Puderzucker (zwei Pakete), Mehl, Eier, Lebensmittelfarbe, Zitrone und zwei Tiefkühlmenüs für die Feiertage. Aus dem Unterschrank der Spüle zieht sie hinter Putzmitteln ein verstaubtes Schraubglas hervor. Es ist gut dreiviertel voll.

Herlind wirft sich Schal und Mantel um und eilt die fünf Stockwerke hinunter. Quer über die Straße, vorbei am noch leeren Dresseleck, durch die Spiegelgasse, in der die Fassaden wie taub über die dicht geparkten Autodächer hinweg in die donnernde Schlucht des Stadtrings lauschen. Im »nah und gut«-Markt Ecke Neue Kantstraße herrscht hektisches Treiben, unverkaufte Geschenkkörbe verstopfen die schmalen Gänge vor der Kasse. Herlind findet alles außer Lebensmittelfarbe.

Ihr alter Schultuschkasten wird reichen.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 1. Stock, 9:30 Uhr

Schwerfällig stützt sich Marja auf das Fensterbrett. Den See kann sie vom Fenster nicht wirklich sehen, doch ihre Augen übersehen die blauweiß karierte Hotelfassade vom Seehof samt monströser Eingangsüberdachung und stellen sich eine weiße Wasserfläche vor – es könnte winterliches Eis sein – doch sind es gerade mal drei Grad plus, wie die dauermuntere Stimme auf RBB verkündet. Aus der Haltung der wenigen Fußgänger liest Marja schaudernd: kalt, nass, böig. Ächzend beugt sie sich zu Rudolf herunter und krault seinen grauen Kopf. Das Tier hebt den Blick, stumm schauen sie sich an. Im Vormittagsgrau wirkt sein alter Doggenschädel wie versteinert. Aus den Wänden treten die weißen Tutus auf den Fotografien als schwebende Zeichen hervor: Erinnerungen an ihre Ballettzeit. Dieser grazile Schnörkel – natürlich Schwanensee – war einmal sie gewesen, Marja Kesserowja mit Oleg Bischoff, ihrem langjährigen Partner … vorbei. Oleg – inzwischen das krümelige Innere einer Urne in »Luise II« … vorbei! Vorbei die Zeit, als sie noch Ballett und Choreographie unterrichtete. Die einstmals eiserne Disziplin reicht gerade noch für ihre täglichen Gänge mit Rudolf. Inzwischen ist ihr Kosmos auf drei Wesen geschrumpft: Rudolf, Hausarzt Dr. Kröger und Herlind, die Fußpflegerin. Herlind kommt zwei-, dreimal im Monat und hat sich mit Sonderdiensten – einkaufen, putzen, Zusatzrunde mit Rudolf – unentbehrlich gemacht.

»So, mein Guter, dann wollen wir mal.«

Der Hund erhebt sich zögernd und schnauft ergeben, als Marja ihren Pelz umlegt.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 4. Stock, 10:00 Uhr

Klatt steht aufrecht vor dem Fenster. Missklang spürt er geradezu körperlich. Asymmetrie ist entschieden gegen sein Temperament. Geboren am 24. 12. 1948, Punkt 12 : 48 Uhr. Von seiner Mutter erinnert er sich nur an zwei Augen von überirdischem Blau, von seinem Vater an einen kratzenden Backenbart, beide Eltern früh gestorben. Seine Anzüge sind zweireihig. Seine Wohnung gleicht einer peniblen Versuchsanordnung. Aus Pralinenschachteln isst Klatt nach symmetrischen Prinzipien. Seinem Beruf als Ober ist das dienlich. Kein Tisch ist so akkurat eingedeckt wie seiner, keiner serviert mit so abgezirkelten Gesten. Klatt lebt nach einem klaren Tagesplan, der erfordert jetzt: Gang an die frische Luft. Sorgfältig schließt er seine Tür zu-auf-zu-auf-zu, steigt innerlich zählend die Stufen herab.

Die weihnachtlichen Gestecke im ersten Stock sind Klatt ein Gräuel. Bei jedem Vorbeigehen jucken seine Hände in den Manteltaschen. Sieben leuchtende Kugeln im Tannengrün bei Nummer vier und fünf bei Nummer sechs. Und diese Farben! Teure Sitzungen haben Klatt dazu gebracht, seinen Drang in der Öffentlichkeit zu beherrschen. Heute zuckt seine Hand hervor, zerrt eine der sieben Kugeln aus dem Grün, vier Schritte, schon fädelt er rechts die Schlaufe über einen Zweig.

Völlig entspannt verlässt Klatt das Haus.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer, 10:30 Uhr

Heute nur die kleine Runde. Nur einmal bis zum Monolith – so nennt Marja bei sich den Turm der St. Canisius – dann um das Rondell zu ihrer geliebten Skulptur »Versuch einer Balance«, runter zum Seeufer und zurück. Dieses müde Schleppen durch den Tag mit dem ebenso müden einzigen Gefährten Rudolf, das nennt sie nicht mehr Leben. Eigentlich will sie nichts lieber als tot sein. Der Gedanke kreist ständig in ihr, unversehens drängte er sich auf ihre Lippen, als die Fußpflegerin letzte Woche vor ihr hockte.

»Ich will nicht mehr!«

Die arme Herlind war ordentlich zusammengezuckt und hatte wie abwesend das Öl in die empfindliche Nagelmatrix massiert, die ungläubigen Augen auf Marja gerichtet.

»Wie könnte ich Ihnen nur helfen!?«

Mitleidig klang das, aber auch ratlos.

Dreiundzwanzigster, Dresselstraße 3, 11:00 Uhr

Summend häuft Herlind alle Zutaten in die Schüssel, drückt Margarine in die Mitte. Bevor sie das Schraubglas öffnet, hält sie inne. Mit ansteigendem Kribbeln spürt sie das Gewicht der Entscheidung. Ja oder nein?

Ja! sie fügt einen gehäuften Esslöffel hinzu, streift Latex-Handschuhe über und knetet alles zu einer Kugel.

Aus dem ausgerollten Teig sticht sie trällernd Herz, Stern, Glocke in emsiger Folge, bis ein Blech dicht belegt ist … hinein in den Ofen damit.

Nun die Glasur. Im Nu saugt der Puderhaufen Zitronensaft und Rum auf, zerfließt sämig. Herlind stippt hinein, erschauert. Noch kann sie naschen. Am Finger saugend schaut sie durch die mit Tropfen übersprenkelten Scheiben auf das schlammgraue Dach des S-Bahnhäuschens Witzleben. Herrmann! Wie der Kekse liebte, wie der futtern konnte, wie der die »Tulpen« kippte, wie lustig der war! Und das bei dem Beruf: Kammerjäger. Im Keller hier in der »Charlotte« hatten sie sich kennen gelernt, als er Rattenköder ausgelegt hatte (mit weißen Handschuhen!). Eine heftige Zeit folgte – im Dresseleck schlug oft die Lokalrundenglocke – bis Herrmann die Kellertreppe hinabstürzte, sich den biervernebelten Kopf zerschmetterte. Von der Herrmann-Zeit blieb Herlind das gefüllte Schraubglas mit seiner Beschriftung: Brodifacoum, darüber ein naiv gemalter Knochenkopf.

Herlind schüttet das weißliche Pulver in die Glasur. Im Tuschkasten mischt sie Rot mit etwas Wasser an und lässt Tropfen der Farbe ins Weiß fallen. Wie Blutgerinnsel schlängeln sich Adern durch die Zuckermasse. Verrührt ergibt sich leuchtendes Rosé. Der Küchenwecker schnarrt. Herlind holt das Blech aus dem Backofen und streicht den Guss auf die duftenden Kuchenleiber. In wenigen Stunden wird die Glasur zu einer schimmernden Kruste erstarrt sein.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 1. Stock, 18 : 00 Uhr

Herlind prüft mit der Hand die Wärme des Fußbades. Sie hat beschlossen, Frau Kesserowja das Päckchen erst zum Abschied zu übergeben. Im Zimmer hat sie Kerzen verteilt und Tannengrün in einer Bodenvase dekoriert. Eine Fichte, zierlich genug für die Kommode, hat sie mit Strohsternen und Kugeln behängt und eine Miniaturlichterkette hineingeflochten.

»So, bitte einsteigen!« Mit einladender Geste weist Herlind auf die dampfende Schüssel, die sie vor den geblümten Ohrensessel geschoben hat. Frau Kesserowja hilft beidhändig ihren geschwollenen Beinen und lässt die Füße aufstöhnend ins Wasser platschen. Rudolf, der daneben lagert, jault beleidigt auf. Er hasst dieses Fräsen und Schneiden, dieses Schmirgeln und Raspeln. Das Schlimmste kommt zum Schluss, das Eincremen mit der nach Eukalyptus stinkenden Salbe.

»Wie gemütlich Sie meine Wohnung gemacht haben, Herlind. Sie sind mein Engel.«

Die Belobte senkt ihre Lider über einer zarten Wangenröte.

»Oh, ich helfe gerne.«

Als sie sich im Flur verabschieden – zum ersten Mal umarmt Frau Kesserowja sie innig – nimmt Herlind das Päckchen doch unauffällig mit sich. Draußen an der kalten Luft besinnt sie sich, kehrt um, öffnet leise die Eingangstür mit dem Schlüssel-für-alle-Fälle, schleicht die Treppe hoch und lehnt ihr Geschenk vor die Tür.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 4. Stock, 23:30 Uhr

Sorgfältig schließt Klatt seine Tür zu-auf-zu-auf-zu, steigt innerlich zählend die Stufen herab. Das Flurlicht ähnelt seiner Wohnungsbeleuchtung, nicht schummrig, sondern kühl ausleuchtend. Als er in den ersten Stock einbiegt, sticht ihm das grässliche Pink in die Augen. Ausgerechnet unter der durch Tannengrün und knallige Kugeln bereits so überladenen Tür liegt ein Päckchen mit glänzender Beschriftung, ohne Adresse und Absender. Ein unbekömmliches Duftgemisch aus Tosca und nassem Hund, das wie durch Poren aus der Wohnung dringt, lässt ihn schaudern. Wie in Trance sieht er sich das störende Päckchen fortnehmen. Akkurat liegt es plötzlich vor der mittleren Wohnung. Völlig entspannt verlässt Klatt das Haus.

Vierundzwanzigster, Lietzenseeufer, 0:30 Uhr

Gähnend schließt Thorben seinen Wagen ab und blickt an der Hausfassade empor. Nur im vierten Stock ein kühles Lichtquadrat – dort müsste der Klatt wohnen, der Letzte, dem er sich noch nicht vorgestellt hat. Vor seiner Wohnungstür bückt er sich überrascht zu seiner Fußmatte.

Johann war hier? Thorben schnuppert, ein mit duftendem Nagellack beschriftetes Päckchen: »Fröhliche Weihnachten und alles Liebe«. Zu müde, es zu öffnen, sinkt er auf seine Couch und überlässt sich dem Nachhall des Autobahnrauschens.

Erst am Morgen erwachend, hält er immer noch das Päckchen. Er dreht es verliebt in den Händen, was für eine hübsche Schrift. Mit wohligem Schauer denkt er an Johanns feingliedrige Finger, zupft die Schleife auf und entfaltet die Verpackung. Wie süß: Kekse, mit rosa Zuckerguss, verführerisch duftend. Nach dem Besuch bei seiner Mutter fühlt er sich wie immer überfüttert, doch ein Verzehr dieser Kekse ist ja – gewissermaßen – ein Liebesdienst.

Vierundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 4. Stock, 12:30

Klatt prüft eingehend sein Spiegelbild. Ein Herr von heute sechzig Jahren. Stahlblaue Augen, kein Bart. Würde ihm ein Backenbart stehen? Klatt blickt auf die Uhr, noch eine Viertelstunde bis 12:48 Uhr. Sein Geburtsdatum ist ihm heilig, warum wirkt es heute bedeutender als sonst? Sein Dienst beginnt erst um 15 Uhr, vorher will er wie gewohnt den diesseitigen Lietzensee umrunden. Klatt schließt seine Tür zu-auf-zu-auf-zu und steigt innerlich zählend die Stockwerke herunter. Im ersten öffnet sich die mittlere Tür, als habe jemand sein Herabsteigen erwartet.

»Fröhliche Weihnachten!«, ruft ihm ein junger Mann entgegen. Klatt wirft einen Blick aufs Klingelschild: Th. Grunwald. Er räuspert sich: »Äh, ebenfalls fröhliche Weihnachten, Herr Grunwald.«

»Ich bin der neue Mieter. Nennen Sie mich ruhig Thorben. Darf ich Sie auf einen Likör hereinbitten? Herr Klatt, nicht wahr?« Thorben strahlt so hinreißend, dass Klatt durch die offen gehaltene Tür in die überraschend bonbonfarbene Wohnung tritt.

»Äh, wenn Sie vielleicht – etwas anderes? Von Likör – äh – wird mir immer leicht übel«, bemerkt Klatt. Der Jüngere reicht ihm ein gut geschenktes Glas.

»Ein Grappa Fragolino. Wollen Sie sich nicht setzen?«

Sie prosten sich zu. Klatts Blick fällt auf eine Schale voller pinkfarbener Kekse. Eilfertig schiebt Thorben die Schale näher.

»Bitte, greifen Sie zu. Damit hat mich mein Freund Johann überrascht. Der Schelm hat das Päckchen einfach vor die Tür gelegt, ist das nicht reizend?«

»Ach – ja?«, sagt Klatt und nimmt sich verlegen ein Zuckerherz.

»Johann ist so geschickt mit seinen Händen, nun kann er auch noch backen«, Thorben kichert albern in sein Likörglas.

»Ach ja?«, wiederholt Klatt schwach, öffnet den obersten Knopf hinterm Schlips und greift nach einem zweiten Zuckerstern.

»Die schmecken irgendwie – apart«, Klatt tupft einen auf den Glastisch gefallenen Krümel auf. Er blickt beiläufig auf die Uhr und erhebt sich. 12:46 Uhr.

»In genau zwei Minuten werde ich sechzig Jahre gelebt haben! Wohl sein, Herr Grunwald, äh, Thorben!«

»Oh, was für ein Datum, Herr Klatt.«

»Äh – Otto.«

Thorben füllt erneut ihre Gläser. »Also Otto, trinken wir auf das Leben, trinken wir auf die Liebe, trinken wir auf uns!«

Während sie andächtig ihre Gläser leeren, hören sie im Flur Rudolf bellen. Er klingt erkältet.

»Die alte Frau Kessedingsda. Wenn die von ihrem Spaziergang zurück ist, bring ich ihr eine Schale rüber. Ihr Hund ist ganz wild auf Kekse.«

Klatt verabschiedet sich mit schlaffem Händedruck. Dieser mittägliche Grappa hat ihn ziemlich aus dem Takt gebracht.

Vierundzwanzigster, Lietzenseepromenade, 13:00 Uhr

Herlind geht durch die Riehlstraße unter den seltsam beschnittenen Platanen zur Uferpromenade. Sie malt sich aus, wie Frau Kesserowja das Paket entdeckt, wie Rudolf an der Schleife zerrt, wie er seine gelben Zähne in die Pappe haut, wie ihre rote Pracht herauspurzelt. Sie wärmt sich an der Vorstellung, wie beide an den zuckrigen Herzen, Sternen, Glocken knabbern, wie sie niedersinken; Frau Kesserowja in ihren geblümten Ohrensessel, Rudolf auf den Perser ihr zu Füßen.

Herlind tritt ans Ufer und lässt ihren Blick schweifen. Durch den klaren Spiegel des Sees ruckt emsig eine Ente und zieht ein lang gezogenes V hinter sich her. Sie wird sich nur das Bargeld nehmen, und vielleicht noch das Schwanensee-Tutu, das Frau Kesserowja in einem Hutkoffer aufbewahrt. Wer sollte es auch erben? Da gibt es niemanden, und schließlich hat sie sich doch wirklich gekümmert. Herlind atmet tief ein. Wie friedlich der Lietzensee daliegt. Nur der nackte Bronzejüngling schaut so traurig und blind wie immer zum anderen Ufer. Schon der dritte Jogger mit Weihnachtsmannmütze und dort – ihr entfährt ein kleiner Schrei – dort ist Frau Kesserowja! Und Rudolf!

»Wie geht es Ihnen?«, ruft Herlind ihr entgegenstürzend zu.

»Gut, Kindchen. Sogar sehr gut. Sie haben wohl heilende Hände.«

»Aber haben Sie denn, haben Sie denn nicht, ich wollte doch nur …«

»Aber Kindchen, was ist denn mit Ihnen? Mir geht es bestens«, versichert Marja und schließt das schlotternde Geschöpf in ihre Arme.

Am jenseitigen Ufer scheucht das Blaulicht eines Krankenwagens einen Menschenauflauf auseinander wie einen Schwarm schwarzer Raben. Zwei Männer stürzen heraus und verschwinden mit einer Tragbahre im Haus Nummer eins, Lietzenseeufer. Es ist 13.28 Uhr.

Böser die Glocken nie klingen

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